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Verbotenes Wissen

Wouter J. Hanegraaff und die Geschichte der Esoterik

von Lorenzo Ravagli

Die Geschichte des Westens ist die Geschichte eines fortwährenden Kampfes gegen einen imaginären Feind. Diese Geschichte lässt sich bis zur Begründung des Monotheismus zurück verfolgen. Das Judentum und das Christentum verdrängten das Heidentum, die katholische Kirche die Gnosis, später die Magie, der Protestantismus das »Heidentum« im Katholizismus, die Aufklärung den Okkultismus. In all diesen Verdrängungen wurde esoterisches Wissen (spirituelle Weisheit) unterdrückt. Die Esoterikforschung tritt heute an, die Aufklärung über sich selbst aufzuklären und sie dadurch konsequent zu Ende zu führen. Sie hebt das Verdrängte wieder ins Bewusstsein und befreit damit den Westen endgültig vom ideologischen Totalitarismus. So der Esoterikforscher Wouter J. Hanegraaff in einem Aufsatz aus dem Jahr 2005.

In seinem 2005 erschienenen Aufsatz »Verbotenes Wissen: Anti-Esoterische Polemik und akademische Forschung« vertritt Wouter J. Hanegraaff die These, dass die sogenannte westliche Esoterik das historische Produkt eines polemischen Diskurses ist, der bis zum Beginn des Monotheismus zurückverfolgt werden kann. Im Verlauf dieses Diskurses hat die heutige westliche Durchschnittskultur ihre eigene Identität konstruiert und tut dies bis heute. Diese Konstruktion von Identität vollzieht sich dadurch, dass wir uns selbst und anderen Geschichten darüber erzählen, wer, was und wie wir selbst sein möchten. Die heutige wissenschaftliche Esoterikforschung stellt insofern eine Herausforderung für das akademische Establishment, ja für das Selbstverständnis der westlichen Kultur dar, als sie ebendiese Erzählungen in Frage stellt und uns dazu veranlasst, anzuerkennen, wer, was und wie wir wirklich sind. Der tiefere Grund für die Ablehnung des akademischen Establishments gegen die Esoterikforschung ist laut Hanegraaff ein instinktiver Widerstand gegen den Zusammenbruch der Gewissheiten, die diese traditionellen Erzählungen vermitteln.

Jeder polemische Diskurs beruht auf dem Gefühl einer Bedrohung. Er setzt voraus, dass diese Bedrohung verhältnismäßig unklar ist. Er verlangt ein Objekt, eine Zuhörerschaft und Vereinfachungen. Vereinfachungen sind das Hauptinstrument des polemischen Diskurses, der darauf abzielt, ein vollkommen »Anderes« zu konstruieren und dieses zu vergegenständlichen. Das »Andere« des polemischen Diskurses ist stets imaginär und kann als imaginäre Größe um so bessere Dienste bei der Konstruktion der eigenen imaginären Identität leisten. Das »Andere« wird als das schlechthin Böse dargestellt, während die Partei der Polemiker das schlechthin Gute verkörpert. Eine solche »Ausgrenzung des Imaginären« liegt dem polemischen Diskurs zugrunde, der über viele Jahrhunderte hinweg gegen das geführt wurde, was als westliche Esoterik bezeichnet wird und lässt diese Esoterik heute als isoliertes Feld der Forschung erscheinen, während sie in Wahrheit ein integraler Bestandteil der westlichen Kultur war und ist.

Zwei Strategien der Ausgrenzung wurden im Lauf der abendländischen Geschichte gegen das »Andere« angewendet: es wurde verboten und der Lächerlichkeit preisgegeben. Allein die Letztere ist heute übrig geblieben, obwohl es in der Gegenwart Tendenzen gibt, wieder zum schärferen Mittel des Verbots zu greifen. (Man studiere in diesem Zusammenhang die Strategie der Anti-Kult- und Antisektenbewegungen, durch Einfluss auf Parlamente und Behörden ein Verbot des angeblich für die Gesellschaft gefährlichen »Anderen« zu erreichen). Aber das Esoterische lächerlich zu machen ist lediglich das Überbleibsel einer weitaus militanteren Form der Polemik, die sich früher staatlicher Machtmittel bediente, um das »Andere« auszugrenzen, zu verbieten und zu vernichten.

Das große polemische Narrativ

Das große polemische Narrativ des Abendlandes gegen die Esoterik entwickelte sich über verschiedene Stufen. Am Anfang stand die »Mosaische Unterscheidung« (Jan Assmann), die der Begründung des Monotheismus zugrunde liegt. Der Monotheismus konstruierte seine eigene Identität, die wahre Religion zu sein, gegen das von ihm polemisch konstruierte »Heidentum«, den Polytheismus und die Götzenverehrung. Im Monotheismus wendet sich die »wahre Religion« des einen, unsichtbaren Gottes gegen die per definitionem falsche Verehrung falscher Götter. Die Konstruktion des »heidnischen Anderen« war der erste Schritt auf dem Weg zur Herausbildung der abendländischen Identität. Doch trotz des Ausgrenzungsdiskurses gegen das Heidentum blieben dessen Ideen und Traditionen wesentliche Bestandteile des Christentums, die auf die Entwicklung des Abendlandes einen bedeutenden Einfluss ausübten, was sich aus der Geschichte des Neuplatonismus, des Aristotelismus, der Hermetik oder der Vielfalt »heidnischer« Praktiken ersehen lässt, die bis heute nicht aus dem Alltag verschwunden sind. Da das »Heidentum« bis heute ein lebendiger Bestandteil der westlichen Kultur geblieben und nicht aus der Geschichte des Christentums wegzudenken ist, wurde dieses integrale Heidentum in einen imaginären Raum abgedrängt, in dem es als das »Andere« fortwährend bekämpft werden musste. Nur durch fortdauernde Polemik konnte sich die »westliche« Identität unter sich wandelnden historischen Bedingungen stets von neuem reproduzieren.

Die Konstruktion der Gnosis

In den ersten Jahrhunderten der Geschichte des Christentums konstruierte sich dieses gegen die Ketzerei, die als »Gnosis« imaginiert wurde. Gnosis oder Gnostizismus ist ein künstliches Konstrukt, das durch einen polemischen Diskurs geschaffen wurde, der so erfolgreich war, dass bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts die Mehrzahl der Gelehrten an die tatsächliche historische Existenz einer Gnosis glaubte, die jedoch lediglich als imaginäre Größe existierte. Gnostizismus ist ein dubioser Begriff, der ein verfälschtes Bild der Geschichte erzeugt und auf dessen Gebrauch am besten verzichtet werden sollte. Die Polemik gegen die Ketzer in den ersten Jahrhunderten des Christentums hat bis ins 20. Jahrhundert hinein festgelegt, was die akademische Forschung unter Gnosis verstand. Die Gnosis war die »falsche« Religion, der religiöse Irrtum und wurde als gefährlich und unmoralisch denunziert, weil sie den Individualismus förderte. Ihr Hinweis auf die Grenzen der Philosophie und den individuellen Erfahrungszugang zum Göttlichen konnte zu einem Plädoyer für das Irrationale umgedeutet werden.

Bei genauerem Hinsehen erweist sich die sogenannte gnostische Bewegung oder Religion als inexistent. Stattdessen findet man im römischen Reich in der Zeit des Hellenismus eine diffuse und komplexe Form von Religiosität, die nach Erkenntnis (Gnosis) und rettendem esoterischem Wissen strebte. Sie ignorierte orthodoxe Grenzziehungen und konnte sowohl im Heidentum, Judentum, Christentum wie auch später im Islam in Erscheinung treten.

Die Konstruktion der Magie

Ähnlich verhält es sich mit der Konstruktion der Magie als des »Anderen« des rechtgläubigen Christentums. Schon bei den Griechen war Magie ein diffuser, pejorativer Begriff, der als illegitim betrachtete religiöse Praktiken bezeichnete. Die frühen Christen übernahmen diesen ausgrenzenden Begriff und schränkten ihn auf den »Verkehr mit Dämonen«, den falschen Göttern des Heidentums ein. Aus der Sicht der antiheidnischen Gegenreligion wurde Magie zum Herrschaftsgebiet des Feindes der Menschheit. Der religiöse Irrtum wurde zu einer Gefahr für die Gesellschaft. Diese musste gegen den Angriff des Bösen geschützt werden. Die Annahme, es gebe einen Verkehr mit bösen Dämonen, war die Grundlage der Polemik gegen die Magie, der eine Fülle von divinatorischen Praktiken zugeordnet wurde, von mantischen Techniken über die Anrufung von Engeln oder Seelen Verstorbener, bis hin zu dem Wissen von Hexen usw. Auch hier wiederum verdeckt die Tatsache, dass all diese Praktiken als gesetzlos, gefährlich, unmoralisch und falsch denunziert wurde, lediglich die historische Wahrheit, dass sie durch die Jahrhunderte ein integraler Bestandteil des lebendigen Christentums waren. Wie im Fall der Gnosis sind die Kategorien der Polemiker später von Akademikern übernommen worden und haben die Interpretation der Geschichte des Christentums und der westlichen Kultur verfälscht.

Die Rekonstruktion des Heidentums

Ironischerweise erging es der katholischen Kirche ebenso wie dem Heidentum, das sie von sich auszugrenzen versuchte, als der Protestantismus sich erhob, und den Katholizismus als das fortexistierende Heidentum im Christentum zu konstruieren begann. Nunmehr sah sich der Protestantismus in der Rolle der wahren Religion und der Katholizismus wurde als die falsche deklariert. Der Protestantismus erfand die Unterscheidung zwischen Glaube und Werken. Erlösung kommt im Protestantismus allein aus dem Glauben, Werke, Rituale sind irrelevant. Der Einfluss des Protestantismus auf das Verständnis von Religion in der Neuzeit ist nicht zu überschätzen. Erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts hat die Religionswissenschaft begonnen, die protestantische Fixierung auf Glaubensinhalte, auf theoretische Lehren zu überwinden, und damit begonnen, wieder anzuerkennen, dass Praktiken wie Rituale, Zeremonien und so weiter ein integraler, zentraler Bestandteil des religiösen Lebens sind. Die Abkehr des Protestantismus von »Symbol, Mythos und Ritual« hat zu einer Verengung der Religion und ihres Verständnisses geführt. Ohne Berücksichtigung dieser Dimensionen des religiösen Lebens kann aber weder die historische Realität des Christentums noch die irgendeiner anderen Religion verstanden werden.

Zum großen polemischen Narrativ trug der Protestantismus zwei Elemente bei: er bestärkte die Ausgrenzung des Heidnischen, Gnostischen und Magischen, das gerade in der Renaissance wieder mächtig in das Christentum zurückzufließen begann (Marsilio Ficino, Pico della Mirandola, Ludovico Lazarelli) und er verengte das Verständnis von Religion auf Lehre, Wort und Schrift. Formen religiösen Lebens, die ihr Hauptgewicht auf Praktiken legten, wurden so erneut herabgewürdigt: dies gilt besonders für das sogenannte Heidentum, das von neuem zum beherrschenden Thema wurde, da es in den Kolonialreichen in neuer Form in Erscheinung trat. In seinem Kampf gegen Bilder und Werke festigte der Protestantismus sein Selbstbild als antimagische, antimythische und antiritualistische Gegenreligion schlechthin. Die Gegenreaktion gegen diesen rigorosen Purismus konnte nicht ausbleiben: sie trat im Protestantismus selbst hervor, der einige der bedeutendsten Strömungen der Geschichte der westlichen Esoterik hervorbrachte: das Werk des Paracelsus und Jakob Boehmes, die Manifeste der Rosenkreuzer, schließlich die christliche Theosophie. Die christliche Theosophie nach der Reformation war ein Kind des Protestantismus. Gegen diesen inneren Feind setzte sich die protestantische Kirche zur Wehr und fügte zum ausgegrenzten Anderen das christianisierte Heidentum des Neuplatonismus und der Hermetik, die christliche Kabbala, den Paracelsismus, das Rosenkreuzertum, die christliche Theosophie – und im 20. Jahrhundert – die Anthroposophie hinzu. Aus dieser Geschichte ist zu verstehen, warum manche der schärfsten Polemiken gegen die Anthroposophie bis heute aus protestantischer Perspektive vorgetragen werden, die eine intrinsische Strukturverwandtschaft mit der atheistischen Linken besitzt.

Die Konstruktion des Okkulten

Im Jahrhundert der Aufklärung schließlich wurde der protestantische Ausgrenzungsdiskurs als Polemik gegen das »Okkulte« fortgeführt. Den mythischen Gegensatz zwischen Wissenschaft und Aberglaube, Vernunft und Unvernunft gab es zu Beginn der Aufklärung nicht. Die Frühaufklärer sahen sich auf der Seite der Wahrheit, die die wahre Religion selbstverständlich einschloss. Führende Vertreter der Royal Society bestanden auf der Möglichkeit der Hexerei und der Bedeutung dämonischer Einflüsse auf die Natur. Kepler war praktizierender Astrologe, Newton und Boyle waren Alchemisten – und gläubige Christen –, die sogenannten okkulten Wissenschaften waren ein integraler Bestandteil der »wissenschaftlichen Revolution«. Die Ablehnung okkulter Wissenschaften kann nicht zu einem auszeichnenden Merkmal der wissenschaftlichen Revolution in der Neuzeit erklärt werden. Der Diskurs über Aufklärung, der sich im Lauf des 19. Jahrhunderts entwickelte, die historische Entwicklung extrem simplifizierte, und die Vernunft gegen das Irrationale, die Wissenschaft gegen den Aberglauben ausspielte, fiel mit seinen Argumentationen in all die Muster zurück, die von den monotheistischen und christlichen Polemikern bereits vorgebildet waren. Vom Standpunkt des Fortschritts der Wissenschaften erschien das Heidnische nunmehr als das Primitive, das auf einer untergeordneten Entwicklungsstufe stehen geblieben war. Der Begriff des »Fetischismus« ersetzte den der Idolatrie. Das primitive Bewusstsein des Fetischisten vermochte angeblich nicht zwischen dem materiellen Abbild und dem Begriff zu unterscheiden, den ersteres symbolisierte und die von Primitiven praktizierte Magie beruhte angeblich auf der Verwechslung von eingebildeten Korrespondenzen mit kausalmechanischen Wirkungen.

Das imaginäre Andere wurde zum »Anderen der Vernunft« (Hartmut und Gernot Böhme). Als solches übte es einen unermesslichen Einfluss auf die Geschichte der Wissenschaften und der westlichen Kultur aus. Die Ideologen der Aufklärung definierten ihre eigene Identität im 19. Jahrhundert mittels eines polemischen Diskurses, der sie selbst als vollkommen rational erscheinen ließ, und alle möglichen Formen von Aberglauben als vollkommen irrational und abwegig ausgrenzte. Nicht nur die Dogmen der Kirche fanden sich nun in diesem Sammelbecken des Irrationalen, sondern auch die gesamte Hermetik und eben der Okkultismus. Dieses »Irrationale« wurde der Lächerlichkeit preisgegeben, aber die Vorwürfe der Immoralität und der Gefährlichkeit waren nicht fern. Dies gilt insbesondere für eine Reihe von modernistischen Diskursen, die den Faschismus oder Nationalsozialismus als die Rückkehr des gnostischen Feindes und als die fatale Folge der »Zerstörung der Vernunft« (Lukacs, Voegelin, Adorno) betrachteten, die vage aber hartnäckig mit dem »Okkulten« verbunden wurde.

Nichts ist esoterisch, so Hanegraafs Fazit, das nicht aus bestimmten Gründen von jemandem als esoterisch konstruiert wird. Dass die westliche Esoterik, das heißt ein wesentlicher, unwegdenkbarer Bestandteil der westlichen Kultur und ihrer Geschichte, nahezu vollständig von der akademischen Forschung ignoriert wurde, lässt sich letztlich nur psychologisch erklären. Denn die westliche Kultur ist aus einem polemischen Narrativ entstanden, zu dessen Fundament es gehört, wesentliche Teile dieses Fundaments zu verdrängen und als inexistent zu erklären. Die Anerkennung dieser verdrängten Geschichte kommt der Anerkennung eines Schattens gleich. Die Anerkennung des Schattens erschüttert das Selbstbild, das auf der Verdrängung des Schattens beruht. Gewaltige psychische (psychosoziale) Energien werden aufgewendet, um dieses fragile Bild eines vollkommen rationalen und durchsichtigen, reinen Selbstes zu erzeugen. Die Anerkennung, dass der verdrängte Schatten ein integraler Bestandteil dieses Selbstes ist, zerstört dieses Selbstbild und entzieht der Inflation der Vernunft jegliche Grundlage. Würde die westliche Kultur aus dem großen polemischen Narrativ heraustreten, würde nichts mehr aussehen wie zuvor, der Boden unter unsern Füßen würde schwinden und das scheinbare Chaos drohen. Der wissenschaftlichen Esoterikforschung kommt die Rolle eines Therapeuten zu, der die vereinseitigte westliche Kultur wieder zu ihrer Ganzheit zurückführen kann, indem er uns bewusst macht, was wir alles hinter uns gelassen, ausgegrenzt und verdrängt haben, um zu dem zu werden, was wir heute sind.

Von Hanegraaff ist zuletzt erschienen: Swedenborg Oetinger Kant: Three Perspectives on the Secrets of Heaven


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