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Geschichte der westlichen Esoterik

von Lorenzo Ravagli

Eine profunde Einführung in das Gebiet der Esoterikforschung und eine glänzende Zusammenschau ihrer Geschichte vermittelt der 2012 verstorbene Nicholas Goodrick-Clarke mit seinem Buch »The Western Esoteric Traditions. A Historical Introduction«. Goodrick-Clarke, der einige Jahre den Lehrstuhl für Esoterikforschung in Exeter leitete, der vom Blavatsky Trust mitfinanziert wird, erzählt auf rund 250 Seiten die Geschichte all jener spirituellen Strömungen des Abendlandes, die von der Leitkultur im 19. und 20. Jahrhundert zu Unrecht marginalisiert worden sind.

Wie in dieser jungen Disziplin meist üblich, geht er zurück bis in die Zeit des Hellenismus, in der aus einem nicht präzise bestimmbaren ideellen und sozialen Kontext die Hermetik und der Gnostizismus hervortraten. Verbunden mit diesen und sie beeinflussend, prägten die großen Neuplatoniker, Plotin, Porphyr, Iamblichus und Proklus jene Denkformen aus, die seit Antoine Faivres Typologie als charakteristisch für die westliche Esoterik betrachtet werden. Nach einer von Goodrick-Clarke nicht näher behandelten Zwischenzeit führte die Wiederentdeckung der hermetischen und neuplatonischen Schriften im 15. Jahrhundert zu einer Wiedergeburt paganer Spiritualität, insbesondere der Magie, Astrologie und Alchemie und dem Versuch, das Christentum mit ihr zu versöhnen. Bedeutender noch als Plato erschien der Renaissance Hermes Trismegistos, was sich daran zeigt, dass Marsilio Ficino seinen Auftrag, die Schriften Platos zu übersetzen, beiseite legte, um das eben entdeckte Corpus Hermeticum ins Lateinische zu übertragen. Herrschte doch damals die Überzeugung, Hermes Trismegistos sei der Verfasser der in diesem Werk versammelten Schriften und er sei der Urheber jener gnostischen Theologie, deren Spuren sich auch in Platos Werken und in der mosaischen Religion fänden. Bedeutender noch als das Jahr 1492 erscheint das Jahr 1463, als ein innerer Kontinent entdeckt wurde, der diese vergessene Tradition der beginnenden Neuzeit erschloss, ja diese Neuzeit erst herbeiführte. In der Reformationszeit führte diese spirituelle Strömung zur Entstehung einer christlichen Theosophie, die als Gegenbewegung zum Purismus der protestantischen Schriftreligion verstanden werden muss, die über den Akt des bloßen Glaubens hinaus auf der Erfahrbarkeit des Transzendenten bestand. Auch das Rosenkreuzertum und die mystisch-hermetischen Strömungen in der Hochgradmaurerei wären ohne die Wiederentdeckung der Hermetik, die Integration der Kabbala in einer verchristlichten Form und den Neuplatonismus nicht möglich gewesen. Schließlich mäandrierte dieser Strom in das Bett der romantischen Naturphilosophie, des Spiritismus, des Okkultismus im 19. Jahrhundert und in die Blavatsky-Theosophie, die Anthroposophie und den Perennialismus des 20. Jahrhunderts.

Besondere Aufmerksamkeit lässt Goodrick-Clarke genuinen Gestalten der neuzeitlichen Esoterik zukommen, die nicht bloß antike Traditionen erneuerten, sondern selbst zu Ausgangsspunkten von Traditionen geworden sind: in jeweils eigenen Kapiteln werden Paracelsus, Jacob Boehme, Emanuel Swedenborg und Helena Petrowna Blavatsky abgehandelt. Unter dem Titel »Moderne Esoterik und neue Paradigmen« arbeitet Goodrick-Clarke im letzten Kapitel die anthroposophischen Beiträge zur Versöhnung erfahrungswissenschaftlicher Paradigmen mit der Esoterik heraus.

In seinem Vorwort, das hier von besonderem Interesse ist, macht Goodrick-Clarke deutlich, dass es sich bei der westlichen Esoterik nicht um eine durch den Rationalismus der Aufklärung überwundene Wissensform handelt, sondern um eine spezifische Form von Spiritualität, die das Denken des Abendlandes von der Spätantike bis in die Gegenwart erleuchtet und befruchtet hat. Sie war für die Geschichte der Philosophie, der Wissenschaften und der Religion von herausragender Bedeutung und jede Geistesgeschichte, letztlich auch jede politische oder Ereignisgeschichte des Abendlandes ist ohne Berücksichtigung der Esoterik unvollständig. Die Esoterikforschung gibt ihrem Gegenstand seine realhistorische Bedeutung zurück und befreit ihn aus der Opferrolle, in die er durch die verengten Perspektiven des Positivismus und Materialismus im 19. Jahrhundert gedrängt worden ist.

In seiner Skizze der Geschichte der Esoterikforschung weist Goodrick-Clarke auf die bedeutende Rolle hin, die das Warburg-Institut in London gespielt hat. Aus der kulturgeschichtlichen Schule dieses Instituts sind so bedeutende Renaissanceforscher wie Edgar Wind, Ernst Cassirer, Frances Yates und D.P. Walker hervorgegangen, die zu den ersten gehörten, die die progressivistischen Narrative des 19. Jahrhunderts über den Gang der abendländischen Geistesgeschichte in Frage stellten. D.P. Walker lenkte mit seinen Untersuchungen über die zentrale Rolle der Magie im Weltbild der Renaissance von Marsilio Ficino bis zu Francis Bacon und Campanella den Blick von Frances Yates auf ein Thema, das sie in ihrem epochemachenden Werk über »Giordano Bruno und die hermetische Tradition« tiefgründig ausleuchtete. Sie wies nach, dass die Hermetik mit ihren Motiven der geistigen Souveränität des Menschen und seiner Berufung zum Mitschöpfertum für die Geistesgeschichte der Neuzeit, für die Entstehung des Selbstverständnisses der Moderne von herausragender Bedeutung war. Goodrick-Clarke würdigt auch die herausragende Figur Henry Corbins, der mit seinen vergleichenden religionsgeschichtlichen Untersuchungen eine Brücke zwischen der Spiritualität des iranischen Sufismus und der christlichen Theosophie baute und nachwies, dass es eine Welt der Imagination gibt, die unabhängig von historischen oder geographischen Zufälligkeiten Mystikern und Theosophen aller Kulturen zugänglich war. Schließlich umreißt er mit wenigen Strichen die Verdienste der gegenwärtig führenden Esoterikforscher, referiert das Faivre-Paradigma, charakterisiert die Forschungsansätze von Wouter Hanegraaff und Arthur Versluis und setzt sich kritisch mit Kocku von Stuckrad auseinander. Dessen Versuch, das Esoterische zu einem rein diskursiven Phänomen zu erklären (»alles kann zeitweise zu Esoterik erklärt werden«), veranlasst ihn zu einem deutlichen Bekenntnis: seiner Ansicht nach ist das Geistige und das Wissen vom Geist eine eigenständige ontologische Realität, kein bloß diskursives Konstrukt. Esoterik beruht auf spirituellen Einsichten und Erfahrungen, die nicht auf soziologische oder literarische Kategorien reduzierbar sind, und sie enthält zeitlose ideelle Motive, die wesentliche Aspekte der Beziehung des menschlichen Geistes zum Kosmos zum Ausdruck bringen. Ein Überblick über die soziale und kulturelle Geschichte des Abendlandes zeigt, dass esoterische Strömungen immer dann ihre besondere kulturschöpferische Kraft entfalten, wenn die Kultur in Orthodoxie und Dogmatismus zu erstarren droht, seien diese nun religiöser oder wissenschaftlicher Natur.

Antike Quellen der Esoterik

Die von Antoine Faivre herausgearbeiteten Denkmotive der Esoterik des Abendlandes wurzeln in der Antike. Das hellenistische Ägypten war die Geburtsstätte der Esoterik. In Alexandria, dem Zentrum der hellenistischen Welt, flossen die antiken Mysterienreligionen, die Theologien der orientalischen Kulte und die Philosophie der Griechen zusammen, verbanden sich mit jüdischer Mystik und ließen eine »synkretistische Religion« entstehen, deren wichtigstes Zeugnis, soweit es die Geschichte der Esoterik betrifft, die »Hermetika« sind. Sie enthalten Abhandlungen über Theosophie, Astrologie und Magie, von denen die meisten Hermes Trismegistos zugeschrieben wurden, der mit dem altägyptischen Gott der Weisheit und der Magie, Thoth, identifiziert wurde. Diese Identifikation war für die Schätzung verantwortlich, die Hermes Trismegistos in der Antike und in der Renaissance zuteil wurde. Verstärkt wurde dessen Bedeutung durch seine zusätzliche Identifikation mit dem griechischen Hermes, dem Götterboten und Psychopompos, der die Seelen der Verstorbenen und Initiierten von der diesseitigen in die jenseitige Welt und – im Falle der letzteren –  wieder zurückführte.

Thoth stand in Verbindung mit dem Mond. Er diente dem Sonnengott Ra als Schreiber und Berater. Als Regent des Mondes wachte Thoth im Alten Ägypten über die zyklischen Naturkreisläufe und die regelmäßigen Überschwemmungen des Nildeltas, von denen das gesamte ägyptische Leben abhing. Diese vom Mond beherrschten Zeitzyklen legten die Ägypter ihrer Zeitrechnung zugrunde und erhoben damit Thoth zum Herrn der Zeit und des Schicksals. Bei den Ägyptern übte Thoth dieselbe Funktion als Psychopompos aus, wie Hermes bei den Griechen, daher auch die Identifikation. Er geleitete die Verstorbenen nicht nur vor die Götter, sondern wirkte im Jenseits auch als Seelenrichter. Thoth war aber nicht nur Richter, sondern auch ein Gesetzgeber, dessen Macht sich auf den Kosmos, auf die Religion und die Gesellschaft erstreckte. Von ihm, dem Gesetzgeber, göttlichen Schreiber und Magier, erhielt die Priesterschaft ihre Weisheit und heiligen Texte, manche Teile des »Buches der Toten« eingeschlossen. Alle magischen und okkulten Künste wurden auf Thoth zurückgeführt.

Die Griechen, die sich in der Zeit des Hellenismus in Alexandria ansiedelten, erkannten schnell die Verwandtschaft zwischen dem ägyptischen Thoth und ihrem Hermes, dessen Hauptkultstätte sich in Hermopolis befand. Auf Griechisch verfasste, magische Papyrustexte stellen Hermes (Trismegistos) als kosmische Macht dar, als Weltschöpfer, der über Nacht und Tag, Leben und Tod, Schicksal und Gerechtigkeit wacht. Die Stoiker sahen in ihm ihren »Logos« und Demiurgen, einen »Pantokrator« und »Kosmokrator« (Allherrscher und Beherrscher des Kosmos). Ihm ist alles offenbar, was unter dem Himmel und auf der Erde für den Menschen verborgen ist. Die Papyrustexte enthalten magische Zauberformeln, in denen Hermes angerufen wird, die Geheimnisse des Schicksals zu offenbaren, in Träumen zu erscheinen und ein segensreiches Leben zu gewähren. Gleichzeitig kennen diese Papyri Hermes aber auch als Seelengott, der dem Menschen im Innersten seines Wesens – in den Tiefen seiner Seele – zugänglich ist. Manchmal wird er sogar mit dem Menschen identifiziert: »Ich kenne Dich Hermes und Du kennst mich. Ich bin Du und Du bist Ich.« Grundlage für diese Identifikation war möglicherweise eine Vorstellung, nach der Hermes einst Mensch gewesen war, sich aber durch seine spirituelle Entwicklung in den Rang eines göttlichen Wesens emporgearbeitet hatte, das seither zwischen den Menschen und Göttern vermittelte, ähnlich wie ein Boddhisattva.

Unter dem Namen »Hermetica« wird eine ganze Reihe unterschiedlicher Texte zusammengefasst, die in verschiedenen Sammlungen überliefert sind. Stobaeus stellte im 5. Jahrhundert nach Christus vierzig Texte zusammen, zu denen die »Kore Kosmu« (»Die Jungfrau der Welt«) gehörte, während in Nag Hammadi 1945 eine Reihe weiterer, hauptsächlich gnostischer Texte entdeckt wurde. Von grundlegender Bedeutung war jedoch das »Corpus Hermeticum«, das achtzehn Traktate enthält, die im zweiten und dritten Jahrhundert nach Christus niedergeschrieben und von Marsilio Ficino Mitte des 15. Jahrhunderts übersetzt worden sind.

Diese Texte schreiben sich selbst verschiedenen Urhebern zu. In manchen richtet sich Hermes an seinen Sohn und Schüler Tat, in anderen an seinen Schüler Asclepius, in anderen der Gott »Nus« an Hermes. Durchgehend tritt Hermes Trismegistos als Initiator auf, der in die Mysterien der göttlichen Weisheit einweiht. Der Mensch wird aufgerufen, Gott gleich zu werden, damit er ihn erkennen kann. »Wenn Du nicht Gott gleich wirst, kannst Du ihn nicht erkennen. Das Gleiche wird allein vom Gleichen erkannt.«

Was macht laut Goodrick-Clarke einen Text zu einem Bestandteil der hermetischen Tradition? Es ist eine bestimmte philosophische Weltsicht, die auf der Idee des Falls in die sinnliche Welt und der erlösenden Wiedereingliederung in das Göttliche beruht. Schlüsselthemen dieser Weltsicht sind die Entsprechung der unteren und der oberen Welt. Der Nus lehrt uns, unseren Geist als einen Spiegel des Universums aufzufassen, und das Göttliche in der Natur zu erkennen. Wir können dies, weil unser Geist aus Gott stammt. Ein besonderes Gewicht liegt dabei auf dem Willen, dem menschlichen wie dem göttlichen. Die Welt ist ein Buch, das gelesen werden kann, der Schöpfer kann aus der Schöpfung erkannt werden. Die Welt ist voll von Erscheinungen Gottes und unser Geist vermag die Symbole zu entschlüsseln, als die die geschaffenen Dinge aufzufassen sind. Jedes einzelne Ding ist von Bedeutung für diese Erkenntnis, denn durch Inkarnation und Fleischwerdung  offenbart sich der Schöpfer in der geschöpflichen Welt. Da die Welt göttlichen Ursprungs ist, gibt es keinen Dualismus. Die Schöpfung wird bejaht, auch wenn die Konsequenzen des Falls und die Macht der sinnlichen Welt über die Seele des Menschen bedacht werden. Der Hermetik geht es darum, die untere, stoffliche Welt wieder in ihre geistige Form überzuführen. Hierin liegt auch ihre Verwandtschaft zur Alchemie, die neben der Hermetik in der hellenistischen Zeit praktiziert wurde. Der Mensch ist aufgerufen, wieder zum Göttlichen aufzusteigen und sich mit ihm zu vereinigen. Der menschliche Geist vermag mit vermittelnden Geistwesen Verbindung aufzunehmen und durch deren Leitung zum höchsten Göttlichen aufzusteigen. Diese Auffassung ist in eine astrologische Anschauung eingebettet, nach der die Planetensphären eine aufsteigende Hierarchie darstellen, die im Verlauf der Initiation durchschritten wird. Die Erde gehört zu dieser himmlischen Ordnung und kann durch den Menschen an sie angeschlossen werden. Da die Menschheit sowohl dem Himmel aus auch der Erde angehört, vermag sie die Erde wieder in ihren früheren Zustand vor dem Fall zu erheben. Die Traktate des »Corpus Hermeticum« stellen für den Menschen eine Hilfe dar, seine Seele zu ihrem göttlichen Ursprung zu erheben und unterstützen ihn bei seiner spirituellen Umwandlung.

Das »Corpus Hermeticum« spricht den Menschen als handelndes Subjekt an, dem bei der Wiederherstellung des Kosmos eine nicht geringere Rolle zukommt, als den Göttern. Während die monotheistischen Religionen Gott als transzendent und unbegreiflich betrachteten, sprach das »Corpus Hermeticum« dem Menschen einen Geist zu, durch den er mit dem Göttlichen verwandt war, der den gesamten Kosmos in sich zu fassen vermochte. Der aus dem Göttlichen entsprungene Geist, der die Ideen des Schöpfers spiegelt, und auf diese Weise in ständigem Austausch mit höheren geistigen Wesen steht, ist ein Grundthema jeder Esoterik. Da Gott die Welt schuf, ist diese voll von Symbolen, die auf den Schöpfer und seine Eigenschaften zurückverweisen. Wenn die Menschen diese Symbole deuten können, vermögen sie Gott durch sie zu erkennen. Die Hermetik weist daher jeden unüberbrückbaren Dualismus zwischen Gott und seiner Schöpfung zurück.

Dualistisch könnte man den Mythos vom Fall in die materielle Welt deuten, stünde diesem nicht der andere, ebenso zentrale, vom Wiederaufstieg gegenüber. Die Auffassung, die materielle Welt sei ein Ergebnis einer kosmischen Katastrophe, führt in der Hermetik nicht zu einer Abwertung dieser Welt, sondern vielmehr zu einer unablässigen Suche nach den Quellen, aus denen eine Erkenntnis ihres ursprünglichen Zustandes gewonnen werden kann. Eine besondere Bedeutung kommt dabei den geistigen Mittlerwesen zu, die die Planetenwelt bewohnen, durch die der menschliche Geist zum Göttlichen aufzusteigen vermag. Die Neupythagoräer Nicomachus von Gerasa und Moderatus von Gades scheinen bei der theoretischen Formulierung dieser Anschauungen eine gewisse Rolle gespielt zu haben, weil sie die Zahlenreihe mit der Wanderung der Seelen der Verstorbenen durch die Planetensphären verknüpften. Plutarch deutete entsprechende Passagen des »Timaios« als eine Beschreibung der Wanderung der Verstorbenen zum Mond und darüber hinaus. Die Renaissancemagie lässt sich nur auf dem Hintergrund dieser Vorstellung einer spirituellen Hierarchie verstehen, die, je weiter man sie erklimmt, um so tiefere Einsichten in die Geheimnisse des Kosmos gewährt. Von der Astrologie des Marsilio Ficino bis zu den theurgischen Anrufungen und der Engellehre John Dees knüpfen die Renaissance-Esoteriker an solche Vorstellungen an.

Der Neuplatonismus stand in der Antike in enger Beziehung zur Hermetik. Die Neuplatoniker gaben zwischen dem 3. und 6. Jahrhundert der platonischen Philosophie eine neue Deutung, indem sie die Wirklichkeit als Erscheinung »einer geistigen Aktivität oder unterschiedlicher Bewusstseinsformen« interpretierten und die Seele des Menschen als geistiges Wesen betrachteten, das sich in der körperlichen Welt im Exil befinde, aber imstande sei, wieder in seine ursprüngliche Heimat zurückzukehren. Zentral für den Neuplatonismus ist die hierarchische Ordnung des Seins, in der der reine Geist die oberste Ebene und die bloße Materie die unterste Ebene darstellt. Die der Zeit unterworfene, sich im Raum ausbreitende sinnliche Welt steht der Materie am nächsten. Aber alle Ebenen des Seins gehen auseinander hervor und bilden einander ab, wobei jedes Abbild etwas unvollkommener ist, als das, was es abbildet. Je näher ein Abbild dem Urbild steht, umso mehr ist es dem Einen gleich, aus dem alles hervorgeht. Je weiter es von ihm entfernt ist, um so mehr nimmt die Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit zu.

Plotin »begründete« im 3. Jahrhundert den Neuplatonismus. Er war Schüler des Ammonios Sakkas in Alexandria, begleitete Kaiser Gordian bei einem Kriegszug nach Persien und lebte später in Rom. Porphyrios, einer seiner Schüler, gab seine Werke unter dem Titel »Enneaden« heraus.

Am Anfang steht für Plotin das Eine, das, zu dem alle Dinge hinstreben. Dieses Eine muss es geben, da alles, was existiert, nur von anderem unterschieden werden kann, insoweit es mit sich selbst identisch ist. Insofern ist das Eine, die Identität mit sich selbst, Grund alles Seienden. Aus dem Einen emanieren die verschiedenen Schichten des Seins, indem sich dieses dem aus ihm Hervorgehenden mitteilt, ohne selbst etwas von seiner Vollkommenheit zu verlieren, während das, was emaniert, einen geringeren Grad an Vollkommenheit besitzt. Daher strebt alles, was emaniert ist, wieder in seinen Ursprung zurück, um wieder die höchste Stufe der Vollkommenheit zu erreichen. Aus dem Einen geht das Denken, der kosmische Geist hervor, in dem sich die Fülle des Einen in ideeller Vielheit spiegelt, aus dem Denken die Weltseele, in der sich dieser Geist entfaltet und spiegelt und aus der Weltseele die schöpferische Natur, in der sich wiederum die Weltseele abbildet. Diese ontologischen Schichten finden sich auch im Menschen, dessen innerstes Wesen das Eine ist, das sich in seinem Denken manifestiert, das sich wiederum in der Seele spiegelt, aus welcher der lebendige Leib hervorgeht. Geist und Seele tragen die »logoi«, die ideellen Bildeprinzipien der sichtbaren Welt in sich. Der anfänglich leere Geist nimmt die unendliche Fülle intelligibler Formen in sich auf, die aus dem Einen hervorquellen, die vollkommenen Urbilder all dessen, was in der sinnlichen Welt in unvollkommener, wandelbarer Form in Erscheinung tritt. Nicht nur Gattungen und Arten existieren in urbildlicher Form im Geist, sondern auch die Individuen. Auf dieser Tatsache beruht auch die Unsterblichkeit der Menschenseele, die als individuelle geistige Form ihr eigenes Urbild in sich trägt. Im Unterschied zu Plato betonte Plotin die Bedeutung der individuellen Seele und die Einzigartigkeit des persönlichen Selbstbewusstseins.

Im Unterschied zu Plato und den monotheistischen Theologien verstand Plotin auch den generativen Prozess, durch den die Natur die körperliche Welt zeugt, als spontanen und gleichsam unbewussten Vorgang, der Raum für Zufall und Neues lässt. Aus dieser ontologischen Grundstruktur ergibt sich auch die plotinische Kosmologie, die auf den Anschauungen des Ptolemaios beruht. Der Kosmos ist ein hierarchisches System von neun konzentrischen Sphären, deren äußerste die Gottheit als erster Beweger bildet, deren innerste die Erde. Für Plotin war der Kosmos ein einziges Lebewesen, das alle lebenden Wesen in sich enthält. Die körperliche Welt ist von der Weltseele durchdrungen, die alle Teile dieser Welt beseelt und ihre gemeinsame Essenz ist. Da alle körperlichen Wesen von der gleichen belebenden Essenz durchdrungen sind, sind sie alle miteinander verwandt und korrespondieren miteinander. Die sichtbare Welt ist von einem sympathetischen Band durchdrungen, das den Entsprechungen zugrunde liegt, die zwischen Himmelskörpern, Pflanzen, Tieren, Mineralien und menschlichen Organen bestehen. Dieses Band der Sympathie ermöglicht es auch, die Entsprechungen zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos zu erkennen. Plotin erläuterte die Macht dieser Entsprechungen am Beispiel astrologischer Voraussagen, der Macht des Gebetes und von Götterbildern, in denen die Seele des verehrten Gottes anwesend ist. Magische Wirkungen sind laut Plotin nicht auf unmittelbares Eingreifen der Götter zurückzuführen, sondern auf die sympathischen Beziehungen, welche die verschiedenen Emanationen der Weltseele miteinander verbinden.

Auch wenn Plotin von der Wirksamkeit des Gebetes, der Magie und der astrologischen Voraussage überzeugt war, scheint er sie nicht praktiziert zu haben. Als Philosoph sah er in diesen Künsten in erster Linie Beweise für die geistige Harmonie und wechselseitige Abhängigkeit aller Dinge im Kosmos. Seine Weltsicht, die allem Seienden ein Streben nach dem Guten und der Harmonie zuschrieb, kam den Bedürfnissen seiner Zeit entgegen, die von Wandel und Unruhe gezeichnet war. Die Menschenseele vermag sich der Vollkommenheit anzunähern. Die Übel der Welt und das Böse betreffen nicht das wahre Wesen des Menschen, und ihr Glück hängt nicht von äußeren Umständen und Zufällen ab. Bei Plotin ist der Neuplatonismus vor allem eine Philosophie der Reinigung und des Aufstiegs der Seele zu ihrem geistigen Ursprung.

Porphyrius schildert seinen Lehrer Plotin als Asketen, der unentwegt bestrebt war, sich in Kontemplation dem Geist hinzugeben, als Menschen, der auf alle irdischen Genüsse verzichtete, der abstinent und sexuell enthaltsam lebte. Dieser Asketismus führte Plotin jedoch nicht dazu, sich aus der Welt zurückzuziehen. Er kümmerte sich aktiv um seine Schüler und die Erziehung von Kindern, die begüterte Römer ihm anvertrauten. Porphyrios schrieb Plotin auch eine ekstatische Erfahrung der Vereinigung mit dem Göttlichen zu. Die Seele Plotins stieg durch die verschiedenen Schichten des Seins auf und erkannte ihre Beziehung zum göttlichen Geist, durch den sie erleuchtet wurde. Plotin erkannte, dass er letztlich aus dem Göttlichen hervorgegangen war, das über dem Weltgeist steht. Diese Vereinigung mit dem Göttlichen setzte eine Trennung der Seele vom Körper voraus, ihre Loslösung von der sinnlichen Welt und ihren Aufstieg zum Einen, das sie als Quell alles Guten und Schönen erkannte.

Neben vielen anderen Werken verfasste Porphyrios auch zwei, in denen er sich mit dem Christentum auseinandersetzte. Das Buch »Gegen die Christen« kritisierte die historischen Irrtümer des alttestamentlichen Buches »Daniel« und hob die Widersprüche der Evangelien hervor. In seinem Kommentar zu den »Chaldäischen Orakeln« betonte er, dass die Orakelgötter mit Hochachtung von Jesus sprachen, bemängelte aber auch, dass die Christen Jesus für eine Verkörperung des höchsten Gottes hielten. Im Unterschied zu Plotin maß er der Theurgie, kultischen Handlungen, beim Aufstieg der Seele in die göttliche Welt eine große Bedeutung bei.

Noch höher schätzte sein Schüler Iamblichos die Rolle der Theurgie ein. Sein Werk über die »Mysterien der Ägypter«, in dem er die heidnischen Kulte als Mittel zur Reinigung und Erhebung der Seele zum Göttlichen verteidigte, beeinflusste das christliche Verständnis der Sakramente. Er ordnete die Philosophie der Theurgie unter. Nach seiner Darstellung sucht das Orakel nach Inspiration, indem es symbolische Gegenstände und geheime Formeln verwendet, um sich in einen Zustand der Empfänglichkeit zu versetzen. Der Theurg, der eine göttliche Inspiration empfängt, ähnelt einem modernen Medium: er wird von einem Geistwesen ergriffen, spricht mit einer anderen Stimme und sein Körper beginnt mitunter zu schweben. Iamblichos ist überzeugt, dass geistige Wesen durch den Theurgen sprechen, weil sich dieser mittels seiner Techniken auf eine höhere Seinsebene begibt. Die entsprechenden kultischen und rituellen Verfahren führen zu einer Vereinigung des Menschen mit den Göttern und lassen ihn an deren Leben teilhaben.

Proklos war der letzte große Neuplatoniker, der im 5. Jahrhundert in der Akademie in Athen lehrte, ehe sie 529 von Kaiser Justinian geschlossen wurde. Auf ihn geht die Lehre von den Henaden zurück, geistigen Wesen, die aus dem höchsten Einen emanieren. Die »Henaden«, die Einheiten, die aus dem Einen, dem »Hen« emanieren, stellen den Versuch dar, das Problem der Transzendenz und Immanenz der geistigen Urbilder zu lösen. Insofern das Eine jenseits aller Teilhabe durch Anderes existiert, ist es nichts als das Eine. Insofern aber anderes als Abbild an ihm teilhat, ist es eine »Henade«. In der Vielfalt der Gattungen und Arten des Seienden offenbaren sich die Henaden als die unendlichfachen Aspekte des eigenschaftslosen Einen. Die Henaden sind zugleich die Götter des Polytheismus, die mit ihren schöpferischen Kräften den Kosmos erfüllen und alle zuletzt Erscheinungsformen des unaussprechlichen Einen sind. Insofern die Naturerscheinungen Offenbarungen der Götter oder Theophanien sind, wird die Theologie zur Naturwissenschaft. Proklos bereitet damit laut Goodrick-Clarke die Verbindung zwischen Theologie und Naturphilosophie vor, die sich in der modernen Esoterik findet. Auch Proklos sah in der Theurgie, der Einwirkung des Menschen auf die Götter durch kultische und rituelle Handlungen, einen legitimen und wirksamen Weg, um sich mit diesen zu verbinden. In der Hinwendung des späteren Neuplatonismus zur Theurgie kommt nach Goodrick-Clarke nicht nur ein gegenüber Plotin gewachsenes Interesse an Einflussnahme auf die Natur mittels sympathetischer Korrespondenzen zum Ausdruck, in ihr bereitet sich auch die »magia naturalis« der Renaissance vor.

Theurgie ist menschliche Einflussnahme auf die Götter, die ein Wissen von der Theorie und Praxis solcher Einflussnahme voraussetzt. Die Verbindung zu den Göttern wird nicht nur durch die Reinigung der Seele hergestellt, sondern auch durch Rituale, Anrufungen, und Gegenstände, welche die Kraft besitzen, Götter, Engel und Dämonen zur Erscheinung zu bringen. Die »Chaldäischen Orakel« sind eine Hauptquelle für die antike Theurgie. Verfasst von Julian dem Theurgen im 2. Jahrhundert nach Chr. entfaltet dieser Text ein komplexes Bild eines von Geistern und Dämonen bevölkerten Universums.

Während die Hermetika für den Hellenismus die Weisheit der alten Ägypter enthielten, stellten die »Chaldäischen Orakel« für die Antike eine Sammlung der chaldäischen Priesterweisheit dar.

Die »Chaldäischen Orakel« enthalten eine hierarchische Weltsicht, an deren oberster Stelle ein väterlicher Geist steht, der völlig transzendent ist und in einer Welt des überhimmlischen Lichtes wohnt. Neben diesem werden die Magna Mater oder Hekate und ein weiterer Geist angesiedelt. Hekate vermittelt die Wirkungen aus der überhimmlischen Lichtwelt in die sinnliche Welt. Unter dieser Welt liegen drei weitere: das Empyreum, die ätherische und die elementarische Welt. Die Orakel kennen einen zweiten, demiurgischen Geist, der den väterlichen Geist im Empyreum repräsentiert, und einen dritten Geist in der ätherischen Welt, während die elementare Welt von »Hyperzokos«, der »Blume des Feuers« beherrscht wird. Sie beschreiben die physische Welt als Gefängnis, aus der die Seele des Menschen entfliehen muss, indem sie den Leib von sich abschüttelt, den sie bei ihrem Herabsteig durch die Planetensphären an sich gezogen hat. Diese Befreiung wird durch Askese und theurgische Rituale herbeigeführt, welche die Seele von der Macht der Planetenregenten erlösen und vor den Dämonen beschützen, die die Sphären zwischen den Welten bewohnen. Die Orakel beschreiben Rituale, durch die Götter in ihre Bildnisse oder in ein menschliches Medium herabgerufen werden, damit sie der Seele bei ihrer Flucht aus dem Gefängnis des Leibes und ihrem Aufstieg zu Gott helfen.

Als eine Hauptströmung des »christlichen Denkens« in der Antike schildert Goodrick-Clarke – in deutlichem Kontrast zu den geläufigen apologetischen Kennzeichnungen – auch die Gnosis. Wie der Name schon sagt, geht es in ihr um höhere Erkenntnis jener Realitäten, die jenseits der Sinne liegen. Doch auch Goodrick-Clarke hält, wie viele andere, den Dualismus für zentral im gnostischen Denken, und zwar als Gegensatz zwischen den Mächten des Guten und des Bösen. Die höchste Ursache aller Dinge ist verborgen und unerkennbar. Aber aus dieser höchsten Ursache gehen auf dem Wege der Emanation geistige Wesen, die Äonen hervor, zu denen auch Christus gehört. Die Äonen bilden zusammen das Pleroma, die Fülle der geistigen Welt, die im Kosmos, jenseits von Zeit und Raum ausgebreitet ist. Unter dieser Welt liegt die, in der der Mensch sich mit seinen Sinnen und seinem Leib bewegt. Sie ist durch einen metaphysischen Fall entstanden oder durch eine untergeordnete Schöpfungsmacht, den Demiurgen, geformt worden.

Die geistige Welt der Engel und Äonen ist die wahre Wirklichkeit, die sinnliche ist wandelbar und unvollkommen. Der Mensch ist in ihr gefangen, vom wahren Gott getrennt, aber die Gnosis vermag ihm einen Weg zurück in jene vollkommenen Welt des Lichtes und der Wahrheit aufzuzeigen, aus der er stammt. Durch die Geisterkenntnis kann er über die Leiter der Äonen aufsteigen, bis er wieder in seine ursprüngliche Heimat gelangt. Bei diesem Aufstieg muss er aber die Tore der Archonten passieren, was ohne genaue Kenntnis ihrer Natur nicht möglich ist. In manchen gnostischen Erzählungen sind die Archonten die Planetenregenten, die von der Seele ein Schlüsselwissen verlangen, bevor sie ihr Eintritt in ihre Region gewähren und den weiteren Aufstieg erlauben. Dieses Wissen vermittelt die Gnosis.

Besondere Prominenz unter den Äonen genießen eine weibliche Gestalt, Sophia, die auch als Achamoth bezeichnet wird, und Satanael, ein gefallenes Engelwesen, das auch als Satan bezeichnet und mit dem Schöpfer der sinnlichen Welt identifiziert wird. Das Motiv des Falls ist grundlegend für das gnostische Denken: sowohl die Welt, die den Menschen umgibt, als auch der Mensch selbst sind gefallen. Satan fiel durch seinen Stolz, Sophia durch ihre Neugier und Adam durch seinen Ungehorsam. Manche Gnostiker, zum Beispiel Marcion, identifizierten den Demiurgen mit dem Schöpfergott des Alten Testamentes und sahen ihn im Gegensatz zur wahren Gottheit. Der Gott des Alten Testamentes war nach Marcion ein zorniger, eifersüchtiger Gott, und nicht wie der wahre Gott, ein Gott der Liebe und Barmherzigkeit. Marcion gab ein von allen alttestamentlichen Bestandteilen gereinigtes Evangelium heraus, was die Kirche veranlasste, ihrerseits mit der Kanonifizierung der Evangelien zu beginnen.

Die Gnosis nahm Motive aus der ägyptischen Mythologie, der chaldäischen Magie und der jüdischen Mystik auf, verstand sich aber als christlich und wies dem Christus eine zentrale Rolle bei der Rettung des Menschen aus der Gefangenschaft in der materiellen Welt zu. Manche gnostischen Evangelien beschreiben die Kindheit Jesu, manche Gnostiker leugneten die Inkarnation, da Christus als geistiges Wesen nicht habe Fleisch werden können, manche betrachteten Jesus als Menschen, in den bei der Taufe am Jordan der Logos eingetreten sei. Manche leugneten die Kreuzigung als Illusion oder behaupteten, jemand anders sei anstelle Jesu gekreuzigt worden.

Dem Menschen kommt in der Gnosis eine große Bedeutung zu. Er besitzt eine unsterbliche Seele, die in einem physischen Leib gefangen ist. Seine wahre Heimat ist das Pleroma, aber aufgrund des Falles ist er in die materielle Welt herabgestiegen, was ihn zu einem einzigartigen Wesen mit irdischen und geistigen Anteilen macht. Die Gnosis hilft ihm, seine Seele von der Verstrickung in die materielle Welt zu befreien, sie vermittelt das Schlüsselwissen über die Methoden und Wege der Befreiung.

Hermetik, Gnosis und Neuplatonismus sind sich in vielem ähnlich und haben sich gegenseitig beeinflusst. Die Hermetik und der Neuplatonismus betonen den kontinuierlichen Übergang zwischen den verschiedenen Ebenen des Seins. Auch sie legen Wert auf die Befreiung der Seele und ihren Aufstieg in die höhere Welt. Geistige Mittlerwesen stehen dem Menschen bei diesem Aufstieg bei. Hermetik und Christentum legen Wert auf die Inkarnation, dem Leben auf der Erde kommt eine besondere Bedeutung zu: der Mensch soll mitwirken an der Wiederherstellung des gefallenen Kosmos.

In der Gnosis spielen die geistigen Mittlerwesen eine große Rolle, die ebenfalls eine absteigende und aufsteigende Leiter bilden. Die Gnosis hat zur Geschichte der Esoterik ihre reiche Überlieferung von diesen Mittlerwesen beigetragen. Aber im Gegensatz zu Hermetik und Christentum betont die Gnosis laut Goodrick-Clarke den Dualismus und ist daher eher pessimistisch gestimmt. Die Kluft zwischen der gefallenen Welt und dem Reich des Lichtes ist groß und das Leben in dieser Welt hat kaum etwas Gutes zu bieten. Die düstere Sicht der Sinneswelt steht im Kontrast zur esoterischen Auffassung, dass die irdische Welt ein Abbild der himmlischen ist. Die anderen esoterischen Strömungen teilen diesen gnostischen Pessimismus nicht, und betrachten die irdische Welt auch nicht als Schöpfung eines widergöttlichen Prinzips.

Magie und Kabbala in der Renaissance

Goodrick-Clarke widmet ein ganzes Kapitel seiner Einführung in die Geschichte der Esoterik Marsilio Ficino und Pico della Mirandola. Angesichts der Bedeutung dieser beiden Philosophen für die Geschichte der abendländischen Esoterik ist dies gerechtfertigt. Ohne Ficino hätte es vermutlich keine Renaissance der platonischen Philosophie in Westeuropa gegeben und ohne Mirandola keine hermetisch inspirierte, christliche Kabbala.

Nach dem Fall Roms im Jahr 410, so Goodrick-Clarke, wurde Byzanz zum Zentrum des abendländischen geistigen Lebens. Hier wurde die klassische und hellenistische Bildung weiter gepflegt, während der Westen in den Wirren der Völkerwanderung versank. Byzanz betrachtete sich als zweites Rom. Es wollte die »ewige Stadt« nicht nur politisch, sondern auch spirituell beerben. Bis ins sechste Jahrhundert lebte in der Schule von Athen, die zum byzantinischen Machtbereich gehörte, der Neuplatonismus fort. Erst Kaiser Justinian schloss die Schule im Jahr 529. Die Ottomanen setzten der byzantinischen Ära im Jahr 1453 mit der Eroberung der Stand am Bosporus ein Ende.

Aber seit dem sechsten Jahrhundert breiteten sich die Araber im Nahen Osten aus, und sogen die spirituellen Traditionen Ägyptens und Chaldäas begierig in sich auf. Sie eigneten sich die Astrologie, die Alchemie und die Magie an, die alle auf der Idee der Korrespondenz zwischen der himmlischen und der irdischen Welt beruhten. Besonders beeindruckte sie die Gestalt des Hermes Trismegistos, dem sie bald theosophische, astrologische und alchemistische Werke zuzuschreiben begannen, die sie selbst verfasst hatten. Zu diesen gehörte die »Tabula Smaragdina« mit ihrem Grundsatz »Wie oben, so unten«.

Michael Psellus, ein byzantinischer Platoniker benutzte im 11. Jahrhundert hermetische und orphische Texte, um die Bibel zu interpretieren. Auch eine große Zahl mittelalterlicher Autoren nahm auf Hermes Trismegistos Bezug und zitierte den »Asklepius«, den einzigen hermetischen Traktat, der zu ihrer Zeit in Europa bekannt war. Astrologie, Alchemie und rituelle Magie wurden im Mittelalter trotz kirchlicher Verbote praktiziert. Während die Scholastik ihr Interesse an der Natur verlor, entwickelte sich im Orient eine reiche naturphilosophische und esoterische Literatur, die mit dem Untergang des byzantinischen Reiches nach Westen gelangte. Unabhängig davon hatte bereits im 13. Jahrhundert über das arabische Spanien eine Rezeption von griechischen und arabischen Quellen begonnen, die bis dahin im westlichen Abedland unbekannt waren. Zu ihnen gehörten auch mystisch-neuplatonische Interpretationen des Aristoteles und des Avicenna.

Der Einfluss der griechischen Literatur führte ab dem 15. Jahrhundert zu einer Blüte des philosophischen Denkens, die einen neuen Blick auf den Kosmos und die Stellung des Menschen in der Natur ermöglichte. Während in der Scholastik Aristoteles die unangefochtene Autorität in philosophischen Fragen gewesen war, traten nun Plato und die neuplatonische Schule in den Vordergrund.

Zentrum dieser Wiedergeburt der Antike war Florenz. Bereits Coluccio Salutati, Kanzler der Republik Ende des 14. Jahrhunderts, brachte dem Humanismus, dem Studium der antiken Texte, neues Ansehen. 1396 bewegte er die Regierung von Florenz dazu, Manuel Chrysoloras, einem führenden byzantinischen Gelehrten, an der Universität von Florenz einen Lehrstuhl zu verleihen. Von ihm wurde eine Generation von Gelehrten ausgebildet, die sich mit Eifer und Sachkenntnis den griechischen Autoren zuwandte. Zum Konzil von Ferrara/Florenz reisten Gemisthos Plethon und Johann Bessarion von Trapezunt, der Patriarch von Nizäa, an, die beide für die Verbreitung neuplatonischen Denkens in Italien sorgten. Während Plethon einen heidnischen Platonismus befürwortete, der die griechischen Götter als Allegorien der Trinität deutete, verteidigte Bessarion Plethon und den Platonismus gegen die Angriffe Georg von Trapezunts, der Plato als Gefahr für das christliche Abendland betrachtete. Plato und der Neuplatonismus wurden zum vorherrschenden Thema im Italien des 15. Jahrhunderts.

Auch Cosimo de Medici spielte mit seinem Mäzenatentum eine bedeutende Rolle bei der Widergeburt des Platonismus in Italien. Er baute nicht nur Villen in Careggi und Fiesole, sondern stiftete Kirchenbauten, unterstützte Künstler wie Donatello, Brunelleschi, Ghiberti und Luca della Robbia und nicht zuletzt förderte er Marsilio Ficino.

Plethon behauptete, alle griechischen Philosophenschulen ließen sich harmonisieren, und eine wirkliche Kenntnis Platos werde die Wiedervereinigung der getrennten Kirchen ermöglichen. Andere Denker, unter ihnen Marsilio Ficino, waren weniger an der Wiedervereinigung der Kirchen interessiert, als an der spezifischen Form der Spiritualität, die der Platonismus und die hermetischen Schriften enthielten. Marsilio Ficino nahm bald die Rolle eines führenden Platonikers und eines »Hohepriesters der Hermetik« in der Akademie von Florenz ein.

In seiner Studienzeit stieß ihn der Naturalismus des Aristoteles ab, der seine spirituellen Bedürfnisse nicht befriedigen konnte. Dessen unausgesprochene Leugnung der Unsterblichkeit der Seele war Ficinos Überzeugungen zuwider. Platos Unterscheidung zwischen der ewigen, unveränderlichen Ideenwelt und der wandelbaren Welt der Sinne kam seiner Suche entgegen. Durch die Ideen ließ sich alles Vergängliche als Abbild oder Symbol des Unvergänglichen begreifen, der Mensch war bei Plato ein Bürger der höheren Welt, der lediglich im vergänglichen Leib exiliert war, um dereinst, oder – bei entsprechender Schulung schon während des Lebens – wieder in seine wahre Heimat zurückzukehren. Schon 1456 hatte Ficino begonnen, Griechisch zu lernen und platonische Texte ins Lateinische zu übersetzen. 1463 unterbrach er diese Arbeit, um das »Corpus Hermeticum«, das ein Mönch, Leonardo von Pistoia, aus Makedonien mitgebracht hatte, zu übersetzen. Bis Anfang des 17. Jahrhunderts glaubte man, dieses Corpus gehe auf Hermes Trismegistos zurück, einen Zeitgenossen oder Vorfahren des Moses. Es enthielt die »philosophia perennis«, eine ewige Weisheit, die älter als das Christentum war, aber dieses zugleich ankündigte. Hermes Trismegistos wurde damals als Prophet und Inaugurator des pharaonischen Ägypten betrachtet, so wie Moses als Begründer des Judentums galt. Diese Anschauungen waren selbst unter Päpsten verbreitet. Alexander VI. ließ die Borgia-Zimmer im Vatikan mit hermetischen und astrologischen Symbolen ausschmücken und den Boden der Kathedrale von Siena ziert eine Mosaikdarstellung des Hermes Trismegistos aus dem Jahr 1488. Die hermetischen Schriften wurden aber nicht nur als Zeugnisse der »philosophia perennis« verstanden, sondern auch als »prisca theologia«, als ursprüngliche Gottesweisheit, die den Heiden geoffenbart worden und durch eine Kette von Eingeweihten auf die Nachwelt gekommen war. Hermes sollte ebenso zu diesen Eingeweihten gehören, wie Moses, Orpheus, Zoroaster und Pythagoras.

1469 schloss Ficino seine Platoübersetzung ab, die erste vollständige im Westen. In diesem Jahr schrieb er auch seinen berühmten Kommentar zum »Symposion«. Zwischen 1469 und 1474 arbeitete er an seiner »Platonischen Theologie«. Seine Beschäftigung mit heidnischer Philosophie hinderte ihn jedoch nicht daran, im Jahr 1473 katholischer Priester zu werden und geistliche Ämter auszuüben, unter anderem die Funktion eines Kanonikers an der Kathedrale von Florenz. Nach 1484 begann er mit seiner Plotinübersetzung, die zusammen mit seinem Kommentar 1492 veröffentlicht wurde.

Die platonische Akademie, die Ficino um 1463 in Careggi gründete, war keine feste Institution, sondern ein loser Kreis von Freunden, die durch ihr gemeinsames Interesse am Platonismus und der Hermetik verbunden waren. Ficino betrachtete diesen Kreis, der sich bei seiner spirituellen Suche mit den Offenbarungen der »prisca theologia« und »pia philosophia« befasste, als religiöse Gemeinschaft. Die Akademie feierte den Geburtstag Platos mit einem Festbankett und philosophischen Reden nach dem Vorbild des Symposions.

Das Neue an Ficinos Weltsicht war eine Kosmologie, die der Seele des Menschen eine dynamische Mittlerrolle in einem bis dahin statischen und hierarchischen Universum zuwies. In dieser Kosmologie spielt die platonische Weltseele eine zentrale Rolle. Ihr kommt innerhalb des Kosmos eine ähnliche Mittlerfunktion zwischen der irdischen und der himmlischen Welt zu, wie der Seele des Menschen auf Erden zwischen Leib und Geist. Durch die Weltseele, die den Ideenhimmel mit der irdischen Welt verbindet und an beiden teilhat, sind alle Teile des Kosmos miteinander verbunden. So wie die Seele des Menschen die Ideen mit den Organen des Leibes und die sinnlichen Wahrnehmungen mit dem Denken verknüpft, trägt auch die Weltseele die Botschaften beider Welten hin und her. Die Urbilder der Ideenwelt spiegeln sich in der Weltseele und diese bringt sie in der sinnlichen Welt als Abbilder zur Erscheinung. Der Astrologie als der Wissenschaft dieser Wechselbeziehungen kommt in Ficinos Philosophie eine herausragende Bedeutung zu.

Im Zentrum seines Denkens steht die Seele des Menschen. Durch ihre Vernunft und ihre Kraft der Liebe vermag sie auf alle Dinge im Universum einzuwirken, da sie ihrerseits an der Weltseele teilhat. Die Seele des Menschen erhält damit eine magische Dimension und diese neue Deutung der Menschenseele sollte zu einer Revolution in der Auffassung von der Rolle des Menschen im Kosmos führen. Die Seele des Menschen steht im Zentrum des Universums, sie vermag durch ihr Denken alles zu erkennen und durch ihren Willen an den Kräften aller Dinge teilzuhaben.

Aber diese Kosmologie war nicht nur ein Erklärungs-, sondern auch ein Handlungsmodell, da sie auch eine spirituelle Landkarte darstellte, an der die Seele des Menschen sich orientieren konnte. Durch die Meditation kann die Menschenseele sich einen Zugang zu den höheren geistigen Bereichen der Wirklichkeit eröffnen. Solange sie an die äußere Welt hingegeben ist, kann sie keine spirituelle Erkenntnis erlangen. Aber wenn sie sich von der Sinneswelt abwendet und den Blick nach innen richtet, beginnt ihr Aufstieg auf der Leiter der Hierarchien, bei dem sie von geistigen Wesen begleitet und belehrt wird.

Die mystischen Übungen und Aufstiegserfahrungen sind Reisen der Seele zu höheren Stufen der Wahrheitserkenntnis und des Seins, die letztlich in eine unmittelbare Schau Gottes münden. Ficino verstand Philosophie als Initiationsweg, was deren Anziehungskraft auf seine Zeitgenossen verständlich macht. Ficino lud sie zu einer spirituellen Entdeckungsreise ein, einer Reise, die zuletzt zur Schau Gottes und der universellen Wahrheit führte.

Ficino zweifelte nicht daran, dass seine Philosophie christlich war. Seiner Ansicht nach war Jesus das Inbild spiritueller Vollendung. Allerdings war seine Version des Christentums weit esoterischer und elitärer, als der Glaube der meisten Zeitgenossen. Er betrachtete sich selbst als Seelenarzt, der seine Schüler von den Beschwernissen der körperlichen Welt befreite und ins heilende Licht der Gottheit leitete.

Aufstiegserfahrungen waren an den Erwerb von Weisheit gebunden, aber die Magie der hermetischen Schriften versprach Macht über die Natur. Der »Asklepius« berichtete von der Fähigkeit ägyptischer Priester, Götterstatuen auf magische Weise zu beseelen. Ficino deutete diesen Vorgang als natürlichen Prozess, bei dem himmlische Kräfte, die in Kräutern, Bäumen, Steinen oder Räucherwerk enthalten sind, in die Bildnisse geleitet wurden. Die Idee der Magie ist vom Neuplatonismus nicht zu trennen, der den Kosmos als eine Emanation des höchsten Göttlichen betrachtet, das sich über verschiedene Stufen in allen Dingen manifestiert. Da alles am Göttlichen teilhat, vermag auch aus allem dieses Göttliche entbunden zu werden.

Ficinos Magie ist eine Magie des Geistes. Sie beruht auf astrologischem Wissen, denn die verborgenen Kräfte der Dinge und Kreaturen haben ihren Ursprung im Stern oder Planeten, der sie regiert. Der Magier, der die Kraft der Venus nutzen will, muss daher wissen, welche Pflanzen, Steine, Metalle und sonstigen irdischen Dinge der Venus zugehören und sie alle zusammentragen, um den Planetenregenten anzurufen. Er sollte mit den Symbolen der Venus vertraut sein, die er auf Talismanen anbringen muss, die aus Materialien angefertigt werden, die zu ihr gehören und dies zu Zeiten tun, die für die Wirkungen der Venus empfänglich sind.

Die Magie, die auf dieser Philosophie beruht, bezeichnet man als sympathetische Magie. Sein Buch »De vita coelitus comparanda« empfiehlt Ficino als Therapie für Gelehrte, die durch ihr Studium der saturnischen Melancholie verfallen sind. Die Melancholiker sollen allen Kontakt mit den irdischen Abbildern des Saturn vermeiden. Stattdessen sollen sie sich mit Pflanzen, Metallen und sonstigen Gegenständen umgeben, die zu den aufbauenden Kräften der Sonne, des Jupiter und der Venus in Beziehung stehen. Gold ist voll vom Geist der Sonne und des Jupiter und vermag den melancholischen Geist des Saturn zu vertreiben. Die Farbe Grün ist ebenso hilfreich. Außerdem empfiehlt Ficino melancholischen Gelehrten Spaziergänge in der Natur, bei denen sie Rosen oder Krokusse pflücken sollen.

Francesco da Diacetto, ein Schüler Ficinos, hat ein magisches Ritual beschrieben, das der Sammlung der Sonnenenergie diente. Der Magier bekleidete sich mit einem goldenen Mantel und verbrannte Kräuter der Sonne vor einem Altar, der mit ihrem Bild geschmückt war. Gesalbt mit Sonnensubstanzen, stimmte er einen orphischen Hymnus an die Sonne an. Die Kompisition von Abbildern der Sonne aus Bestandteilen der irdischen Welt diente als eine Art Linse, die es ermöglichte, die himmlischen Sonnenkräfte auf die Erde herabzuleiten.

D. P. Walker hat in seinem Buch »Spiritual and Demonic Magic from Ficino to Campanella« betont, dass Ficino großen Wert auf die Unterscheidung zwischen seiner eigenen geistigen und einer früheren, dämonischen Magie legte. Auf die Subtilität seiner Magie deutet auch die Rolle, die er der Musik zuschrieb. Ficino selbst war ein begnadeter Musiker und Sänger. Nach Ficino war das Medium der Töne, die Luft, ein geistiges Wesen. So wie die Saiten einer Leier die kosmischen Töne der Planeten und Sterne wiedergeben konnten, so vermochte auch der Magier mit den himmlischen Mächten durch die Musik zu kommunizieren.

Ficinos Magie fördert eine neue Vorstellung des Menschen. Er ist ein Mikrokosmos, der in sich alle Mächte und Kräfte des Makrokosmos versammelt. Seine Mittlerstellung ermöglicht es dem Menschen, sowohl auf die untere als auch die obere Welt einzuwirken. Ficinos Version des Neuplatonismus und der Hermetik verhalf diesen zu einer Wiedergeburt und eröffnete seinen Zeitgenossen eine neue Sicht des Kosmos und des Menschen, die dem letzteren die Fähigkeit zuschrieb, die Kräfte der Natur zu seinem eigenen Vorteil zu lenken.

Als noch wirkungsmächtiger sollte sich allerdings die Kombination der Magie mit der Kabbala erweisen, die von Giovanni Pico della Mirandola ausging. Im Gegensatz zu Ficino, der als Kleriker und Gelehrter die Einsamkeit vorzog, führte Mirandola ein zwar kurzes, dafür aber um so bewegteres Leben. Sein stürmischer Geist brachte ihn in Konflikt mit der Kirche; Papst Innozenz VIII. verurteilte sein Werk wegen Häresie.

Pico della Mirandola stammte aus einem Geschlecht von Landadligen aus Norditalien. Im Alter von zehn Jahren wurde er zum päpstlichen Protonotar ernannt, da seine Mutter ihn für eine Kirchenlaufbahn vorsah. Als er dreizehn war, begann er kanonisches Recht in Bologna zu studieren, mit fünfzehn Philosophie in Ferrara, später setzte er sein Studium in Padua fort. Hier war er Schüler des jüdischen Aristotelikers Elia del Medigo. Zu dieser Zeit lernte er in Florenz auch Ficino kennen. Er lernte Griechisch und musste mit 23 Jahren nach einer unglücklichen Liebesgeschichte nach Perugia übersiedeln, wo er mit Hilfe verschiedener jüdischer Lehrer Hebräisch und Arabisch lernte. Zu seinen Lehrern gehörte auch ein gewisser Flavius Mithridates. In Perugia begann er sich mit der Kabbala zu beschäftigen. Mithridates war, wie viele andere Juden, im Zuge der Vertreibung von 1492 aus Spanien geflüchtet.

Die mittelalterliche Kabbala kreiste um die zehn Sephiroth und die 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets. Das erste Mal wird die Lehre von den Sephiroth im »Sepher Yetzirah« historisch greifbar, das im dritten Jahrhundert n. Chr. verfasst wurde. Isaak der Blinde hatte die Sephirothlehre im 12. Jahrhundert in Nordspanien weiter ausgebaut und im »Sepher Bahir«, dem »Buch der Erleuchtung« niedergelegt. Das »Bahir« beschreibt die Sephiroth als göttliche Kräfte. Hier wurden sie das erste Mal als göttliche Emanationen beschrieben und als Baum angeordnet, der heute als »Baum des Lebens« bekannt ist. Der »Sepher Zohar«, das »Buch des Glanzes« aus dem 13. Jahrhundert schließlich beschreibt die zehn Sephiroth als zehn göttliche Namen oder Kräfte und das geschaffene Universum als Ausdruck oder Offenbarung dieser Namen. Dadurch wurden die Sephiroth mit der Kosmologie verbunden und ihre Verknüpfung mit den zehn Sphären: den sieben Planeten, der Fixsternsphäre und zwei weiteren lag nahe.

Der Lebensbaum verbindet die zehn Sephiroth durch 22 Pfade miteinander, die mit den 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets korrespondieren, aber auch mit 22 Engeln, die als Mittler zwischen den Sphären wirken. Neben einer Hierarchie der guten Mächte, gibt es auch einen Sephirothbaum des Bösen, der aus ebensovielen geistigen Wesen und 22 Wegen des Verderbens besteht.

Die Kabbala bediente sich bestimmter hermeneutischer Techniken, bekannt als »gematria«, »notarikon« und »themurah«, die durch unterschiedliche Kombinationen von Buchstaben und Zahlenwerten den verborgenen Schriftsinn der Bücher Mose zu entziffern versuchten. Diese Techniken gingen auf das Buch »Garten der Nüsse«, »Ginnat Egoz« des Joseph ben Abraham Gikatilla aus dem 13. Jahrhundert zurück, der ein Schüler des berühmten Abraham Abulafia war. Abulafia hatte einen ekstatischen Zweig der Kabbala ins Leben gerufen, in dem die Kontemplation der göttlichen Namen zu einer Schau der Geheimnisse der himmlischen Welt führen sollte. Während Abulafia eine mystische Variante der Kabbala betrieb, wurden in einer magischen Variante die 22 Engel angerufen, die den Magier durch die kosmischen Sephiroth zu Gott hinauftrugen.

Mirandola sah zwischen Kabbala und Hermetik eine wundervolle Übereinstimmung. Hermes Trismegistos hatte mystische Lehren offenbart, die sich unter anderem auf die Schöpfung der Welt bezogen, was seiner Auffassug nach darauf hindeutete, dass er über das Wissen des Moses verfügte. Nach Mirandolas Ansicht enthielt die Kabbala zusätzliche mystische Offenbarungen, die von Moses stammten, aber ihre Schau des Kosmos stimmte mit jener des Hermes überein. Mirandola schrieb seine Synthese der Kabbala und der Hermetik in 26 magischen Thesen nieder, die sehr an die von Ficino praktizierte Magie erinnern. Er verwarf die mittelalterliche Magie als Teufelswerk und pries dafür um so mehr die »natürliche Magie«, die Zusammenhänge zwischen Himmel und Erde herstelle, indem sie sich natürlicher Substanzen bediene oder orphische Hymnen als Anrufungen benutze. Gleichzeitig wies er aber auch auf die Grenzen der von Ficino praktizierten Magie hin: da sie noch nicht die Kabbala in sich aufgenommen habe, sei sie schwach und nutzlos. Ohne eine Kenntnis des Hebräischen konnte nach seiner Ansicht keine wirkmächtige Magie ausgeübt werden. Selbst die orphischen Hymnen hielt er für wirkungslos, sofern sie nicht mit der Kabbala kombiniert wurden.

Mirandola kannte verschiedene Formen der Kabbala: eine mystische, die sich mit der Manipulation von Buchstaben beschäftigte und drei weitere, die sich auf die irdische, die planetarische und die überhimmlische Welt bezogen – nur die vierte hatte es mit den Sephiroth und den Engelshierarchien zu tun. Mit Hilfe der Kabbala vermochte die Magie auf die höchsten Bereiche der Wirklichkeit einzuwirken. Während sich die natürliche Magie nur bis in die Planetenwelt erstreckte, reichte die kabbalistische Magie bis in die überhimmlische Welt, zu den Engeln, Erzengeln, den Sephiroth und Gott. Die natürliche Magie verwendete Buchstaben, die kabbalistische Zahlen, erstere bezog sich nur auf die mittelbaren Ursachen, letztere griff bis zu Gott, der Ursache aller Ursachen aus.

Die Kabbalisten benutzen laut Mirandola für ihre magischen Anrufungen die geheimen Namen Gottes und der Engel. Aber nicht nur gutartige Geistwesen, sondern auch ihre dämonischen Gegenspieler bevölkern den Kosmos. Gegen diese muss der Magier sich durch Frömmigkeit wappnen. Der Kabbalist vermag durch die Erzengel ekstatisch mit Gott zu kommunizieren, allerdings birgt diese Kommunikation die Gefahr in sich, dass man »vom Tod geküsst« wird. Außerdem setzt Mirandola die Sephiroth zu bestimmten Seelenvermögen in Beziehung: dem Abbild des Einen, Vernunft und Verstand und dem Willen.

Mirandolas 900 Thesen zur Magie und verwandten Themen wurden in der Neuzeit weit weniger rezipiert als die Einleitung zu diesen Thesen, seine berühmte »Rede über die Würde des Menschen« (»Oratio de Dignitate Homini«). Dies zeigt sich auch daran, dass es zwar zahlreiche Übersetzungen seiner Rede ins Deutsche gibt, aber bis heute keine Übersetzung der 900 Thesen (für die Philosophische Bibliothek des Felix Meiner Verlags wird derzeit eine Übersetzung erarbeitet). Seine Thesen wollte Mirandola 1486 in Rom mit Gelehrten aus aller Welt diskutieren, ein Vorhaben, das die Kirche jedoch unterband.

Mirandolas »Rede« wurde zurecht als rhetorisches Meisterwerk betrachtet, als eine Feier der Unabhängigkeit und des Selbstbewussteins des Renaissancemenschen. Mirandolas Ausführungen machen den Gezeitenwechsel zwischen dem mittelalterlichen und dem neuzeitlichen Bewusstsein deutlich, den enormen Zuwachs an Autonomie und Würde, die mit der humanistischen Bewegung einhergingen. Mirandola verwirft jedoch die traditionellen Argumente, die für die Bedeutung des Menschen ins Feld geführt wurden: seine Vernunft oder seine Rolle als Mikrokosmos. Stattdessen liegt die wahre Größe des Menschen aus Mirandolas Sicht darin, dass er unfertig ist und nicht mit gebundener Marschroute ins Dasein tritt wie die übrigen Geschöpfe, dass er alles werden kann, wenn er nur will. Tiere und Engel haben ihren festen Platz im Universum und vermögen ihrer Natur nicht zu entrinnen. Anders der Mensch: ihm wies Gott keinen festen Wohnort zu, keine unveränderliche Form oder Aufgabe. Er ist frei von diesen Begrenzungen und besitzt die Macht, sich selbst zu formen und zu gestalten wie ein Bildhauer sein Werk.

Was ist das letzte Ziel der existentiellen Freiheit des Menschen? Pico schreibt dem Menschen die Fähigkeit zu, den höchsten geschaffenen Wesen, den Seraphim, Cherubim und Thronen gleich zu werden, ja sogar noch über diese hinauszuwachsen. Seine Rede eröffnet er mit einem Zitat aus dem »Asklepios«: »Ein großes Wunder, o Asklepios, ist der Mensch.« Während die Kirchenväter den Menschen an die Spitze aller irdischen Wesen gestellt hatten, damit er die Schöpfung betrachten konnte, zitiert Pico den hermetischen Asklepios, der dem Menschen verheißt, er könne den Göttern gleich werden: »Der Mensch ist ein Wunder, ein Lebewesen, das Verehrung und Bewunderung verdient: denn er wandelt seine Natur in die eines Gottes, als wäre er ein Gott … Durch seine Göttlichkeit den Göttern zugesellt, verachtet er seinen irdischen Teil.«

Mit seinen neunhundert Thesen stellt sich Pico über alle Philosophen und Mysterien, die er studiert hat. Ein Hauptanliegen seiner neuen Philosophie (»philosophia nova«) ist der Versuch, zwischen allen antiken Philosophien eine Übereinstimmung oder Beziehung herzustellen, um dadurch die These von der Existenz einer »prisca theologia«, einer Uroffenbarung zu untermauern. Eine Reihe illustrer Namen zeugt von Mirandolas frühreifer Gelehrsamkeit: auf Duns Scotus, Thomas von Aquin, Albertus Magnus und Heinrich von Gent folgen Avicenna, Averroes und al-Farabi. Er beruft sich auf die Peripatetiker genauso wie auf die Neuplatoniker Plotin, Porphyrius, Iamblichus und Proklus. An der Quelle der alten Weisheit stehen für ihn Pythagoras, Mercurius Trismegistos, Zoroaster und die hebräischen Weisen der Kabbala, deren »Weisheit später von al-Kindi, Roger Bacon und Wilhelm von Paris« wieder entdeckt wurde. Die großen Motive der Magie und Kabbala klingen durch seine ganze Rede hindurch. Die »alte Theologie des Hermes Trismegistos« und »die okkulten Mysterien der Hebräer« stellen die Mittel der Wahl dar, mit deren Hilfe der Mensch sich in die göttliche Welt zu erheben vermag. »So wie der Bauer die Ulmen mit den Weinreben, so vermählt der Magier die Erde mit dem Himmel.« Die Rede spielt auf esoterisches Wissen an, das nur Wenigen bekannt ist. Pico spricht vom »okkulten« hebräischen Gesetz, das nur den Initiierten mitgeteilt wurde, und ruft das Symbol der Sphinx in ägyptischen Tempeln in Erinnerung, um anzudeuten, dass mystische Lehren vor der gemeinen Menge geheim gehalten werden müssen.

Mirandolas Leben verlief stürmisch. Kaum hatte er seine 900 Thesen veröffentlicht, beklagte eine Reihe römischer Theologen ihren häretischen Inhalt und Papst Innozenz VIII. setzte eine Untersuchungskommission ein. Mirandola wurde mehrmals vorgeladen und eine Reihe seiner Thesen wurden verurteilt. Davon unbeeindruckt, veröffentlichte Mirandola im Mai 1487 zusammen mit einem Teil der Rede eine Verteidigung der verurteilten Thesen. Diese Herausforderung verwickelte ihn in neue Schwierigkeiten und sein Fall wurde Bischöfen mit inquisitorischen Vollmachten übergeben. Im Juli unterwarf sich Mirandola offiziell der Untersuchungskommission und zog die verurteilten Thesen zurück. Im August veröffentlichte der Papst eine Bulle, die sämtliche Thesen verurteilte und deren weitere Verbreitung verbot. Lorenzo de Medici intervenierte zugunsten Mirandolas beim Papst und sein Schützling erhielt die Erlaubnis, unter dem Patronat der Medici in Florenz zu leben. Am 17. November 1494, als die Armeen des französischen Königs Karl VIII. in Florenz einmarschierten, starb Mirandola in seinem 31. Lebensjahr an einem Fieber.

Ficino und Mirandola waren Schlüsselfiguren bei der Wiederbelebung der Hermetik, des Neuplatonismus, der Magie und Kabbala im Europa der Renaissance. Ihr Interesse am Vermögen der sympathetischen und kabbalistischen Magie, in der Natur Veränderungen hervorzurufen, deutet auf eine neue Schätzung der menschlichen Fähigkeit, auf die irdische Welt aufgrund der Kenntnis der Korrespondenzen zwischen der höheren und der niederen Welt einzuwirken. Frances A. Yates war der Ansicht, diese Haltung nehme jene der Naturwissenschaften voraus. Aber die Bedeutung, die der Hierarchie spiritueller Mittler zugemessen wird, die in Gestalt göttlicher Eigenschaften, Buchstaben und Zahlen auftreten, und die Vorstellung der Wandlung der Seele zeigen, dass diese Philosophie der Natur eng mit der religiösen Erfahrung und der Zuwendung zu Gott verbunden war. Die Renaissancemagie ist daher eine Form »heiliger Wissenschaft«.

Magie der Planeten und Engel in der Renaissance

Ebenso bedeutsam wie Marsilio Ficino und Pico della Mirandola für die italienische Renaissance, war eine Reihe von Denkern für die Renaissance in Nordeuropa, mit denen sich das folgende Kapitel in Goodrick-Clarkes Buch befasst. Zu diesen Denkern gehörten Johannes Reuchlin, Johannes Trithemius, Agrippa von Nettesheim und John Dee. (Fortsetzung des Beitrags Magie und Kabbala in der Renaissance).

Johannes Reuchlin

Ficino unterschied sorgfältig zwischen der spirituellen oder natürlichen Magie und jener Form der Magie, die auf der Anrufung von Dämonen beruhte. Nicht alle gelehrten Magier des 16. Jahrhunderts folgten ihm darin. Zu diesen gehörten Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation und John Dee im elisabethanischen England. Die beiden stehen für komplexere esoterische Gedankengebäude, die hermetische Motive mit solchen des Neuplatonismus, des Neupythagoräismus, der Magie, der Astrologie, der Alchemie und der Kabbala verbanden.

Die Hermetik der Renaissance und die Kabbala wurden im deutschen Sprachraum erstmals durch das Werk des Hebräischkenners Johannes Reuchlin bekannt (1455-1522). Seine Interessen führten ihn, rund zwei Jahrzehnte vor Agrippa, des öfteren nach Italien. Als junger Jurist im Gefolge Eberhard von Württembergs besuchte Reuchlin 1482 erstmals Florenz und traf hier Ficino, mit dem er später korrespondierte. Reuchlin begann 1486 Hebräisch zu lernen, aber erst 1490, nach seinem zweiten Besuch in Italien, bei dem er Mirandola traf, wandte er sich der Kabbala zu, das er als mächtiges System der Magie verstand, das auf der hebräischen Sprache fußte.

In seiner ersten Untersuchung zur Kabbala »De verbo mirifico« (»Vom wunderbaren oder wundertätigen Wort«, 1494) lassen sich Spuren Mirandolas erkennen, etwa wenn er schreibt, »bei Orpheus, Pythagoras und Plato finden sich keine so tief verborgenen und okkulten Geheimnisse, wie in den göttlichen hebräischen Namen der geistigen Mächte.« Mit diesem Buch wurde die Kabbala im deutschen Sprachraum als göttlicher Schlüssel zu einer wunderwirkenden Magie eingeführt.

Das Buch enthält eine Diskussion zwischen Sidonius, einem Epikuräer, Baruch, einem Juden und Capnion (Reuchlins griechischer Name), einem Christen, über Wunder, die Macht des Wortes und der Zahlen und über geheime Riten und heilige Namen. Die Gesprächsteilnehmer stimmen darin überein, dass ein Wort hebräisch sein muss, um magisch wirken zu können, denn das Hebräische sei die älteste aller Sprachen.

Wie Mirandola benutzte auch Reuchlin die Kabbala, um zu zeigen, dass das Christentum die wahre Religion sei, die auf einer esoterischen Auslegung hebräischer mystischer Lehren beruhe. Besonders war er daran interessiert, zu zeigen, dass das Tetragrammaton (der unaussprechliche heilige Gottesname aus vier Buchstaben – JHWH) eine prophetische Vorbedeutung des Christentums enthielt, weil aus ihm, wenn man den Buchstaben S einfügte, das christliche Pentagrammaton, der Name Jesu (YHSWH, Jeshuah) hervorging. Mit solchen Manipulationen der hebräischen Buchstaben, die für die jüdische Kabbala typisch waren, begründete Reuchlin eine christliche Kabbala, die er als hermeneutische Methode verstand, durch die bewiesen werden konnte, dass das Christentum die logische und historische Erfüllung der jüdischen Prophezeiung war. Reuchlin gab in seinem Buch auch den kabbalistischen Baum des Lebens wieder, wenn auch mit gewissen Irrtümern bei den Namen und der Anordnung der Sefiroth. Aber sein Werk leistete einen wichtigen Beitrag zur Auseinandersetzung der Renaissance über die magische Kraft der Worte. Reuchlin hatte großen Einfluss auf den Kreis der deutschen Humanisten und seine Gedanken über Magie beeinflussten Trithemius von Sponheim und Agrippa von Nettesheim, zwei der wichtigsten Vertreter der Renaissancemagie in Nordeuropa.

Johannes Trithemius und die Magie der Engel

Johannes Trithemius (1462-1516), schon als junger Abt des Benediktinerklosters von Sponheim berühmt, interessierte sich für Alchemie  und Magie. Er hatte seine Heimat früh verlassen, um in Heidelberg zu studieren, wo er sich mit einigen der bedeutendsten deutschen Humanisten zusammenschloss, unter anderem mit Johannes von Dalberg, Conrad Celtis und Johannes Reuchlin. Der letztere führte ihn in die Feinheiten des Griechischen und Hebräischen ein, und eröffnete ihm den Zugang zu den Mysterien des Pythagoras, des Hermes Trismegistos und der Kabbala eröffnete. 1482 wurde Johannes Novize in der Abtei Sankt Martin in Sponheim in der Diözese Mainz und ein Jahr später, mit 21 Jahren, wurde er zum Abt ernannt. Dieses Amt hatte er bis 1505 inne, als er dasselbe Amt im Kloster Sankt Jakob in Würzburg übernahm, das er bis zu seinem Tod 1516 ausübte. Während er sich mit Klosterreform, mystischer Theologie, Kirchengeschichte und christlichem Humanismus beschäftigte, erforschte er auch die okkulten Wissenschaften, besonders die natürliche Magie und die Magie der Engel.

Ein Brief aus dem Jahr 1499 an einen Karmeliter, in dem von dem einem Werk über Steganographie die Rede ist, an dem er arbeite, bezeugt diese Interessen. Die Steganograhie ist die Kunst, geheime Botschaften zu verfassen und zu übermitteln. Dieses Buch (das vermutlich 1500 fertig war, aber erst 1606 veröffentlicht wurde), enthielt eine Vielzahl numerologischer und astrologischer Berechnungen, die sich auf Engel bezogen, aber auch Anleitungen, wie man sie beschwören kann, wie man Erkenntnis von ihnen erlangt, und wie man mit ihrer Hilfe über große Entfernungen Nachrichten versenden kann. Der Brief traf jedoch erst kurz nach dem Tod des Mönchs ein und wurde von seinem Prior geöffnet, der die Spekulationen des Trithemius öffentlich als unerlaubte dämonische Magie brandmarkte. Das Gerücht, Trithemius sei ein schwarzer Magier, wurde durch Carolus Bovillus verstärkt, einen französischen Gelehrten, der in Sponheim zu Besuch war, die Steganographie verurteilte und behauptete, sein Gastgeber praktiziere eine Form dämonischer Magie.

Die drei Teile der »Steganographia« beschäftigen sich mit Namen, Siegeln, Gebeten und Anrufungen von geistigen Wesen. Vom ersten zum dritten Teil werden die Geister immer mächtiger. Der erste beschreibt die Geister der Luft, die wegen ihrer Arroganz und ihrer rebellischen Natur gefährlich und schwer zu beherrschen sind. Der zweite Teil behandelt die Stundengeister des Tages und der Nacht, der dritte die Engel und Geister der sieben Planeten. Diese Geister werden durch Gebete und Beschwörungen über einem Bild des jeweiligen Geistes zur astrologisch entsprechenden Zeit angerufen. Trithemius verfasste weitere esoterische Werke, darunter ein Buch mit dem Titel »Polygraphia«, eine Sammlung von Chiffren und magischen Alphabeten, die für Intellektuelle der Renaissance von großem Interesse waren, sowie das Buch »Veterorum Sophorum Sigilla et Imagines Magicae« (»Die Siegel und magischen Bilder der alten Weisen«), das sich mit Siegeln und magischen Bildern befasst.

Die Gestalt des Trithemius verschmolz schließlich mit jener des Faust, von dem die Legende berichtet, er sei von Kaiser Maximilian eingeladen worden, seine magischen Fähigkeiten zu demonstrieren, für den er nicht nur eine ganze Reihe alter Heroen von den Toten heraufbeschwor, sondern auch seine verstorbene Frau Maria von Burgund, die ihn bei der Wahl einer neuen Gefährtin beraten sollte.

Aber die Werke von Trithemius enthalten weit mehr als eine Ansammlung zeremonieller magischer Praktiken. Sie fußen auf der Verbindung von Theologie und natürlicher Magie, die sich in den Werken des mittelalterlichen Gelehrten Albertus Magnus (1193-1280) findet und beschäftigen sich mit der Macht der Engel und der hebräischen Namen, die von Mirandola und Reuchlin beschrieben wurden. Sein magisches Hauptwerk, »De septem secundeis« (»Von den sieben sekundären Ursachen«, 1508), verband Astrologie und Kabbala in einer Theorie okkulter Einflüsse, die auf demselben System der sieben Planetenengel beruhte, das auch seiner umstrittenen »Steganographia« zugrunde lag.

»De septem secundeis« (deutsche Übersetzung) beschreibt die Planetenintelligenzen, die »sieben sekundären Ursachen«, welche die aufeinanderfolgenden Zeitalter, das heißt, die platonischen Monate von jeweils 2480 Jahren beherrschen, die die Sonne benötigt, um ein einzelnes Tierkreiszeichen zu durchwandern. Trithemius behauptete, jeder platonische Monat werde von sieben aufeinanderfolgenden Planetenengeln beherrscht, so dass jeder einzelne 354 Jahre und vier Monate regiere. Nach Trithemius endete die Herrschaftsperiode des Erzengels Samael im Jahr 1525, in dem ihn der Erzengel Gabriel ablöste, dessen Herrschaft 1879 vom Erzengel Michael übernommen werde, der bis zum Jahr 2233 regieren werde. Trithemius stellte dar, wie die großen politischen und religiösen Veränderungen mit der Aufeinanderfolge der Herrschaftsperioden der Planentenengel zusammenhängen. Seine Grundthese besagt, dass Gott, die höchste himmlische Intelligenz, seine Herrschaft an die sieben Planetenengel, die sekundären Ursachen, abgegeben hat, die jeweils für eine bestimmte Zeit die irdischen Geschicke bestimmen. Seine Schriften enthalten eine theologische und religiöse Rechtfertigung magischer Zeremonien, die sich an Geister, Dämonen und Engel richten.

Sein Biograph Noel Brann hat gezeigt, dass Trithemius nicht nur einen kosmologischen Kontext für die Geschichtsphilosophie schuf, sondern auch eine Rechtfertigung für Aussagen über künftige Ereignisse. In »De septem secundeis« behauptet Trithemius, die Prophetie sei eine Verlängerung der Geschichte in die Zukunft bzw. die Geschichte sei »erfüllte Prophetie«. Die Auffassung, die Planetenengel regierten aufeinanderfolgende Zeitläufe, findet sich auch im Werk Rudolf Steiners (1861-1925), der Theosophie und christliche Esoterik in seiner Anthroposophie verband.

Im Winter 1509-1510 studierte Heinrich Cornelius Agrippa bei Trithemius in Würzburg. All dies zeigt, wie die Ideen Ficinos und Mirandolas durch Reuchlin nach Deutschland gelangten, dessen Einfluss auf Trithemius schließlich Agrippa wieder auf eine Suche nach kabbalistischen Eingeweihten in Italien führte.

Heinrich Cornelius Agrippa

Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim (1486-1535) wurde in Köln in den niederen Adel geboren. Über seine Kindheit und Jugend ist wenig bekannt, abgesehen davon, dass er eine eindrucksvoll schnelle akademische Laufbahn absolvierte. 1499 schrieb er sich an der Universität Köln ein, 1500 wurde er zum Baccalaureat zugelassen und 1502, mit sechzehn Jahren, zum Lizentiat. Zu dieser Zeit war die Universität eines der großen Zentren des Thomismus und die Fakultät der freien Künste war gespalten in die Anhänger des Thomas von Aquin und jene des Albertus Magnus. Es ist anzunehmen, dass Agrippas Interesse an der Natur und den okkulten Verbindungen ihrer Teile durch die albertinische Schule angeregt wurde. Agrippa selbst sprach davon, seine magischen Studien gingen in seine früheste Jugend zurück, als er das »Speculum« des Albertus Magnus las. Da auch Trithemius durch die Verbindung zwischen Theologie und natürlicher Magie beeinflusst war, die Albertus geschaffen hatte, kann man annehmen, dass Agrippa von früh an auf diese Form der magischen Theologie vorbereitet war.

Als Agrippa die Förderung durch Margarete von Österreich, die Regentin der Freigrafschaft Burgund und der Niederlande und Antoine von Vergys, des Erzbischofs von Besançon und Kanzlers der Universität von Dôle erlangte, eröffneten sich ihm verlockende akademische Aussichten. Der letztere vermittelte einen Kurs Agrippas an der Universität von Dôle über Reuchlins Buch »De verbo mirifico«. Hier könnte Agrippa gezeigt haben, wie Reuchlin Mirandolas »Kabbalistische Schlussfolgerungen« zitierte, die hebräischen Namen der Sefiroth übernahm und wie groß sein Interesse an den hebräischen Namen der Engeln und der Kunst, sie herbeizurufen war. Wie bereits erwähnt, bewies Reuchlin nach dem Vorbild Mirandolas, auch auf kabbalistischem Wege, dass »Jesus« der Name des Messias war, indem er dem Tetragrammaton ein »S« einfügte. Agrippa erhielt eine bezahlte Professur und erteilte seine Vorlesungen zu Ehren der Margarete von Österreich umsonst. Kurz davor, vermutlich ebenfalls um Margarete von Österreich zu ehren, verfasste er das Buch »De nobilitate et praeexcellentia foeminei sexus«, in dem er kabbalistische Idee benutzte, um die Überlegenheit des weiblichen Geschlechts nachzuweisen.

De occulta philosophia

Ende 1509 oder Anfang 1510 kehrte Agrippa nach Deutschland zurück. In diesem Winter hielt er sich bei Trithemius in Würzburg auf und am 8. April 1510 verfasste er die Widmung seines Buches »De occulta philosophia« an Trithemius. Dieses Werk – sein erstes und berühmtestes Werk –, das der Autor sein ganzes Leben lang erweiterte, zeigt, wie tief Agrippa in das Studium der Magie eingetaucht war. Die Unterhaltungen mit Trithemius hatten ihn dazu ermutigt, seine umfangreichen Kenntnisse magischer Lehren zu sammeln und den Versuch zu unternehmen, die Magie von ihrem schlechten Ansehen zu befreien, indem er sie von gefährlichen und abergläubischen Beimengungen reinigte. Die erste Ausgabe unterscheidet sich erheblich von jener, die zwei Jahrzehnte später erschienen ist. Trithemius lobte die Bemühungen seines jungen Freundes sehr und ermutigte ihn, mit seinen Forschungen fortzufahren, aber als gebranntes Kind warnte er Agrippa, solche Dinge dürften nur vertrauenswürdigen Freunden mitgeteilt werden. »De occulta philosophia« wurde nur als Manuskript verbreitet, erst 1531 wurde das erste Buch gedruckt, 1533 alle drei Bücher.

In den ersten beiden Kapiteln seines Werkes stellt Agrippa die Umrisse seiner Philosophie dar. Der Kosmos besteht aus drei Welten, von denen jede in einem der drei Bücher behandelt wird: der elementarischen Welt, der himmlischen Welt und der geistigen (intellektualen) oder überhimmlischen Welt. Jede dieser Welten steht unter dem Einfluss der jeweils höheren: die Güte des Schöpfers fließt durch die Engel in die geistige, überhimmlische Welt, von dieser zu den Sternen in der himmlischen Welt und von dort in die Elemente und in alle Dinge der irdischen Welt, die aus den Elementen besteht.

Das erste Buch über die elementarische Welt handelt von der natürlichen Magie, der Magie der Elemente: es lehrt, wie man Substanzen aufgrund der okkulten Sympathien anordnen muss, um Wirkungen der natürlichen Magie hervorzurufen. Hier beschreibt Agrippa die Natur und Kräfte der Dinge und Planeten und ihre Sympathien und Einflüsse, die Leidenschaften der Seele, die Natur des Menschen und seine Beziehung als Mikrokosmos zum Makrokosmos.

Das zweite Buch handelt von der himmlischen Magie, davon, wie man die Kräfte und Einflüsse der Planeten und Sterne anziehen und nutzen kann. In der himmlischen Welt haben Zahlen eine herausragende Bedeutung, daher spricht Agrippa auch von mathematischer Magie. In komplexen Tabellen reiht Agrippa auf einer Leiter von Eins bis Zwölf die Namen der Throne, Exusiai, Dynamis, Engel, Planeten, Metalle, Steine, die Sinne, die Sephiroth und die hebräischen Namen Gottes auf. Von der Kabbala beeinflusst, erläutert er das »Notaricon«, den Zahlenwert der hebräischen Buchstaben und ihre mystische Bedeutung, sowie die damit in Beziehung stehenden Wissenschaften der Astrologie, der Musik, der Proportion, des Maßes und die Kosmologie.

Im dritten Buch von der überhimmlischen Welt behandelt Agrippa die zeremonielle Magie, jene Magie, die sich auf die überhimmlische Welt der Engel richtet, über der nur noch der Schöpfer steht. Hier stellt er die Beziehung der Religion zur Magie dar und die Abhängigkeit des Magiers von Gott. Im Stil der Hermetika spricht Agrippa vom Geist des Menschen als einem Spiegel der Ewigkeit und versichert, dass die Seele des Menschen, indem sie die natürlichen und himmlischen Kräfte anwendet, »in die göttliche Natur aufzusteigen und Wunder zu vollbringen vermag.« Dieses Buch handelt ausführlich von den Engeln und Dämonen und bezeugt seinen Glauben an die Wirksamkeit magischer Praktiken und theurgischer Anrufungen. Seine Darstellung der Kabbala ist streng christlich, denn er betont, dass alle magischen Wissenschaften nur ein Teilausdruck der Wahrheit sind, die allein durch Gott im christlichen Glauben offenbart wurde. All unser Wissen sei letztlich eine Gabe Gottes und könne nicht durch menschliche Anstrengung allein erworben werden. Agrippa zitiert die christliche Kabbala Mirandolas und Reuchlins und übernimmt auch die Idee, der Name Jesu sei das höchste Mysterium und verleihe die Kraft, Wunder zu vollbringen.

Agrippa war bereits vor seinem Aufbruch nach Italien 1511 in kabbalistischen, neuplatonischen, patristischen und biblischen Themen bewandert. Die nächsten sieben Jahre stürzte er sich in politische und militärische Unternehmungen. Er stand bei Kaiser Maximilian in militärischen Diensten, der zu dieser Zeit mit den Franzosen gegen Venedig und Papst Julius II. verbündet war. Nachdem er Verona erreicht hatte, reiste Agrippa gen Westen und verbrachte die größte Zeit dieses Jahres in der Nähe von Novara, in Pavia, in Casale Monferrato, in Vercelli und Mailand.

Er brachte jedoch nicht seine gesamte Zeit mit offiziellen Pflichten zu, sondern war einen Großteil dieser Zeit mit esoterischen Studien beschäftigt, und ist insofern ein gutes Beispiel für den Einfluss der italienischen Renaissance auf einen nordeuropäischen Gelehrten. Es sei daran erinnert, dass Erasmus, der dem Beispiel seines englischen Freundes John Colet (1466-1519) und der Reformer von Oxford folgte, seine dreijährige Italienreise 1506 begann. Das erste goldene Zeitalter solcher nordeuropäischen Begegnungen mit den Florentiner Neuplatonikern war mit dem Tod Mirandolas und Ficinos in den 1490er Jahren zu Ende gegangen. Im zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts kursierten die hermetischen und kabbalistischen Kenntnisse unter einer neuen Generation italienischer Gelehrter, mit denen Agrippa eine große Zahl von Jahren vertraut war. Diese wirkten vor allem in Pavia (wo er selbst Philosophie unterrichtete und eine Italienerin heiratete) und Turin und an anderen norditalienischen Orten, besonders in Mailand und am Hof des Markgrafen von Monferrato in Casale.

Agrippa und die Kabbala

Agrippa ließ sich bei seiner Rückkehr nach Italien 1515 in Pavia nieder, wo er Vorlesungen über den Pimander des Hermes Trismegistos hielt. Er stand in Verbindung mit vielen Okkultisten. Zwei, die seine Interessen an antiker Gelehrsamkeit und der Kabbala teilten, sind bekannt. Agostino Ricci, ein konvertierter Jude, hatte ein Buch mit dem Titel »De motu octavae sphaerae« (»Von der Bewegung der achten Sphäre, 1513) geschrieben, das auf philosophische Art von der »Bewegung der achten Sphäre, den Lehren der Platoniker und der alten Magie (welche die Hebräer Kabbala nennen)« handelte. Ricci, mit dem Agrippa korrespondierte und den er in Bezug auf seinen »Dialogus de homine« (»Dialog über den Menschen«) um Rat ersuchte, war Astrologe des Markgrafen von Monferrato und scheint Agrippas Vermittler bei seinen Versuchen gewesen zu sein, die Gunst des Adligen zu gewinnen. Ricci war Schüler des berühmten Abraham Zacuto in Salamanca gewesen und hatte seine Studien unter ihm in Karthago fortgesetzt. Viele Jahre später diente er Papst Julius II. als Leibarzt.

Agrippa könnte auch den mutmaßlichen Bruder Agostinos, Paolo Ricci, gekannt haben, der Pavia 1514 verließ, um nach Augsburg zu gehen. Paolo, der ebenfalls ein gelehrter jüdischer Konvertit war, übersetzte 1515 das Buch Joseph Gikatillas »Sha'are Orah« (»Portae lucis«, »Pforte des Lichtes«), ein Werk, das vor dem Sohar entstanden war, und die Hauptquelle für Reuchlins spätere genaue Kenntnisse der jüdischen Kabbala darstellte. Agrippa zitierte dieses Werk in seinem »Dialogus de homine«, den er 1516 in Casale verfasste, dessen Widmung an den Markgrafen von Monferrato Rabbi Moyse und Moses Gerundensis als Quellen dieser »geheimen Wissenschaft wunderbarer Zeremonien« anführt.

So wie Mirandola sich auf die Kirchenväter berufen hatte, so berief sich Paolo Ricci auf Dionysios Areopagita und behauptete, »wenn wir die Kirchengeschichte mit jener der Talmudisten vergleichen, und die Werke des Dionysios Areopagita mit jenen Rabbi Simons, dann stellen wir fest, dass sie Zeitgenossen waren, die zur Zeit der Kreuzigung des Herrn und der Zerstörung Jerusalems gelebt haben.« Ebenso wie Mirandola entdeckte Ricci in der Kabbala »das Mysterium der Trinität in der einen Gottheit, die ewige Zeugung des Sohnes, die Ursünde, durch die der Tod in die Welt kommt, die Erlösung durch das Leiden Christi und das Blut des Messias, die Heilige jungfräuliche Königin des Himmels und die Glieder Christi, das Jüngste Gericht, das Bekennen und die Vergebung der Sünden, die Auferstehung der Toten, die Gabe der Prophetie, der Erkenntnis und Weisheit.«

Agrippas Abhängigkeit von Ficino und Mirandola ist groß. An manchen Stellen der »Okkulten Philosophie« übernimmt Agrippa nahezu wörtlich lange Passagen aus Ficinos »Liber de vita«, was unter Renaissanceautoren allgemein üblich war. Er übernahm Ficinos Idee einer nichtdämonischen spirituellen Magie, verzichtete aber auf die dogmatischen Absicherungen. Mirandolas magische Sicht des Menschen als des Herrn der geschaffenen Welt war Agrippa bekannt und er stützte sich in großem Umfang auf dessen »Heptaplus« bei der Abfassung seines »Dialoges über den Menschen«, ebenso in seinem Werk »De originali peccatu« (»Über die Erbsünde«). In seinem Dialog stützte er sich auch auf den »Crater Hermetis«, ein 1505 erschienenes Werk des bekannten italienischen Hermetikers Ludovico Lazarelli (1450-1500). In ihren Diskussionen der Frage, ob der Mensch das Bild Gottes ist und ob Adam schon vor dem Fall sterblich war, aber durch die Gegenwart eines göttlichen Lichtes vor dem Zerfall bewahrt wurde, gibt es bemerkenswerte Parallelen. Von der größeren Bedeutung, die Agrippa hermetischen Schriften zumaß, zeugt seine Vorlesung von 1515 über Pimander in Pavia, die sich vermutlich auf die Übersetzung Ficinos stützt, sowie sein Werk »De triplici ratione cognoscendi Deum« (1516). Dieses Werk behandelt die drei Quellen unserer Erkenntnis von Gott: die Natur, das mosaische Gesetz (das kabbalistisch gedeutet wird) und die Offenbarung, die aus esoterischen Schriften gewonnen werden kann.

Die Idee, die alle Abhandlungen Agrippas aus seiner italienischen Zeit beherrscht, ist der Glaube, dass die hermetischen Texte, die lange Zeit vernachlässigt, nun aber durch Ficino und andere wieder zu Ehren gekommen sind, und die kabbalistischen Schriften, deren Widerherstellung mit Mirandola begann und sich dank Reuchlin und Paolo Ricci fortsetzte, die Pforte zur wahren Weisheit seien. Antike und okkulte Schriften, die aufgrund von Unwissenheit und Unfrömmigkeit vergessen worden waren, würden die Menschen von ihrem intellektuellen Stolz und ihrer Verzweiflung befreien und sie wieder zu einer demütigen Anerkennung der göttlichen Güte zurückführen. In Agrippas mythischer Geschichte der esoterischen Tradition stellten die Schriften des Hermes Trismegistos und anderer ägyptischer Weiser das Bindeglied zwischen den Pythagoräern und den Platonikern der Antike und der ursprünglichen Offenbarung an Moses dar. Um seine Theorie einer »philosophia perennis« (ewigen Weisheit) und einer alten Theologie (»prisca theologia«) zu stützen, führte Agrippa eine ganze Reihe von Initiierten an, die Zoroaster, Orpheus, Plato und die Neuplatoniker einschlossen: Sie alle sollen das Wissen der transzendentalen Magie, die auf einer mystischen Verbindung mit der Gottheit beruhte, besessen und weiter entwickelt haben.

Agrippa glaubte, die erleuchtete Seele, die eine wahre Erkenntnis von Gottes Offenbarung erlangt habe, beherrsce nicht nur ihren eigenen Körper, sondern die gesamte Natur. So leitete das Studium der Kabbala und der Hermetika zu jenem der Magie. Adam hatte infolge der Ursünde diese Macht über die Natur verloren, aber mit einer gereinigten Seele vermochte der Magier, sie zurück zu gewinnen. Dass die Kirchenfürsten, Kleriker und Theologen keine Wunder mehr zu vollbringen vermochten, war ein Beweis für ihre Verderbtheit und ihren Mangel an Glauben. Der menschliche Geist vermag die wahre Natur Gottes nicht aus eigener Kraft, sondern nur durch eine esoterische Offenbarung zu erkennen. In seinem Buch »De originali peccato« (1518) deutet Agrippa Adam als Bild des Glaubens, der von Eva, der Personifikation der Vernunft, verführt wird, die ihrerseits von der Sinneswahrnehmung, der Schlange in die Irre geleitet wurde. Agrippa betrachtete die begriffliche Theologie seiner Zeit als eitel und streitsüchtig, seine Betonung der Offenbarung nahm seine spätere Skepsis gegenüber aller weltlichen Erkenntnis vorweg. Eine wichtige Folge seiner Entdeckungen bei den italienischen Kabbalisten ist die größere Bedeutung, die der Kabbala in der gedruckten Ausgabe der »okkulten Philosophie« im Vergleich zur Manuskriptfassung von 1510 zugeschrieben wird.

Agrippas späteres Leben in Nordeuropa beleuchtet das Schicksal der Hermetik und der Kabbala im 16. Jahrhundert. Im Kreuzfeuer der Reformation fiel die Renaissancemagie auf dem Schlachtfeld zwischen den beiden Kirchen. Für den Protestantismus, der sich auf die Sündhaftigkeit des Menschen zu konzentrieren begann und Erlösung durch Frömmigkeit und die peinliche Beachtung des göttlichen Wortes in der Bibel suchte, schien die selbstbewusste Magie der florentinischen Neuplatoniker reinste Hybris. Der Magier und Reisende in den höheren Welten, der in der sonnendurchfluteten Welt der italienischen Welt zu Hause gewesen war, nahm im nördlichen Deutschland ein düstereres Aussehen an. Im späten 16. Jahrhundert waren Ficinos priesterlicher Physiker und Mirandolas »Wunder des Menschen« dem Nekromanten Faust gewichen, der seine Seele dem Teufel verkaufte. Dank der böswilligen Legenden über Agrippas Leben, die feindselige und leichtgläubige Mönche allzu gerne verbreiteten, verschmolz die Erinnerung an Agrippa bald mit der Geschichte des Doktor Faust. Von Rabelais bis Apollinaire, von Goethe bis Thomas Mann betrachteten Dichter Agrippa als Vorbild für das Faustthema.

Aber wie Reuchlin vor ihm, spielte Agrippa eine wichtige Rolle bei der Verbreitung des Neuplatonismus, der Hermetik und der christlichen Kabbala über ihre erste Heimat im Italien der Renaissance hinaus. Seine Gelehrsamkeit und die Kühnheit seines Denkens verschaffte ihm die Bewunderung solcher Männer wie Erasmus und Juan Luis Vives und viele elisabethanische und jakobinische Autoren in England lasen und zitierten ihn, unter anderem Christopher Marlowe und Francis Bacon. Auch wenn die Reformation das humanistische Selbstvertrauen der florentinischen Magie und Kabbala verwarf, überlebte doch Agrippas Ansehen als gelehrter Magier. Seine »okkulte Philosophie« hat Studenten der magischen Tradition inspiriert, angefangen mit John Dee im elisabethanischen England bis zur Renaissance des Okkultismus im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Dank seinem Vermächtnis spielt die christianisierte Form der Kabbala immer noch eine Hauptrolle in den Orden zeremonieller Magie unserer Gegenwart.

John Dee

John Dee (1527-1608), Berater Königin Elisabeth I., Lehrer und Freund des Grafen von Leicester und des Sidneykreises, genoss als Philosoph, Mathematiker, Geograph und Navigator großes Ansehen. Als gelehrter Magier in der Tradition der Renaissance wurde er jedoch auch von den okkulten Wissenschaften und von übernatürlichen Mächten zutiefst beeinflusst. Er kannte sich bestens in der Astrologie, der Alchemie und der Kabbala aus und führte theurgische Rituale durch, um die Geheimnisse der Natur zu ergründen. Dee war eine herausragende Größe unter den Geistern des elisabethanischen England, aber wegen seines Interesses an den okkulten Wissenschaften, besonders wegen seiner Praxis der Engelmagie, stempelten ihn viele seiner Zeitgenossen als Zauberkünstler ab. Während man noch zu Anfang des 17. Jahrhunderts seine Gelehrsamkeit und seine mathematischen Fähigkeiten bewunderte, setzte sich seit 1659, durch Meric Casaubons Veröffentlichung der Tagebücher, die Dee über seine Praxis der Engelsmagie verfasst hatte, ein negatives Bild fest: man hielt ihn nun für einen Bücherwurm und leichtgläubigen Fanatiker, der von Teufeln und seinem Assistenten Edward Kelley an der Nase herumgeführt worden war.

John Dee wurde am 13. Juli 1527, als Sohn eines Höflings Heinrich VIII. in London geboren. Erzogen wurde er in London und Chelmsford und zog mit 16 Jahren in das St. Johns College in Cambridge. Seine akademischen Leistungen wurden durch ein Stipendium für Griechisch im Trinity College belohnt, das vor kurzem von Heinrich VIII. gegründet worden war (1546). Aber die englischen Universitäten seiner Zeit konnten Dees weitreichende Interessen nicht stillen und so ging er bald auf eine seiner vielen Reisen ins Ausland, um Unterweisung in höheren mathematischen Fragen zu suchen. 1547 besuchte er die Niederlande, um bei Gemma Frisius, einem bekannten Geographen, Navigation zu studieren und lernte den berühmten Kartographen Gerard Mercator kennen. Von 1548 bis 1550 studierte er in Louvain (Löwen, Leuven) und im letzteren Jahr sprach er mit 23 Jahren vor vollbesetzten Hörsälen in Paris über Euklid.

Im nächsten Jahrzehnt machte er Karriere als Intellektueller am Hof, indem er in den Dienst Graf Pembrokes trat und die Dudley-Familie in verschiedenen Wissenschaften unterrichtete. So festigte er seinen Ruf als führende Autorität für Navigation, Geographie, Mathematik und Astrologie. In einer Zeit religiöser Unruhen und rascher Aufeinanderfolge von Tudor-Herrschern war eine solche Karriere nicht ohne Risiken. 1555 landete Dee unter Königin Maria für kurze Zeit im Gefängnis, nachdem er einer Verschwörung zur magischen Beeinflussung der Herrscherin beschuldigt worden war, weil er die Geburtshoroskope des Königs, der Königin und der Prinzessin Elisabeth erstellt hatte. Aber seine enge Freundschaft mit Robert Dudley, dem Grafen Leicester dauerte an und führende Mitglieder des Hofes, darunter William Cecil, Sir Francis Walsingham, Sir Philip Sidney und sein Kreis schätzten ihn. Nachdem Königin Elisabeth den Thron betiegen hatte, stand er in deren Gunst.

John Dees Bibliothek

Gegen Ende der 1560er Jahre ließ sich Dee in Mortlake, in der Grafschaft Surrey am Ufer der Themse nieder. Der Ort lag günstig zwischen London und dem Hampton Court, so dass Dee mit Angehörigen des Hofes, die den Fluss für ihre Reisen nutzten, Kontakt halten konnte. Hier baute Dee seine berühmte Sammlung von Büchern und Manuskripten auf, die zu Recht als die »größte Bibliothek des elisabethanischen England« bezeichnet worden ist. Im Lauf der Jahre fügte Dee Zimmer und ganze Gebäude hinzu, um seine Sammlungen alter walisischer Berichte und Genealogien, seine wissenschaftlichen Instrumente und ein alchymisches Laboratorium unterzubringen.

Unter den rund 2500 gedruckten Büchern und 170 Manuskripten befanden sich viele, die sich mit dem mystischen Denken Ramon Lulls und der mittelalterlichen Wissenschaft von Duns Scotus, Albertus Magnus, Thomas von Aquin oder Roger Bacon befassten. Dee war offensichtlich bestens mit dem florentinischen Neuplatonismus vertraut, denn er befand sich im Besitz sämtlicher Werke Marsilio Ficinos, sowie seiner Übersetzungen Platos, Plotins und der dazugehörigen Kommentare. Daneben besaß er Werke von Pico della Mirandola, von Paracelsus, Agrippa und Trithemius, Ausgaben des hermetischen Asklepios und Pimander und die Turnebus-Ausgabe des »Corpus Hermeticum« von 1554. In seiner Manuskriptsammlung fanden sich auch Werke von Zoroaster, Orpheus und Iamblichus.

Frances Yates und Peter French haben aus dieser Büchersammlung geschlossen, Dee habe sich bestens in den hermetischen und kabbalistischen Strömungen der Renaissancephilosophie ausgekannt, die seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts in Italien, Frankreich und Deutschland blühten. Mehr noch: sie haben Dee als den bedeutendsten Vertreter dieser Strömungen im England des 16. Jahrhunderts identifiziert.

Die Entwicklung des hermetischen Denkens bei John Dee

Aber Dee übernahm nicht einfach die hermetische Weltsicht der antiken oder italienischen Neuplatoniker. Nicholas Clulee hat dargestellt, dass in Dees erstem großen Werk, den »Propaedeumata Aphoristica« (»Aphoristische Vorüberlegungen«) von 1558, seine frühe Naturphilosophie aus arabischen Wurzeln und der mittelalterlichen Wissenschaft, die in Oxford gelehrt wurde, hervorwuchs. Dee verstand die Astrologie als eine Form der Physik, da die Himmelskörper alle Veränderungen in der elementarischen Welt und auf der Erde bewirken. Er glaubte, die Himmelskörper wirkten durch Strahlen, die von allen Substanzen und Ereignissen ausgehen, und alle Arten von Kräften auf die Dinge übertragen. »Was auch immer existiert«, schrieb er, »projiziert in jeden Teil der Welt Strahlen, die das gesamte Universum erfüllen.« Das Licht war ein sichtbares Modell für diesen Emanationsprozess und daher wurde für ihn das Studium der geometrischen Optik, die auf Linien, Winkeln und Zahlen beruhte, zur Grundlage der Untersuchung aller astrologischen Einflüsse. Anknüpfend an al-Kindi (gest. ca. 873), Robert Grosseteste (1175-1253) und Roger Bacon (1214/20- ca.1292), entwickelte er eine konkrete Mechanik astrologischer Einflüsse und eine Begrifflichkeit für die mathematische Beschreibung der Natur. Zu diesem Zeitpunkt bewegte er sich immer noch im Rahmen eines aristotelischen Verständnisses von Wissenschaft.

Die zunehmende Bedeutung des hermetischen Denkens zeigt sich an Dees nächstem großem Werk, der ebenso kryptischen wie berühmten »Monas Hieroglyphica« (1564, »Hieroglyphische Einheit«). Das Werk, das kurz nach der Krönung Kaiser Maximilians in Pressburg verfasst wurde, an der Dee teilnahm und das dem Monarchen gewidmet ist, zeugt von einer gänzlich anderen Art des Denkens als die naturalistischen »Propaedeumata«. Der zentrale Bezugspunkt dieses kurzen Textes, der aus 23 Theoremen und sie begleitenden Figuren besteht, ist die »Monas«, eine komplexe Hieroglyphe, die Dee »mathematisch, magisch, kabbalistisch und anagogisch« zu erklären verspricht. Frances Yates glaubte, Dees Werk habe im Rahmen der Renaissance-Hermetik eine kabbalistische, mathematische Alchemie formuliert, und die Hieroglyphe der Monas sei ein magisches Amulett gewesen, dessen »Vereinigung vieler Zeichen ... die mit astraler Macht erfüllt waren«, »der Seele ebendiese Einheit aufprägte« und ihr den gnostischen Aufstieg über die Leiter des Seins ermöglichte. Andere haben die Auffassung vertreten, wegen der Widmung an den Kaiser sei die Hieroglyphe ein Ausdruck für Dees Idee einer kosmopolitischen, nichtsektiererischen, toleranten Religion auf der Grundlage der Hermetik.

Clulee hat den Text dieses Buches und seine astrologischen, alchymischen und numerologischen Überlegungen gründlich analysiert und überzeugend nachgewiesen, dass es Dee um die Ausarbeitung eines »Alphabetes der Natur« ging. Dieses bezieht sich auf die ursprüngliche Sprache Gottes, die der gesamten Schöpfung und allen menschlichen Sprachen zugrunde liegt. Dee stellt fest, dass die Buchstaben im Hebräischen, Griechischen und Lateinischen – ebenso wie die Zeichen der Planeten und Metalle – aus Punkten, geraden Linien und Kreisbögen bestehen. Dee beschreibt eine Anzahl komplexer Umformungen der Monas und ihrer Bestandteile, die dazu dienen, Einsichten über die Beschaffenheit der himmlischen und irdischen Welt zu gewinnen. Aber letzten Endes geht es bei der Monas weniger um Alchemie, Astrologie oder Magie, als um den mystischen Aufstieg zu Gott als Höhepunkt der Erkenntnis des Kosmos.

Während Dees Studien Mitte der 1550er Jahre sich auf die mittelalterliche Wissenschaft konzentrierten, spiegelte seine Weltsicht in den 1560er Jahren die verbreitete hermetische Synthese astrologischer, alchymischer und kabbalistischer Korrespondenzen zwischen der irdischen, himmlischen und überhimmlischen Welt. Der Katalog seiner Bibliothek aus den Jahren 1557/59 zeigt, dass er die Klassiker der neuplatonischen Renaissancemagie: Reuchlin, Mirandola, Agrippa und Ficino erworben hatte. Zum Bestand gehörte auch das Buch »De septem secundeis« des Trithemius über die Erzengel als Planetenregenten und Francesco Giorgis »De harmonia mundi«, eine Summe der neuplatonischen und kabbalistischen Ideen Ficinos und der Magie Mirandolas.

Edward Kelley und die Magie der Engel

Das Vorhandensein der Werke des Trithemius in Dees Bibliothek ist der deutlichste Hinweis auf sein späteres Interesse an der Magie der Engel. Der okkulte Charakter der »Monas Hieroglyphica« deutet auf seine Suche nach einer universellen Erkenntnis, die auf der Einheit aller Wissenschaften beruhte und zugleich die »alte Theologie« der Renaissance-Hermetik und ihres Neuplatonismus enthielt. Aber sein Wunsch, das Wesen der physischen und der himmlischen Welt auszuloten, führte zum Verlangen nach einer absoluten Offenbarung Gottes, durch die er »die wahre Erkenntnis seiner Gesetze und Anordnungen« in seinen Geschöpfen erlangen konnte. Dieser Wunsch nach unmittelbarer Offenbarung brachte ihn dazu, nach einer Möglichkeit der direkten Kommunikation mit den Engeln der überhimmlischen Welt zu suchen. Von den biblischen Vorbildern Enochs und Moses' inspiriert, denen Gott seine Engel gesandt hatte, um ihnen besondere Offenbarungen zuteil werden zu lassen, betrachtete Dee die Konversation mit Engeln als ultimativen Weg zu wissenschaftlicher Gewissheit und zu einer vollständigen Erkenntnis der gesamten Schöpfung.

Da Dee selbst nicht über hellseherische Fähigkeiten verfügte, beschäftigte er Seher oder Medien, um eine Verbindung mit den Engeln herzustellen, die Kristalle oder Spiegel benutzten, während er die Visionen niederschrieb, von denen diese berichteten. Es gibt schwache Hinweise darauf, dass Dee bereits im Herbst 1581 erfolglos mit einem gewissen Barnabas Saul experimentierte. Die unerwartete Ankunft Edward Talbots (alias Edward Kelley) in seinem Haus am 9. März 1582 markiert den Beginn einer außerordentlichen Zusammenarbeit in Sachen Engelsmagie, die bis zum Januar 1589 dauern sollte.

Kelley war 1555 geboren worden und besaß den zweifelhaften Ruf eines Betrügers (seine Ohren waren ihm deswegen angeblich abgeschnitten worden) und eines Totenbeschwörers, der versucht hatte, einen Toten wieder zum Leben zu erwecken. Aber sein offensichtliches Interesse an Alchemie und seine Entschlossenheit, mit Dee bei der Kommunikation mit den Engeln zusammenzuarbeiten, verscheuchten alle Bedenken, die der ältere Gelehrte angesichts dieser befremdlichen Partnerschaft haben mochte. Schon am Tag seiner Ankunft erwies sich Kelley als äußerst begabtes Medium und in den folgenden Monaten hielten die beiden zahlreiche Konferenzen mit Geistern ab, durch die sie Anweisungen für die Herstellung magischer Materialien erhielten, zu denen auch ein heiliger Tisch, Siegel und komplexe Signale gehörten, die den Empfang und das Verständnis der Botschaften der Engel verbessern sollten.

Die Fülle des Materials aus diesen Geistergesprächen stellt das gesamte übrige Werk Dees in den Schatten. Es bietet einen höchst intimen Einblick in seine Persönlichkeit und sein spirituelles und intellektuelles Leben. Die Themen der Konferenzen reichen von Religion und Politik über Kosmologie, Theologie und Eschatologie bis zur Naturphilosophie. Es gibt zwei Arten von Materialien: die Libri mysteriorum I-XVII (»Bücher der Geheimnisse«, 1581-1588), Aufzeichnungen der Séancen, die unter dem Namen »Spirituelle Tagebücher« bekannt sind und mehrere Bücher über die Offenbarungen der Engel: »De heptarchia mystica« (»Von der mystischen Siebenheit«), »Liber mysteriorum sextus et sanctus« (»Das sechste heilige Buch der Geheimnisse«), »48 Claves angelicae« (»Die 48 Schlüssel der Engel«) und das »Liber scientiae auxilii et victoriae terrestris« (Das Buch von der Hilfswissenschaft und vom Sieg auf Erden«).

Dee glaubte, die Geister, mit denen er kommunizierte, seien gute Engel, die ihm authentische Botschaften Gottes überbrachten. Seine Tagebuchaufzeichnungen von Geräuschen, Stimmen, Erscheinungen und prophetischen Träumen, auch unabhängig von Kelleys Beteiligung, deuten auf einen persönlichen Glauben an die Realität der Geisterwelt. In den Aufzeichnungen stellt Dee immer wieder die Ähnlichkeit der Engelsoffenbarungen mit Material fest, das sich auch bei Agrippa, Reuchlin, Trithemius und Peter von Abano findet. Er betrachtete diese Konferenzen nicht als eine Form der Magie, sondern als eine Art von religiöser Erfahrung, die durch die schriftlichen Aufzeichnungen anderer gerechtfertigt wurde, denen Gott oder seine Engel besondere Offenbarungen hatte zuteil werden lassen. Dee glaubte, als »ehrbarer christlicher Philosoph« sollte ihm »Gott mit seinen guten Engeln beistehen, damit er seine ganzen heiligen Mysterien aufzeichnen« könne.

Die Konferenzen fanden in einer schlichten religiösen Atmosphäre in Dees Gebetsraum statt, wurden durch ein stilles Gebet eingeleitet und endeten mit einem kurzen Lob- und Dankgebet. Dee rief nicht die Engel an und versuchte nicht, sie in seine Dienste zu zwingen, vielmehr bat er demütig Gott, er möge ihm seine Engel senden, von denen nicht angenommen wird, dass sie dem Willen Dees oder Kelleys unterworfen sind. Das Eröffnungsgebet, das Dee am häufigsten benutzte, sprach Gott und Jesus als Quelle der Weisheit an und wünschte, er möge ein würdiger Diener sein, der ihren Beistand in Philosophie und Erkenntnis verdiene, und sie möchten ihre Geister und Engel senden, um ihn über die Geheimnisse der Eigenschaften und des Sinnes aller Kreaturen zu belehren. Es gibt keine ausgeklügelten rituellen Vorbereitungen, keine quasi-sakramentalen Zeremonien, keine Anrufungen wie bei der zeremoniellen Magie, die Agrippas drittes Buch beschreibt. Es gibt keine Musik oder orphische Hymnen, keine Räucherungen, Kerzen, Talismane, Nahrungsmittel oder Substanzen, die in der Magie Ficinos bei der Anziehung der wohltätigen Einflüsse der Planeten und ihrer Geister eine Rolle spielten. Allen Séancen gemeinsam ist, dass sie Kataloge der Engelshierarchien darstellen, die die verschiedenen Regionen der Erde und Ebenen der Schöpfung regieren und Beschreibungen ihrer Eigenarten, Kräfte, Siegel und der »Rufe« enthalten, durch die sie herbeigelockt werden können. Dees »Bücher der Geheimnisse« enthalten eine Fülle von Belegen für die vielfältigen Korrespondenzen und spirituellen Mittelwesen, die das Wesen der esoterischen Kosmologie ausmachen.

Dees esoterische Abhandlung »De heptarchia mystica« (1588) zeigt, dass die Schöpfung in eine Vielfalt von Siebenheiten gegliedert ist. Sieben Könige, denen jeweils ein Prinz und 42 Minister zugeordnet sind, regieren über die geographischen Regionen der Erde und die Angelegenheiten der Menschen. Diesen Königen entsprechen die sieben Tage der Woche. Außerdem gibt es 49 wohltätige Engel, die über die physische Welt herrschen – manche über die Heilung von Krankheiten, manche über die Metalle, und andere über deren Umwandlung, die Elemente, Ortsveränderungen, die mechanischen Künste und die Erkenntnis aller Geheimnisse. Hier ist der Einfluss der »Septem Secundeis« des Trithemius offensichtlich, aber die Tatsache bleibt bestehen, dass diese außerordentlich komplexe Beschreibung spiritueller Mittlerwesen – ein herausragendes Beispiel für Faivres drittes Merkmal der esoterischen Philosophie, die »Mediation« – durch Kelleys Hilfe im Lauf einer langen Reihe arbeitsreicher Geist-Konferenzen zustande kam; erst später ordnete Dee die fragmentarischen und verwirrenden Notizen seiner frühen spirituellen Tagebücher systematisch und übersichtlich an.

Ab 1583 führten die Engel eine vollkommen neue Sprache ein, von der sie behaupteten, sie sei die Sprache Adams und Enochs gewesen. Diese Sprache wurde in zahlreichen Tabellen aufgezeichnet, die aus 49 mal 49 Zellen bestehen, in die Buchstaben, manchmal Zahlen in scheinbar willkürlicher Anordnung eingetragen wurden. Diese Tabellen bilden den Inhalt des »Liber mysteriorum sextus et sanctus« (das auch »Liber Logaeth« oder »Buch des Enoch« heißt). Mit Hilfe bestimmter Methoden wählten die Engel aus diesen Tabellen einzelne Buchstaben, um Worte und Sätze zu bilden, die eine weitere Reihe von »Rufen« darstellen, durch die man sich mit ihnen in Verbindung setzen kann. Diese Methoden bilden die Grundlage der »48 Schlüssel der Engel«, eines Buches, das 1584 in Krakau verfasst wurde, das einen Katalog der 48 Engel, ihrer Eigenschaften und ihrer untergeordneten Geister sowie ihrer »Rufe« in enochischer Sprache enthält, denen eine englische Übersetzung beigegeben ist.

Was hat es mit Dees Engelsmagie auf sich? Er selbst betrachtete sie als Methode, um zu einer natürlichen Theologie zu gelangen. Er glaubte, die Kommunikation mit der geistigen Welt sei wesentlich für das Verständnis der Natur, da die Schöpfung auf einem komplexen System der Mittlerschaft beruhe, durch die Gott sich mit Hilfe der Geister und Engel offenbare. Die Engel und Geister teilten die Geheimnisse einer quasi-mathematischen Ordnung von Buchstaben und Zahlen mit, die der Natur zugrunde lag. Auch wenn Dees und Kelleys Kenntnis der Kabbala begrenzt war, deutet die Betonung einer mathematischen Struktur des emanierten Kosmos in den Unterredungen mit den Engeln auf eine eher kabbalistische als neuplatonische Sicht der Welt. Die spirituellen Tagebücher sind davon überzeugt, dass die Engel, Geister und himmlischen Regenten sich im Besitz der Geheimnisse der verschiedenen Reiche der Schöpfung befinden, und dass Dee, indem er mit ihnen kommunizierte, zu einer Theologie der Natur gelangte. Die »Wiederentdeckung« der adamitischen Sprache ist der Kern dieser Auffassung, da sie die Sprache ist, die alle Kreaturen Gottes verstehen. Die in den Tabellen aufgezeichneten »Rufe« haben die Kraft, die Geister herbeizulocken und in den Dienst des Anrufenden zu stellen, so dass sie ihm die Geheimnisse der Schöpfung offenbaren.

Dee versuchte, diesen Schlüssel zu den Geheimnissen der Schöpfung durch eine Magie der Anrufung zu erreichen, durch eine besondere Art der Magie der Geister und Dämonen. Clulee weist darauf hin, diese Magie sei von frommen christlichen Gebeten eingerahmt worden und Dee habe von Kelley verlangt, vor den Konversationen die Heilige Kommunion zu absolvieren. Dees ursprüngliches Interesse an der mittelalterlichen Wissenschaft al-Kindis, Roberts Grossetestes und Roger Bacons, das sich durch die Lektüre hermetischer und neuplatonischer Werke erweiterte, mündete schließlich in eine quasi-kabbalistische Praxis der Kommunikation mit Geistern durch die Vermittlung von Sehern, die sich mit einer dichtbevölkerten mittleren Welt von Engeln unterhielten. Diese Magie der Anrufung unterscheidet sich erheblich von der philosophischen Magie und der okkulten Philosophie eines Ficino oder Mirandola, ebenso wie von der natürlichen Magie, die sich auf die Werke Roger Bacons bezog. Trotz der Ähnlichkeit der Angelologie und Dämonologie Dees mit jener des Agrippa – die möglicherweise auf Kelleys Lektüre zurückzuführen ist – beziehen sich die Unterredungen weder auf die neuplatonische Theorie des Geistes als eines Werkzeugs magischer Wirkungen, noch auf die Rolle der Imagination oder die sympathetischen Korrespondenzen zwischen den göttlichen Eigenschaften in den Dingen der unteren und der höheren Welt. Seine Bibliothek hatte Dee eine breite Kenntnis der mittelalterlichen Magie und der Renaissance und der Hermetik verschafft, was ihn dazu anregte, die kryptische kosmologische »Monas Hieroglyphica« zu verfassen. Aber Kelleys dreistes Versprechen, er könne ihm eine unmittelbare Kommunikation mit den Geistern ermöglichen, scheint für Dee eine überwältigende Versuchung gewesen zu sein, einen direkten Zugang zu dem Wissen der Engel über die Schöpfung zu erlangen. Die offensichtliche Passivität, die mit der Abhängigkeit von Kelley einherging, scheint Dees eigene Beschäftigung mit der imaginativen Welt und den Ausbau eines reichen Gewebes an Korrespondenzen verhindert zu haben. Dees Kosmos ist zwar voll von vermittelnden Geistern, aber ihre Botschaften spiegeln mehr einen enzyklopädischen Versuch wieder, die äußere Welt zu kartografieren, als dass sie ein interaktives Muster von Korrespondenzen zwischen dem Mikrokosmos und dem Makrokosmos darstellen. Dees Experimente sind ein Beispiel für ein wissenschaftliches Unternehmen, das darauf abzielt, empirische Erkenntnisse zu gewinnen und nicht spirituelle Erleuchtung. Sein brennendes Verlangen nach Erkenntnis der Schöpfungsgeheimnisse führte jedoch zu einer mechanischen Entgegennahme dieser Geheimnisse mittels theurgischer Beschwörungen, die ähnlich bereits von der Magie des Mittelalters praktiziert wurden.

Alchemie, Paracelsus und die deutsche Naturphilosophie

Die Alchemie spielt in der Esoterik der Renaissance eine bedeutende Rolle. Goodrick-Clarke widmet dieser Disziplin, die ebenso wie andere hellenistische Quellen der westlichen Esoterik in den letzten Jahrhunderten vor Christus in Ägypten ans Tageslicht trat und später durch griechische und arabische Vermittlung nach Westeuropa gelangte, ein weiteres Kapitel seiner Einführung.

Der Ausdruck »Alchemie« stammt aus dem arabischen »al kimia«, das vermutlich auf das griechische »chymia« (Metallguss) oder »chymos« (Flüssigkeit) zurückgeht. Obwohl schon im späten Mittelalter viele alchymische Texte zugänglich waren, erlebte Europa zwischen 1550 und 1650 eine wahre Flut alchymischer und medizinisch-chemischer Publikationen. Ihre rasche Verbreitung in dieser Zeit verdankt die Alchemie ihrer Verknüpfung mit neuplatonischen und hermetischen Deutungen der Natur, besonders aber mit der Kontroverse, die sich um Paracelsus (1493-1541), den Pionier der chemischen Medizin  entspann, dessen Denken und Praxis auf einer solchen Deutung fußten.

Islamische und mittelalterliche Alchemie

Jabir ibn Hayyan (ca. 720-800), der Pionier der arabischen Alchemie, bewegte sich im Rahmen der aristotelischen Naturauffassung. Die vier Elemente Erde, Wasser, Luft und Feuer sind die Grundlage der aristotelischen Physik, die vier mit ihnen zusammenhängenden Säfte im menschlichen Organismus (Blut, gelbe und schwarze Galle und Schleim) die Grundlage der Medizin Galens. Durch die Vertauschung ihrer Eigenschaften (heiß, trocken, kalt, feucht) können die Elemente ineinander übergehen. Die Umwandlung der Stoffe ineinander ist also bereits bei Aristoteles angelegt. Jabir vertrat die Auffassung, alle Metalle seien – in unterschiedlichen Mengen und Reinheitsgraden – aus zwei elementaren Prinzipien, Sulphur und Merkur, zusammengesetzt. Diese Prinzipien hatten nichts mit unserem Begriff der chemischen Elemente zu tun. Sulphur wurde als Prinzip der Verbrennung und Färbung betrachtet. Dass er vorhanden war, bewies die Tatsache, dass die meisten Metalle durch Verbrennung eine erdartige Form annahmen. Merkur besaß die Eigenschaften der Brüchigkeit, Formbarkeit und des Glanzes.

Jabir stand auch unter dem Einfluss der hermetischen Tradition, der die Araber bei ihrer Eroberung Ägyptens nach 640 begegneten. Die arabische hermetische Literatur hat diese Begegnung in die Form einer Legende gegossen, die berichtet, im Grab des Hermes seien dessen Offenbarungen zur Theosophie, Astrologie und Alchemie gefunden worden – so wie später die Weisheit der Rosenkreuzer im Grab des Christian Rosenkreutz aufgefunden worden sein soll. Diese Offenbarungen des Hermes waren unter anderem in einem Text enthalten, der von den Arabern als Quelle alter Weisheit besonders verehrt wurde: der sogenannten »Smaragdenen Tafel«. Dabei handelt es sich um eines der ältesten erhaltenen alchymischen Dokumente überhaupt. Von der Esoterik der Renaissance wurde es, nachdem es im 14. Jahrhundert bekannt geworden war, in den Status eines »Gründungsdokumentes« erhoben. Das Motiv »Wie oben, so unten«, mit dem es eröffnet, kodifiziert die Korrespondenz zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos, während der Begriff der »Abwandlung« oder »Umwandlung« (lateinisch »adaptio«), den der Text ebenfalls verwendet, sich auf die schrittweise Entfaltung des Universums bezieht. Beide Ideen sind für die westliche Esoterik zentral.

Der Text der »Smaragdenen Tafel« lautet wie folgt: »Es ist wahr, über allen Zweifel erhaben und gewiss: Was unten ist, ist wie das, was oben ist, und was oben ist, ist wie das, was unten ist, um die Wunderwerke des Einen zu vollbringen. Und da alle Dinge aus der Vermittlung dieses Einen kommen, werden alle Dinge durch Umwandlung aus diesem Einen geboren. Die Sonne ist der Vater und der Mond die Mutter. Der Wind trägt es in seinem Leib. Die Erde ist seine Amme. Es ist der Vater aller Wunder der Welt. Seine Macht ist vollkommen. Wenn es auf die Erde kommt, trennt es die Erde vom Feuer und das Grobe vom Feinen. Voller Weisheit steigt es von der Erde zum Himmel hinauf und wieder herab, so dass es die Kräfte der höheren und der niederen Dinge empfängt. So wirst du das Licht der ganzen Welt erlangen und alle Finsternis wird von dir weichen. Es ist die Macht aller Mächte, denn es durchdringt alles Himmlische und alles Irdische. Auf diese Weise wurde die Welt erschaffen. Aus ihm gehen wunderbare Umwandlungen hervor, und der Weg zu ihnen wird hier mitgeteilt. Deswegen werde ich Hermes Trismegistos genannt, da ich im Besitz der Weisheit der drei Welten bin.«

Jabirs Werke gliedern sich in vier Gruppen: »Die hundertundzwölf Bücher« leiten sich aus der »Smaragdenen Tafel« her; »Die siebzig Bücher« wurden im 12. Jahrhundert von Gerhard von Cremona ins Lateinische übersetzt; »Die zehn Bücher der Berichtigung« beschreiben die angeblichen alchymischen Entdeckungen alter Weiser wie Pythagoras, Sokrates, Plato und Aristoteles; »Die Bücher des Gleichgewichts« enthalten Jabirs Interpretation der aristotelischen Theorie der vier Elemente. Eines der Bücher Jabirs bezieht sich auf eine Zusammenkunft antiker Philosophen, die über Alchemie diskutieren. Dabei handelt es sich möglicherweise um eine Anspielung auf ein berühmtes Werk, die »Turba Philosophorum« (»Zusammenkunft der Philosophen«), die in lateinischen Manuskripten im 13. Jahrhundert auftauchte. Das 1572 erstmals gedruckte Werk kombiniert arabische und griechische Quellen und stand unter den europäischen Alchemisten des Mittelalters in hohem Ansehen.

Ein weiterer bedeutender arabischer Alchemist war Abu Bakr ibn Zakariyya (825-925). Nach seinem Geburtsort Ray in der Nähe Teherans, dem antiken Rhagae, wurde er Razi (Rhazes), der »Mann aus Ray« genannt. Razi entfaltete als Arzt, Forscher und Autor internationale und langanhaltende Wirkungen. Manche seiner ins Lateinische übersetzten Bücher waren im 17. Jahrhundert an holländischen Universitäten immer noch Pflichtlektüre. Auch wenn Razi nicht der Theorie des Gleichgewichts von Jabir anhing, hielt er doch die Umwandlung der Metalle ineinander für möglich. Aus seiner Sicht war das Ziel der Alchemie die Umwandlung der Grundmetalle in Silber und Gold. Er hielt es auch für möglich, mit Hilfe von Elixieren gewöhnliche Quarzkristalle zu Diamanten, Rubinen und Saphiren zu veredeln. Razi vertrat die Sulphur-Merkur-Theorie Jabirs, die sich dank Paracelsus in der späteren alchymischen Literatur durchsetzte.

Das frühe mittelalterliche Europa kannte die Künste des Färbens, der Malerei, der Glaserzeugung, des Goldschmiedens und der Metallurgie, nicht aber die Alchemie, die erst seit dem 12. Jahrhundert aus der muslimischen Welt in das lateinische Abendland einwanderte. Sizilien und besonders Spanien – mit seinen Kollegien und Bibliotheken in Toledo, Barcelona und Segovia – wurden zu wichtigen Zentren der Verbreitung der arabischen Gelehrsamkeit. Die Sulphur-Merkur-Theorie vetraten so bedeutende mittelalterliche Alchemisten wie Roger Bacon (1214-1294), Arnold von Villanova (ca. 1235-1312) und Raimundus Lullus (ca. 1232-1316). Im frühen 14. Jahrhundert kam es in Europa durch bessere Öfen und Bekanntschaft mit der Destillation zu beachtlichen Entwicklungen in der Laboratoriumstechnik. In England widmete Sir George Ripley (ca.1415-1490), ein Kanoniker der Abtei Bridlington, 1470 sein Buch »The Compound of Alchemy«, König Edward IV., während sein Nachfolger, Thomas Norton (ca.1433-1513) sein berühmtes »Ordinall of Alchimy« ebenfalls mit einer Widmung an den König versah.

Trotz ihrer Betonung der Praxis besaß die mittelalterliche Alchemie zwei Seiten: eine äußere, exoterische und eine innere, esoterische. Äußere Techniken zielten in der Regel auf die Erzeugung des »Steines der Weisen«, einer wunderbaren Substanz, die imstande sein sollte, die Ausgangsmetalle Blei, Zinn, Kupfer, Eisen und Quecksilber in kostbares Silber und Gold umzuwandeln. Aber dem Stein schrieb man nicht nur diese Kraft der Umwandlung zu. Als Elixier sollte er auch das menschliche Leben unbegrenzt verlängern. Da man den Stein der Weisen oft unter Anrufung der göttlichen Gnade herzustellen versuchte, entwickelte sich die Alchemie esoterisch zu einer spirituellen Disziplin. In diesem Zusammenhang wurde die Umwandlung der Metalle zu einem Symbol für die Umwandlung des gefallenen, sündenbeladenen Menschen in ein reines, vollkommenes Werkzeug des göttlichen Willens. Die äußerlichen Tätigkeiten und Prozesse des Laboratoriums waren zugleich Übungen in religiöser Demut und schlossen Gebete sowie die Kommunikation mit Engeln oder anderen himmlischen Wesen ein.

Paracelsus

Paracelsus (1493-1541) war eine dominierende Gestalt in der Medizin und Alchemie des 16. Jahrhunderts. Heute wird er je nachdem als der erste moderne Theoretiker der Medizin betrachtet, als Begründer der Iatrochemie, der Antiseptik und der modernen Wundchirurgie, oder aber als Erfinder der Homöopathie. Paracelsus lehnte die scholastische Gelehrsamkeit der antiken und mittelalterlichen Medizin ab und suchte nach einer neuen Heilkunst, die auf Experimenten und Beobachtung und einer neuen Philosophie beruhen sollte. Die Natur und der Mensch waren seine Erkenntnisquellen. Seiner Auffassung nach übertrafen ein frommer christlicher Glaube, das Zeugnis der Sinne und ein System von Korrespondenzen zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos das Buchwissen, das aus antiken Autoritäten wie Hippokrates, Galen und Avicenna geschöpft war. Seine radikale Zuwendung zur Medizin, sein populärer Stil und seine Verachtung für Experten und Inkompetenz trugen ihm überall die Feindschaft der Autoritäten ein und führten dazu, dass er als »Luther der Mediziner« bezeichnet wurde. Paracelsus reicherte die Alchemie mit hermetischen und neuplatonischen Ideen an und schuf ein gedankliches Modell, um die Einheit und gegenseitige Abhängigkeit von Natur, Mensch und Gesundheit zu erklären.

Philippus Aureolus Theophrastus Bombastus von Hohenheim, »Paracelsus«, wurde 1493 in Einsiedeln in der Schweiz geboren. Seine Mutter starb, als er noch ein Kind war. 1502 zogen er und sein Vater infolge der Schwabenkriege (1499) nach Villach in Kärnten. Hier wirkte Wilhelm von Hohenheim für den Rest seines Lebens als Arzt und ermunterte seinen Sohn zu einem Studium der Naturgeschichte und der Medizin. Paracelsus besuchte vermutlich örtliche Klosterschulen in der Nähe von Klagenfurt. Die Bergbauschule der Fugger und ihre Minen in der Nähe von Villach boten Vater und Sohn ein reiches Feld für chemische und medizinische Beobachtungen und Spekulationen. Zu seinen späteren Lehrern gehörten vier Bischöfe und der berühmte Kabbalist Johannes Trithemius. Paracelsus bereitete sich vermutlich in Wien zwischen 1509 und 1512 auf das Baccalaureat vor. Danach studierte er an der Universität von Ferrara, wo er 1513 seinen Doktor erwarb.

Der junge Doktor unternahm eine Reihe ausgedehnter Reisen quer durch Europa. Zwischen 1517 und 1524 wanderte er durch Frankreich nach Spanien und Portugal, dann über Frankreich nach England, Deutschland, Skandinavien, Polen, Russland, Ungarn und Kroatien, schließlich durch Italien nach Rhodos, Konstantinopel und möglicherweise Ägypten. Während dieser Zeit diente er als Feldchirurg in den Kriegen Venedigs, Hollands, Dänemarks und der Tataren. Zu seinen Erfahrungen als Chirurg fügte er den Reichtum lokaler und traditioneller Volksheilkunde hinzu, den Kräuterkundler, Bademeister, Bauern, Zigeuner und Magier besaßen, denen er auf seinen Reisen begegnete.

Paracelsus wollte eine neue Medizin begründen, die das Beste aus dem akademischen Wissen und den Erfahrungen des Landvolkes zusammenbrachte. Dieses unkonventionelle Vorhaben wurde zu seiner Bestimmung. Im spätmittelalterlichen Europa waren die Ärzte Akademiker, die selten am Krankenbett standen, während Bader (Chirurgen) zwar eine Erfahrungsheilkunde betrieben, aber keinerlei Theorie besaßen. Apotheker lebten gut von den Kräuterrezepten Galens und Avicennas, die immer noch von den akademischen Ärzten verschrieben wurden. Die Reform der Medizin, die Paracelsus vorschwebte, stellte für alle Gruppen eine Bedrohung dar. Sein Leben wurde zu einer endlosen Reihe von Auseinandersetzungen, wo immer er versuchte, sich niederzulassen und zu praktizieren.

Im Dezember 1526 ging er nach Straßburg, befreundete sich mit den dortigen protestantischen Reformern und erwarb deren Anerkennung. Zu diesen Reformern gehörten Nicolaus Gerbelius, Kaspar Hedio, Wolfgang Capito und Johannes Oecolompadius. Capito führte Paracelsus in den Basler Humanistenkreis ein. Im Zentrum dieses Kreises stand der Verleger Froben (Frobenius), der Paracelsus mit Erasmus von Rotterdam und den Amerbach-Brüdern bekannt machte. Humanisten, reformierte Geistliche und das Publikum fanden seine Freundschaft mit führenden Reformatoren, seine medizinischen Fähigkeiten und seine Opposition gegen die scholastische Medizin gleichermaßen anziehend. Der protestantische Theologe Oecolompad war im Rat seiner Heimatstadt Basel äußerst einflussreich und erreichte im März 1527 die Ernennung seines Schützlings zum Stadtarzt.

Paracelsus brachte nur zehn Monate in Basel zu, aber diese Zeit stellt den Höhepunkt und die entscheidende Krise seines Lebens dar. Die Stelle als Stadtarzt gab ihm das Recht, an der Universität Vorlesungen zu halten. Aber Paracelsus forderte die Autoritäten der Universität heraus, indem er die praktische und theoretische Medizin lehrte, die er aus seinen Erfahrungen kannte, statt die Theorien des Hippokrates und des Galen. Außerdem hielt er seine Vorlesungen nicht in Latein für eine akademische Elite, sondern in Deutsch vor einem großen und begeisterten Publikum, zu dem sowohl Studenten als auch Bader gehörten. In diesen Vorlesungen stellte Paracelsus den Kern seiner Medizin dar. Doch die Feindschaft der Fakultät und andere Auseinandersetzungen zwangen in Anfang 1528 dazu, Basel zu verlassen.

Nun trat er in die fruchtbarste Phase seiner medizinischen Publizistik ein. Er schrieb das »Paragranum« (1529-1530), das die Medizin auf vier Säulen gründete: eine Philosophie der Natur, die Astronomie (die Beziehung zwischen Mensch und Himmel), die Alchemie (die Wissenschaft von der Herstellung chemischer Medizin) und auf die Tugend (die eingeborene Kraft des Kranken, des Arztes, des Heilkrauts oder Metalles). In St. Gallen vollendete er 1531 sein »Opus Paramirum« – das Werk »jenseits der Wunder«. Dieses Buch enthält seine ausgereiften medizinischen Theorien, eine Darstellung der drei Prinzipien (Sal, Sulfur, Merkur), ein chemisches System der Medizin, das an die Stelle der antiken Lehre der vier Elemente treten sollte, Darstellungen über Verdauung und Ernährung, über das Wesen der Frauen, die Gebärmutter (matrix), Sexualität und Fortpflanzung, Krankheiten, die durch Steine verursacht werden, sowie über psychische Phänomene und Krankheiten, die aus der Imagination entstehen.

In Augsburg veröffentlichte er sein Buch über Chirurgie, »Die große Wundarznei«, an dem er seit Jahren geschrieben hatte. Von Augsburg reiste er weiter nach Mährisch Kromau, um Johann von der Leipnik, einen Würdenträger des Königreichs Böhmen, als Arzt zu beraten. Der Schutzherr verfolgter protestantischer Sekten in Böhmen interessierte sich sehr für die philosophischen Ideen seines Arztes und lud ihn ein, als sein Gast in Kromau zu bleiben. Hier begann Paracelsus sein großes philosophisches Werk »Astronomia Magna oder die ganze Philosophia Sagax der großen und kleinen Welt« zu schreiben (1537-1538) das eine systematische Darstellung der vielfältigen Korrespondenzen zwischen Mikro- und Makrokosmos enthält. Weitere Reisen führten nach Breslau und Wien, wo König Ferdinand Paracelsus zweimal zu einer Audienz empfing. Am 24. September 1541 starb er in Salzburg an einem Schlaganfall.

Paracelsische Alchemie

Die Alchemie spielt im Denken des Paracelsus eine zentrale Rolle. Wie die mittelalterlichen Alchemisten sah er jedoch ihr höchstes Ziel nicht in der Erzeugung von Gold, sondern in der Vollendung dessen, was die Natur unvollendet gelassen hatte. Die paracelsische Alchemie beruht auf der Entsprechung von Mikrokosmos und Makrokosmos und den vielen Umwandlungen der drei Prinzipien, des flüssigen Merkur, des festen Salzes und des brennbaren Sulfur. Paracelsus berief sich auf Trithemius, der die sieben Metalle, die »Tinkturen« (die schaffenden Prinzipien) und den Stein der Weisen auf drei Substanzen zurückführte: auf Geist, Seele und Leib. Er behauptete, diese seien mit seinen eigenen Prinzipien Merkur (Geist), Sulfur (Seele) und Sal (Leib) identisch. Da Merkur den Geist repräsentierte, war dieses Metall ebenso wichtig wie Gold, das solare Metall. Aber die paracelsische Alchemie behandelte Sulfur, Sal und Merkur als Prinzipien, und nicht als Elemente, wie die mittelalterliche Alchemie dies getan hatte. Und Paracelsus benutzte chemische Reaktionen, um die Vorgänge der menschlichen Physiologie zu erklären; die mittelalterliche Alchemie hatte das Umgekehrte getan.

Paracelsus war von der neuplatonischen Vorstellung inspiriert, das Ganze der Schöpfung – der Himmel, die Erde und die Natur – sei ein Makrokosmos, der sich in einer Vielzahl von Mikrokosmen wiederspiegle, unter denen der Mensch als der vollkommenste hervorrage. Die Analogien zwischen Makro- und Mikrokosmos sind zentral für seine Kosmologie, Theologie, Naturphilosophie und Medizin. Logik und abstrakter Rationalität als Werkzeugen der Wissenschaft stand er höchst misstrauisch gegenüber. Da der Mensch die Spitze der Schöpfung darstellt und all ihre Bestandteile in sich trägt, vermag er – aufgrund der Sympathie zwischen der inneren Repräsentation eines bestimmten Gegenstandes und diesem Gegenstand in der äußeren Welt – die Natur unmittelbar zu erkennen. Für Paracelsus ist diese sympathetische Vereinigung mit dem Gegenstand das Mittel der Wahl, um zu einer tieferen Erkenntnis zu gelangen. Und nach seinem Verständnis hat Erkennen nicht nur mit dem Gehirn, sondern mit dem ganzen Menschen zu tun.

Wie im Neuplatonismus hat auch bei Paracelsus jedes Ding zwei Seiten: einen sichtbaren (materiellen) Teil und einen unsichtbaren (astralen) Teil. Der sichtbare besteht aus den vier Elementen, der unsichtbare aus einem »Überelement«, der fünften Essenz (»Quintessenz«). Der Mensch besitzt als Mikrokosmos einen fleischlichen, elementarischen Leib und einen astralischen Leib (corpus sidereum, Sternenleib), der imstande ist, mit dem astralen Teil des Makrokosmos, den ungeschaffenen Kräften oder direkten Emanationen Gottes in der Natur, zu kommunizieren. Die Erfahrung betrachtet Paracelsus als einen Prozess der Identifikation des Geistes oder Astralleibs mit dem inneren Wissen, das alle Wesen der Natur, die einem Ziel zustreben, in sich tragen. Der Forscher sollte versuchen, das Wissen der Sterne, der Kräuter oder Steine zu »belauschen«, um deren Kraft, Aktivität oder Funktion zu erkennen, und auf diese Weise den astralen Zusammenhang zwischen sich und dem Gegenstand oder Wesen ergründen. Diese Identifikation dringt tiefer in das Wesen eines Gegenstandes ein, als die bloße Sinneswahrnehmung. Die Wissenschaft von der Natur, die Paracelsus vorschwebt, geht in die Tiefe und ist holistisch. »Die Kräuter, Wurzeln, Samen, Bäum, Früchte usw. und alles Edelgestein, das auf Erden ist und in den vier Elementen, die sind nichts anderes als Buchstaben, die etwas in sich haben und vermögen; niemand aber weiß, was die selbigen Buchstaben in sich begreifen; nun können die Kräuter und Samen nicht mit uns reden, dass sie selbst sagten, das und das ist in mir, sondern sie stehen still da und reden und regen sich nicht. Wie soll man nun erfahren, was doch in ihnen sei? ... Zu erforschen, was in den Kräutern sei, dazu gehört philosophia adepta [Einweihungswissen], die selbige weiß alle verborgene Dinge, alle Geheimnisse, alle arcana [Geheimnisse] der Natur, was in einem jeglichen Kraut, Samen, Wurzel usw. zu finden ist ... Nun ist von nöten, dass wir wissen, was der philosophus adeptus [der Eingeweihte] sei, damit wir von ihm lernen. So wisset, er ist ungreiflich [übersinnlich], unsichtbar, unempfindsam und ist bei uns und wohnt bei uns in aller Gestalt, wie Christus spricht: ›ich bin bei euch bis zum Ende der Welt‹, aber niemand sieht ihn, niemand greift ihn, doch ist er bei uns, – so ist auch der philosophus adeptus bei uns ... Der Mensch soll, was die philosophiam adeptam betrifft, nit mit dem Geist, der Fleisch und Blut ist, lernen, sondern er soll durch sein sidereum corpus lernen, alsdann werden ihm alle überelementischen Dinge offenbart. Und nichts ist so Verborgenes, das nicht dem selbigen sidereo corpori von dem philosopho adepto offenbart werde.« (»Philosophia sagax«, I, Kap. 8)

Paracelsus war davon überzeugt, dass Gesundheit und Krankheit mit astralen Einflüssen zusammenhängen und dass letztere beseitigt und die Gesundheit wiederhergestellt werden kann, indem man »arcana« oder Heilmittel benutzt, die bestimmte »Tugenden« oder Kräfte enthalten. »Denn der Arzt, der die Astronomie nicht versteht, der kann kein vollkommener Arzt genannt werden, weil mehr als die Hälfte der Krankheiten vom Firmament regiert wird.« (»Philosophia sagax«, Vorrede) Das Heilmittel stellt die himmlische Harmonie zwischen dem inneren, astralischen Leib des Menschen und dem himmlischen astrum (Stern) wieder her. Die Arznei ist zwar physisch, aber sie enthält ein himmlisches Arcanum (Geheimnis). Die Ärzte müssen daher in der Astrologie bewandert sein, damit sie die Ursachen der Krankheiten erkennen und in der Alchemie, damit sie das entsprechende arcanum zubereiten können. »Das Ziel der Alchemie« so Paracelsus,  »ist nicht ... Gold oder Silber zu machen, sondern das arcanum herzustellen und es gegen die Krankheiten einzusetzen.«

Diese philosophischen Ideen führten ihn zu einer neuen Theorie des Stoffes. Nach seiner Auffassung war das Wesen und die Eigenart eines Gegenstandes durch eine ihm innewohnende, spezifische, seelenartige Kraft bestimmt, und nicht durch ihre chemischen Komponenten. Substanzen waren für ihn nur grobe Hüllen, die ein Gefüge spiritueller Kräfte einschlossen und dieses Gefüge spiritueller Kräfte, nicht die körperliche Hülle, war für die Zusammensetzung des Stoffes verantwortlich. Paracelsus spiritualisierte den Stoff, indem er diese geistigen Kräfte zu den wahren Elementen und Prinzipien erklärte, während die Elemente im gewöhnlichen Sinn und die chemischen Substanzen lediglich die kristallisierten Niederschläge dieser Kräfte waren. Die sichtbaren Elemente waren für ihn das Resultat einer Wechselwirkung zwischen den Qualitäten der Hitze, Kälte, Feuchtigkeit und Trockenheit und einem ursprünglichen Stoff, der ersten Materie (arche oder usia), von der bereits die Stoiker gesprochen hatten.

Medizinische Reformen

Diese Ansichten des Paracelsus über die Beschaffenheit des Stoffes treten in seinen neuartigen medizinischen Anschauungen deutlich zu Tage. Er verwirft die antike Säftelehre und die mit ihr zusammenhängende Medizin. Seiner Ansicht nach vermögen die vier Säfte und die Temperamente nicht die große Zahl unterschiedlicher Krankheiten zu erklären. Er bestreitet die überragende Rolle der Konstitution, von der die antike Pathologie ausgeht. Seine Pathologie beruht auf der Beziehung zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos. Dies führt zu zwei wichtigen Konsequenzen: Paracelsus betrachtet die Krankheit als etwas, das den Körper von außen befällt, und sein Verständnis der Beziehung zwischen dem Menschen und der äußeren Welt lässt ihn nach spezifischen Kuren und Heilmitteln für bestimmte Krankheiten und Funktionsstörungen suchen. Außerdem benutzt er chemische Heilmittel, die auf seinen Ansichten über Sulphur, Sal und Merkur beruhen, und seine Erfolge scheinen ihm gegen Galens Kräutermedizin recht zu geben. Aus diesem Grund wird er oft als Begründer der modernen Medizin und Iatrochemie bezeichnet.

Häufig wird er auch als Vater der Homöopathie betrachtet. Seine chemischen Heilmittel beruhen in der Tat auf den feinstofflichen Verwandtschaften zwischen den Krankheiten und den »Arcana«. Diese Verwandtschaften oder Sympathien treten an die Stelle des antiken Prinzips der Gegensätze, mit dem man die Wirkung der Heilmittel erklärte. Paracelsus verwirft die Vorstellung, ein »kaltes« Medikament könne eine »heiße« Krankheit heilen, die Heilkraft hängt mit anderen Eigenschaften des Medikaments zusammen. Der Krebs zum Beispiel entspricht dem Arsen im Makrokosmos und es heilt ihn, weil die Krankheit selbst arsenischer Natur ist. Ebenso lässt sich ein Stein (eine steinartige Verdichtung in den Nieren zum Beispiel) durch andere Steine heilen, etwa die Scheren einer Krabbe oder Lapislazuli. Das Gift des Skorpions vermag eine Vergiftung durch den Skorpion zu heilen. Paracelsus glaubt, die Besonderheit eines arcanums liege in seiner Anatomie oder Struktur. Da die Anatomie des Heilmittels mit jener der Krankheitsursache identisch ist, ist die Medizin für Paracelsus also iso- oder homöopathisch.

Sein Werk enthält sowohl protowissenschaftliche Ideen als auch moderne wissenschaftliche Theorien. Seine Beiträge zur Medizin sind beeindruckend. Er plädierte für eine humane Behandlung der Patienten, besonders der Geisteskranken, erkannte die Heilkraft der Natur, beschrieb antiseptische Prinzipien, vertrat fortschrittliche Ansichten über die Syphilis, deren Behandlung mit Guajacum und Quecksilber er ablehnte und wusste von der harntreibenden Wirkung des Quecksilbers und seiner Heilkraft bei Wassersucht. Er hat den Zusammenhang zwischen dem Kropf und bestimmten Mineralien erkannt und Untersuchungen von Heilwässern und Beobachtungen der verdauungsfördernden Wirkung bestimmter saurer Gewässer (Balneologie) vorgenommen. Er beschrieb die Krankheit der Bergleute als Berufskrankheit und erkannte, dass Metalle eine größere Vergiftungsgefahr in sich bergen, als Salze. Außerdem verfasste er eine Ätiologie dieser Krankheit mit ihren vielen Symptomen.

Hermetische Einflüsse

Naturphilosophie und Alchemie des Paracelsus begründen eine spezifisch deutsche Spielart des Neuplatonismus der Renaissance. Manche seiner Ansichten gehen mit Sicherheit auf Marsilio Ficino zurück, etwa die Theorie der zwei Welten und ihrer Korrespondenzen, oder die Auffassung, der Arzt sei ein Magier, der mit seiner geläuterten Seele in die spirituelle Hierarchie der Natur eingreift. Für die Annahme dieser Abhängigkeit gibt es in den Werken des Paracelsus eine Vielzahl von Belegen. In Ficinos Verteidigung der Astrologie und Medizin findet sich der Kern des paracelsischen, medizinischen Neuplatonismus.

Ficino setzte sich mit Einwänden gegen seine Ansichten auseinander. »Gewiss ist Ficino ein Priester«, werden die Leute sagen. »Was hat ein Priester mit Medizin zu tun?« »Und was mit Astrologie?« »Warum sollte er sich als Christ für Magie und Bildzeichen interessieren, und für die Lebenskräfte, die den ganzen Kosmos durchdringen?« Ficino entgegnete auf diese Einwände, die ältesten Priester – die Chaldäer, Perser und Ägypter – seien sowohl Ärzte als auch Astronomen gewesen und hätten dadurch der Frömmigkeit und Nächstenliebe gedient. Der größte Akt der Nächstenliebe besteht für ihn darin, einem anderen dabei zu helfen, einen gesunden Geist in einem gesunden Körper zu pflegen. Dieses Ziel erreicht man am besten, wenn man die Haltung eines Priesters mit der eines Arztes verbindet. Denn da die Medizin ohne die himmlische Gnade wirkungslos, ja sogar schädlich ist, muss der Arzt sich mit der Astronomie beschäftigen, die ihn zu jener priesterlichen Nächstenliebe führt, deren Ausdruck seine ärztliche Kunst ist.

Ficino sprach vom Magier auf die gleiche Art wie vom priesterlichen Arzt. Die Magie ist nicht jene profane Beschäftigung mit Dämonen, für die man sie hält, sie enthüllt die himmlischen Eigenschaften, die in den Dingen der Natur verborgen sind, und fördert durch sie die Gesundheit. Es handelt sich um »natürliche Magie«, die einen überlegenen Geist voraussetzt, der himmlische und irdische Elemente verbindet und zum Ausgleich bringt. Ein solcher Geist ermöglicht es dem Magier, die untere Welt nach himmlischen Konstellationen auszurichten und damit der Beförderung der Glückseligkeit des Menschen zu dienen – genauso wie der Bauer den Ackerboden pflegt, das Wetter und die Luft beobachtet, um das Gedeihen der Nahrung zu fördern. Weisheit und Priestertum, nicht düstere Praktiken und Gift, sind die Quelle der Aktivität und der Erfolge des Magiers.

Nach Walter Pagel stellt das gesamte Leben und Werk des Paracelsus einen Versuch dar, dieses Ideal des priesterlichen Arztes zu verwirklichen. Zwischen den Ideen Ficinos und jenen des Paracelsus gibt es viele Parallelen. Ficino war – neben Hippokrates – einer der wenigen Ärzte, die Paracelsus nicht verurteilte. Für ihn war Ficino »Italorum medicorum optimum« (der beste der italienischen Ärzte). Ficinos Werk »De triplici vita« (»Vom dreifachen Leben«, 1489) inspirierte sein eigenes Buch »De Vita Longa« (»Vom langen Leben«) und er zitierte darin zustimmend das Werk des »egregius medicus Marsilius Ficinus.«

Ficinos Einfluss zeigt sich in Paracelsus' Deutung der Pest und seinen Vorschlägen zu ihrer Behandlung. Hier werden die chemischen Theorien Ficinos in einem spezifisch paracelsischen Kontext makrokosmischer und mikrokosmischer Kräfte ausgearbeitet, ohne gewisse Ansichten Galens gänzlich aufzugeben. In seinem Werk »Gegengift gegen Epidemien« verabschiedete Ficino die scholastischen »Qualitäten« und konzentrierte sich auf spezifische Giftstoffe: die Dämpfe, welche die Pest übertragen, sind laut Ficino ihrer ganzen Struktur nach dem Lebensgeist entgegengesetzt, der im Herzen wohnt. Das Pestgift zeigt den zersetzenden und entzündlichen Charakter von Kalzium und Arsen. Schädliche Konstellationen, zum Beispiel eine Konjunktion von Mars und Saturn, erzeugen, stärken und unterstützen die Wirkung des Giftes. Der Einfluss der Gestirne ist auch für die Ansteckung von Tieren verantwortlich. Die relative Widerstandsfähigkeit älterer Menschen wird von Saturn als Jahresherrscher zunichte gemacht, wie es bei der Pestepidemie 1479 in Florenz der Fall war, die jeden Tag 150 Todesopfer forderte.

Paracelsus übernahm diese chemischen Pesttheorien in seine Vorlesungen über die »tartarischen Krankheiten« im Winter 1527-28 und bezeichnete 1529-30 in seiner Nördlinger Abhandlung Mars und Sulphur als unmittelbare Krankheitsursachen. Nach hermetischen Prinzipien sah er in der Pest einen Blitz aus dem Himmel, der bestimmte Prozesse der Umwandlung von Stoffen in der Natur und die verwandten Prozesse im Menschen beeinträchtige. Aber an erster Stelle erzeugt der Mensch selbst die »semina« (Samen) der Krankheit, indem er ein ansteckendes »contagium« bildet. Dabei handelt es sich um einen physischen Stoff. Aber dieser wird durch etwas Nichtkörperliches erzeugt, nämlich die sündige Leidenschaft und Imagination des Menschen. Paracelsus spricht der (neuplatonischen) Imagination eine Rolle bei der Krankheitsentstehung zu, was die Einwirkung des Seelischen auf den Körper und umgekehrt voraussetzt und den Dualismus zwischen beiden überwindet. Der nichtkörperliche Geist wirkt auf den Stoff ein und umgekehrt: das ist ein Gedanke, der auch in Tommaso Campanellas »Sensus Rerum« begegnet und später in der Philosophie Van Helmonts und Leibnizens.

Paracelsische Naturphilosophie und deutsche Mystik

Den durch Ficino, Mirandola, Reuchlin und Agrippa vermittelten Höhepunkt der hermetischen Inspiration sieht man für gewöhnlich in einem Werk mit dem Titel »Astronomia Magna oder die ganze Philosophia sagax der großen und kleinen Welt« (1537-38), das die philosophische Weltsicht des Paracelsus rund fünf Jahre vor seinem Tod zusammenfasst. Das Werk zeugt von seiner hermetischen Philosophie. Der Mensch ist aus dem Makrokosmos entstanden und lebt in diesem. Das »Licht der Natur« offenbart die allumfassende Wechselwirkung aller Lebewesen, der irdischen und der himmlischen. Der Magier kann die Erkenntnis der himmlischen und irdischen Welt erlangen, und Gutes in der Natur bewirken, so wie der Naturphilosoph oder Arzt auch. Auch die Seelenlehre des Paracelsus ist neuplatonisch: »So sind im Menschen zwei Leiber, einer aus den Elementen, der andere aus dem Gestirn, weshalb diese zwei Leiber sonderlich gut zu begreifen sind. Durch den Tod kommt der elementische Leib mit seinem Geist in die Grube, und die ätherischen werden in ihrem Firmament verzehrt, und der Geist des Bildnisses geht zu dem, dessen Bildnis er ist [zu Gott nämlich].« Die gesamte »Astronomia Magna« ist von einer dreigliedrigen Struktur durchzogen: alles ist irdisch, himmlisch und überhimmlisch-ewig, was dem Körper, der Seele und dem Geist entspricht. Der Geist ist göttlich und kehrt, wie in der neuplatonischen Philosophie Ficinos, zu Gott zurück. Bei Paracelsus, in den Werken Ficinos, Mirandolas und Agrippas, in der Theurgie John Dees und Robert Fludds wunderbaren Stichen, – überall begegnet man derselben dreifaltigen hierarchischen Welt der neuplatonischen Kosmologie.

Aber Paracelsus grenzt stets das Ewige und das Zeitliche von einander ab. Der Mensch, die Natur und die Sterne stellen die mikro-makrokosmische Welt des Lebendigen dar, in der alles miteinander verbunden und voller wunderbarer Korrespondenzen ist. Die Natur offenbart die göttlichen Siegel und Signaturen (die Emanationen aus Gott), die der Arzt lesen, verstehen und seinem Handeln zugrunde legen muss. Der Magier oder Priester-Arzt kann sie erkennen und anwenden, denn er verkörpert dieses geheimnisvolle Wissen in sich selbst, da er seinerseits ein Abbild der bedeutungsvollen, hermetischen Ordnung der Schöpfung ist. Aber all dies ist für Paracelsus doch nur zeitlich und vergänglich. Daneben gibt es eine ewige Weisheit, die »unmittelbar aus dem Hl. Geist hervorgeht« und der Mensch vermag beide Arten des Wissens zu unterscheiden, weil er selbst ein Bild Gottes ist, bzw. das Bild Gottes in sich trägt.

Die herausragende Rolle, die Christus als Vermittler zwischen Mensch und Gott spielt, zeugt vom Einfluss des fideistischen Christentums, das für die deutsche Reformation typisch ist, auf die paracelsische Kosmologie und Naturphilosophie. Selbst in seinem Spätwerk findet man diese Unterwerfung unter den Herrn des Glaubens: »Die Tiere empfangen ihre Natur von den Sternen, der Mensch sein sterbliches Wissen, seine Vernunft und seine Kunst – und alles, was aus dem Licht der Natur kommt, muss vom Licht der Natur gelernt werden, ausgenommen das Bild Gottes, das dem Geist untersteht, den Gott dem Menschen gegeben hat. Der Geist unterrichtet den Menschen in den übernatürlichen und ewigen Dingen und nach der Trennung des Geistes vom Stoff kehrt er zum Herrn zurück.«

Die Nachwirkungen des Paracelsus

Diese Ansicht ist ein weiteres Beispiel für die Art, wie Paracelsus hermetische Vorstellungen des Zerfalls und der Wiederherstellung mit der christlichen Idee der Erlösung verknüpft. Seine Auffassung, der gesamte Makrokosmos sei das Ergebnis eines Prozesses der Zergliederung, ist grundlegend für seine ganze Philosophie. Die Entstehung der Arten und Individuen zerbricht die ursprüngliche göttliche Einheit und Einfachheit. Die gesamte Natur unterliegt diesem Prozess der Vervielfältigung und Zersplitterung, der zugleich Niedergang und Sterben (putrefactio) impliziert. Die Summe dieser Zerfallsprozesse bezeichnete Paracelsus als »Cagastrum« (von»kakon astron«, schlechte Sterne): weil alle Kreaturen von ihnen betroffen sind, sind alle sterblich und kehren am Ende ins Nichts zurück. Aber der Christ ist erlöst. Die Erlösung verdankt der Mensch der Sühnetat Christi. In seiner Nachfolge wird der Christ, indem er den sakramentalen Leib des Erlösers in sich aufnimmt, zu Gott zurückkehren. Paracelsus hält – im Unterschied zu Caspar Schwenckfeldt und anderen – an der Menschwerdung fest, kündigt aber gleichzeitig die spätere spiritualistische Christologie des Protestantismus an, wie sie in Jakob Boehme oder Valentin Weigel erscheint.

Carlos Gilly sieht im umfangreichen, erst in jüngster Zeit veröffentlichten theologischen Werk des Paracelsus die Grundlagen einer religiösen Strömung Mitteleuropas, die sich im späten 16. und 17. Jahrhundert über den Streit der Konfessionen erhob. In seinem Buch »De septem puncti idolatriae christianae« (»Sieben Thesen über die christliche Götzenverehrung«, 1525) lehnte Paracelsus die »Mauerkirche« ab. Er wollte aber keine neue Sekte begründen, sondern kämpfte für eine »Geistkirche«, die allein Gott und der Natur verpflichtet war. Seine Religion der »beiden Lichter«, des »Lichtes der Gnade« und des »Lichtes der Natur«, wurde von Adam Haslmayr (ca. 1560-1630), dem ersten Kommentator der rosenkreuzerischen Manifeste, aufgegriffen, der sich auf das Vorbild des Paracelsus berief. Halsmayr bezeichnete die Offenbarung des Paracelsus als »Theophrastia Sancta« und dieser Begriff wurde unter den Anhängern Valentin Weigels zum Namen für ein neues Evangelium, für eine wirklich radikale Reformation.

In seinen Ansichten und Reformvorschlägen war Paracelsus kompromisslos. Mensch und Werk zeichnen sich durch eine epische Qualität aus, und so überrascht es nicht, wenn seine Ideen und seine Wirkung seine Lebenszeit lange überdauert haben. Während seines Lebens wurden nur wenige seiner Schriften veröffentlicht, erst ab den frühen 1550er Jahren wurden mehr und mehr Werke von ihm publiziert. Die Vielzahl an Veröffentlichungen bis in die 1570er Jahre geht auf das Engagement früher Paracelsisten zurück,  zu denen Adam von Bodenstein, Michael Toxites, Gerard Dorn und Theodor und Arnold Birckmann gehörten. Seine gesammelten Werke wurden erstmals von Johannes Huser aus Waldkirch (Baden) 1589-1591, dann 1603 und 1605 veröffentlicht. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts gab Paracelsus der Rosenkreuzerbewegung einen starken Auftrieb, inspirierte Michael Maier (1568-1622) und den berühmten christlichen Mystiker Jakob Boehme. Weitere Paracelsisten waren Oswald Croll, John Dee, Francis Anthony und Robert Fludd. Zu dieser Zeit übte er den größten Einfluss in Medizinerkreisen aus, wurde aber in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts vom rationalistischen Empirismus zurückgedrängt.

Goethe, Novalis, Schelling und andere Romantiker entdeckten Paracelsus Ende des 18. Jahrhunderts wieder und sahen in ihm einen Vertreter ihrer eigenen Naturphilosophie. Seine Werke wurden von Theosophen wie H.P. Blavatsky, Franz Hartmann und Rudolf Steiner popularisiert, die in ihm eine führende Gestalt der Renaissance des Neuplatonismus und einen Vertreter der Tradition der »Alten Weisheit« sahen. Der Schweizer Psychoanalytiker und Esoteriker C.G. Jung betrachtete die antike hellenistische Religion, insbesondere die Gnosis, als Schlüssel zum Unbewussten. In den späten 1920er Jahren befasste sich Jung mit der Alchemie als einer historischen Brücke zwischen der gnostischen Religion und seiner eigenen Psychologie. Zwei seiner frühen Werke waren »Die Symbolik der Träume im Individuationsprozess« (1935) und »Die Idee der Erlösung in der Alchemie« (1936). Jung zählte Paracelsus und dessen Schüler Gerard Dorn zu den bedeutendsten Alchemisten. Wie die Paracelsisten des 17. Jahrhunderts schätzte Jung Paracelsus wegen seiner Lehre von den beiden Erkenntnisquellen. Außerdem betrachtete er ihn als Pionier der Erforschung des Unbewussten. Indem er Paracelsus als »Vorläufer der modernen Psychologie des Unbewussten« darstellte, wies er ihm die Rolle eines »Pioniers der empirischen Psychologie und Psychotherapie« zu.

Die esoterischen Ideen des Paracelsus über das kosmische All-Leben, die Vergeistigung des Stoffes und die göttliche Natur von Kraft und Energie sind heute Bestandteile der neuen Wissenschaftsphilosophien des Vitalismus und Holismus und gehören zu den Archetypen der Jungschen Psychoanalyse. Auch im Aufblühen des Interesses an alternativer Medizin kann man die zeitlosen Ideen des Paracelsus wiederfinden. Er steht an der Grenze zwischen der Renaissancephilosophie und ihrer empirischen Anwendung in der Naturwissenschaft und Medizin und zeugt für die Brauchbarkeit der Schlüsselideen der Esoterik: der Idee der Korrespondenz, der lebendigen Natur, der Vermittlung und der Imagination. Und seine Ansichten über die Transmutation verbinden die medizinische Alchemie mit dem menschlichen Bedürfnis nach göttlicher Gnade.

Jacob Boehme und die christliche Theosophie

Während des 17. und 18. Jahrhunderts waren die christliche Theosophie und der Pietismus ein Hort der Esoterik. Sie stellten laut Goodrick-Clarke, der sich hier Antoine Faivre und anderen Esoterikforschern anschließt, die protestantische Antwort auf die sich verhärtende Orthodoxie der lutherischen Reformation dar. Ein Hauptvertreter dieser Theosophie ist der Schuhmacher Jakob Boehme (1575-1624) aus Görlitz in der Lausitz (heute Sachsen). Diese Provinz hatte sich der Reformation angeschlossen, besaß jedoch eine reiche heterodoxe und hermetische Tradition. Boehme wurde zu Beginn des 17. Jahrhunderts der führende protestantische Mystiker. Seine Werke enthalten eine esoterische Psychologie der individuellen Menschenseele und ihrer Vereinigung mit Gott durch die Vermittlung der Jungfrau Sophia (der göttlichen Weisheit). Esoterische Vorstellungen von Korrespondenzen zwischen der höheren Welt und der Seele, die sich auf die Alchemie, die Astrologie und die Kabbala stützen, verankern sein Denken fest in den Traditionen der westlichen Esoterik. Nach seinem Tod breitete sich sein Ruhm schnell in Holland, England, Frankreich, Rußland und in den amerikanischen Kolonien aus. Seine Ideen beeinflussten die Dichter des deutschen Barock, die religiösen Abweichler (»dissenter«) Englands im 17. Jahrhundert und die Pietisten Deutschlands im 17. und 18. Jahrhundert. Am Ende des 18. Jahrhunderts inspirierte er Dichter wie William Blake, Ludwig Tieck und Novalis und im 19. Jahrhundert bewunderten ihn deutsche Philosophen wie Franz von Baader, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Georg Wilhelm Hegel und Arthur Schopenhauer. Boehmes esoterisches Denken und seine Schriften sind nicht leicht zu verstehen. Es ist hilfreich, sein Leben und Werk im Jahrhundert zu verorten, das auf die Reformation folgte.

Die lutheranische Orthodoxie und ihre Kritiker

In der Mitte des 16. Jahrhunderts hatte sich die Reformation – abgesehen von Frankreich und den Niederlanden – in allen europäischen Ländern nördlich der Alpen durchgesetzt. Waren sie erst einmal etabliert, wandten sich die Reformatoren oft einer strengen Orthodoxie zu, um ihre Position zu festigen. Im Heiligen Römischen Reich erreichte man durch den »Augsburger Religionsfrieden« (1555) mit seinem Prinzip »cujus regio, ejus religio« (das dem Landesherrn das Recht zusprach, die Religion seiner Untertanen zu bestimmen) einen vorläufigen Ausgleich zwischen den Parteien. Dieser Religionsfriede ließ jedoch nur solche protestantischen Bekenntnisse zu, die von der realen Gegenwart Christi in der Eucharistie ausgingen, was Calvinisten, Widertäufer und Mitglieder anderer Sekten ausschloss. Der protestantische Glaube wurde durch die Veröffentlichung des »Konkordienbuches« im Jahr 1580, das die neuen Glaubensartikel der lutheranischen Kirche kanonifizierte, noch stärker formalisiert.

Autoren wie Sebastian Franck (1499-1542), Kaspar Schwenckfeld (1489-1561) und Valentin Weigel (1533-1588) setzten sich gegen diese Orthodoxie, die den Glauben in schriftliche Formeln pressen wollte, zur Wehr. Sie versuchten, das auf historische Tatsachen fixierte religiöse Denken durch einen spezifisch protestantischen Spiritualismus zu erweitern. Der Theologe Ernst Troeltsch sah das Wesen dieses Spiritualismus darin, dass er den Geist und Logos des Johannes-Evangeliums dem Buchstaben, dem Gesetz und der historischen Existenz Christi entgegenstellte. Der »Spiritualist« lehnt in der Regel eine formale Kirchenorganisation ab, neigt zum Individualismus, erwartet die Ankunft des Geistes, statt der (physischen) Wiederkunft Christi und bevorzugt die Geisttaufe anstelle der Kinder- oder Erwachsenentaufe. Das Wort des Evangeliums wird nicht durch eine soziale oder politische Organisation verbreitet, sondern durch den Hl. Geist, der im Inneren des Menschen spricht. Troeltsch betrachtete diesen Spiritualismus des 16. Jahrhunderts als Urbild des Quäkertums. Die von Franck, Schwenckfeld und Weigel ausgehende religiöse Bewegung beeinflusste auch Boehmes Theosophie.

Schwenckfeld war schlesischer Adliger und Schüler Luthers, entwickelte sich jedoch zum scharfen Gegner der Orthodoxie. Er gewann viele Anhänger in Mitteldeutschland, die von Katholiken und Protestanten verfolgt wurden. Viele Grundbesitzer und niedere Adlige schlossen sich der Bewegung an und bildeten mit ihren Bauern enge Gemeinschaften. Schwenckfeld betonte die Bedeutung geistiger Bruderschaft und lehnte die zentralisierte Kirchenhierarchie ab. Wie Paracelsus charakterisierte er die institutionalisierte Kirche als »Steinkirche« oder »Mauerkirche«, als Produkt der Sünde und Unwissenheit, und warf ihr vor, sie halte individuelle Geistsucher von Gott fern. Er wollte eine »Kirche ohne Mauer«, deren Mitglieder sich in gegenseitiger Toleranz zusammenschlossen. Boehme verwendete später dieselben Ausdrücke, um seine Idee der Kirche zu beschreiben. Luther ließ Schwenckfeld 1540 aus Schlesien ausweisen, aber dessen Anhänger blieben aufrecht. Mehrere Gruppen, die zu Schwenckfeld hielten, waren um Görlitz aktiv, und einer seiner Gesinnungsgenossen aus dem Landadel, Carl von Ender, wurde ein Hauptförderer Boehmes.

Schlesien entwickelte sich zum Zufluchtsort von Widertäufern, Mährischen Brüdern und Kryptocalvinisten, deren Ideen in die benachbarte Lausitz ausstrahlten. Seit der Veröffentlichung des Konkordienbuches 1580 befand sich die lutherische Orthodoxie im Aufschwung. Philipp Melanchthon, ein mit Luther befreundeter Reformator und sein Nachfolger, wurde von ihr beschuldigt, die Lehre von der realen Präsenz Christi im Abendmahl aufgegeben zu haben, um den Calvinisten entgegenzukommen. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts verurteilten die Lutheraner in Sachsen den »Philippismus« (die Lehre Melanchthons) und den »Kryptocalvinismus«. Im Jahr 1600 wurde Martin Möller zum Hauptpastor in Görlitz ernannt. Von Augustinus, dem Heiligen Bernhard und Johannes Tauler inspiriert, verfasste er populäre Bücher auf Deutsch und verschwieg seine Sympathien für die Gegner der lutherischen Orthodoxie nicht. Möller organisierte in seiner Gemeinde eine Studiengruppe, den »Konventikel der wahren Diener Gottes«, dem sich Boehme anschloss. 1601 wurde Möller selbst des Kryptocalvinismus bezichtigt und die öffentliche Kontroverse über diese Frage setzte sich bis zu seinem Tod im Jahr 1606 fort.

Paracelsische Traditionen

Auch wenn die Lausitz zwei Jahrhunderte religiöser und politischer Unruhen erlebt hatte, war Görlitz mit seiner großen Bevölkerung von einigen zehntausend Menschen ein Ort, an dem viele Gelehrte, Schriftsteller und Wahrheitssucher im Kielwasser der Renaissance und der Reformation lebten. Bartholomäus Scultetus (Barthel Schulz, 1540-1614), Bürgermeister der Stadt zu Boehmes Zeiten, war ein bekannter Astronom, Kartograph und Verfasser biblischer Chronologien. Er kannte den Astronomen Tycho de Brahe, verkehrte mit Johannes Kepler und stand im Austausch mit Rabbi Loew, einem berühmten Prager Kabbalisten.

Die Alchemie war in Görlitz gut vertreten. Die meisten Ärzte der Stadt waren Anhänger der paracelsischen Medizin. Die Stadt war ein Zentrum für die Sammlung und Vervielfältigung der Schriften des Paracelsus. Johannes Huser, der Herausgeber der ersten Gesamtausgabe, die 1589-1591 in Basel erschien, korrespondierte wegen dieser Ausgabe mit einer Reihe von Paracelsisten in Görlitz. Scultetus war ebenfalls Paracelsist und verfasste eine Abhandlung über die Pest. Zu den führenden Paracelsisten der Stadt gehörten Conrad Scheer und Abraham Behem, der Mentor Boehmes, der mit Valentin Weigel, dem dissidenten lutheranischen Pastor von Zschopau, korrespondierte. Weigel setzte sich für eine Geistkirche ein, in der man Christus auch ohne Heilige Schrift begegnen konnte. Balthasar Walter war ein anderer Freund und treuer Unterstützer Boehmes. Das erste Mal besuchte er Boehme vor der Jahrhundertwende, wurde 1612 sein enger Freund und betrieb mit ihm zusammen 1619-1620 drei Monate lang religiöse Studien. Auch Walter war Paracelsist und schrieb eine Reihe mystischer und okkulter Werke. Ende des 16. Jahrhunderts bereiste er auf der Suche nach Kennern der Kabbala, Magie und Alchemie ganz Europa und den Mittleren Osten.

Diese paracelsische Tradition in Görlitz brachte Boehme die Sprache der Alchemie nahe. Aufgrund seiner Beziehungen zu den genannten Paracelsisten, besonders zu Walter, spielen alchymische Ideen und Anspielungen in Boehmes Werken bis 1622 eine große Rolle. Obwohl er sicherlich auch die Alchemie der Laboratorien kannte, behandelte er sie in seinen Werken hauptsächlich als spirituell-philosophisches System.

Jakob Boehmes visionäre Erfahrung

Boehme wurde als viertes von fünf Kindern 1575 in eine Bauernfamilie in Alt-Seidenberg in der Nähe von Görlitz geboren. Abgesehen von zwei mysteriösen Episoden weiß man wenig aus seiner Jugend: sein Schüler und erster Biograph, Abraham von Franckenberg berichtet, er habe in einer Höhle einen Schatz entdeckt und ein Fremder habe ihm eine große Zukunft verheißen. Jakob ging bei einem Schuhmacher in die Lehre und kehrte 1592 von seinen Wanderjahren nach Görlitz zurück. 1592 erwarb er das Bürgerrecht, heiratete die Tochter eines Metzgers, die ihm später vier Söhne gebären sollte und kaufte ein Haus. 1600 wurde Möller zum Pastor von Görlitz ernannt und später in diesem Jahr hatte Boehme sein erstes visionäres Erlebnis. Er litt an Melancholie, fühlte das Gewicht des ganzen Himmels auf sich lasten, die Sonne und die Sterne quälten ihn mit ihrem Licht, und die Mischung aus Gut und Böse in allen Kreaturen, selbst in den Steinen, bedrückte ihn. Als er eines Tages zu Hause saß, sah er, wie sich die Sonne in einem Zinngefäß spiegelte und fühlte sich auf einmal, als stünde er im Innersten der Natur. Er verließ das Haus und die Stadt und erlebte in der folgenden Viertelstunde in der freien Natur eine Epiphanie. Er sah die gesamte Schöpfung mit all ihren Formen, Gestalten und Farben neu und fühlte sich von der göttlichen Liebe umfangen, als wäre alles Leben vom Tode auferstanden.

Boehme war von dieser Erfahrung zutiefst bewegt und begann zu studieren, damit er seine Erfahrung in Worte fassen konnte. In den folgenden zwölf Jahren konzipierte er sein erstes Buch, die »Morgenröte im Aufgang«, während er immer wieder von seinen Aufgaben als Hausvater, Handwerker und Vertreter der Gilde der Schumacher abgelenkt wurde. 1610 erlebte er eine weitere Vision, die ihn die Einheit des Kosmos noch tiefer verstehen ließ und ihn davon überzeugte, dass Gott ihn berufen hatte. Er wollte sein Buch nicht veröffentlichen und der Bericht über seine visionäre Erfahrung stellt in ihm nur eine kleine Episode dar. Aber die Vision hatte eine Fülle von Gedanken über die verschiedensten Themen in ihm angeregt: über die träge Leblosigkeit der Elemente, die Macht der Sonne und die Kraft, die das Universum zusammenhält, die Allgegenwart des lebenschaffenden Geistes, die Bedeutung der Gegenwart Christi in Brot und Wein, die geheimen Kräfte der Natur und die Ordnung von Mikro- und Makrokosmos, die Freiheit der Engel, Fragen des Krieges und Friedens, der Gerechtigkeit und Tyrannei, der Unterdrückung und Ausbeutung.

»Die Morgenröte im Aufgang« (1612)

Boehmes erstes Buch enthält eine Fülle esoterischer Betrachtungen. Er gibt sich als Anhänger der heliozentrischen Weltsicht zu erkennen, die damals neu und theologisch umstritten war. Kopernikus hatte den Grund für diese Weltsicht zwischen 1506 und 1512 gelegt, seine vollständige Theorie jedoch erst 1543 veröffentlicht. Tycho de Brahe verfeinerte sie durch seine Beobachtungen und Johannes Kepler fand 1609 die mathematischen Gesetze, nach denen sich die Planeten in elliptischen Bahnen um die Sonne bewegen. Die geozentrische, ptolemäische Weltsicht betrachtete das Universum als eine Reihe konzentrischer Sphären, die von Gott durch die Engelreiche und die Planeten bis zum Mond herunterführen und allesamt die Erde einschließen. Zwar wies diese Hierarchie allen Dingen ihren Ort zu, aber Boehme empfand sie als geschlossenes, bedrückendes Gewölbe, das den Menschen und die Erde zu einer Existenz im Dämmerlicht des kosmischen Untergeschosses verurteilte. Er empfand den Heliozentrismus mit seiner schwingenden Bewegung der Planeten um eine Zentralsonne als spirituelle Befreiung. Die Vision im Jahr 1600 hatte ihm die allesdurchringenden Lebenskräfte und die Einheit der Schöpfung offenbart, der Heliozentrismus bot ihm die Sonne als natürliches Symbol für den Gott im Inneren der Seele an. Außerdem erlaubte er ihm eine dynamische Auffassung der Beziehung zwischen dem Makrokosmos und dem menschlichen Mikrokosmos.

Das geozentrische Weltbild vermittelte jedoch Gewissheiten in bezug auf die Erlösung, die Natur und das menschliche Leben. Boehmes Ziel in der »Morgenröte« war es daher, den wahren »einen Grund« der Philosophie, Astrologie und Theologie wieder zur Geltung zu bringen. Dies versuchte er, indem er die Struktur beschrieb, die der gesamten Schöpfung innewohnt. Da Gott die Natur nicht aus Nichts, sondern aus sich selbst geschaffen hatte, durchdringt das göttliche Leben die gesamte Schöpfung, jeden einzelnen Organismus, selbst »den kleinsten Kreis der Welt«. Die Schlüsselideen der »Morgenröte«: die göttliche Substanz »salitter«, die Qualitäten sauer, süß, bitter usw. als Prinzipien, die sieben »Quellgeister« und die Welt der Engel dienen dazu, die Gegenwart des Göttlichen in der gesamten Schöpfung zu beschreiben.

Boehmes Idee der göttlichen Substanz »salitter« (sal niter, sal nitricum) gründete wahrscheinlich auf seinen Beobachtungen an natürlichem und veredeltem Salpeter (»Felsensalz«, Nitritsalz). Den natürlichen Salpeter, die salpetersaure Erde, findet man auf Bauernhöfen, wo er aus dem Urin der Tiere entsteht, das veredelte Nitrit (Pottasche) kannte man als reine Flüssigkeit oder weißen, durchsichtigen Kristall, der als Bestandteil von Schießpulver sehr gefragt war. An Nitrit hatte die Alchemie ein großes Interesse, was zur Entstehung der Theorie eines göttlichen Nitrits führte, das dem irdischen Nitrit auf einer höheren Ebene entsprach. In der »Morgenröte« beschreibt Boehme den himmlischen salitter als unerschöpfliche Energie, entsprechend unserer Vorstellung des Wasserstoffs in der Sonne, zugleich auch als die Energie, die dem Leben und dem Bewusstsein zugrunde liegt. Andrew Weeks (Boehme: An Intellectual Biography, 1991) schreibt, Boehme habe das »reine salitter« mit den Gewässern der Genesis gleichgesetzt, über denen der Geist Gottes schwebte, während er unsere »gefallene Welt« der groben, aber fruchtbaren Form salpetersaurer Erde verglich. Die Reinigung des unreinen Niter ist bei Boehme ein Bild für den spirituellen Vorgang der Alchemie, für die Läuterung oder Erlösung der Seele. Boehme vergeistigte die beiden Formen des Nitrits, um durch sie die Zweiheit der reinen und herabgesunkenen göttlichen Substanz zu symbolisieren.

Die fortschreitende Offenbarung Gottes in der Schöpfung versuchte Boehme mit Qualitätsbegriffen zu beschreiben, die ebenfalls von Vorgängen abgeleitet sein könnten, die bei der Reinigung des Salpeters beobachtbar sind. Diese Qualitäten entsprechen den Gegensätzen von heiß und kalt, trocken und feucht, die den aristotelischen Elementen zugesprochen wurden, aber in der »Morgenröte« werden diese Qualitäten zu bewegenden Kräften, zu den »Quellgeistern« des Kosmos. Boehme beschrieb die Qualität als »Beweglichkeit, Kochen und Hüpfen eines Dinges«. In seinen verschiedenen Werken charakterisierte er die Quellgeister unterschiedlich, in der »Morgenröte« folgen sie als Herbe, Süße, Bitterkeit, Hitze, Liebe, Ton und »corpus« (Leib) oder Natur aufeinander. In der Aufeinanderfolge der sieben Quellgeister oder Qualitäten kommt eine dynamische Auffassung der Offenbarung Gottes durch die stufenweise voranschreitende Schöpfung zum Ausdruck. Die ewige Umwandlung der sieben Quellgeister ineinander wird von Boehme auch als Geburt, also Geburt Gottes, bezeichnet. Ihr Zusammen- und Gegeneinanderwirken erklärt auch die Entstehung des Lebens und des Bewusstseins.

In den Kapiteln 8-11 der »Morgenröte« beschreibt Boehme die Eigenschaften und Wirkungen der sieben Quellgeister oder Qualitäten in Gott. Die erste, trockene (herbe), ist rauh, hart und kalt [in Klammern die anthroposophischen Begriffe: physisch]. Sie ist auch das Prinzip der Verdichtung, der Dauerhaftigkeit und Trägheit. Die zweite, süße, ist die wärmende, liebliche Qualität, welche die Härte der ersteren mildert [ätherisch]. Die Spannung zwischen beiden lässt eine dritte entstehen, die bittere, die sich als Zittern, Auftrieb und Durchdringung äußert [astralisch]. Diese drei ersten Qualitäten bilden die Grundlage der Körperwelt. Die vierte Qualität, die heiße, die Boehme auch als Feuer bezeichnet, entzündet das Leben, durch welches das Mysterium des Geistes in den Stoff eindringt [Ich]. Diese vierte Qualität veranlasst alle anderen, sich zu vermischen, zusammenzuwirken und Wachstum zu erzeugen. Die Wärme erzeugt einen »schrack« (einen Blitz oder einen Schreck), der die fünfte Qualität der Liebe (manchmal auch Licht) entstehen lässt, die der Aufnahme des Hl. Geistes entspricht [Geistselbst, Imagination]. Liebe bezieht sich hier auf einen ordnenden Geist, denn Boehme veranschaulicht diese Qualität durch Phänomene wie die Koordination der Körperteile bei der Bewegung oder die Entstehung des Bewusstseins durch die Sinne. Der sechste Quellgeist ist der Ton, aus dem die Sprache, das Sprechen und der Gesang der Engel kommen [Lebensgeist, Inspiration]. Der siebente Quellgeist ist der »corpus« oder Leib [Geistesmensch], der aus den sechs anderen entsteht. Sowohl der Himmel als auch die Erde sind aus diesen Qualitäten zusammengesetzt. Da alle himmlischen Dinge sich in dieser siebten Qualität äußern, ist das letzte Ziel Gottes bei seiner Selbstoffenbarung die Leibwerdung oder Fleischwerdung: die Schöpfung lässt sich als »Leib Gottes« auffassen.

Die siebenfältige Struktur dieser Theosophie verbindet Bestandteile der populären Astrologie mit alchymischen Anschauungen, um die gemeinsamen Eigenschaften der Natur, des Menschen und des Himmels zu erfassen. Die sieben Quellgeister sind keine Erfindungen Boehmes. Die Kapitel 25 und 26 beschreiben die Sterne, die Sonne und die Planeten mit denselben Begriffen, die Boehme auch für die Qualitäten benutzt. Boehmes Kosmologie ist ein Beispiel für die esoterische Auffassung der Korrespondenzen zwischen allen Teilen des Kosmos, der von einer Weltseele durchdrungen ist. Weeks hat die Entsprechungen zwischen den Qualitäten, den Planeten und den Begriffen der Humoralpathologie wie folgt zusammengefasst:

1. Trocken | Saturn | melancholisch, Tod

2. Süß | Jupiter | sanguinisch, liebliche Quelle des Lebens

3. Bitter | Mars | cholerisch, zerstörerische Quelle des Lebens4. Feuer | Sonne/Mond | Nacht/Tag; Gut/Böse; Sünde/Tugend; Mond, später = phlegmatisch, wässrig

5. Liebe | Venus | Liebe, geistige Wiedergeburt

6. Ton | Merkur | kühner Geist, Erleuchtung, Sprache

7. corpus | Erde | die Gesamtheit der Kräfte, die auf ihre Wiedergeburt wartet.

Boehmes Lehre von den Quellgeistern findet eine Parallele in den sieben Metallen der Alchemisten, aber er identifizierte die Quellgeister nicht mit irgendwelchen Substanzen. Erst später, als er die sieben Qualitäten den drei Welten zuordnete, brachte er sie zu den drei Prinzipien der paracelsischen Alchemie, Sal, Sulfur und Merkur in Beziehung.

Boehmes Quellgeister sind die Quelle, aus der die Qualitäten entstehen. Sie vermitteln zwischen der Gottheit und der elementarischen Welt der Körper. Sie sind keine persönlichen oder individuellen Wesen. Sie gleichen in ihrer Beweglichkeit und Wandelbarkeit eher Dämpfen, als festumrissenen geistigen Gestalten. Die Siebenheit entspricht den sieben Schöpfungstagen, wandelt aber die »geschichtliche« Aufeinanderfolge in einen ewigen Schöpfungsprozess um. Und sie entspricht den Einflüssen der sieben Planeten sowie den Kräften der sieben Metalle oder Salze der Alchemie. Zugleich erinnern Boehmes ständige Hinweise auf den Geschmack und Geruch an seine bäuerliche Herkunft, während die Vielzahl von Beispielen aus der Natur die Nähe seiner Metaphysik zur Naturphilosophie illustriert.

Religiöse Kontroversen und der Dreißigjährige Krieg

Die »Morgenröte« wurde in der ersten Hälfte des Jahres 1612 bekannt. Auch wenn behauptet wurde, Boehme habe das Werk als persönlichen Bericht verstanden, kursierten doch viele Abschriften des 400seitigen Manuskripts unter seinen Freunden, die meisten auf Veranlassung Carl von Enders, der später zum Förderer Boehmes wurde. Ein Jahr später gelangte eine Kopie in die Hände Gregor Richters, des führenden Pastors von Görlitz, eines orthodoxen Lutheraners, der 1606 die Nachfolge Martin Möllers angetreten hatte. Da er religiöse Schwärmerei vermutete, übergab er das Manuskript dem Magistrat, der Boehme einer Befragung unterzog, das Original seines Manuskriptes konfiszierte und ihn zwei Tage einsperrte. Zwei Tage später, am 28. Juli 1613, bezeichnete Richter Boehme in einer Sonntagspredigt als »Ketzer«. Boehme wurde daraufhin einem religiösen Kreuzverhör unterworfen und man verbot ihm, weitere Bücher zu schreiben.

Im März dieses Jahres hatte Boehme seinen Laden verkauft, um zusammen mit seiner Frau in den Baumwollhandel einzusteigen. Dieses Unternehmen brachte viele Reisen mit sich, unter anderem nach Prag, so dass Boehmes Bekanntenkreis und Einfluss wuchs. Gleichzeitig geriet er in die sich verschärfenden religiösen Konflikte zwischen dem Habsburgerreich und seinen protestantischen Untertanen, die auf die Thronbesteigung Ferdinand I. folgten. Dieser setzte der Politik religiöser Toleranz ein Ende, indem er den Majestätsbrief wiederrief und die böhmische Kirche unterdrückte. Im Mai 1618 warfen Protestanten Vertreter der Habsburger Monarchie aus einem Fenster des Königsschlosses in Prag (»Prager Fenstersturz«), ein Ereignis, das den Beginn des 30jährigen Krieges markiert. Im August 1619 luden die böhmischen Stände den protestantischen Pfalzgrafen Friedrich V. ein, die böhmische Krone anzunehmen. Er wurde 1619 gekrönt, erlitt aber ein Jahr später in der Nähe von Prag eine Niederlage gegen die kaiserliche Armee und war gezwungen, das Land zu verlassen. Während all dieser politischen und religiösen Aufstände, die Lausitz und Sachsen ebenfalls betrafen und schließlich ganz Europa ergriffen, schrieb Boehme, das Verbot ignorierend, in seinen letzten Lebensjahren eine Reihe weiterer Bücher.

»Die drei Prinzipien des göttlichen Lebens« (1619)

Boehmes Sympathisanten und Freunde ermutigten ihn, seine schriftstellerische Tätigkeit wieder aufzunehmen. 1619 begann er nach einer weiteren Erleuchtung sein zweites Buch, »De Tribus Principiis oder Über die drei Prinzipien des Göttlichen Lebens«, zu schreiben. Dieses Werk ist in der Gedankenführung dichter als das vorangehende und die siebenfältige Struktur der Theogonie wird von dreifältigen, trinitarischen Begriffen überlagert. Die sieben Qualitäten werden in die Trinität und die drei Prinzipien wie folgt eingeordnet: die »dunkle« Welt des Vaters (Qualitäten 1-3), die »Lichtwelt« des Hl. Geistes (Qualitäten 5-7), »die mittlere« Welt des Menschen, in der Satan und Christus miteinander ringen (Qualität 4). In dieser unserer Welt überschneiden sich das Prinzip des Vaters und das des Hl. Geistes, hier muss sich der Mensch um sein Heil bemühen.  Man kann daher die Welt des Hl. Geistes mit ihren lichten Qualitäten auch als eine »Umwandlung« der dunklen Vaterwelt betrachten, die durch Christus und den Menschen, der sich diesem zuwendet, bewirkt wird. Aber Boehmes Darstellungen bewegen sich in einer imaginativen Sphäre, die eine klare Zuordnung zur zeitlich-räumlichen Welt unseres Alltags oder eine eindeutige systematische Interpretation kaum zulässt. Wie in allen Emanationssystemen sind die von ihm beschriebenen Vorgänge, die sowohl den Makro- als auch den Mikrokosmos betreffen, letztlich zeitlos. Boehme beschreibt die Selbstoffenbarung Gottes, durch die er erst für sich und andere erkennbar wird, angefangen mit dem »Ungrund« über den Zorn Gottes und die Schöpfung des Menschen, durch die und in dem die Offenbarung sich vollendet. Aber das Werden Gottes spielt sich nicht nur im Kosmos, sondern auch in der Seele des Menschen ab, in der er geboren wird, wenn sich der Mensch dem Vorbild Christi anschließt. In diesem zweiten Werk taucht auch die Gestalt der »Edlen Jungfrau Sophia« auf, die auf dem Buch der Weisheit und den »Sprüchen« des Alten Testaments beruht. Sie beseelt die zweite Welt der ewigen Natur als erhabener und reflexiver Aspekt der Gottheit und zieht den gefallenen Menschen wieder in die göttliche Welt hinein. Sowohl der »Ungrund« als auch die Gestalt der »Sophia« erinnern an mythische Vorstellungen der valentinianischen Gnosis – ein bemerkenswertes Beispiel protestantischer Esoterik, die sich naiv auf die hellenistische Heterodoxie beruft.

In diesem zweiten Werk erweiterte und überarbeitete Boehme das Zusammenwirken der sieben Quellgeister bei der Schöpfung. Um das Böse zu erklären, beschrieb Boehme die ersten drei Qualitäten negativ: auf die Trockenheit folgt die Bitternis und aus ihnen entsteht das »Rad der Wesen«, das die unbewusste Triebkraft der Natur, den Zorn repräsentiert, der das Leben vorantreibt. Die ersten drei Qualitäten bilden das erste Prinzip, die dunkle Welt des Vaters. Die Spannung zwischen ihnen lässt das Feuer und den Blitz (den »Schrack« [Schreck]) entstehen, der zur vierten Qualität, dem Wasser führt, das sich in den süßen Geist der Liebe wandelt. Das zweite Prinzip beginnt mit dem Blitz und dem süßen Wasser und besteht aus Liebe, Ton und dem Leib (corpus). Es bildet die Lichtwelt der ewigen Natur und der Sophia, welche die dunkle Welt des Vaters hinter sich gelassen hat. Das dritte Prinzip ist die kritische Verbindung von Feuer und Licht und repräsentiert unsere Welt, die Natur, mit all ihren Konflikten und Krisen und der Entscheidung zwischen Gut und Böse. Hier ringt die Seele des Menschen darum, sich vom blinden Zorn des ersten Prinzips durch das Licht des Christus zu befreien und das Böse, die Sünde und die Finsternis durch Liebe, Harmonie und die Verwandlung des eigenen Wesens zu überwinden. Die »Morgenröte« beschreibt die Theogonie und Kosmogonie in makrokosmischen Begriffen, »Die drei Prinzipien« fügen den Mikrokosmos des Menschen in diesen Entwurf ein. Die Kosmogonie des Willens mit ihrem Drang, ihrem aufsteigenden Geist und ihrem Wachstum wird zur Beschreibung des Aufstiegs der menschlichen Seele.

»De Signatura Rerum« (1622)

Das Jahr 1620 stellt einen Wendepunkt in Boehmes literarischem Schaffen dar. In diesem Jahr verfasste er »Das dreifache Leben des Menschen«, »Vierzig Fragen über die Seele«, »Die Inkarnation Jesu Christi«, »Sechs Theosophische Punkte« und »Sechs mystische Punkte«. Sein nächstes größeres Werk, »De Signatura Rerum« (»Von der Signatur [der Zeichenhaftigkeit] der Dinge«, präsentiert eine neue Verbindung zwischen Astrologie, Alchemie und Christologie. Während die früheren Werke die Selbstoffenbarung Gottes in den Vordergrund stellten, entschlüsselt dieses Buch die Welt als Ausdruck des ewigen Wortes, das im Schöpfungsbericht des Alten Testamentes und in der Natur gleichermaßen seine Zeichen hinterlassen hat.

»De Signatura Rerum« identifiziert die Signatur der Dinge mit dem sechsten Quellgeist, dem merkurialen Geist des Tones oder der Sprache. »Ein jedes Ding hat seinen Mund, um sich zu offenbaren; und dies ist die Sprache der Natur, in der jedes Ding sein Wesen ausspricht und fortwährend sich selbst offenbart, erklärt und verwirklicht wozu es gut und nützlich ist; denn ein jedes Ding offenbart seine Mutter, die auf diese Weise dem Wesen und dem Willen eine Form gibt.« Signaturen als Ausdruck des inneren Wesens findet man in allen Lebewesen, im menschlichen Charakter, sogar in der Sprache. Man findet sie in der Medizin, die darauf beruht, dass der Makrokosmos sich in jedem einzelnen Ding abbildet und in jedem Tier, jeder Pflanze, jedem Stein einen Schlüssel hinterlässt (gewöhnlich seine Gestalt oder Farbe), der auf seine therapeutische Bedeutung verweist. Diese Idee der Theosophie der Offenbarung entspricht der Vorstellung des Paracelsus von den verborgenen Siegeln des göttlichen Wesens in der Natur und der Wirksamkeit der Arcana. Aber ebensowenig wie Paracelsus war Boehme Pantheist. Als Esoteriker betont er, die Natur sei nicht mit Gott identisch. Aber Gott hat seine Kräfte in alle Dinge ausgegossen: »Er scheint mit seiner Kraft durch alle Dinge hindurch ... und ein jedes Ding nimmt seine Kraft nach Maßgabe seines Vermögens in sich auf.« Esoterik geht von Gottes Emanation in die Schöpfung aus, so dass diese Schöpfung das göttliche Siegel in sich trägt. Oft werden Metaphern des Lichtes und der Spiegelung verwendet, um diese Idee der Beseelung auszudrücken, ohne dass damit gesagt wird, dass alles Gott sei. Häufig wird der Begriff »Panentheismus« benutzt, um diese esoterische Idee vom Pantheismus abzugrenzen: alles trägt etwas Göttliches in sich und Gott trägt alles in sich, aber nicht alles ist Gott in seiner Fülle.

Auch die Sprache dieses Buches ist unübersehbar alchymisch und Boehme stellt darin auch Überlegungen zur alchymischen Herstellung von Arzneimitteln aus Pflanzen an (Spagyrik). Er beschreibt die Farben, den Geschmack und die Form der Pflanzen mit Hilfe ihrer planetarischen Entsprechungen. Bestimmten Signaturen wohnen außerordentliche Kräfte inne. Zum Beispiel »wo sich Merkur zwischen Venus und Jupiter befindet, und Mars darunter steht ... wohnt dem Ding, dem Menschen oder der Pflanze der wahre Herrscher inne.« Aber Boehmes spagyrische Medizin ist mehr moralisch als physisch; ein moralisch unwürdiger Mensch vermag die Pflanzen nicht zu erkennen, »da sie sich nahe am Paradies befinden.« Die Sprache der Alchemie wird auch benutzt, um die Umwandlung der Seele zu beschreiben. Der Mensch ist seit dem Fall in einem groben, toten Bild eingeschlossen. Aber wenn Gott erst einmal den »lebendigen Merkur« in den Menschen eingebracht hat, wird Christus in dessen Seele geboren und das göttliche Bild des Menschen erscheint wieder in seiner ursprünglichen Gestalt. Für Boehme ist die Herstellung des Steins der Weisen die Umwandlung des Wortes in Christus, der Sieg von Freude und Licht über Zorn und Tod.

Letzte Jahre

Nach Vollendung dieses Buches wandte sich Boehme einer neuen Darstellung seiner Hauptideen in der Begrifflichkeit des traditionellen Christentums zu. 1623 schrieb er »Über die Gnadenwahl«, »Über das Testament Christi«, einen Genesiskommentar mit dem Titel »Mysterium Magnum« und den »Clavis oder Schlüssel« zu seinen Hauptideen. Anfang 1624 veröffentlichte er »Der Weg zu Christus«, einen theosophischen Text mit spirituellen Übungen, der erneute Attacken von Seiten des Pastors Richter nach sich zog, der die Bevölkerung gegen Boehme aufhetzte. Da der Druck ohne amtliche Bewilligung erfolgt war, forderte der Stadtrat Boehme auf, Görlitz zu verlassen. Aber im Mai 1624 wurde er eingeladen den Hof des Kurfürsten von Sachsen in Dresden zu besuchen, um über seine Lehren mit ihm wohlgesonnenen Angehörigen des Hofs und Theologen zu sprechen, während sich die militärischen Auseinandersetzungen verschärften. Boehme kehrte im Juli nach Görlitz zurück, erkrankte im August und starb am 17. November 1624.

Der Handwerker und Autodidakt Boehme schuf eine esoterische Philosophie, die sich gänzlich anderer Ausdrucksformen bediente, als die neuplatonischen Humanisten oder gelehrten Magier der Renaissance. Seine unmittelbaren Quellen waren Paracelsus (besonders dessen Signaturenlehre), Valentin Weigel und möglicherweise irgendeine Form der Kabbala. Er sah Gott nicht als höchstes Wesen, weitab allen Werdens, sondern als aktiv Wirkenden, der in seinem Spiegel, der göttlichen Sophia, die Welt erblickt, die er zu schaffen beabsichtigt. Einmal von Gott imaginiert, ruft dieses göttliche Bild sein zeitliches oder irdisches Abbild ins Dasein, ein Prozess, der in der Schöpfung des Menschen gipfelt. Die Selbstoffenbarung Gottes vollzieht sich durch einen leidenschaftlichen Kampf entgegengesetzter Kräfte, der sich in allen Darstellungen Boehmes findet, in der siebenfältigen Struktur der Schöpfung, in der Erzählung vom Fall Luzifers und Adams, in der Beschreibung der Geistleiber der Engel, den astrologischen und alchymischen Korrespondenzen, sowie in der Vorstellung, dass alle äußeren Formen Worte oder Symbole (Signaturen) sind. Für Boehme war die gesamte Wirklichkeit von wundersamen Zeichen und Bildern durchdrungen, überall verwandelte sich der Geist ins Stoffliche oder rang sich das Geistige aus dem Stofflichen heraus. Sein Denken mit den beherrschenden Motiven des Kampfes, der Geburt und des Neuanfangs kam dem kampferfüllten Geist seiner Zeit entgegen und der visionäre Ursprung seines Werkes empfahl ihn spirituellen Suchern im 17. und 18. Jahrhundert.

Nachfolger Boehmes: Gichtel, Pordage, Leade, Freher, Law

Boehmes esoterische Werke fußten auf individuellen visionären Erlebnissen. Die Komplexität seiner Theogonie und Kosmologie wurzelte nicht in doktrinären Überlegungen oder Abwägungen, sondern stellte die Theosophie als einen unmittelbaren Zugang zur Erkenntnis Gottes dar. Daher bezogen sich seine Nachfolger in Holland, Deutschland, England und Amerika weniger auf seine Lehren, als vielmehr auf die praktischen Teile seiner Werke, die sie als Führer zu eigenen visionären Erfahrungen benutzten. Ihre Werke bestehen zum Teil aus Editionen und Kommentaren zu Boehme, zum Teil aus visionären Berichten über den Aufstieg der Seele, die Umwandlung des Zorns in Liebe und Schilderungen der spirituellen Vermählung mit der göttlichen Jungfrau Sophia. Ihre visionären Erfahrungen legen Zeugnis für eine bemerkenswerte Übereinstimmung in der theosophischen Esoterik ab. Die Ähnlichkeiten deuten auf eine gemeinsame Erfahrung der Verantwortung der individuellen Seele für ihr Heil. Die imaginative Welt, die reich an Geist- und Mittlerwesen ist, bezeugt sowohl die spiritualistische Reaktion gegen die nüchterne Orthodoxie, als auch, dass ein Ersatz für die verloren gegangene Welt der katholischen Heiligen, Reliquien und die Verehrung der Jungfrau gesucht und gefunden wurde.

In seiner Pionierarbeit »Wisdoms Children« (»Die Kinder der Weisheit«) dokumentierte Arthur Versluis die theosophischen Schulen, die auf Boehme folgten. Nach Boehme war Johann Georg Gichtel (1638-1710) der führende Theosoph Kontinentaleuropas. Aufgrund religiöser Kontroversen war er gezwungen, Regensburg zu verlassen und lebte in der Schweiz, wo er mit einem anderen Theosophen, Friedrich Breckling (1629-1711) zusammenarbeitete. 1668 ging er nach Amsterdam, wo er die Gemeinschaft der »Brüder des engelhaften Lebens« um sich sammelte. Seine Briefe und seine Autobiografie, die zusammen viertausend Seiten umfassen und unter dem Titel »Theosophia Practica« 1722 veröffentlicht wurden, schildern Zyklen der Offenbarung, in denen die Jungfrau Sophia Gichtel im Lauf seines Lebens erschienen ist.

John Pordage (1608-1681), der anglikanische Vikar von Bradfield, Berkshire, war der führende Theosoph in England. Seine Visionen begannen 1649 und er versammelte einen Kreis bedeutender Anhänger um sich, die regelmäßig mit Engeln kommunizierten und den Kampf der zornerfüllten und der barmherzigen Welt erlebten. Seine Abhandlung »Treatise of Eternal Nature with Her Seven Essential Forms« (»Über die ewige Natur und ihre sieben Wesensformen«, 1681) beschreibt die theosophische Praxis der Gruppe als visionären Aufstieg aus der natürlichen in die archetypische Welt, zu den sieben Qualitäten und dem Ungrund Gottes. Seine »Mystische Theologie« (»Theologia Mystica«, 1683) enthält eine lichtvolle Erzählung seiner spirituellen Reise durch den Boehmeschen Kosmos: die Welt des »dunklen Feuers« oder des Zorns, das »Feuerlicht« oder die schmerzerfüllte Welt der menschlichen Alltagserfahrung und die »Welt des lichten Feuers« oder das Paradies. Pordage benutzt das Auge, das Herz und den Atem als Bilder, um mittels ihrer die theosophische Wahrnehmung spiritueller Mittlerwesen in der imaginativen Welt zu beschreiben.

Der englische Bürgerkrieg und der Commonwealth (1642-1653) waren eine Zeit andauernder religiöser Unruhen, die mit der Entstehung vieler radikaler, endzeitlicher und antinomischer (gegen das religiöse Gesetz gerichteter) protestantischer Sekten einherging. Pordage und sein visionärer Theosophenkreis hatten an diesen Bewegungen keinen Anteil, wurden aber Opfer von Verdächtigungen: Pordage wurde zweimal wegen eines Häresievorwurfs verhört und schließlich 1654 seines Amtes enthoben. Seine späteren Schriften veröffentlichte er auf Deutsch und verbreitete sie in Deutschland, in dem sein Einfluss beträchtlich war.

Auf den Theosophenkreis Pordages folgten die Philadelphier Jane Leades. (1624-1704). Sie traf Pordage das erste Mal 1663 und übernahm langsam die Führung seines Kreises. Der Name »Philadelphier« spielt auf die Offenbarung des Johannes an und den Anspruch, dass der Kreis im Vorgriff auf die bevorstehende Endzeit bereits eine visionäre Realität auf Erden verwirklicht habe. Francis Lee, ein junger Lehrer des St. Johns College in Oxford, wurde zu einem engagierten Unterstützer Leads und sorgte für die Veröffentlichung vieler ihrer Bücher in England, den Niederlanden und Deutschland. Wegen ihrer endzeitlichen Erwartungen und weil sie einen neuen Glauben begründet hatten, betrachteten viele auf dem Kontinent die Anhänger Leades als Sekte. Sie stimmten auch nicht Leades Lehre von der universellen Wiederherstellung (apokatastasis) zu, nach der das Böse untergehen werde und alle Kreaturen erlöst würden.

Der englisch-deutschen Achse der Theosophie gehört auch Dionysius Freher an (1649-1728), der wichtigste britische Vetreter der Boehmeschen Ideen nach Pordage. In Nürnberg geboren, wanderte er Ende des 17. Jahrhunderts nach England aus und sammelte in London eine Schar treuer Anhänger um sich. Er schrieb eine Vielzahl von Kommentaren und schuf Illustrationen, die Boehmes Lehren erklären und erweitern. Aber er besaß seine eigene Inspiration und auch sein Verständnis Boehmes fußte auf authentischen spirituellen Erfahrungen. Die visonäre Kraft seiner komplexen und schönen Illustrationen steht auf einer Stufe mit jenen von Thomas Bromley und Gichtels Ausgabe der Werke Boehmes.

William Law (1686-1761) der bekannteste englische Theosoph im 18. Jahrhundert, wurde in den frühen 1730er Jahren in Frehers Kreis eingeführt, nachdem dieser bereits tot war. Er kam aus dem Emmanuel College in Cambridge, widmete sich dem Studium Boehmes und Frehers und verfasste selbst einige Bücher. Da er empfindlich gegen den Vorwurf der Schwärmerei war, der gegen Pordage und Freher erhoben wurde, erwähnte er Boehme erst in seinen späteren Werken, etwa in »The Way to Divine Knowledge« (»Der Weg zur göttlichen Erkenntnis«, 1752) und »The Spirit of Love« (»Der Geist der Liebe«, 1752). Sein Werk zeugt davon, wie tief er in Boehmes Werk eingedrungen war, sein Verständnis der Kosmologie reicht aber nicht an jenes von Pordage heran.

Theosophie als zeitlose Offenbarung innerhalb des Christentums

Laut Arthur Versluis betonen Theosophen die »zeitlose Offenbarung oder Gnosis« innerhalb des Christentums. Diese authentische gnostische Tradition reicht von Dionysios Areopagita über Clemens von Alexandrien und Origenes, Maximus Confessor, Johannes Scotus Eriugena, Meister Eckhart und Johannes Tauler bis zu Jacob Boehme und seinen Nachfolgern.

Versluis sieht Dionysios Areopagita (um 500), einen christlichen Mönch, der bei Proclus in der heidnischen Schule von Athen studiert haben könnte, als die Schlüsselfigur dieser Tradition, weil er die himmlischen Hierarchien eingeführt hat, die den Menschen mit Gott verbinden. Seine Ausarbeitung der esoterischen Hierarchien und Mittlerwesen in Form eines christlichen Neuplatonismus schuf eine lebendige Synthese, die sich in der östlichen und westlichen Christenheit weit verbreitete und immer wieder kommentiert wurde. Dionysios schuf auch eine mystische Theologie, als geheimes Wissen von der nicht mitteilbaren Erfahrung Gottes, die überbegrifflich ist und sich von der natürlichen und der offenbarten Theologie gleichermaßen unterscheidet. Da Johannes Scotus Eriugena seine Werke im 9. Jahrhundert ins Lateinische übersetzte, ging von Dionysios ein reicher Strom mystischer Kontemplation innerhalb der katholischen Kirche aus. Seine »Mystische Theologie« beeinflusste Mystiker wie Meister Eckhart (ca. 1260-1327/28), Johannes Tauler (ca. 1300-1361) und Jan van Ruysbroek (1293-1381). Aber während die mittelalterlichen Kommentatoren in ihm einen Mystiker sahen, der vor allem auf der Suche nach der Vereinigung mit Gott war, betrachtete man ihn in der Zeit nach der Renaissance als Neuplatoniker, der die als göttliche Weisheit verstandene Theosophie nutzte, um in die Welt der himmlischen Hierarchien aufzusteigen. Daher bezogen alle protestantischen Theosophen sich auf diese dionysische Symbolik des spirituellen Aufstiegs, der sowohl Engel als auch Menschen als Initiatoren kannte. Die himmlische Hierarchie beruht auf einer emanatistischen Kosmologie, in welcher die geistigen Geschöpfe vom Einen wie Lichtstrahlen ausgehen. Der entsprechende Aufstiegsweg folgt diesem Lichtstrahl, der sich selbst nicht verändert, aber jene erhebt, die sich ihm – ihren Fähigkeiten entsprechend – zuwenden. Versluis sieht in dieser Leiter geistiger Mittlerwesen ein Grundmotiv der Theosophie: »Die Funktion höherer Wesen besteht darin, jene zu erleuchten, die unter ihnen stehen, während sie ihrerseits von jenen erleuchtet werden, die über ihnen stehen.« Auch wenn er sich in die Schrift, die Liturgie und die natürliche Welt als seine Offenbarungen hüllt, behält der Strahl des göttlichen Lichtes dennoch seine Transzendenz. Er ist theophan, weil er Gott offenbart, der uns überall umgibt.

Versluis betrachtet den Platonismus und die Hermetik als essentielle Bestandteile der Theosophie. Der Platonismus beschreibt die initiatorischen Mysterientraditionen durch Parabeln, Mythen und poetische Bilder und bringt eine zeitlose Metaphysik zum Ausdruck, die sich mit allen monotheistischen Religionen verbinden lässt. Die Hermetik ist genauso initiatorisch, gleichzeitig aber auch kosmologisch. Der »Poimandres« spricht über die Beschaffenheit des Kosmos, den Logos, die sieben »Regenten« und die sieben Planeten, schließlich über die geistige Konstitution des Menschen. Diese spätantiken spirituellen Traditionen verbanden sich mit einer mittelalterlichen mystischen Tradition und aus dieser Verbindung entstand die christliche Theosophie, in der es um die innere Wandlung der Seele durch ihre Wiedergeburt in Christus ging.

Die Theosophie des 17. Jahrhunderts ist demnach aus der Verschmelzung zweier Ströme entstanden: (1) des alchemistisch-hermetischen Stromes, der von Paracelsus herkam und Bilder, Begriffe und Prinzipien enthielt, die sich auf den die Natur gestaltenden Geist bezogen, und (2) des Stroms der deutschen Mystik, der von Meister Eckhart und seinem spezifischen Verständnis dessen herkam, was den Kosmos seinem Wesen nach transzendiert.

Als historische Erscheinung des frühen 17. Jahrhunderts stellt die Theosophie auch eine komplexe Antwort auf die Reformation dar. Einerseits antwortete sie auf den bilderfeindlichen Rigorismus der lutherischen Orthodoxie, andererseits rief sie etwas in Erinnerung, worum sich auch die Gegenreformation bemühte. Auch wenn Boehme in seiner Suche nach individueller Offenbarung Protestant war, bemüht er sich doch darum, einen Ersatz für den Verlust der universellen katholischen Kirche und ihrer reichen Liturgie zu schaffen. Während der Protestantismus den katholischen Zeremonialismus und seine Bilderwelt zugunsten eines düsteren Ernstes, harter Kirchenbänke und eines schlichten Holzkreuzes aufgab, stellte die Theosophie eine reiche innere Bilderwelt zur Verfügung, die von Hierarchien, geistigen Mittlerwesen, Planeten und Sternen, der weiblichen Sophia und himmlischen Schauungen voll war. Die Theosophie kompensierte die opulente Fülle katholischer Gottesdienste mit einer verstärkten individuellen Frömmigkeit. So betrachtet, steht die Theosophie dem Ritual nicht feindselig gegenüber, sondern dehnt das liturgische Bewusstsein in das Alltagsleben aus, um die Gemeinschaft, die Arbeit, den Dienst am anderen und das tägliche Brot als Inhalt einer neuen Frömmigkeit zu feiern. Während die Theosophie eine esoterische Strömung blieb, die sich hauptsächlich im protestantischen Rahmen bewegte, zeigt das Beispiel katholischer Theosophen wie Louis Claude de Saint-Martin oder Franz von Baaders in späteren Jahrhunderten auch ihre Anschlussfähigkeit an die reiche Bilderwelt der katholischen Imagination.

Pietismus

Auch nach ihrem goldenen Zeitalter im 17. Jahrhundert übte die Theosophie einen starken Einfluss aus, besonders auf dem europäischen Festland. Da sie als heterodoxe Antwort auf den Protestantismus in einem lutherischen Kontext entstanden war, beherrschten in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts deutsche Autoren das Feld. In der zweiten Hälfte treten jedoch die Hochgradmaurerei und der Illuminismus an ihre Seite.

Die Theosophie des 18. Jahrhunderts ist auch mit dem Pietismus verbunden, einer weitverbreiteten, einflussreichen Reformbewegung, die Ende des 17. Jahrhunderts entstand. Diese lutheranische Bewegung geht auf Johann Arndt zurück (1555-1621), dessen »Vier Bücher vom wahren Christenthum« (1605-1610) die Betonung auf ein innerliches, lebendiges Christentum legten, das im Gegensatz zu seiner formalisierten, strengen, institutionalisierten Variante stand. In seinem Werk bezieht er sich unter anderem auf Hermes Trismegistos, Paracelsus und Valentin Weigel.

Philipp Jakob Spener (1635-1705), der mit »Pia Desideria« (»Fromme Wünsche«, 1675) das Manifest der pietistischen Bewegung schrieb, stand den Schriften Boehmes wohlwollend gegenüber. Sein Buch handelt von der Wiedergeburt, der Erneuerung und einer persönlichen Form des Christentums. Durch seine Ernennung zum Dresdner Hofprediger im Jahr 1686 erlangte Spener großen Einfluß. Speners berühmter Schüler August Hermann Francke (1663-1727) verband seinen Glaubenseifer mit einer lebenspraktischen Ader und gründete in Halle eine Erziehungsanstalt, ein Waisenhaus und eine Pastorenausbildung. Radikale Pietisten wie Gottfried Arnold (1666-1714) lösten sich oft von ihren ursprünglichen Gemeinschaften, um Sekten zu gründen, manche von ihnen waren stark von Boehme beeinflusst. Ein herausragendes Beispiel für diesen Separatismus ist die Mährische Kirche, die aus der »Unitas Fratrum« (der »Vereinigung der Brüder«) hervorging, die mit dem Namen von Jan Amos Comenius (1592-1670) verbunden ist und von Nicolaus Ludwig Graf Zinzendorf (1700-1760) neu belebt wurde. Im Herzogtum Württemberg, dem protestantischen Staat in Süddeutschland, zeichnete sich der Pietismus durch eine Verbindung aus Bibelgelehrsamkeit und theosophischer Spekulation aus. Die Hauptvertreter des schwäbischen Pietismus sind Johann Albrecht Bengel (1687-1752) und Friedrich Christoph Oetinger (1702-1782).

Mit seiner Betonung der Innerlichkeit und der spirituellen Erfahrung förderte der Pietismus eine geistige Atmosphäre, die für die Aufnahme der Esoterik günstig war. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts waren Hermetik und Alchemie in Deutschland weit verbreitet. In seinem Werk »Das Weltbild des jungen Goethe« (1969) beschrieb Rolf Christian Zimmermann eine »eklektische Aufklärung«, in der sich der philosophische Rationalismus mit mystisch-theosophischen Strömungen verband, die von Boehme herkamen und im Pietismus weiter gepflegt wurden. Johann Konrad Dippel (1673-1734), ein bekannter radikaler Pietist, der von Gottfried Arnold bekehrt worden war, wandte sich um 1700 dem Studium der Hermetik und der Alchemie zu, in welchen er den Schlüssel zur Erkenntnis der Natur sah. 1710 setzte Samuel Richter (Sincerus Renatus) mit seinem Werk »Die wahrhaffte und vollkommene Bereitung des philosophischen Steins der Brüderschaft aus dem Orden des Gülden und Rosen Kreutzes« eine neue Welle des alchymischen Rosenkreuzertums in Gang. Richter war ein Pastor aus Hartmannsdorf in Schlesien, der protestantische Theologie in Halle studiert hatte. Sein pseudonymer Vorname Renatus, »der Wiedergeborene«, brachte seine pietistische Inspiration zum Ausdruck. Er hatte sich auch in die paracelsische Alchemie und die Boehmesche Theosophie vertieft, wie sein Buch »Theo-Philosophia Theoretica et Practica« (1711) zeigt. Alchemistische Werke aus dieser Zeit besitzen häufig einen theosophischen Hintergrund wie zum Beispiel Georg von Wellings (1655-1727) »Opus mago-theosophicum et cabbalisticum« oder Anton Josef Kirchwegers (gest. 1746) »Aurea Catena Homeris« (1723). Beide Werke waren unter Pietisten beliebt und gehörten zur Lektüre des jungen Goethe.

Rosenkreuzertum

Zur selben Zeit wie Jacob Boehmes Werk, Anfang des 17. Jahrhunderts, entstand ein weiterer machtvoller Strom der Esoterik in Deutschland. Er ging von der Legende des Christian Rosenkreutz und der Bruderschaft des Rosenkreuzes aus. Als anonyme Manifeste publiziert, beschrieben die »Fama Fraternitatis« und die »Chymische Hochzeit« die Entdeckung einer neuen Weltsicht, die auf der Alchemie und einer von ihr inspirierten Medizin und Heilkunst beruhte, aber auch bedeutende mathematische und mechanische Aspekte in sich barg. Die neu entdeckte Weltsicht stellte eine »Pansophie«, eine universelle Weisheit und zugleich eine religiöse und spirituelle Erleuchtung dar. Goodrick-Clarke widmet dieser Strömung, die christliche mit neuplatonischen und hermetischen Motiven verband, ein weiteres Kapitel seines Buches.

Die Manifeste verkündeten die vollkommene Harmonie zwischen Makro- und Mikrokosmos und trugen durch ihre Forderung nach einer universellen Reform des Abendlandes stark endzeitliche Züge. Sie sprachen von mythischen Angehörigen einer geheimen Bruderschaft, die in ganz Europa tätig waren. In der konfliktgeladenen Atmosphäre des beginnenden 17. Jahrhunderts riefen die rosenkreuzerischen Manifeste gewaltiges Interesse und eine Welle von öffentlichen Anträgen hervor, dem Orden beizutreten. Die Anträge blieben alle unbeantwortet. Aber die archetypischen Motive der Rose mit dem Kreuz und der Wiederentdeckung verlorenen Wissens, sowie die Vorstellung einer geheimen Bruderschaft, die im Verborgenen an der Erneuerung der Menschheit arbeitete, übten eine bleibende Faszination auf die esoterische Imagination aus. Trotz – oder vielleicht gerade wegen – seiner obskuren Anfänge inspirierte der Rosenkreuzermythos die Literatur, die Freimaurerei des 18. Jahrhunderts und die Rituale des Ordens der »Goldenen Dämmerung« (»Golden Dawn«), des führenden magischen Ordens der okkulten Renaissance im 20. Jahrhundert. Selbst heute besitzt er noch eine große Anziehungskraft.

Die rosenkreuzerischen Manifeste

Das erste rosenkreuzerische Manifest erschien unter dem Titel »Fama Fraternitatis« 1614 in Kassel. »Fama« bedeutet eigentlich Gerede, Sage, Gerücht, aber auch Tradition und geschichtliche Überlieferung, womit der Titel die Frage aufwirft, welchen Status die Verfasser ihrem Bericht zumaßen. (Roland Edighoffer übersetzt »Fama« – was auch möglich ist –, mit »Ruf«, womit der Text vom »Ruf der Rosenkreuzer« handeln würde).  Aber auch wenn der Titel die Interpretation nahelegt, es handle sich um eine Fiktion, widerspricht der Text dieser Vermutung, der durchweg behauptet, von verbürgten Tatsachen zu handeln. So heißt es zum Beispiel von den Gründern des Ordens: »Man darf es auch für gewiss halten, dass diese Personen von Gott und der ganzen himmlischen Schar zugerüstet, und von den weisesten Männern, die in etlichen Zeitaltern gelebt haben, ihrer höchsten Einigkeit, größten Verschwiegenheit und möglichsten Guttätigkeit wegen unter sich selbst und unter andern auserlesen waren.«

Der Publikation war die deutsche Übersetzung eines Auszugs aus Traiano Boccalinis »Ragguagli di Parnasso« (»Nachrichten vom Parnass«, 1612) beigebunden, der sich für eine allgemeine Reformation aussprach, die Unabhängigkeit Venedigs verteidigte und sich gegen den Papst und das Habsburgerreich richtete. Ebenfalls beigebunden war eine Antwort Adam Haslmayrs (ca. 1560-1630) auf das Manifest, der behauptete, er habe bereits 1610 ein Manuskript des Textes gesehen. Haslmayr, ein Tiroler Notar, war ein entschiedener Anwalt der revolutionären theologischen Schriften des Paracelsus, die er unter dem Titel »Theophrastia Sancta« als neues Evangelium einer Religion bewarb, die auf dem »Licht der Natur« fußte und den Bekenntniszwang hinter sich lassen sollte. Die Publikation der »Fama« zusammen mit diesen beiden Texten deutet auf die protestantischen und paracelsischen Neigungen der Autoren (oder des Autors) des Manifestes.

Die »Fama« beginnt mit einem Lobpreis auf die kürzlich erfolgte neue Offenbarung der wahren Erkenntnis Christi und der Natur, aus der eine Erneuerung aller Künste und Wissenschaften hervorgehen werde. Durch die neue Offenbarung werde der Mensch seinen Adel und seinen Wert wieder erkennen und verstehen, warum er als »Mikrokosmos« bezeichnet werde. Und er werde erkennen, wie tief die Weisheit der Natur sei. Aber viele Gelehrte, so das Manifest, stellten sich gegen diese neue Erkenntnis und hielten stattdessen an der überflüssigen Autorität des Papstes, des Aristoteles oder Galens fest. Als Ziel der Bruderschaft wird eine umfassende »General-Reform« der gesamten Gesellschaft und ihres geistigen Lebens bezeichnet. Schließlich wird die legendäre Geschichte des Begründers, des »in höchstem Maße erleuchteten« Christian Rosenkreutz erzählt. Die Erzählung vom Leben und den Reisen dieser legendären Gestalt setzt die Pansophie der »Fama« zu einer teilweise mythischen Kette der Weisheit in Beziehung, durch die islamisches und jüdisches Wissen in den lateinischen Westen gelangte, das über die Netzwerke der paracelsischen Subkultur Europa im 16. Jahrhundert durchdrang.

Das Leben des Christian Rosenkreutz

Das Leben des Christian Rosenkreutz soll das 14. und 15. Jahrhundert umfasst haben, denn das zweite rosenkreuzerische Manifest, die »Confessio Fraternitatis« (»Das Bekenntnis der Bruderschaft«, 1615) berichtet, er sei 1378 geboren worden und habe 106 Jahre gelebt – also im Jahr 1484 gestorben. Nach dem Bericht der »Fama Fraternitatis« soll Bruder R.C., ein Deutscher, von seinem fünften Lebensjahr ab in einem Kloster erzogen worden sein und im Alter von sechzehn Jahren eine Pilgerschaft in das Heilige Land unternommen haben. Sein Gefährte starb bei dieser Reise in Zypern und C.R. wich von seinem Ziel Jerusalem ab, um die islamische Welt auf der Suche nach geheimem Wissen zu durchwandern. Im arabischen Damkar empfingen ihn die weisen Männer wie jemanden, auf den sie schon lange gewartet hätten. Manche Übersetzungen geben den Namen der Stadt fälschlicherweise mit Damaskus wieder, tatsächlich existiert noch heute eine Stadt namens Damar im Jemen. Da Legenden die Königin von Saba mit dieser Gegend der Sabäer verbinden, die im neunten Jahrhundert eine Religion auf Grundlage des Corpus Hermeticum und der Astrologie entwickelt haben, könnte die Anspielung der »Fama« auf Damkar (eine falsche Lesart des Namens Damar) eine Inspiration durch die biblische Legende und hermetische Lehren andeuten, die im muslimischen Osten eine besondere Prägung erhielten. In Damkar erwarb C.R. medizinische Kenntnisse, erlernte die Mathematik und Arabisch und übersetzte das Buch M. (wahrscheinlich das »Liber Mundi«, das Buch der Welt) ins Lateinische. Nach drei Jahren reiste C.R. nach Ägypten weiter, wo er Naturgeschichte studierte und segelte später der Küste Nordafrikas entlang nach Fez, um zwei weitere Jahre mit dem Studium der Magie und der Kabbala zu verbringen. Diese Wissenschaften stärkten seinen Glauben, der nun »auf der Harmonie der ganzen Welt« gründete. An dieser Stelle nennt die Lebensbeschreibung ausdrücklich Johannes Kepler mit seiner Publikation über den Umlauf der Gestirne und bezieht sich auf die hermetische Idee der Harmonie oder Korrespondenz, nach der alles, was sich in der »großen Welt« befindet, auch in der »kleinen Welt« des Menschen zu finden ist, weil dessen Religion, Sprache und Körperglieder das Wesen Gottes, sowie den Aufbau des Himmels und der Erde wiederspiegeln. Der Autor lobt die Bereitschaft der Araber und Afrikaner, ihr Wissen zu teilen und fordert die vielen Magier, Kabbalisten, Physiker und Philosophen in Europa auf, sich wie diese zu verhalten.

Als nächstes begab sich Bruder R.C. nach Spanien, um sein neu erworbenes Wissen mit den dortigen Gelehrten zu teilen, und zu zeigen, wie die Irrtümer der Kirche berichtigt werden könnten. Aber die spanischen Gelehrten fühlten sich bedroht und wiesen das neue Wissen zurück. C.R. reiste in andere Länder, erfuhr aber überall dieselbe Zurückweisung. Der Autor des Manifestes bemerkt, die Welt sei voller Propheten und habe Menschen hervorgebracht, welche die Dunkelheit durchbrochen hätten. Als Beispiel für einen solchen Menschen wird Paracelsus genannt, der, ohne Mitglied der Bruderschaft zu sein, im Buch der Natur wohl bewandert und mit den zuvor genannten Korrespondenzen zutiefst vertraut gewesen sei. Aber auch Paracelsus sei von rückwärtsgewandten Gelehrten enttäuscht worden, die es ihm verunmöglicht hätten, seine Erkenntnisse über die Natur ohne Anfeindungen zu verbreiten. Mit Paracelsus benennt die Fama ein wichtiges Bindeglied zwischen der mittelalterlichen Rezeption muslimischer und jüdischer esoterischer Traditionen durch den lateinischen Westen und ihrer späteren Interpretation, die im Neuplatonismus der Renaissance, der Alchemie und der deutschen Mystik des Mittelalters wurzelte.

Durch seine fruchtlosen Bemühungen in vielen Ländern eines Besseren belehrt, kehrte Bruder C.R. nach Deutschland zurück, wo er ein Haus baute. Er hätte als Adept, der die Kunst der Umwandlung der Metalle beherrschte, berühmt werden können, führte aber ein stilles Leben, studierte Mathematik und fertigte »viele schöne Instrumente« an – setzte also sein esoterisches Wissen von den Harmonien auch praktisch um. Nach fünf Jahren entschloss er sich zu einem neuen Versuch, seine Ideen zur Reformation in die Tat umzusetzen. Er wählte drei Brüder seines früheren Klosters aus, die ihm versprachen, treu, vorsichtig und verschwiegen zu sein. Das war der Gründungsakt der Bruderschaft des Rosenkreuzes. »Sie bedienten sich der magischen Sprache und Schrift mit einem weitläufigen Wortschatz, den wir noch heute zu Gottes Ehr und Ruhm gebrauchen«, heißt es in der Fama.

Die Zahl der Brüder wuchs bald auf acht. Diese errichteten ein Zentrum, das sie als »Haus des Hl. Geistes« bezeichneten und verfassten ein Buch über ihre »geheime und zugleich offenbare« Philosophie. Nachdem sie alle die neue Weisheit verinnerlicht hatten, reisten fünf in andere Länder, um sie dort zu verbreiten, während C.R. mit zwei Brüdern in Deutschland zurückblieb. Sie hielten sich an sechs Regeln, deren wichtigste war, dass sie Kranke heilen und dafür keine Bezahlung annehmen sollten. Darüberhinaus sollten sie keine besondere Kleidung tragen, sondern sich an die Gepflogenheiten ihrer Umgebung anpassen. Und an einem bestimmten Tag des Jahres sollten alle im Haus des Hl. Geistes zusammenkommen oder ihre Mitbrüder schriftlich über die Gründe ihrer Abwesenheit informieren. Jeder Bruder sollte sich um jemanden kümmern, der ihm bei seinem Tod nachfolgen konnte. Die Buchstaben C.R. sollten ihr Zeichen sein. Und die Bruderschaft sollte hundert Jahre lang ihre Existenz geheim halten.

Der erste Mitbruder, der starb, war ein gewisser J.O., der sich in der Kabbala ausgekannt und über sie ein Buch geschrieben habe. Dieser habe seine letzten Lebensjahre in England verbracht und dort einen jungen Grafen von Norfolk vom Aussatz geheilt. Auf die Gründungsmitglieder folgten viele weitere. Die dritte Generation der Bruderschaft wusste von den Gründern nur noch die Namen und kannte weder den Ort, an dem C.R. gestorben war, noch sein Grab. Aber dieses Grab wurde auf wundersame Weise hinter der Mauer eines Hauses entdeckt, in dem einer der Brüder wohnte.

Die Gruft des Christian Rosenkreutz

Die Entdeckung der Gruft und ihre Beschreibung sind zentrale Aspekte der Rosenkreuzerlegende und ihrer Hinterlassenschaft. Die Gruft hatte die Form eines Siebenecks, dessen sieben Seiten je Seite fünf Fuß lang und acht Fuß hoch waren und auf denen Inschriften mit geometrischen Figuren und Sinnsprüche angebracht waren. Auch wenn die Sonne nie in diesen geschlossenen Raum geschienen hatte, wurde er magisch von einer inneren Sonne erleuchtet. In der Mitte der Gruft stand anstelle eines Grabsteins ein runder Altar, der von einer Messingplatte bedeckt war, auf der Inschriften angebracht waren wie die folgenden: »Dieses Kompendium des Universums fertigte ich zu meinen Lebzeiten an, damit es mein Grab sei« und »Jesus ist alles für mich«. Daneben befanden sich auf der Messingplatte vier von einem Kreis umschlossene Figuren, der von vier Sätzen umgeben war: »nirgends Leere, Joch des Gesetzes, Freiheit des Evangeliums, Gottes uneingeschränkter Ruhm«. Die Decke und der Boden der Gruft waren in Dreiecke unterteilt, die durch Linien gebildet wurden, die von den sieben Ecken der Gruft zu deren Mitte verliefen. An den sieben Seiten der Gruft standen Truhen, die unterschiedlichste Dinge enthielten, unter anderem ein Wörterbuch paracelsischer Begriffe, wundervolle Glocken, Lampen und »wunder-künstliche Gesänge.« Die erneute Erwähnung des Paracelsus unterstreicht die Bedeutung, die dieser für die Autoren der Rosenkreuzerschriften besaß.

Als die Brüder eine Seite des Altars beiseiteschoben, fanden sie in ihm den unverwesten Körper des C.R. In seiner Hand hielt er das pergamentene Buch T., dessen Ende ihn als ein »dem Herzen Jesu eingepflanztes Samenkorn« bezeichnet. Im Folgenden wird C.R. als jemand beschrieben, der durch göttliche Offenbarung, tiefes Denken und unermüdliche Arbeit Einsicht in die Mysterien und Geheimnisse des Himmels und der Erde erlangt habe. Da er seine Zeit für das Wissen, das er in Arabien und Afrika erlangt hatte, als nicht reif befand, hatte er es der Nachwelt hinterlassen, die es neu entdecken sollte. Er hatte einen Mikrokosmos angefertigt, der mit seinen Bewegungen alle Bewegungen des Makrokosmos abbildete und eine Zusammenfassung aller vergangenen, gegenwärtigen und künftigen Dinge enthielt. C.R. lag 120 Jahre in seiner Gruft verborgen und da die »Konfession« seinen Tod ins Jahr 1484 versetzt, fällt die Wiederentdeckung der Gruft in das Jahr 1604, zehn Jahre vor die Veröffentlichung der Manifeste. Das geheimnisvolle pergamentene Buch trägt die Unterschriften von acht Brüdern und schließt mit der berühmten Rosenkreuzerformel: »Es Deo nascimur, in Christo morimur, per Spiritum Sanctum reviviscimus«.

Zum Text der Fama Fraternitatis

Die Confessio Fraternitatis

Die Confessio ist erheblich kürzer als die Fama mit ihrer Erzählung des Lebens des Ordensgründers und der Wiederentdeckung seiner Gruft. Während die Fama die hermetisch-pansophische Wissenschaft, Medizin und Philosophie feiert, stellt die Confessio, wie der Titel sagt, ein Glaubensbekenntnis dar. Das Werk wurde 1615 auf lateinisch in Kassel veröffentlicht, wandte sich also an ein gelehrtes Publikum. Der Erstausgabe war als Vorspann ein Werk mit dem Titel »Eine kurze Betrachtung über die geheimere Philosophie« von Philip von Gabella beigebunden. Diese zitierte und kommentierte die ersten 13 Theoreme der 1564 erschienenen »Monas hieroglyphica« John Dees. Gabella (wahrscheinlich ein Pseudonym, das auf einen Kabbalisten anspielt), analysiert Dees geheimnisvolles Zeichen, das alle Planetensymbole und das Symbol des Widder, das für das Feuer steht, enthält und sowohl auf alchymische Prozesse als auch auf geometrische Transformationen verweist. Von den Lesern der Confessio wurde offensichtlich erwartet, dass sie diese zur hermetischen Philosophie John Dees in Beziehung setzten.

Im Unterschied zur Pansophie der Fama weist die Confessio der Bibel einen zentralen Ort zu und betont, dass die Geheimnisse der Rosenkreuzer nur durch göttliche Gnade zu erlangen sind. In der Anrede zu Beginn heißt es: »Wir nennen jetzt frei und ohne einige Gefahr den Papst zu Rom den Antichrist.« Ebenso wie dies früher als Todsünde betrachtet worden sei, für die Menschen mit dem Tode bestraft wurden, werde eine Zeit kommen, in der die geheime Philosophie der Rosenkreuzer der ganzen Welt zugänglich sein werde. Die Autoren behaupten, sie hätten Kenntnis der ursprünglichen Zeichen, die Gott in die Hl. Schrift und in Himmel und Erde eingeprägt habe. Damit spielen sie auf die Idee eines ursprünglichen Alphabets der Natur an, die aus der christlichen Kabbala stammt und sowohl Agrippa von Nettesheim als auch John Dee vertraut war. Aus diesen geheimnisvollen Buchstaben haben die Rosenkreuzer ihre »magische Schrift« abgeleitet, um eine neue Sprache zu schaffen, in der das Wesen aller Dinge zum Ausdruck gebracht werden konnte. Dabei handelt es sich um nichts Geringeres als die Ursprache Adams und Enochs. Auch die Tatsache, dass die Confessio der Bibel gegenüber dem Buch der Natur den Vorrang einräumt, zeigt die Nähe der Verfasser zu paracelsischen Überzeugungen.

Die Confessio ist außerdem überzeugt, dass das Ende der Welt nahe bevorsteht. Die Tyrannei des Papstes sei zwar in Deutschland beendet, aber sein endgültiger Fall sei »bis in unsere Zeit« aufgeschoben worden, in der er durch die Stimme »eines brüllenden Löwen aus dem Norden« vernichtet werden solle. Die Antwort Adam Haslmayrs auf die Fama spielt ebenfalls auf diesen »Löwen aus dem Norden« an, bei dem es sich – nach einer im 16. Jahrhundert weit verbreiteten, fälschlicherweise Paracelsus zugeschriebenen Prophezeiung – um einen apokalyptischen Streiter Gottes handelt, der den Antichristen niederwirft. Anspielungen auf die »Miranda sexta aetatis« (»die Wunder des sechsten Zeitalters«) und die Entzündung des »sechsten Leuchters« durch Gott rufen die Prophezeiungen des kalabresischen Abtes Joachim von Fiore (1145-1203) in Erinnerung, der die Geschichte der Welt in sieben kosmische Tage unterteilte, von denen ein jeder 1000 Jahre dauern sollte. Die fünf ersten entsprachen dem Zeitalter des Vaters, das sechste dem Zeitalter des Sohnes und das bevorstehende siebente dem endzeitlichen Jahrtausend des Hl. Geistes. Vermutlich waren die Autoren der Confessio auch von den Joachim zugeschriebenen Prophezeiungen über den Papst beeinflusst, die im 16. Jahrhundert weit verbreitet waren und von dem unmittelbar bevorstehenden Sieg über den Antichristen und dem Anbruch der Endzeit sprachen. Die Confessio deutet auch das Erscheinen neuer Sterne in den Konstellationen der Schlange und des Schwans als Zeichen des Anbruchs eines neuen Zeitalters. Da diese Sterne im Jahr 1604 erschienen, unterstreicht diese astronomische Anspielung zusätzlich die Bedeutung der Wiederentdeckung der Gruft des C.R.

Zum Text der Confessio Fraternitatis

Die chymische Hochzeit des Christian Rosenkreutz (1616)

Durch diese Manifeste führte sich die Bruderschaft des Rosenkreuzes als neue Bewegung ein, die sich der Renaissancewissenschaften der Magie, der Kabbala und der Alchemie bediente, um eine neue Ordnung harmonischer Entsprechungen zu errichten. Die zwei rosenkreuzerischen Manifeste riefen durch ihre Ankündigung einer globalen Reformation durch medizinische und wissenschaftliche Fortschritte auf der Grundlage hermetischer Traditionen ein gewaltiges Echo hervor. Ein Jahr nach der Veröffentlichung der Confessio erschien der dritte rosenkreuzerische Text, die Chymische Hochzeit des Christian Rosenkreutz Anno 1459, der auf Deutsch in Straßburg veröffentlicht wurde. Die ungewöhnliche Romanze oder phantastische Erzählung bot die allegorische Geschichte einer königlichen Hochzeit voll von alchymischer Symbolik. Im Unterschied zu den Manifesten, welche die Erneuerung der Gesellschaft in den Vordergrund stellten, beschreibt die Chymische Hochzeit die innere Umwandlung der Seele. Die Hochzeit findet im Jahr 1459 statt. Zu dieser Zeit wäre Christian Rosenkreutz nach der Chronologie der Manifeste 80 Jahre alt gewesen.

Die Erzählung ist in sieben Tage unterteilt. Am ersten Tag bereitet sich der Erzähler, Christian Rosenkreutz, am Abend vor Ostern auf seine österliche Kommunion vor. Die Erzählung beschreibt ihn weder als Begründer einer geheimen Bruderschaft, noch als Eingeweihten im Besitz geheimen Wissens, das er auf exotischen Reisen erworben hat, sondern als älteren, bescheidenen Einsiedler. Plötzlich erhebt sich ein Sturm und eine wunderbare, geflügelte weibliche Gestalt erscheint, die ein blaues Gewand mit goldenen Sternen trägt. Sie übergibt ihm die Einladung zu einer Hochzeit, welche die folgenden Verse enthält:

»Heut, Heut, Heut,
Ist des Königs Hochzeit,
Bist Du hierzu geboren,
Von Gott zu Freud erkoren,
Magst auf den Berg Du gehen,
Darauf drei Tempel stehen,
Daselbst die Geschicht' besehen.

Halt Wacht,
Dich selbst betracht',
Wirst dich nicht fleißig baden,
Die Hochzeit kann dir schaden.
Schad' hat, wer hier verzicht',
Hüt' sich, wer ist zu leicht ...«

Neben der ersten Zeile ist die Monas John Dees abgedruckt, die dessen hermetische Philosophie zusammenfasst und die Verse sind mit »Sponsus et Sponsa« (Bräutigam und Braut) unterschrieben.

Christian Rosenkreutz beklagt seinen Mangel an esoterischem Wissen und seine Unfähigkeit, die Geheimnisse der Natur zu erforschen und bezweifelt, dass er diese spirituelle Prüfung zu bestehen vermag. Daraufhin träumt er, er sei zusammen mit vielen anderen in einem dunklen Turm eingesperrt. Seine Befreiung mit Hilfe eines Seiles deutet er so, dass Gott ihm das Licht gewähren will, solange er noch in dieser Welt lebt. Auf diese Weise ermutigt, wacht er auf und bekleidet sich für die Hochzeit mit einem weißen Leinengewand, legt über Schultern und Brust kreuzweise einen blutroten Gürtel und steckt an seinen Hut vier rote Rosen, so dass er in der Menge an diesen Zeichen leichter erkannt werden kann. Dabei handelt es sich natürlich um die Symbole der Rosenkreuzer.

Am zweiten Tag reist Christian Rosenkreutz zur Hochzeit, die in einem wunderbaren Schloss stattfindet. Bei seiner Ankunft gelangt er an verschiedenen Türhütern vorbei und nimmt an einem Begrüßungsbankett teil. Am dritten Tag beaufsichtigt eine der führenden Gestalten der Erzählung, eine Jungfrau, deren geheimer Name »Alchemie« lautet, eine Prüfung der Teilnehmer mit Hilfe von Gewichten und einer Waage. Ihr moralisches Gewicht wird gewogen, viele werden als zu leicht befunden und nach Maßgabe ihrer Verfehlungen zu unterschiedlichen Strafen von zunehmender Schwere verurteilt. Am vierten Tag wird ein allegorisches Theaterstück mit sieben Akten aufgeführt. Wegen seiner Demut erhält Rosenkreutz einen besonderen Platz. Das Theaterstück handelt vom Kampf einer Prinzessin um Selbstverwirklichung und Freiheit von der Autorität ihres Vormundes, eines alten Königs, von ihrer Entführung durch einen Mohren und ihrer späteren Befreiung, schließlich ihrer Vereinigung mit dem Königssohn. Nach der Aufführung wird wieder ein Abendessen serviert und die Stimmung wird immer trauriger. Da erscheint ein schwarzer Scharfrichter und enthauptet drei königliche Paare, »eine blutige Hochzeit«, wie Rosenkreutz kommentiert.

Die Enthauptung der königlichen Paare ist der Wendepunkt der Allegorie und Rosenkreutz beginnt nun, eine aktivere Rolle zu spielen. Der sechste Tag steht ganz im Zeichen des alchymischen Werkes. Die Jungfrau erzeugt eine Reihe von Substanzen, die am Tag zuvor aus Kräutern und Edelsteinen gewonnen wurden und diese werden über die Leichen der Enthaupteten gegossen, bis diese sich auflösen. Durch einen Destillationsvorgang nimmt die Flüssigkeit eine gelbe Färbung an und wird in eine goldene Kugel gegossen. Nachdem sie abgekühlt ist, zeigt sich, dass sie ein schneeweißes Ei enthält, dem bald ein alchymischer Vogel entschlüpft. Der Vogel wird mit dem Blut der Enthaupteten gefüttert und durchläuft drei Farbzustände (schwarz, weiß, blau), die traditionellen Stufen des alchymischen Prozesses entsprechen. Nachdem auch der Vogel enthauptet wurde, wird sein Blut aufgefangen und sein Körper verbrannt. Seine angefeuchtete Asche wird in zwei kleine Formen gestreut, in denen ein Knabe und ein Mädchen heranwachsen. Die beiden Homunculi werden mit Blutstropfen des Vogels gefüttert, so dass sie schnell an Größe gewinnen, bis das auferstandene junge Königspaar erwacht. Am siebten Tag teilt die Jungfrau Christian und seinen Gefährten mit, dass sie jetzt Ritter des Ordens vom Goldenen Stein sind. Sie erfahren die Ordensregeln, nehmen an weiteren Festlichkeiten teil und verlassen schließlich das Schloss.

Zum Text der Chymischen Hochzeit

Die Autoren und ihre Wirkung: Johann Valentin Andreae und der Tübinger Kreis

Die Verfasserschaft der anonymen Rosenkreuzertexte wurde über Jahrhunderte von Gelehrten heftig diskutiert, aber viele Hinweise deuten auf einen Kreis um Johann Valentin Andreae (1586-1654). Dieser wurde im württembergischen Herrenberg in eine Familie lutherischer Geistlicher geboren. Sein Großvater, Jakob Andreae (1528-1590), spielte als Kanzler der Universität Tübingen und Professor der Theologie eine führende Rolle in der Reformation und war Mitautor des »Konkordienbuches« von 1580, das die Lehren der lutherischen Kirche kanonifizierte. Auch sein Vater, Johannes Andreae (1554-1601), verfolgte eine kirchliche Laufbahn, interessierte sich aber ebensosehr für die Alchemie. Von 1602 bis 1607 studierte Johann Valentin die freien Künste und Theologie in Tübingen, wo er sich mit Christian Besold befreundete, einem älteren Gelehrten, der sein Interesse an esoterischen Fragen förderte. Um 1605 schrieb er die erste Fassung der Chymischen Hochzeit. 1607 musste er wegen eines Skandals sein Studium abbrechen, reiste durch Westdeutschland und arbeitete in Lauingen als Lehrer. Er besuchte das nahegelegene Dillingen, eine Hochburg der Jesuiten, die Andreae, ein strammer Protestant, als Heer des Antichristen betrachtete. Die antijesuitische Ausrichtung der Antwort Haslmayrs auf die Fama von 1612 könnte eines der Motive zum Ausdruck bringen, das Andreae dazu bewogen hat, an den rosenkreuzerischen Manifesten mitzuwirken. Wieder in Tübingen lernte er 1608 Tobias Hess, einen paracelsischen Arzt kennen, der sich für apokalyptische Prophezeiungen interessierte. Zu dieser Zeit wirkte er vermutlich am Entwurf der rosenkreuzerischen Manifeste mit. Nach weiteren Reisen zwischen 1610 und 1612 nahm er das Studium der Theologie im Tübinger Stift wieder auf, um 1614 das Amt eines Hilfspfarrers in Vaihingen anzutreten und kurz darauf die Tochter eines Geistlichen zu heiraten. Im Jahr 1612 wurde er zum Superintendenten von Calw berufen. Seine weitere kirchliche Laufbahn brachte ihm das Amt eines Hofpredigers in Stuttgart ein und die Aufgabe der geistlichen Beratung einer Prinzessin des königlichen Hofes von Württemberg.

Christoph Besold (1577-1638) war ein Jurist, der 1610 Professor in Tübingen wurde. Außerdem beherrschte er neun Sprachen, darunter Hebräisch und Arabisch, besaß umfassende theologische Kenntnisse und war in der mittelalterlichen Mystik und im hermetischen Denken bewandert. Besold hoffte auf eine spirituelle Reformation, welche die politischen und kirchlichen Grenzen seiner Zeit sprengen würde. Er begeisterte sich für Tommaso Campanellas hermetische Utopie »Die Sonnenstadt«, die 1602 verfasst worden war und stellte seine eigene Philosophie in seiner »Signatura temporum« (»Die Signatur der Zeit«, 1614) und den »Axiomata Philosophico-Theologica« (»Philosophisch-theologische Axiome«, 1616) dar. Andreae hatte ungehinderten Zugang zu der viertausend Werke umfassenden Bibliothek Besolds, die Werke über Theologie, Kabbala, Philosophie, Medizin und Geschichte enthielt. Vor dem Hintergrund seines Zugangs zu dieser Bibliothek und zu Besolds enzyklopädischem Wissen, kann man die Erzählung von der Reise des Bruders C.R. in den Orient auch als eine Allegorie der Übertragung orientalischer Weisheit über Spanien an den lateinischen Westen lesen. Andreae könnte auch von seinem Freund Wilhelm Schickhardt, einem Tübinger Orientalisten, Hintergrundinformationen erhalten haben, zum Beispiel tauchte die Stadt Damcar bereits 1569 auf der Arabienkarte Mercators auf, die Andreae gekannt haben dürfte.

Tobias Hess (1568-1614), der führende Kopf hinter den Rosenkreuzer-Manifesten, praktizierte als paracelsischer Arzt in Tübingen und ging ausgedehnten theologischen, philosophischen und naturwissenschaftlichen Studien nach. Er war von den Prophezeiungen Simon Studions (1565-ca. 1605), eines anderen Württemberger Gelehrten fasziniert, der über eine Reihe von feurigen Trigonkonstellationen (Konjunktionen dreier Planeten) geschrieben hatte, die als Zeichen irdischer Ereignisse aufgefasst wurden, die neue Reiche oder neue religiöse Bewegungen ankündigten. Studion hatte verwandte Ideen im Werk des italienischen Häretikers Giacomo Brocardo gründlich untersucht, der das Jahr 1584 als den Beginn eines neuen Zeitalters betrachtete. 1604 schloss Studion sein Werk »Naometria« ab, das eine komplexe Zahlenmystik und biblische Prophezeiungen benutzte, um historische Ereignisse vorauszusagen. In diesem Werk forderte Studion König Jakob von England, den Erzherzog Friedrich von Württemberg und König Heinrich von Navarra auf, sich im Zeichen der Rose, dem Symbol eines neuen Zeitalters, zusammenzuschließen. Hess unterhielt mit Studion einen Briefwechsel und stimmte ihm 1597 zu, dass das Papsttum sieben Jahre später, also 1604, stürzen werde. Dieses Jahr hatte für Hess eine außerordentliche Bedeutung. Durch das Erscheinen neuer Sterne ausgezeichnet, erfüllte es auch eine der Prophezeiungen Brocardos, nach der das letzte Zeitalter von Luthers Geburt an (1483) 120 Jahre dauern werde, also 1603 zu Ende gehe. Die endzeitlichen Erwartungen von Hess hatten auf die Legende von Christian Rosenkreutz großen Einfluss, dessen Gruft ebenfalls 120 Jahre nach seinem Tod, 1604, eröffnet wurde und ein neues Zeitalter einläuten sollte.

Viele Kenner sind der Auffassung, Andreae und sein Tübinger Freundeskreis hätten die Manifeste als Antwort auf die Krise des europäischen Denkens in ihrer Gegenwart verfasst. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation war nach dem Augsburger Religionsfrieden in ein Mosaik kleinster Staaten zerfallen, die alle die Religion des jeweiligen Landesherrn übernehmen mussten. Das »Konkordienbuch« hatte nicht die erhoffte Einigung unter den lutherischen Staaten herbeigeführt, mit dem Konzil von Trient (1545-1563) hatte die Gegenreformation begonnen und die 1540 gegründete »Societas Jesu« (der Jesuitenorden) stellte sich der Ausbreitung des Protestantismus in Europa entgegen, während die lutherische Orthodoxie immer mehr erstarrte. Gleichzeitig machte das medizinische Wissen große Fortschritte und verlangte dringend nach einem Ausgleich mit der religiösen Weltsicht.

Wie auch immer: Andreae distanzierte sich von den Manifesten und erst in einer nach seinem Tod veröffentlichten Autobiografie konnte man das Geständnis lesen, er habe die Chymische Hochzeit verfasst. Carlos Gilly hat vier Manuskripte der Fama aufgefunden, die zwischen 1610 und 1614 entstanden (Carlos Gilly, Cimelia Rhodostaurotica, Amsterdam 1995). Die Fama und die Confessio spiegeln deutlich die paracelsischen, kabbalistischen und »naometrischen« Neigungen von Tobias Hess wieder und Anspielungen auf Rosenkreutz in den beiden Manifesten und im früheren Entwurf der Chymischen Hochzeit legen eine Kontinuität nahe. Dies, sowie die Kenntnisse über die persönlichen Beziehungen der Beteiligten, legen den Gedanken an eine gemeinsame Verfasserschaft nahe. Es gibt überzeugende Gründe, die Autorschaft Hess, Andreae und Besold gemeinsam zuzuschreiben und sie in die Jahre 1610-1611 zu verlegen.

Trotzdem unterliegt die Beteiligung Andreaes an der Verfertigung der Manifeste gewissen Zweifeln. Andreae gestand zwar zu, die Chymische Hochzeit verfasst zu haben, aber als lutherischer Würdenträger legte er später einen heiligen Eid ab, er habe über »die rosenkreuzerische Fabel stets gelacht« und die »kleinen Kuriositäten-Liebhaber« bekämpft. Und tatsächlich veröffentlichte er nach der Chymischen Hochzeit eine Reihe von Werken – »Menippus« (1617), »Invitatio Fraternitatis Christi« (»Einladung der Bruderschaft Christi«, 1617-1618), »Turris Babel« (»Der Turm zu Babel«, 1619) und »De curiositate pernicie syntagma« (»Bemerkungen über die verderbliche Neugier«, 1620) – welche den esoterischen Charakter des Rosenkreuzerordens und seiner Ziele verunglimpften. Zwar behaupteten manche, Andreae habe seine Orthodoxie betonen müssen, nachdem er eine kirchliche Laufbahn in Angriff genommen habe, aber J.W. Montgomery hat überzeugende Beweise dafür gesammelt, dass Andreae sich immer von den Manifesten distanzierte (John Warwick Montgomery, Cross and Crucible, The Hague 1973). In  Tübingen stritt er gegen die endzeitlichen, naometrischen Spekulationen seines Freundes Hess, die wesentlich zur rosenkreuzerischen Chronologie und Apokalypse in der Fama und der Confessio beitrugen. Da Studion sich bereits 1593 mit diesen Themen beschäftigte, und ein anderer Enthusiast, Julius Sperber, sich an Texte erinnerte, die jenen der Manifeste vergleichbar waren und bis ins Jahr 1595 zurückgingen, könnten diese sogar einige Jahre vor der Ankunft Andreaes in Tübingen verfasst worden sein.

Der lutherische Theologe und christliche Apologet Montgomery hat eine gründliche Untersuchung des Lebens und theologischen Werkes Andreaes vorgenommen. Seine penible Prüfung des Inhaltes der Manifeste, ihres prophetischen Kontextes und der religiösen Anschauungen Besolds, Hessens und Andreaes, führte ihn zum Schluss, der Mythos des Rosenkreuzes sei erstmals in Deutschland unter esoterischen protestantischen Enthusiasten wie Aegidius Gutmann (1490-1584) und Julius Sperber (?-1615) im letzten Viertel des 16. Jahrhunderts, jedoch vor ihrer Begegnung mit Studions Naometrismus in den 1590er Jahren aufgetaucht. Nach Montgomery wurden die Manifeste ursprünglich von Hess und möglicherweise anderen zwischen 1593 und 1604 entworfen, in Erwartung der Gruftöffnung, die nach Studions apokalyptischer Zeitrechnung im Jahr 1604 stattfinden sollte. Montgomery schließt aufgrund eines genauen Vergleichs der Chronologien des Lebens von Christian Rosenkreutz in der Fama und der Chymischen Hochzeit Andreae ausdrücklich als Autor der Manifeste aus. Stattdessen sieht er zwei Mythenschöpfer am Werk: einen, der »offiziell protestantisch, aber im Grunde heidnisch« und einen anderen, der nach »Berufung und Bekenntnis zutiefst christlich« war. Montgomery meint, Andreae habe seine »christlich-alchymische Hochzeit« veröffentlicht, um den Schaden wieder gut zu machen, den der okkulte und heidnische (hermetisch-neuplatonische) Inhalt der Manifeste – mit seinem Lob der magischen, hermetischen und kabbalistischen Weisheit – in seinen Augen angerichtet hatte.

Christian von Anhalt und der »Winterkönig«

In ihrem Hauptwerk »The Rosicrucian Enlightenment« (»Aufklärung im Zeichen des Rosenkreuzes«, 1972) entwickelte Frances Yates eine gewagte These über die politischen Hintergründe der Manifeste. Sie behauptete, diese repräsentierten eine protestantische Propagandaoffensive gegen die Kräfte der katholischen Reaktion, die sich unter der Führung des Habsburgerreiches sammelten. Yates identifizierte den Prinzen Christian von Anhalt als den Hauptarchitekten einer angloprotestantischen Allianz gegen die habsburgisch-katholische Hegemonie, einer Allianz, die 1613 in der Hochzeit des Pfalzgrafen Friedrich V. mit Elisabeth, der Tochter König Jakob I. von England gipfelte. Anhalt setzte sich auch dafür ein, dass Friedrich V. König von Böhmen wurde, um auf diese Weise den protestantischen Einfluss auf das Herrschaftsgebiet der Habsburger auszudehnen. Böhmen unterstützte reformierte Kirchen, um seine nationale Identität zu stärken und bot seine Krone tatsächlich 1619 Friedrich an. Friedrich und Elisabeth regierten aber nur bis November 1620, als die Armeen Habsburgs bei der Schlacht am Weißen Berg in der Nähe von Prag die protestantischen Kräfte besiegten. Da Friedrich nur einen Winter lang regiert hatte, erhielt er den Namen »Winterkönig«. Laut Yates bezeugt die Publikation der Fama und der Confessio die hoffnungsvolle Erwartung eines neuen protestantischen Zeitalters der Toleranz und der Wissenschaft, das in hermetisch-kabbalistischen Ideen wurzelte.

Yates These hat viel für sich, weil sie die Manifeste zur damaligen politischen und religiösen Landschaft Mitteleuropas in Beziehung setzt. Es ist möglich, dass Anhalt das politische Potential der Manifeste erkannte und ihr Erscheinen zwischen 1614 und 1616 als Teil seiner Kampagne zu Friedrichs Gunsten förderte. Wie auch immer, die unmittelbaren religiösen und intellektuellen Einflüsse um Tobias Hess und Johann Valentin Andreae erklären ohne weiteres ihren Inhalt. Die pansophischen Interessen von Andreae und Besold traten in Wechselwirkung mit den apokalyptischen Erwartungen Simon Studions und Hessens, verbanden sich mit der paracelsischen Medizin des letzteren und führten zu einer Renaissance der universellen hermetischen Weisheit am Ende des 16 . Jahrhunderts und der Hoffnung auf ihre Entfaltung in einem neuen Zeitalter der Medizin, Wissenschaft und einer genuin christlichen Reformation unter einer toleranten protestantischen Führung. Außerdem macht die Entstehungszeit der Manuskripte – der erste Entwurf der Chymischen Hochzeit entstand 1605, die Fama und die Confessio höchstwahrscheinlich zwischen 1610 und 1612 – eine spezifische Inspiration durch die Pläne Anhalts und des Pfalzgrafen unwahrscheinlich.

Wirbel um die Rosenkreuzer in Deutschland

Yates meinte, die Fama und die Confessio seien ursprünglich nicht für den Druck bestimmt gewesen und ohne die Zustimmung Andreaes veröffentlicht worden – möglicherweise, um den Zielen Anhalts zu dienen. Doch nachdem sie ständig neu gedruckt worden waren und weite Verbreitung gefunden hatten, gewannen die Manifeste eine ganz andere Bedeutung, als die frommen, endzeitlichen Traktate, die sich ursprünglich in privater Hand befunden hatten. Das verbreitete Interesse an Goldmacherkunst, Alchemie, Theosophie, Mystik, Reform und Renaissance-Hermetik in und außerhalb Deutschlands führte zu massiven Reaktionen, sowohl für als auch gegen die Ideen der fiktiven Bruderschaft. Zwischen 1614 und 1620 warfen die Druckerpressen etwa 200 Bücher und Traktate aus. Viele übersahen die Verurteilung der falschen Alchemie durch die Bruderschaft und suchten Zugang zum Orden, um die Geheimnisse der Umwandlung von Kohle in Gold zu erlernen. Andere, wie Theophilus Philaretus, Theophilus Schweighart und Joachim Morsius identifizierten sich mit deren Zielen. Aus dem Lager der lutherischen Orthodoxie gab es scharfe Opposition. Eusebius Christianus Crucigerus, Georg Rostius, Johannes Hintsem und Johannes Sivertus verdammten die Rosenkreuzer als Calvinisten, Häretiker und falsche Propheten. Rationalistische und aristotelische Kritik kam von Henricus Neuhusius, Hisaias sub Cruce Atheniensis und Andreas Libavius, die sich gegen die okkulten Wissenschaften der Renaissance wandten. Nur ein katholischer Autor, S. Mundus, beteiligte sich an den Auseinandersetzungen, was darauf hindeutet, dass die Katholiken den Streit um das Rosenkreuzertum in erster Linie als innerprotestantischen Konflikt betrachteten. Zu den Zeitgenossen, die sich auf die Suche nach dem Orden machten, gehörte auch René Descartes.

Andreae, der inzwischen als junger Pastor in Vaihingen wirkte, und sich vor den Folgen des Wirbels fürchtete, bemühte sich um Distanz gegenüber den veröffentlichten Manifesten. Hans Schick hat 1942 die Auffassung vertreten, Andreaes Publikation der Chymischen Hochzeit in Form einer allegorischen Erzählung habe möglicherweise darauf abgezielt, die politischen Wirkungen der Manifeste abzuschwächen, die ihn nun in Verlegenheit brachten. In seinem »Menippus« distanzierte sich Andreae von der Pansophie und betonte seinen Gehorsam in Christus. Wie auch immer, Andreae bemühte sich weiter um die Gründung christlicher Bruderschaften. 1617 veröffentlichte er eine Einladung, einer »Societas Christiana« (einer christlichen Gesellschaft) beizutreten, die er gefällig mit dem »Scherz der Rosenkreuzer« verglich. 1619 das Buch »Christianopolis«, die erste deutsche Utopie in der Tradition Thomas Mores und der »Sonnenstadt« Campanellas. Schließlich beschäftigte er sich 1628 mit Plänen für eine »Unio Christiana«. Schick behauptete, diese aufeinanderfolgenden Versuche bezeugten Andreaes fortbestehenden Wunsch, eine wirkliche Bruderschaft der Rosenkreuzer zu begründen, jedoch mit zunehmender Betonung christlicher Frömmigkeit und unter Ausschluss der Pansophie.

Rosenkreuzertum in England. Michael Maier und Robert Fludd

Das breite Echo auf die Rosenkreuzertexte steht für die Fortführung und Weiterentwicklung des Projektes, das von Hess und dem Tübinger Kreis begonnen worden war. Viele Autoren der Briefe, Traktate und Bücher, die an die unsichtbare (und nie antwortende) Bruderschaft gerichtet waren, bezeichneten sich selbst als Rosenkreuzer und fügten der entstehenden Tradition ihre eigenen Interessen und Schwerpunkte hinzu.

Michael Maier (1569-1622) war ein herausragender Gelehrter der Renaissance, ein Doktor der Medizin und Philosophie, der sich in der Alchemie ebensogut auskannte, wie in der klassischen Antike. Er verschrieb sich mit ganzem Herzen den Manifesten, identifizierte sich mit ihren Zielen und verfolgte ihre Ursprünge bis ins alte Ägypten und die eleusinischen Mysterien zurück. In Kiel geboren, hatte er zwischen 1587 und 1596 an verschiedenen europäischen Universitäten studiert, um nach Holstein zurückzukehren und dort als Mediziner zu praktizieren. Später tat er desgleichen in Ostpreußen. Von 1602 bis 1608 praktizierte er im Laboratorium und behauptete, er habe eine Universalmedizin (eine »Panaecea« für alle Krankheiten) gefunden. Im Jahr 1608 reiste er nach Prag und wurde zum Leibarzt Kaiser Rudolf II. ernannt, der ihn in den Adelsstand erhob. 1611, kurz nach der Abdankung Rudolfs, reiste er nach England weiter, wo er bis 1616 weilte. Maier richtete an König Jakob I. einen Weihnachtsgruß, auf dem sich ein proto-rosenkreuzerisches Emblem befand und höchstwahrscheinlich war er mit Robert Fludd bekannt.

Maier widmete der Verteidigung des Rosenkreuzertums zwei Bücher: »Silentium post clamores« (etwa: »Ruhe nach dem Sturm«, 1617), in dem er die Rosenkreuzer mit den Pythagoräern verglich, die nach seiner Auffassung zu Recht Eide des Schweigens und der Geheimhaltung geschworen hätten und »Themis aurea« (»Goldene Themis«, 1618), das Argumente auflistete, die ihre Regeln der Anonymität, der Krankenheilung usw. verteidigten. In seinem Buch »Symbola aurea mensae« (»Goldene Symbole des Altars«, 1617) brachte er das Rosenkreuzertum zur Tradition der Mysterienschulen in Beziehung, angefangen mit jener des Hermes Trismegistos im alten Ägypten, über die Hebräer, die Griechen und Römer, bis zu den Arabern.

Laut seinem Werk »Arcana arcanissima« (»Die geheimsten Geheimnisse«, 1614) beschäftigte sich Maiers praktische Alchemie mit der Herstellung von Medikamenten, nicht mit der Erzeugung von Gold. Dieses Buch deutete die bekanntesten Mythen der Antike als alchymische Allegorien. Seine berühmten alchymischen Embleme in »Atalanta fugiens« (»Fliehende Atalante«, 1618), die von Musik und Poesie umrahmt sind, zeugten ebenfalls von seiner Liebe zur Alchemie. Maiers alles überragende Hingabe an die »chymia« sollte das Rosenkreuzertum für die folgenden Generationen mit dieser verbinden.

Robert Fludd (1574-1637), ein englischer paracelsischer Arzt und Philosoph, war der große Enzyklopädist der hermetisch-kabbalistischen Tradition der Renaissance. Er studierte in Oxford die freien Künste und bereiste danach sechs Jahre den Kontinent. Hier verkehrte er in paracelsischen Kreisen und entdeckte seine Berufung zur Medizin. 1604 nach Oxford zurückgekehrt, um Medizin zu studieren, eröffnete er bald eine Praxis in London und begann an seinem enzyklopädischen Hauptwerk zu arbeiten, dem Buch »Utriusque Cosmi Historia« (»Geschichte des Makro- und Mikrokosmos«). Dieses Werk, das voll ist von ausgeklügelten Gravuren, die sich auf Kosmologie und die Korrespondenzen zwischen der himmlischen Welt, der Natur, dem Menschen, den Künsten und den Wissenschaften beziehen, erschien zwischen 1617 und 1626. Voraus ging ihm die Publikation seiner Verteidigung des Rosenkreuzertums gegen Andreas Libau, der »Apologia Compendaria« (»Apologetisches Kompendium«, 1616). Libau hatte die rosenkreuzerischen Lehren der Harmonie zwischen Mikro- und Makrokosmos, der Magie, Alchemie und Kabbala angeschwärzt und damit die Grundlage der Weltsicht Fludds. Auf dieses Buch folgten zwei weitere über die Rosenkreuzer.

Rosenkreuzertum und Freimaurerei

Schick vermutete, die Einführung des Rosenkreuzertums in England durch Maier sei für die Entwicklung der spekulativen Maurerei von Bedeutung gewesen, denn das Werk »Silentium post clamores« habe Andeutungen über Hochgrade und Initiationen enthalten, die später in den Freimaurerlogen eine Rolle spielten. Diese Idee geht auf zwei deutsche Historiker des 19. Jahrhunderts zurück. Schon 1804 behauptete Johann Gottlieb Buhle, die spekulative Maurerei sei in England zwischen 1629 und 1635 im Anschluss an das Werk Robert Fludds entstanden, der zuvor von Maier in das Rosenkreuzertum eingeführt worden sei. Buhles Vermutung, die englische Maurerei wurzle viel eher im kontinentalen Rosenkreuzertum als in den mittelalterlichen Gilden, war von Maiers Identifikation des Rosenkreuzertums mit den ägyptischen und griechischen Mysterien abhängig, die später einen Bestandteil der Lehren der Maurerei bildeten. Christoph Gottlieb von Murr fand auch Spuren des freimaurerischen Erbes in Maiers »Septima Philosophica« (»Philosophische Septime«, 1620). Aber diese Achse des Ursprungs der Maurerei von Maier zu Fludd wurde von neueren Forschungen in Frage gestellt.

Eine andere Verbindung zwischen der englischen Maurerei und dem Rosenkreuzertum bestand jedoch tatsächlich. Elias Ashmole (1617-1692), ein angesehener englischer Antiquar, wurde im Jahr 1646 in eine der ersten spekulativen Logen in Warrington aufgenommen. Ashmole beschäftigte sich auch intensiv mit Alchemie, wie seine Bücher »Fasciculus Chemicus« (1650) und seine Sammlung mittelalterlicher englischer Werke zu diesem Gebiet, »Theatrum Chemicum Brittannicum« (1652), zeigen. Um 1650 begann er sich auch mit dem Rosenkreuzertum zu beschäftigen. Unter seinen nachgelassenen Papieren finden sich eine Abschrift der Fama von eigener Hand, eine eindringliche Bitte an die unsichtbaren Brüder, in ihren Orden aufgenommen zu werden und einige chiffrierte Notizen über ihren vermutlichen Sitz. Im Jahr 1652 veröffentlichte Thomas Vaughan die erste englische Übersetzung der Fama und der Confessio. Die englische Übersetzung von Maiers »Themis aurea« aus dem Jahr 1656 war Elias Ashmole gewidmet. David Stevenson hat in seinem Buch »The Origins of Freemasonry« 1988 sogar Einflüsse des Rosenkreuzertums auf die schottische Maurerei vor 1630 für möglich gehalten. Die Verbreitung hermetischer Ideen und der Kunst der Erinnerung (der Mnemotechnik) im Schottland des späten sechzehnten Jahrhunderts könnte auf ein Interesse des Landadels an operativen Logen hindeuten, was zur Entstehung spekulativer Logen um 1640 führte, deren Existenz durch die Aufnahme Ashmoles 1646 bezeugt ist.

Comenius und die Ursprünge der Royal Society

Verschiedene Autoren haben auf die frühzeitige Einführung rosenkreuzerischer Ideen in England durch den tschechischen Pansophen, Mystiker und Reformer Jan Amos Comenius (1592-1670) hingewiesen. Comenius wuchs unter den Böhmischen Brüdern auf, einer mystischen Gruppierung der hussitischen Reform in Böhmen und studierte an den Universitäten Herborn und Heidelberg. An der ersteren wurde er von Johann Heinrich Alsted ( 1588-1638) unterrichtet, dessen Zugang zur Naturwissenschaft von der Pansophie, der Idee der gegenseitigen Abhängigkeit alles Wissens geprägt war. Comenius sah in der Pansophie eine Bestätigung dafür, dass der schöpferische Geist Gottes, der Logos, im Herzen aller Dinge gegenwärtig war und dass diese Gegenwart Gottes in allen Dingen ihnen gemeinsame Muster aufprägte. Dies war eine neue Formulierung des hermetischen Prinzips der Analogie und Korrespondenz im Hinblick auf die rasant wachsende empirische Naturforschung im 17. Jahrhundert. Comenius selbst erforschte unermüdlich Sprachen, Unterrichtsmethoden und die Naturgeschichte. 1614 kehrte er nach Böhmen zurück und begann seine erste Enzyklopädie der Pansophie zu schreiben. Nach der Niederlage des Pfalzgrafen und des Protestantismus im Jahr 1620 wurde er von den Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges heimgesucht. Die Böhmischen Brüder wurden erbarmungslos verfolgt, Comenius verlor seine Familie, sein Haus und seine Bibliothek. Er fand Zuflucht auf dem Landgut eines Protestanten in Brandys und hier verfasste er sein mystisches Buch »Das Labyrinth der Welt und das Paradies des Herzens«, in dem er die Begeisterung und die Hoffnungen beschreibt, welche die Lektüre der Fama 1612 in ihm hervorrief. Comenius fühlte sich von den Ideen Andreaes stark angezogen, korrespondierte mit diesem 1628 über seine Ideen zur Vereinigung der Christen und über seine Pläne, Gesellschaften ins Leben zu rufen, die Nachfolger der fiktiven Rosenkreuzerbruderschaft hätten werden können. Andreae bat Comenius um Unterstützung bei der Verwirklichung seiner rosenkreuzerischen Reformideen.

An Andreaes christlichen Gesellschaften waren zwei weitere Männer interessiert, deren Aktivitäten sich auf die Gründung philantropischer Gemeinschaften konzentrierten, die sich der Erziehung im Dienste einer universellen Reform, der Förderung der Bildung und utopischer Ideen widmeten. Samuel Hartlib (ca. 1600-1662) lebte zuerst im polnischen Elbing, wo er mit einer utopischen Bruderschaft namens »Antilia« verbunden war, die an der Küste des baltischen Meeres begründet werden sollte. Hier begegnete er John Dury (1596-1680), einem Schotten, der sich sehr für solche Projekte interessierte und Beziehungen zum Pfalzgrafen unterhielt. 1628, nach der katholischen Eroberung Elbings und dem Scheitern der Gemeinschaft Antilia, siedelte Hartlib nach England über und eröffnete in Chichester eine Schule mit Flüchtlingen aus Polen, Böhmen und der Pfalzgrafschaft. Inzwischen hatte Comenius, der aus seinem Heimatland vertrieben worden war, eine Exilgemeinde der böhmischen Brüder in Polen gegründet. 1640 wandte sich Hartlib mit seinen utopischen Plänen für einen neuen Commonwealth und die Förderung der Bildung an das englische Parlament und bedrängte Comenius, nach England zu kommen, um ihn bei seiner Arbeit zu unterstützen. Comenius kam 1641 nach London, im selben Jahr, als Hartlib seine Utopie »Macaria« veröffentlichte und Dury ein vergleichbares Buch über die Verbesserung der Bildung und die Einigung der Protestanten. Comenius schrieb sein Buch »Der Pfad des Lichtes«, in dem er – inspiriert von der evangelischen und pansophischen Frömmigkeit der rosenkreuzerischen Manifeste – das baconsche Ideal des Erkenntnisfortschritts feierte. Zu dieser Zeit hoffte das Parlament auf eine Aussöhnung mit dem König, die zu einer neuen Ära repräsentativer Herrschaft führen sollte. Flüchtlingen vom Festland schien England die Aussicht auf die Erfüllung einer Hoffnung zu bieten, die vom 30jährigen Krieg zerstört worden waren, der Hoffnung, die fortschreitende Aufklärung oder Erleuchtung lasse sich doch noch verwirklichen. Aber 1642 begann der englische Bürgerkrieg und Comenius und Dury verließen die Insel, um anderswo zu wirken.

Es ist möglich, die ersten Keime der Royal Society auf den Einfluss von Comenius, Dury und Hartlib und ihren pansophischen Impuls zur Förderung der Aufklärung und ihre Ideen für reformerische Gesellschaften zurückzuführen. Die Royal Society entstand aus Treffen, die 1645 am Gresham College in Bishopgate, London abgehalten wurden, an denen John Wilkins und Theodore Haak teilnahmen, die beide enge Beziehungen zum Pfalzgrafen unterhielten. Wilkins war Beichtvater von Mitgliedern der Familie des Pfalzgrafen, Autor eines Buches, das auf Ideen von John Dee und Robert Fludd beruhte und mit der Literatur der Rosenkreuzer vertraut; Haak hatte Comenius in England willkommen geheißen. Robert Boyle, der berühmte Chemiker und Korrespondent von Hartlib, erwähnt in seinen Briefen von 1646-1647 ein »unsichtbares Kollegium«. Die folgenden Treffen zwischen 1648 und 1659 fanden in den Räumen von Wilkins im Wadham College Oxford statt. Thomas Vaughan (1622-1665) der die rosenkreuzerischen Manifeste ins Englische übersetzt hatte, kehrte 1649 nach Oxford zurück. Später wandte sich Vaughan in London zusammen mit Sir Robert Moray (1608-1673) alchymischen Forschungen und Experimenten zu. Moray war 1641 in eine Freimaurerloge aufgenommen worden, erlangte nach der Restauration ein hohes Amt und wurde vom König, der seine wissenschaftlichen Interessen teilte, mit einem Laboratorium ausgestattet. Moray war der wichtigste Vermittler zwischen dem König und der Royal Society. Diese frühen Gründungsmitglieder, zu denen Ashmole, Moray und Isaac Newton mit seinen alchymischen Interessen gehörten, repräsentierten die ursprüngliche rosenkreuzerische Strömung mit ihren apokalyptischen Erwartungen und Reformhoffnungen, die über Hartlib, Dury und Comenius von Andreae herkam, die aber bald von den exoterischen, empirischen Interessen einer Wissenschaft verdrängt wurde, die sich vor allem mit Manufaktur, Navigation und Technologie befasste.

Die Rosenkreuzertradition ab dem 18. Jahrhundert

Während des 18. Jahrhunderts wurde das Rosenkreuzertum nahezu mit der Alchemie gleichgesetzt und trat auf dem Kontinent mit Sicherheit in Wechselwirkung mit der wachsenden freimaurerischen Bewegung. 1710 verknüpfte Sincerus Renatus die Herstellung des Steines der Weisen und das Versprechen auf Verlängerung des Lebens mit einem geheimen Rosenkreuzerorden, der über Initiationen, Eide und Erkennungszeichen verfüge. Diese Idee nahm später Gestalt in der tatsächlichen Verbindung von Freimaurerei und Rosenkreuzertum an. Während die englische Maurerei 1717 eine Großloge als zentrale Autorität etablierte, führte die unkontrollierte Ausbreitung von Hochgraden in Frankreich, Deutschland und Österreich dazu, dass alle möglichen exotischen Motive hinzukamen, unter anderem die Schottische Maurerei, die Templer und die Rosenkreuzer. 1747 oder 1757 wurde der »Orden der Gold- und Rosenkreuzer« begründet, dessen Geschichte und Ideen in den Pietismus und die theosophische, kabbalistische und alchymische Subkultur Deutschlands zurückführen. Ein Dokument des Ordens aus dem Jahr 1767 beschreibt neun Rosenkreuzer-Grade, die dem kabbalistischen Weg durch den Baum des Lebens entsprechen. Jeder dieser Grade prüfte durch seine Rituale das Vorhandensein hermetischer Weisheit und die Umwandlung des Initiierten durch eine esoterische religiöse Erfahrung. Diese Grade wurden später in einem polemischen Werk mit dem Titel »Der Rosenkreuzer in seiner Blöße« (1781) beschrieben, das ein gewisser Magister Pianco (Hans Heinrich von Ecker und Eckhoffen) veröffentlichte, der den Orden verleumdete, indem er ihm eine Verbindung zu den Jesuiten unterstellte. Durch die Aufnahme dieser Grade in die »Royal Masonic Cyclopedia« (1877) fanden sie Eingang in die rituelle Magie des 20. Jahrhunderts.

Die sensationalistische und romantische Gothic-Literatur – die ihrerseits eine Reaktion auf das Leben und Denken des 18. Jahrhunderts war – trug ebenfalls zum geheimnisvollen Kult der Rosenkreuzer bei. Die Erzählungen von William Godwin, Percy und Mary Shelley, Charles Maturin und Sir Edward Bulwer-Lytton arbeiteten auf unterschiedliche Weise die Motive eines geheimen unsichtbaren Ordens aus, dessen Adepten mit Hilfe eines Lebenselixiers Unsterblichkeit erlangt hatten. Als weitere Hinterlassenschaft der alchymischen Deutung des 18. Jahrhunderts, förderte dieses Bild der Rosenkreuzer die Wiederbelebung der okkulten Wissenschaften im 19. Jahrhundert.

Seit seinen Ursprüngen in Andreaes Chymischer Hochzeit und seinem Tübinger Freundeskreis, der Pansophie mit Endzeiterwartung verband, wirkte das Rosenkreuzertum als Strömung spezifisch christlicher Symbolik in der esoterischen Tradition. Die von Michael Maier unterstellten Wurzeln des Rosenkreuzertums im alten Ägypten, in den eleusinischen Mysterien, dem Pythagoräismus, der Gnosis und der Hermetik, der Renaissance-Alchemie und der Kabbala haben dafür gesorgt, dass es unter den Gründern moderner esoterischer Gesellschaft immer wieder auftauchte. Beispiele dafür sind der »Hermetische Orden der Goldenen Dämmerung«, der 1887 in England gegründet wurde, die weitschweifigen Werke des Afro-Amerikaners Pascal Beverley Randolph (1825-1875) und der immer noch gedeihende »Ancient and Mystical Order Rosae Crucis« (AMORC) in San Jose, Kalifornien, der von H. Spencer Lewis (1883-1939) gegründet wurde. Die Theosophische Gesellschaft, die 1875 von H.P. Blavatsky (1831-1891) mitbegründet wurde, schöpfte aus der geheimen Bruderschaft eine gewisse Inspiration und manche ihrer Nachfolgegesellschaften identifizierten sich stark mit dem Rosenkreuzertum. So finden sich in den Werken Rudolf Steiners (1861-1925), der die Theosophie in die christliche Bewegung der Anthroposophie umwandelte, zahlreiche Bezugnahmen auf Christian Rosenkreuz. Steiner wiederum inspirierte Max Heindel (1865-1919), der in Kalifornien 1909 die Bruderschaft der Rosenkreuzer begründete und Steiners Werke plagiierte. Ihr Abkömmling, das »Lectorium Rosicrucianum«, das in seinen Lehren eher gnostisch als hermetisch ist, wurde 1935 in den Niederlanden ins Leben gerufen und ist heute eine weltweit verbreitete Organisation. Das Rosenkreuzertum behauptet, es gebe unsichtbare Adepten, die unter den Uneingeweihten wirken. Es hat damit einen mächtigen sozialen Mythos geschaffen, nach dem innerhalb der exoterischen Gesellschaft immer noch eine geheime Opposition am Werk ist. Die geheime Bruderschaft der Rosenkreuzer, die heute als »unbekannte maurerische Obere« oder in der New Age-Bewegung als »große weiße Bruderschaft« bezeichnet wird, stellt insofern eine mächtige und fortdauernde esoterische Herausforderung des Säkularismus und der Moderne dar.

Hochgradmaurerei und Illuminismus im 18. Jahrhundert

Wenn das Rosenkreuzertum den Mythos einer geheimen Gesellschaft schuf, in der die hermetischen Wissenschaften gepflegt wurden, dann stellte die Freimaurerei das Instrument für die historische Übermittlung theosophischer und alchymischer Traditionen dar. Die Meinungen sind geteilt, ob die Maurerei von Anfang an esoterisch war oder erst später zu ihren esoterischen Themen kam. Goodrick-Clarke neigt der letzteren Auffassung zu.

Die exoterischen traditionellen Erzählungen jedenfalls führen die Maurerei auf mittelalterliche Gilden freier Handwerker zurück, welche die großen europäischen Kathedralen errichteten. Da ihre Tätigkeit – untypisch für die sesshafte mittelalterliche Gesellschaft – stets zeitlich begrenzt war, schufen die Gilden ein hilfreiches Netzwerk von Logen an den Orten, wo gebaut wurde. Moderne Erzählungen führen diese lineare Herkunft der Maurerei aus »operativen« Logen als Beispiel für die Entstehung bekenntnisfreier sozialer Gemeinschaften an, die sich in der frühen Moderne bildeten. Irgendwann im 17. Jahrhundert schlossen sich Angehörige der Mittelklasse und Händler existierenden »operativen« Logen an oder begannen, neue, »spekulative« Logen zu gründen, um in ihnen zusammen Feste zu feiern, philosophische Diskussionen zu führen und eine besondere Form ritueller Aktivitäten zu entwickeln, die auf der Bibel und den Symbolen des Maurerhandwerks fußten. Daher die kryptische Bezeichnung der Freimaurerei als »Handwerk«, »craft«. Manche Theorien zur Entstehung der Maurerei, die sie in enge Beziehung zur Geschichte der Esoterik setzen, suchen ihre Ursprünge in hermetischen Traditionen und dem Rosenkreuzertum, in Schottland oder im Orden der Tempelritter. Diese Legenden über mittelalterliche Ursprünge oder Anfänge in der Renaissance können gewisse historische Tatsachen zu ihren Gunsten ins Feld führen, aber ihr Hauptziel liegt in der Konstruktion von Mythen über die Maurerei, die letztlich alle im 18. Jahrhundert entstanden sind und die jeweiligen esoterischen Allianzen ihrer Schöpfer widerspiegeln.

Traditionell wird die spekulative Maurerei mit der Gründung der Londoner Großloge 1717 in Verbindung gebracht, die vier bereits bestehende Logen in sich vereinigte. James Anderson veröffentlichte 1723 die erste »Konstitution«. Bereits diese enthielt einen Abriss der Geschichte der englischen Maurerei und eine Beschreibung ihrer Beziehung zu Gott und zur Religion. Die »Konstitution« lieferte eine weitgehend legendenhafte Geschichte des Maurerhandwerks, die von Adam bis zur Gründung der Großloge in London reichte. Wie John Hamill bemerkte, handelte es sich bei dieser Geschichte um eine »Apologie, die aus Legende, Volksüberlieferung und Tradition« bestand, um einer relativen jungen Institution eine ehrwürdige Abkunft zu bescheinigen. In der Fassung der »Konstitution« von 1738 trug Anderson eine weitaus detailliertere Geschichte vor. Nunmehr verfügte die Maurerei über eine ungebrochene Tradition, die frühmittelalterliche englische Könige und andere ehrwürdige Figuren einschloss, und sie war keine neue Organisation, sondern belebte eine alte Einrichtung wieder, die wegen der Nachlässigkeit ihres Großmeisters, Sir Christopher Wren, erst kürzlich in den Niedergang geraten sei. Nach diesen Erzählungen wurde die Maurerei in England formalisiert, ursprünglich als System von zwei Graden, zu denen später der Meistergrad hinzugefügt worden war. Das System der drei Grade (Lehrling, Geselle und Meister) entwickelte sich binnen kurzem zum Markenzeichen jener Maurerei, die unter der Leitung der Vereinigten Großloge in London stand. In dieser ursprünglichen Form war die Maurerei nicht esoterisch, aber ihre Verbreitung auf dem Kontinent und die Ausarbeitung von Hochgraden führte zu weitläufigen Verflechtungen mit esoterischen Strömungen und Inhalten.

»Schottische« und ritterliche Maurerei

Die Einführung der Maurerei in Frankreich stellt den ersten Streitpunkt in einem englisch-schottischen Disput über die Ursprünge und Umstände der Ausarbeitung der Ritter- und Hochgrade dar. Nach der Absetzung der Stuart-Dynastie 1688 flüchteten König Jakob II., viele Angehörige des schottischen Hochadels und königstreue Ritter nach Frankreich. Zur Unterstützung ihres Thronanspruchs sammelten der Prätendent und seine Nachfolger jakobitische (nicht jakobinische!) Kreise um sich, die sich zu einer Brutstätte der Verschwörung und Intrige entwickelten. Die Freimaurerei etablierte sich zwischen 1725 und 1730 formell als englischer Import in Frankreich. Sie fand unter den französischen Gebildeten großen Zuspruch, der sich teilweise einem modischen Interesse an englischen Institutionen verdankte. Auch wenn die Pariser Großloge die französische Maurerei in den 1730er Jahren dominierte, begannen sich exotischere Formen in ganz Frankreich auszubreiten, die von Höflingen entwickelt wurden, welche Begriffe wie »chevalier«, »chevalerie« und »chapitre« (Ritter, Rittertum, Kapitel) benutzten.

Das wiederkehrende Thema der frühen französischen Maurerei ist das eines jakobitischen Einflusses. Die Behauptung, die Maurerei sei durch schottische Jakobiten nach Frankreich gelangt, ließ die Idee entstehen, es habe eine ältere Tradition und Abstammungslinie gegeben, die im Gegensatz zu einer späteren stand, die aus der Londoner Großloge hervorging. Während der exilierte Hof der Stuarts in Paris eine Prozession von Lords und Rittern bot, förderten neue Moden und Vorlieben der Gegenaufklärung eine Verbindung der Freimaurerei in Frankreich und Deutschland mit neumittelalterlichen, ritterlichen und christlichen Motiven.

Schlüsselfigur dieser ritterlichen und mystischen »schottischen« Maurerei (die in Wahrheit in Frankreich entstand) war Andrew Michael Ramsay (1686-1743). Der gebürtige Schotte besuchte die Universität von Edinburgh und arbeitete in London, wo er sich den Philadelphiern unter Jane Leade anschloss, einer Gemeinschaft von Anhängern der Theosophie Jacob Boehmes. Später ging er nach Frankreich, wo er bei François Fénelon (1651-1715), dem französischen Philosophen und Erzbischof von Cambrai studierte, der die Jansenisten und die quietistische Mystikerin Madame Guyon verteidigte. Im Jahr 1720 hatte sich Ramsay der jakobitischen Sache angeschlossen und unterrichtete für kurze Zeit Charles Edward Stuart, den jungen englischen Thron-Prätendenten.

Am 26. Dezember 1736 hielt Ramsay eine berühmte Rede, in der er die Herkunft der Freimaurerei und ihre internationale Verbreitung zu den Kreuzzügen in Beziehung setzte. Ramsays neue Legende besagte, der traditionelle maurerische Zugang zur alten Weisheit, der zum Teil auf die Bibel zurückgehe, aber auch auf die ägyptischen und griechischen Mysterien, sei durch die christlichen Kreuzritter einer Reform unterzogen worden. Um diese historische Legende zu vervollständigen, konstruierte Ramsay eine Geschichte der Logen während des Mittelalters. Könige und Prinzen gründeten Logen, als sie von ihren Kreuzzügen zurückkehrten, aber diese starben aus, mit Ausnahme jener Logen, die sich in Schottland und England befanden. Er betonte die englische Herkunft der Maurerei, behauptete jedoch, sie kehre in ihre französische Heimat, das katholische Königreich der Kreuzfahrer, lediglich zurück.

Da Andersons Konstitutionen die Maurerei in England de facto entchristianisiert hatten, war die durch Ramsay erneuerte, christliche Maurerei in Frankreich höchst anziehend. Ramsay förderte die Tradition der »schottischen« Maurerei in Frankreich, indem er das höhere Alter der schottischen Logen betonte und auf die Rolle der Schotten nach den Kreuzzügen hinwies. Ramsays Einfluss war so groß, dass die Berufung auf legendäre schottische Ursprünge unter Maurern geradezu zu einer Manie wurde.

Während die drei ursprünglichen Grade der Werkmaurerei als das Erbe der operativen Maurer betrachtet wurden, führte Ramsays Behauptung, es habe ritterliche Maurer gegeben, in der französischen Maurerei zur Einführung der »Hochgrade«. Diese hielt man den drei Graden der weltlichen Werkmaurerei für überlegen, sie wurden mit Titeln ausgestattet, die auf Schottland, das Rittertum und die Kreuzzüge Bezug nahmen und ihre Inhaber sollten sich im Besitz eines esoterischen Wissens befinden. In den ritterlichen Logen Frankreichs, die als Kapitel, Direktorien oder Perfektionslogen bezeichnet wurden, verbreitete sich diese Form der »schottischen« Maurerei (»Maçonnerie écossaise«) schnell. Bereits 1750 existierten schottische Logen in Bordeaux, Arras, Toulouse, Lille und Marseille.

Es lässt sich unschwer erkennen, dass die ritterliche Maurerei an Begriffe der Hierarchie und sozialen Ordnung appellierte und dadurch das »ancien régime« wiederspiegelte. Auch wenn die maurerische Bruderschaft der Gleichgestellten Gemeinen und Adligen erlaubte, sich auf der gleichen Ebene zu begegnen, ermöglichte die Einführung der Hochgrade die teilweise Wiederherstellung des Klassenbewusstseins in der Loge.  Adlige konnten in der Loge ihren höheren Status bewahren, und manche Bürgerlichen konnten ihren Wunsch nach einem adligen Status durch den Kauf von Hochgraden befriedigen.

Deutsche Templermaurerei

Während die schottische Maurerei sich Mitte des 18. Jahrhunderts in Frankreich ausbreitete, gewann sie auch in Deutschland und Skandinavien Anhänger. In Deutschland nahm die ritterliche Maurerei Ramsays erstmals die Templerform an. Deutschlands kleine absolutistische Staaten mit ihrem Rang- und Standesbewusstsein verlangten nach einer maurerischen Tradition, die mit ihren konservativen und neumittelalterlichen Neigungen vereinbar war. Der erste Ritus, der praktiziert wurde, verdankte seine Entstehung einem französischen Adligen, dem Grafen Gabriel de Lernay, einem Offizier, der während des siebenjährigen Krieges in Gefangenschaft geraten war. Zusammen mit zwei Deutschen – Baron von Printzen, einem Maurer, der Meister der Loge der drei Weltkugeln in Berlin war und Philipp Samuel Rosa, einem enttäuschten früheren Pastor – gründete er 1758 eine Militärloge in Berlin. Ihr System, das Kapitel von Clermont, bestand aus vier höheren Graden: dem Schottischen Meister, dem Erwählten Meister oder Ritter des Adlers, dem Erhabenen Ritter oder Templer und dem Sublimen Ritter oder Ritter Gottes. Rosa steuerte eine legendäre Geschichte des Ordens und eine Erzählung von ihren weitreichenden Gesandtschaften in Asien und Europa bei. Diese komplizierte Geschichte begann bei Gottes Bündnis mit seinen Auserwählten nach Adams Fall, verlief über den Orden der Noachiten, Nimrod, die Zerstreuung der Brüder seit Babel, die Herrschaft Salomos, die Dekadenz unter Herodes, die Wiederbelebung durch Christus und die spätere Unterstützung durch Kaiser Konstantin in Jerusalem. Zur Zeit der sarazenischen Eroberung verließen die Brüder Jerusalem, um mit den Kreuzrittern zurückzukehren und zu dieser Zeit wurden sie unter Hugo von Payens als Templerorden bekannt.

Die erfolgreichste Form der Templermaurerei war jedoch der »Orden der Strikten Observanz«, der von Karl Gotthelf von Hund (1722-1776) begründet wurde. Hund trug den erblichen Titel eines Herrn von Lipse in der Oberen Lausitz und war ein reicher Landeigentümer in Kursachsen. Nachdem er an der Universität Leipzig studiert und Europa bereist hatte, wurde er Kämmerer des Kurfürsten von Köln und nahm an der Wahl Kaiser Karl VII. in Frankfurt teil, wo er auch in eine Loge aufgenommen wurde. Von Dezember 1742 bis September 1743 weilte er in Paris, wo er verschiedene Logen besuchte. Hund sprach später von einer Initiation in die jakobitische Maurerei in Paris im Jahr 1742 durch einen »unbekannten Oberen«, von dem er glaubte, es handle sich um den englischen Thronprätendenten. Sechs Jahre nach seiner Rückkehr gründete Hund auf seinem Gut in Unwürde zusammen mit der benachbarten Loge der drei Hämmer von Naumburg die »Loge der drei Säulen«. Die beiden Logen bildeten einen »Orient oder inneren Orden«, der auf der jakobitischen Templerlegende fußte.

Zwischen 1751 und 1755 bezeichneten Hund und seine Verbündeten ihr System als »rektifizierte Maurerei« und führten es auf den ursprünglichen Templerorden zurück. Ihr »Rotes Buch« enthielt ursprünglich sechs Grade, und die wiederbelebte Institution bezeichnete sich als VII. Provinz, nach einer Festlegung des Großmeisters Sylvester von Grumbach im Jahr 1301, der damit die Templergebiete an der Elbe und Oder bezeichnete. Die Terminologie, Rituale und Embleme der symbolischen Grade wurden an die Templertradition angepasst. Die Geschichte rekapitulierte die Schicksale der Templer und fügte einen Überlebensmythos hinzu.

Nach der Exekution des letzten Großmeisters, Jacques de Molay, am 11. März 1313, wurde die Sukzession durch die Flucht zahlreicher Templer in nördliche Länder sichergestellt, zu denen Schweden, Norwegen, Irland und Schottland gehörten. Als Maurer verkleidet, flüchteten Pierre d'Aumont (der Provinzialmeister der Auvergne), Sylvester von Gumbach (Wildgraf von Salm) und sieben Ritter zusammen nach Schottland. Die Flüchtlinge übernahmen die Namen, die Kleidung und Gebräuche der Freimaurer und ihre geheime Geschichte verfügte über 21 Großmeister, die bis in die Gegenwart reichten.

Hunds Ritus der Strikten Observanz gedieh prächtig. 1768 gehörten ihm bereits um die vierzig Logen an. Fest etabliert in Schlesien und Sachsen, war er mit Logen in ganz Norddeutschland verbunden, besonders in den großen Städten Berlin, Hamburg, Bremen und Stettin. Er breitete sich im Rheinland aus und gründete Niederlassungen in Kopenhagen, Wien, Prag, Warschau, sogar in Ungarn und der Schweiz. Die neuen Templer wurden nicht nur von der sozialen Exklusivität einer adligen Maurerei angezogen, sondern auch von ihrem Versprechen theosophischer Erkenntnis und alchymischer Geheimnisse. Aber der Strikten Observanz erstand im deutschen Pastor Johann August Starck (1741-1816) ein Rivale, der in Paris in eine Reihe schottischer Grade aufgenommen worden war. Sich auf geheime Leiter in St. Petersburg berufend, behauptete Starcks System eine direkte Herkunft nicht von den Tempelrittern, sondern von den Klerikern dieses Ordens, den wahren Hütern seiner Geheimnisse und alchymischen Lehre. Die Strikte Observanz breitete sich weiter aus, erreichte Frankreich, England, Schweden, Ungarn, Italien und Russland. Hinsichtlich ihrer Hierarchie waren Prinzen und Hochadlige die Leiter der Strikten Observanz; hinsichtlich ihrer Kultur aber hatten Starcks Ideen den Orden zur Hermetik und Esoterik zurückgeführt. Starck und seine Anhänger spalteten sich beim Konvent von Wolfenbüttel 1777 ab und der Konvent von Wilhelmsbad 1782 ließ die Tradition der Templer zugunsten des Rektifizierten Schottischen Ritus und der Chevaliers Bienfaisants de la Cité Sainte hinter sich, die den martinistischen Einfluss repräsentierten, der mit Jean-Baptiste Willermoz aus Lyon verbunden war.

Gegenaufklärung: Theosophische Splittergruppen und Illuministische Gesellschaften

Das gewaltige Wachstum geheimer Gesellschaften, die in Deutschland und Frankreich operierten, relativiert das Bild des 18. Jahrhunderts als einer Zeit des trockenen Rationalismus und Säkularismus, eines Zeitalters der Vernunft, das von der Aufklärung dominiert gewesen sei. Historiker, welche die Verbreitung des Pietismus, der Hochgradmaurerei und des Neu-Rosenkreuzertums zu dieser Zeit in Deutschland untersucht haben, neigen im allgemeinen dazu, die beiden letzteren als »Gegenaufklärung« zu bezeichnen, als nostalgische, traditionalistische, ja sogar repressive Gegenbewegung zur Aufklärung.

Isaiah Berlin prägte den Begriff der »Gegenaufklärung« (»Counter-Enlightenment«), um Gedankenströmungen zu beschreiben, die mit solchen Denkern wie Giambattista Vico, Johann Georg Hamann und Johann Gottfried Herder verbunden waren, welche sich den rationalistischen und liberalen Idealen der Aufklärung entgegenstellten.

John Roberts hat den Aufstieg der geheimen Gesellschaften vor dem Hintergrund dreier Strömungen des Denkens im 18. Jahrhundert beschrieben. Die erste war die Aufklärung, charakterisiert durch eine rationalisierende, verweltlichende Tendenz, und eine Anwaltschaft für neue Formen des Denkens und der Analyse, die sie höher wertete, als Tradition und Autorität. Die zweite war ein neuer politischer Trend, der oft als aufgeklärter Despotismus bezeichnet wird, in dem ein absolutistischer Staat die Gebräuche, gesetzlichen Privilegien und kirchlichen Immunitäten utilitaristisch und rationalistisch im Interesse einer effizienten Verwaltung und staatlicher Macht herausforderte. Diese Eingriffe forderten oft den Widerstand konservativer und populärer Kräfte heraus, die bei jenen Formen der Maurerei Unterstützung fanden, die den altehrwürdigen Adel oder eine ununterbrochene Weisheitstradition betonten. Roberts behauptet, eine dritte Tendenz, der zunehmende Irrationalismus, sei mit dieser Reaktion gegen den praktisch reformierenden Rationalismus und die Aufklärung eng verbunden gewesen. Sie habe ihren Ausdruck in einer Neubewertung gefühlsmäßiger, intuitiver und spiritueller Erfahrungen gefunden. Ihre Erscheinungsformen waren vielfältig und reichten von der Wiederentdeckung mittelalterlicher Motive (Rittertum, Balladen, gotische Architektur), dem vorromantischen Interesse an alter Volksdichtung und Bräuchen bis zu einer Gothic-Literatur, die das Sublime, den Schrecken und das Übernatürliche kultivierte. Es gab auch Kontinuitäten, welche die hermetische Tradition, die Verbreitung der Boehmeschen Theosophie, den Pietismus, die Alchemie und das Rosenkreuzertum einschlossen. Neben der Aufklärung blühte eine breite Gegenkultur von Gruppierungen und geheimen Gesellschaften, die sich diesen Interessen widmeten.

Diese Gesellschaften waren in ihren Ideen und Praktiken offen esoterisch und entwickelten eine symbiotische Beziehung zu Maurerlogen, deren Mitglieder ihrerseits in den Mythen ihrer legendären Ursprünge und hermetischen Lehren schwelgten. Nachdem die kontinentale Maurerei erst einmal diese esoterischen Ideen in sich aufgenommen hatte, spiegelten ihre Hochgrade meist ritterliche, theosophische, rosenkreuzerische und alchymische Ideen wieder. Die Hochgradmaurerei wirkte direkt mit diesen Gruppierungen und geheimen Gesellschaften zusammen, die sich den Mysterien, der Theosophie und der esoterischen Tradition widmeten – und auf diesem Wege entstand eine Art maurerischer Theosophie. Hochgradmaurer, die bereits von Initiationen und Geheimnissen beeindruckt waren, waren auch für höhere Geheimnisse empfänglich, während die genannten Gruppierungen die Freimaurerei als eine verwandte Strömung betrachteten, die dieselbe Inspiration, Symbolik und Neigung zu einer hierarchischen Ordnung teilte. Diese Wechselwirkung zwischen Hochgradmaurerei und theosophischen Gruppierungen zeigt sich deutlich an Martinès de Pasqually, Jean-Baptiste Willermoz, dem Grafen Alessandro Cagliostro und der Freimaurerei Swedenborgs.

Martinès de Pasqually und die Auserwählten Cohens

Mit der Hochgradmaurerei in Frankreich wirkte eine Vielfalt esoterischer Gruppierungen zusammen, die sich mit Theosophie, Magie und Mystik beschäftigten. Die Strömung, die unter dem Namen Martinismus bekannt ist, von Martinès de Pasqually begründet, von Louis-Claude de Saint-Martin fortgesetzt und im Zusammenhang der Hochgradmaurerei von Jean-Baptiste de Willermoz vertreten wurde, stellt ein herausragendes Beispiel der masonischen Theosophie im 18. Jahrhundert dar.

Martinès de Pasqually (1709-1774) war ein spanischer Jude, der sich zum Katholizismus bekehrt hatte oder in einer semi-marranischen, katholischen Familie aufgewachsen war. Sein erstes Experiment mit der Hochgradmaurerei war das »Kapitel der Schottischen Richter« (»Chapître des Juges Ecossais«), das er 1754 in Montpellier gründete. 1762 zog er nach Bordeaux, wo er um 1766 sein eigenes System schuf, den »Orden der Ritter-Maurer der Auserwählten Cohens des Universums« (»Ordre des Chevaliers Maçons Elus Coëns de l'Univers«). Martinès de Pasqually behauptete, er besitze okkulte Kräfte und schuf einen Ritus mit sakramentalem Charakter. Sein ritterlicher Orden lud »Menschen mit Ansprüchen« ein, an der Ausübung einer göttlichen Religion und eines theurgischen Ritus teilzunehmen, der Anrufungen (sogenannte »Operationen«) einschloss, die manchmal zu göttlichen Manifestationen führten, die von höheren Ebenen kamen. Diese Prozedur zielte darauf ab, mit Hilfe ritueller Magie einen Austausch mit unsichtbaren Intelligenzen herbeizuführen. Sie fußte auf der Idee, dass der Mensch und alle beseelten Wesen durch bestimmte Praktiken in den Zustand vor dem Sündenfall zurückgeführt werden könnten.

Pasqually arbeitete seine Lehre in einer »Abhandlung über die Reintegration der Wesen in ihren ursprünglichen Zustand« aus («Traité sur la réintegration des ȇtres dans leur première propriété, vertu et puissance spirituelle divine«, etwa 1771), einer höchst komplexen Form jüdisch-christlicher Theosophie und Gnosis mit einem Hauch Kabbala, die auf der Vorstellung gründet, dass der Ewige unablässig eine Hierarchie spiritueller Wesen erzeugt, die eine »göttliche Fülle« oder einen »göttlichen Hof« bilden. Diese göttliche Fülle war vollkommen, aber ein Fall trat ein, weil rebellische Geister sich aufbäumten, die ebenso zu ersten Ursachen werden wollten, wie der Ewige, statt sich mit ihrem zweiten Rang zufrieden zu geben. Dies führte zu einer Katastrophe, denn der Ewige bestimmte die ihm getreuen drittrangigen Geister dazu, die zeitliche, stoffliche Welt zu schaffen, in der die rebellischen Geister eingesperrt werden sollten. Während zehn Geister in der göttlichen Fülle verblieben, wurden andere dazu abgeordnet, in den drei Abteilungen des geschaffenen Universums – der überhimmlischen, der planetarischen und der irdischen Welt – tätig zu sein. Diese Emanzipation der Geister (wie Pasqually sie nennt) in den Stoff und die Zeit veranlasste den Ewigen dazu, einen neuen, viertrangigen Geist zu schaffen – den Menschen, eine Emanation, die unmittelbar aus dem Ewigen hervorging und nicht aus irgendeiner untergeordneten materiellen Ursache. Der Mensch wurde zum Objekt einer doppelten Emanzipation: er emanierte in die überhimmlische und in die planetarische Welt, und als dieses überhimmlisch-himmlische Wesen trug er den Namen Adam oder Réau. Seinem freien Willen überlassen, rebellierte Adam nach dem Vorbild der pervertierten Geister, woraufhin er sich selbst als Gefangener der materiellen Welt vorfand.

Martinès de Pasquallys Gnosis zielte darauf ab, die Menschheit aus diesem Zustand der Trennung von Gott zu erlösen. Sein Kult praktizierte eine Art Theurgie, die versuchte, die göttlichen Energien des Menschen zu aktivieren. Der Wille war die einzige göttliche Kraft, welche die Menschen in ihren gefallenen Zustand hinüber gerettet hatten und diesen mussten sie entwickeln, damit sie sich aus der Versklavung durch die rebellischen Geister befreien konnten.

Der Orden der Erwählten Cohens bestand aus zehn Graden, durch welche dieses Ziel erreicht werden sollte. Die drei ersten Grade entsprachen den drei regulären masonischen Stufen des Lehrlings, Gesellen und Meisters. Sie waren profane Grade außerhalb des Tempels und nur Meistermaurer konnten zu den sieben höheren Cohen-Graden vordringen. Diese waren:

4. ein Übergangsgrad, der »Erwählte Meister« oder »Perfekte Erwählte Meister«,
5. die Klasse der Vorhalle, bestehend aus dem »Lehrling-Cohen«, dem »Gesellen-Cohen« und dem »Meister-Cohen«,
6. die Tempelklasse aus dem »Großmeister des Tempels« oder »Ritter des Ostens«,
7. und dem »Réau-Croix« (»Kreuz-Adam«).

Da es sich um einen priesterlichen Orden handelte, stellten die Aufnahmen in die einzelnen Grade »Weihen« und keine maurerischen »Initiationen« dar. Die theurgisch angerufenen Geister erfüllten den Kandidaten mit der spirituellen Realität seines Weihegrades. Durch sie wurde der Cohen befähigt, mit einem der Auserwählten des Ewigen zu kommunizieren, zu denen Adam, Abraham, Moses, Zorababel oder Jesus Christus gehörten, die jeweils über jenen Kreis der göttlichen Fülle herrschten, zu dem der Kandidat zugelassen wurde. Der jeweilige Auserwählte wurde durch die Vermittlung von Engeln bei der zeremoniellen Handlung mit dem Cohen verbunden. Dieses Zusammenwirken erklärt die sogenannten »Pässe« oder »leuchtenden Zeichen«, die manchmal den Auserwählten Cohens während der Zeremonien erschienen. Eine Sammlung von rund 2400 Diagrammen und ebenso vielen hebräischen Namen von Engeln versetzte den Zelebranten in die Lage, die wirkenden Engel aufgrund der Zeichen, die ihnen entsprachen, zu identifizieren. Von Mitgliedern des Ordens wurden regelmäßige Gebete erwartet. Außerdem mussten sie Diäten einhalten und Fasten, sowie andere Formen der moralischen und geistigen Askese praktizieren.

Louis-Claude de Saint-Martin

Martinès betrieb seinen Orden in Bordeaux von 1767 bis 1772. Die Mitglieder kamen hauptsächlich aus den Offiziersrängen der Regimente, die in der Stadt stationiert waren. Während der Blüte des Ordens gehörten ihm ein Dutzend Tempel mit einigen hundert Mitgliedern an.

Louis-Claude de Saint-Martin (1743-1803) wurde in eine fromme Familie niederen Adels geboren. Nach einem Jurastudium und kurzer anwaltlicher Praxis begann er eine militärische Laufbahn. Im Herbst 1768 wurde er in den Orden der Auserwählten Cohen eingeführt und erklomm schnell die aufeinanderfolgenden Grade. Von 1768 bis 1771 arbeitete er als Sekretär von Pasqually und erwarb intime Kenntnisse der Ordenspraktiken. Seine Pflichten brachten ihn mit Jean-Baptiste de Willermoz, dem Leiter der Loge in Lyon zusammen. 1771 gab er seine militärische Laufbahn auf, um sich dem Studium und der Verbreitung der Theosophie zu widmen. Sein erstes Buch »Des erreurs et de la vérité« (»Von den Irrtümern und der Wahrheit, 1775), entwickelt ein theosophisches System, das die Ideen von Martinès in eine Kritik der säkularen Aufklärung einbettet. Saint-Martin weist reduktionistische und rationalistische Erklärungen menschlicher Institutionen zurück und behauptet, Religion, soziale Einrichtungen und Gesetze gingen in Wahrheit auf ein göttliches Wesen zurück, das aktiv in die Geschichte eingreife. Sein zweites Buch »Tableau naturel des rapports qui existent entre Dieu, l'homme, et l'univers« (»Darstellung der Beziehungen zwischen Gott, dem Menschen und dem Universum«, 1782) erklärt die physische Welt aufgrund von Analogien zum Menschen und zu Gott. Infolge des Sündenfalls nahmen die Dinge eine physische Form an. Aber durch die Beseelung unseres Willens mit dem Wunsch (»désir«) und mit Hilfe des Opfers Jesu Christi, vermögen wir uns selbst und die gesamte Natur wieder in ihren ursprünglichen Zustand zurück zu versetzen. Saint-Martin betrachtete sich als »Reiniger des Tempels der Wahrheit« und wandte sich sowohl gegen den Rationalismus der Aufklärung als auch gegen das orthodoxe Christentum.

Er brachte eine hochfliegende Form der Theosophie hervor, die auf Pasquallys Idee der Reintegration beruhte. Der Mensch ist von seinem göttlichen Erbe und der Unsterblichkeit durch den dichten Schleier der materiellen Welt abgeschnitten, die ihn mitsamt der Natur in einen schlafwandlerischen Zustand versetzt. Er ist in seinem physischen Leib gefangen, aber weiß auch, dass er zu Höherem bestimmt ist. »Wir wandeln in der Dunkelheit, daher suchen wir nach dem Licht, wir irren zwischen Schatten umher, daher suchen wir nach der wahren Realität: die Tatsache, dass wir uns nach beidem sehnen, beweist, dass wir für beides geschaffen wurden und dass wir in unserem gegenwärtigen Zustand weit von unserer Bestimmung entfernt sind«, sagt Saint-Martin. Ebenso wie Martinès sah auch er die Ursache des Bösen in der Degeneration des Willens. Dieser ist aber nicht nur die Fähigkeit, dem Bösen zu wiederstehen, er ist auch das Werkzeug der Transzendenz: »Die Vereinigung mit dem Göttlichen kann nur durch die starke und nicht wankende Entschlossenheit dessen erreicht werden, der sie wünscht; es gibt kein anderes Mittel, sie zu erreichen, als die ausdauernde Anstrengung eines reinen Willens.«

Saint-Martin war demütiger Christ und seine Theologie deshalb auf die jenseitige Welt konzentriert. Er sprach von der unergründlichen Gottheit als der Ersten Ursache, und von einer aktiven und intelligenten Ursache, die zusammen mit zwei untergeordneten Prinzipien die Naturvorgänge und die Ordnung des Kosmos bewirke. Die aktive und intelligente Ursache identifizierte er mit dem »Wiederhersteller«, mit Christus, der die Wiedereinsetzung des Menschen in seinen ursprünglichen Zustand ermögliche. Und die genannte Ursache sei mit dem »Wort« (Logos) des Johannes-Evangeliums identisch. Das Wort wohnte einst im Menschen, ging aber beim Sündenfall verloren. Daher musste das göttliche Wort eingreifen, um den Fortbestand des Universums zu sichern, das sich immer noch in einem prekären, gefährdeten Zustand befindet. Das Wiederfinden des verlorenen Wortes ist die höchste Verpflichtung des Menschen vor sich selbst und der Natur. Wiederfinden kann er es, wenn er sich mit jenem Wort vereinigt, das an die Stelle des ursprünglichen Wortes getreten ist und die Kraft besitzt, alles wiederherzustellen.

Saint-Martins mystische Werke, die er pseudonym unter dem Namen »der unbekannte Philosoph« veröffentlichte, fanden in der gebildeten Klasse Frankreichs großen Anklang, misstrauten doch viele dem Rationalismus der Aufklärung. Saint-Martin begann, sich für den Mesmerismus zu interessieren und trat 1784 in Paris der logenähnlichen »Gesellschaft für Harmonie« bei. Der Mesmerismus ermöglichte seiner Auffassung nach eine unmittelbare Verbindung zur geistigen Welt, in welcher der ursprüngliche Mensch einst gelebt hatte und in die er wieder zurückkehren musste.

Im Jahr 1787 begegnete Saint-Martin bei einer Reise nach London dem englischen Theosophen William Law. Von 1788 bis 1791 wohnte er in Straßburg, wo er Baron Karl Göran Silfverhjelm, den Neffen Swedenborgs traf. In Straßburg begegnete er durch seinen Freund Frédéric-Rodolphe Salzmann, einen maurerischen Theosophen und Madame de Boecklin auch dem Werk Jacob Boehmes. Seitdem schöpfte er aus Boehme seine Inspiration. Er lernte Deutsch und übersetzte Boehme ins Französische (»L'aurore naissante«, 1800; »Les Trois Principes de l'Essence divine«, 1802; »De la Triple Vie de l'Homme«, 1809; »Quarante Questions sur l'âme«, 1807). Seine weiteren Werke waren von Boehme beeinflusst, aber dennoch originell, wie man an »L'Homme de Désir« (»Der Mensch des Wunsches«, 1790) oder »Le Ministère de l'homme-esprit« (»Das Priestertum des Geistesmenschen«, 1802) sehen kann. 1792 begann er eine Korrespondenz mit dem Schweizer Theosophen Niklaus Anton Kirchberger von Liebisdorf. Ihr regelmäßiger Austausch führte dazu, dass Saint-Martin eine ganze Reihe weiterer Theosophen beeinflusste, unter anderem Karl von Eckarthausen, Heinrich Jung-Stilling, Jane Leade, John Pordage, Thomas Bromley und Johann Georg Gichtel.

Der Einfluss von Pasqually, Saint-Martin und Willermoz

Auch wenn Saint-Martin im Orden Pasquallys schnell aufgestiegen war, wandte er sich allmählich von dessen theurgisch-magischen Praktiken ab und einem inneren mystischen Weg zu. Diese Entwicklung hätte man voraussehen können. Saint-Martin hatte einst Pasqually gefragt: »Ist all das nötig, um Gott zu finden?« Sein mangelndes Interesse an zeremonieller Magie, an Ritualen und stufenweiser Initiation spielte bei seiner Beziehung zu Jean-Baptiste Willermoz (1730-1824) eine Rolle, einem reichen Textilfabrikanten in Lyon, der von Pasqually persönlich 1767 in den Orden der Auserwählten Cohens aufgenommen worden war. Willermoz war spätestens 1750 Freimaurer geworden und gehörte 1760 zu den Begründern der »Großloge der Regulären Meister« von Lyon. Dort hatte er einen hohen Rang inne und sammelte und studierte eifrig maurerische Riten. 1763 gründete er ein Kapitel mit ritterlichem Ritus, die »Chevaliers de l'Aigle Noir et Rose-Croix« (»Ritter des Schwarzen Adlers und des Rosenkreuzes«), dessen Leitung er seinem Bruder überließ. Kurz nach seiner Aufnahme in den Orden der Auserwählten Cohens wurde ihm die Leitung der Lyoner Loge anvertraut und im Mai 1768 wurde er zum Réau-Croix geweiht. Seine erste Begegnung mit Saint-Martin fand in der Zeit statt, als dieser Sekretär Pasquallys in Bordeaux war.

1771 lebte Saint-Martin bei Willermoz in Lyon, während er an seinem ersten Buch schrieb. 1772 führte Willermoz seine Neugier dazu, mit der Straßburger Loge der Strikten Observanz zu korrespondieren. Im folgenden Jahr trat er diesem Orden bei und gründete ein Jahr später seine Lyoner Loge »La Bienfaisance« und wurde Kanzler ihrer neuen Provinz Auvergne. Die Einführung der Templer-Maurerei in Frankreich rief ein gewisses Misstrauen hervor, weil sie aus Deutschland stammte und dieses Misstrauen wurde durch Willermoz' Herrschaftsanspruch verstärkt, der die Strikte Observanz zur führenden Form der Maurerei in Frankreich machen wollte.

Willermoz führte die theurgischen Rituale der Auserwählten Cohens fort und bemühte sich darum, ihnen eine freimaurerische Form zu geben. Auf dem nationalen Konvent in Lyon 1778 führte er das »Régime Ecossais Rectifié« (den Rektifizierten Schottischen Ritus) ein, das den Templerritus mit dem religiösen Zeremoniell der Auserwählten Cohens verband. Der Rektifizierte Schottische Ritus besaß eine konzentrische Struktur von vier Kreisen. Die beiden ersten waren die beiden »sichtbaren Klassen« des Ritus: (1) die symbolische Klasse oder der masonische Orden mit den vier Graden des Lehrlings, Gesellen, Meisters und Schottischen Meisters, (2) der innere Orden, der ritterlich war, mit zwei höheren Graden, dem Ecuyer Novice (Junker-Novizen) und dem Chevalier Bienfaisant de la Cité Sainte (Wohltätigen Ritter der Heiligen Stadt [Jerusalem]), (3) einer geheimen Klasse mit zwei höheren Graden, der »Profession« und »Grande Profession« (Berufung und Große Berufung). Diese drei Klassen bildeten zusammen den Rektifizierten Schottischen Ritus. Aber es gab eine vierte Klasse, den Orden der Auserwählten Cohens, der in ein tiefes Geheimnis gehüllt war. Auch wenn die ersten drei Klassen keine theurgischen, kabbalistischen oder alchymischen Praktiken ausübten, kannten sie doch, wie die Auserwählten Cohens, die Lehre Pasquallys von der Wiederherstellung aller Wesen mit ihrem Dreischritt vom ursprünglichen Zustand der Menschheit über ihren Fall zur Reintegration durch das Eingreifen des Wiederherstellers (Christi). Der Freimaurerkonvent von Wilhelmsbad im Jahr 1782 bestätigte nicht nur diese Neuerung, sondern bezeugt auch die Vorherrschaft der auf Pasqually zurückgehenden theosophischen Maurerei über die ältere Templerform für das folgende Jahrzehnt oder mehr.

Da der führende französische Okkultist Papus (Gérard Encausse, 1865-1916) behauptete, den martinistischen Orden 1891 wiederbelebt zu haben und sich dabei auf eine Sukzession berief, die über seine Freunde Henri Delaage und Augustin Chaboseau zu Saint-Martin zurückführe, entstand die Vorstellung, Saint-Martin habe einen eigenen Orden gegründet, der an jenen der Auserwählten Cohens anschloss. Aber es gibt keinerlei Beweis dafür, dass Saint-Martin selbst einen martinistischen Orden gegründet oder irgendjemanden in einen Kultus initiiert hätte. Im Unterschied zu Willermoz mit seiner Vorliebe für gemeinsame Aktivitäten, masonische Orden und theurgische Rituale, neigte Saint-Martin einem mystischen Pfad zu, der nur individuell beschritten werden konnte. Er fühlte sich im Rektifizierten Schottischen Ritus nicht wohl, trat im Juli 1790 aus dessen ritterlichem innerem Orden aus und bat Willermoz darum, seinen Namen aus allen maurerischen Registern zu löschen. Die beiden blieben zwar befreundet, beschritten aber unterschiedliche Wege. Willermoz war ein Genie der Hochgradmaurerei und theurgischer Handlungen – des aktiven, extrovertierten Aspektes des französischen Illuminismus –, während sich Saint-Martin durch seine kontemplative Theosophie, die er in seinen zahlreichen Büchern zum Ausdruck brachte, große Anerkennung und eine ergebene Anhängerschaft in ganz Europa erwarb. So gesehen, gab es zwar viele Martinisten in der illuministischen Subkultur Frankreichs, Deutschlands und Rußlands, aber keinen wirklichen martinistischen Orden bis zu der Gründung von Papusam Ende des 19. Jahrhunderts (von der er behauptete, es handle sich um eine Wiederbelebung).

Wie John Roberts festgestellt hat (»The Mythology of the Secret Societies«, 1972) verkörpert die maurerische Schöpfung von Willermoz »in einer ausdrucksvollen und bewundernswerten Form jenen mystifizierenden, antimaterialistischen und antiaufklärerischen Trend, der in so vielen Erscheinungen der Kultur des 18. Jahrhunderts zu beobachten ist.« Erst die französische Revolution führte zur Auflösung des Ritus, ein Überbleibsel lebte angeblich im Rektifizierten Schottischen Ritus fort, wie er an manchen Orten in Frankreich und der Schweiz gepflegt wird.

Die Erleuchteten von Avignon

Ein weiteres Beispiel für das komplexe Wechselspiel und die Vermischung der Hochgradmaurerei und des Illuminismus bietet Joseph-Antoine Pernéty (1716-1796), ein weiterer Theosoph und Theurg dieser Zeit. Pérnety entdeckte als junger Benediktinermönch in Frankreich die Alchemie und schrieb später zwei große Werke »Fables égyptiennes et grecques dévoilées et réduites au même principe« und »Dictionnaire mytho-hérmetique« (»Ägyptische und griechische Mythen entschleiert und auf denselben Ursprung zurückgeführt«; »Mythisch-hermetisches Wörterbuch«; beide 1785), in denen er alle Mythen als codierte Beschreibungen des großen Werkes der Alchemie, der Herstellung des Steines der Weisen, interpretierte. Die Interpretation der klassischen Mythen als eines Codes der Alchemie war eine Tradition der Renaissance, die von Michael Maier mit seinem Buch »Arcana arcanissima« (»Allergeheimste Geheimnisse«, 1614) begründet worden war. Später veröffentlichte Pérnety ein Buch über Physiognomie und begeisterte sich für Swedenborg, der ihn dem Illuminismus zuführte. Er übersetzte Swedenborgs »Himmel und Hölle« (1782) sowie »Göttliche Liebe und Weisheit« (1786) aus dem Lateinischen ins Französische.

Zum Bibliothekar Friedrich des Großen ernannt, zog Pérnety 1767 nach Berlin, wo er seinem Interesse an der Freimaurerei nachging, das vermutlich schon früher in Frankreich geweckt worden war. 1779 wurde Pérnety eines der ersten Mitglieder einer esoterischen Gesellschaft in Berlin, die später als die »Erleuchteten von Avignon« (»Les Illuminés d'Avignon«) bezeichnet wurde. Dieser Gruppe gehörten Prinz Heinrich von Preußen, sein Bibliothekar Guyton de Morveau (als Brumore bekannt), der als Medium agierte, Pérnetys älterer Bruder und der polnische Graf Thaddeus Grabianka an. Die Mitglieder interessierten sich für Alchemie und konsultierten ein mysteriöses kabbalistisches Orakel, die sogenannte »heilige Stimme« (deren historisches Vorbild vermutlich die Stimme der Prophetie oder »Tochter der Stimme« [Gottes], »bath kol« war, die in der rabbinischen Tradition eine Rolle spielt), von der sie angewiesen wurden, Swedenborgs Lehren zu folgen. Dieses Orakel war Johann Daniel Müller, ein radikaler Pietist, Swedenborgianer, Alchemist, Kabbalist und Endzeitprophet, der sich selbst als jenen »Elias Artista« (»Künstler Elias«) betrachtete, dessen Erscheinen Paracelsus angekündigt hatte. Das Orakel forderte die Gruppe dazu auf, sich aus einer informellen Vereinigung zu einer initiatischen Gesellschaft weiter zu entwickeln. Die Gruppe bildete daraufhin zwei Klassen, die sich an die symbolischen Grade anschlossen: die »Novizen« oder »Kleineren« und die »Erleuchteten«, an deren Spitze der »Magus«, »Hohepriester« oder »Patriarch« stand. Die Gruppe führte Weihehandlungen auf einem Hügel in der Nähe Berlins durch, die neun Tage dauerten, bei denen jeder Kandidat einen »Altar der Macht« aus Torf in einem Steinkreis errichten musste. 1780 wies das Orakel die Mitglieder der Gruppe an, Berlin zu verlassen, um anderswo den Grundstein des neuen Zion zu errichten.

1784 veranlasste es die Gruppe, nach Avignon umzuziehen, das damals dem Papst unterstand. Zwei Mitglieder der ursprünglichen Gruppe, Brumore und Grabianka, die sich in Polen mit Alchemie beschäftigt hatten, trafen sich daraufhin in der südfranzösischen Stadt. Pérnety hatte Berlin auf Befehl des Orakels schon 1783 verlassen und ließ sich nach einer gewissen Zeit der Wanderschaft in einem Haus unweit von Avignon nieder, das er Tabor nannte und das ihm von einem Schüler, dem Grafen Vernety de Vaucroze, zur Verfügung gestellt worden war. Dort errichtete Pérnety einen Tempel, ein Laboratorium und einen Versammlungsraum, in dem er führende Illuministen wie Gombault, den Engländer William Bousie und den Baron de Staël-Holstein, den schwedischen Botschafter, sowie die Herzogin von Württemberg empfing, die ihrerseits in ihrem Schloss in Montbéliard (Mömpelgard) regelmäßig Saint-Martin und den Schweizer Begründer der esoterischen Physiognomie, Johann Kaspar Lavater beherbergte. Nach Brumores Tod 1786 fielen die Erleuchteten in mehrere Gruppen auseinander: Pérnety führte einen Gruppe unter dem selben Namen fort und hielt am alten Ritual und alchymischen Praktiken fest. Graf Grabianka, der inzwischen ein neues Orakel, den »Homme-Roi« (Ottavio Cappelli) in Rom entdeckt hatte, führte eine zweite Gruppe unter dem Namen das »Neue Jerusalem«, fort, die auf einer vierfältigen Theologie gründete und einen kreuzförmigen Tempel besaß, in dem vier Altäre für Gottvater, Jesus Christus, den Heiligen Geist und die Jungfrau Maria standen. Aber das Vertrauen seiner Anhänger wurde wegen seiner Gefangennahme durch die Inquisition und seinen Widerruf im Jahr 1790 erschüttert. Eine dritte Gruppe, die »Brüderliche Barmherzigkeit« führte der Graf von Montpezat weiter. Die Erleuchteten von Avignon verschwanden aufgrund eines gesetzlichen Verbots im Jahr 1793 von der Bildfläche.

Graf Cagliostro und die Ägyptische Maurerei

Das abenteuerliche Leben Cagliostros (1743-1795) ist voll von exquisiten Ereignissen und Misserfolgen, es stellt ein besonderes Beispiel für die Mystifikation der Maurerei im 18. Jahrhundert dar. In Palermo geboren, wurde Giuseppe Balsamo Novize an einem Priesterseminar, wo er sich für Alchemie, die Beschwörung von Geistern und religiöse Rituale zu interessieren begann. Nach seinem Ausschluss aus dem Seminar führte er ein unstetes Wanderleben, das ihn nach Nordafrika, in die Levante und andere Orte an der Mittelmeerküste führte. Von 1765 bis 1767 war er bei den Johannitern in Malta angestellt, denen er sein Wissen in medizinischer Alchemie verdankte. Er legte sich den Titel eines Grafen und den Namen Alessandro Cagliostro zu und reiste ein Jahrzehnt lang quer durch Europa, um mit magischen Wundern der Hellsicht und Voraussage, mit alchymischen Verwandlungen und durch die kostenlose Heilung von Kranken von sich reden zu machen. Aber erst seine Begegnung mit der Freimaurerei gab seinem Leben ein klares Ziel. In London wurde er am 12. April 1776 in die »Esperance Lodge No. 289« in Soho aufgenommen. Diese Loge gehörte der Strikten Observanz an und bot ein üppiges Ritual, Templerlegenden und das Versprechen der Wiederbelebung des Templerordens und der zeitigen Rache gegen die Kirche.

Iain McCalman schreibt: »Der Eintritt in die geheime Welt der Strikten Observanz gab der bemerkenswerten Intelligenz und dem nicht minder bemerkenswerten Ehrgeiz Cagliostros einen Rahmen. Die Maurerei wurde zum Schmelztiegel seines Genies.« Seine Erfahrung mit der Theologie, dem Ritual und der Organisation des klösterlichen Katholizismus fand nun in einer säkularen Kirche ein freies Betätigungsfeld, das er mit Prozessionen, Theater und geheimnisvollen Symbolen anfüllte. Im Dezember 1777 verließen Cagliostro und seine Frau unter großem Beifall der Strikten Observanz-Loge »Perfect Quality« London, um nach Den Haag zu gehen. Die nächsten zwei Jahre gab sich Cagliostro als Beauftragten des »Großkophta« aus, eines alten ägyptischen »Unbekannten Oberen«, und als solcher wurde er von Logen der Strikten Observanz in Nürnberg, Berlin, Leipzig, Danzig und Königsberg willkommen geheißen. Von Loge zu Loge weiter empfohlen, reiste er im Februar 1779 nach Mitau, der Hauptstadt des Herzogtums Kurland an der Küste des Baltikums, wo die führenden Adligen ihn mit großen Erwartungen empfingen. Graf Johann von Medem und Landmarschall Otto von Medem, beide hochrangige Maurer, hatten in Deutschland studiert, wo sie mit alchymischen und mystischen Gruppen in Kontakt getreten waren. Seither hatten sie Maurerlogen in Mitau betrieben und bei der Ankunft Cagliostros leiteten sie eine Loge der Strikten Observanz. Hier beeindruckte Cagliostro die führenden Familien mit seiner Hellsichtigkeit, seinen Versprechen, verborgene Schätze zu entdecken und Séancen. Nach kurzen Abenteuern mit bescheidenem Erfolg in Sankt Petersburg und Warschau zog er 1780 nach Straßburg weiter, das damals eine Brutstätte von Hochgradlogen war.

Hier widmete er sich der Heilung von Kranken und nahm sich besonders der Armen an, von denen er keine Bezahlung verlangte. Sein Ruf als Heiler und Alchemist verbreitete sich schnell und Prinzkardinal Rohan verlor keine Zeit, seine Bekanntschaft zu machen. Bald genossen Cagliostro und seine Frau den Aufenthalt im Palast des Erzbischofs in Saverne. Zu dieser Zeit begann Cagliostro über einen eigenen Ritus der ägyptischen Maurerei nachzudenken, denn die erste Erwähnung eines solchen Ritus stammt vom September 1781. Möglicherweise ließ er sich zwei zeitgenössischen Publikationen anregen, welche die Maurerei auf das alte Ägypten zurückführten. Das erste der beiden Bücher, »Sethos« von Abbé Terrasson, war 1767 in zweiter Auflage erschienen, das zweite, »Crata Pepoa oder Einweihungen in der alten geheimen Gesellschaft der egyptischen Priester«, verfasst von den beiden Maurern von Koeppen und von Hymnen, war 1777, 1778 und 1782 erschienen. 1783 verließ Cagliostro Straßburg und reiste nach Bordeaux, wo er 11 Monate verbrachte, bevor er im Oktober 1784 nach Lyon weiterzog. Bald suchte er bei Willermoz – erfolglos – um Hilfe bei der Einrichtung einer Loge mit seinem Ritus nach, konnte aber trotzdem am 24. Dezember dieses Jahres die Mutterloge seiner ägyptischen Maurerei mit dem Namen »La Sagesse Triomphante« (»Die triumphierende Weisheit«) in Lyon gründen.

Ende Januar 1785 folgte Cagliostro den Bitten Kardinal Rohans, der ihn nach Paris eingeladen hatte, um ihre Zusammenarbeit fortzusetzen. Dort eröffnete er zwei Logen seines Ritus und sie wurden der letzte Schrei. In einem von Kardinal Rohan zur Verfügung gestellten Haus hielt er Hof, einem Haus, das über ein üppiges, orientalisch ausgestattetes Séancezimmer verfügte. Statuetten der Isis und des Ochsen Anubis standen neben einem ausgestopften Ibis, ein balsamiertes Krokodil, das traditionelle Symbol der Alchemisten, hing an der Decke und die Wände waren mit Hieroglyphen bedeckt. Lakaien, die wie ägyptische Sklaven gekleidet waren, warteten auf. Der Großkophta selbst erschien in einer schwarzen Seidenrobe, die mit roten Hieroglyphen gesäumt war, seinen Kopf bedeckte ein goldfarbener Turban mit Juwelen.

Die ägyptische Maurerei ließ Frauen und Männer zu, auch wenn sich ihre Logen und Rituale unterschieden. Die Kandidaten konnten jeder Religion angehören, mussten aber an die Existenz eines höchsten Wesens und die Unsterblichkeit der Seele glauben. Männliche Kandidaten mussten bereits den Meistergrad in einer symbolischen Loge erworben haben. Der Orden enthielt die drei höheren Grade des (ägyptischen) Lehrlings, Gesellen und Meisters, die jenen der symbolischen Maurerei entsprachen, und verwendete dieselbe Symbolik – die Legenden von König Salomo und Hiram, dem König von Tyrus eingeschlossen –, ergänzte diese aber durch eine ägyptische Symbolsprache und Elemente der Alchemie, Astrologie und Magie. Trotz der ägyptischen Aufmachung stellte Cagliostros Ritual eine Art jüdisch-christlicher Theurgie dar, es enthielt Bezüge auf Jehova und Anrufungen der sieben Erzengel Anael, Michael, Raphael, Gabriel, Uriel, Zobiachel und Hanachiel. Das Ritual des ägyptischen Meistergrades lehrte, der Mensch sei als Bild Gottes geschaffen worden und solange er seine Unschuld besaß, habe er über alle Lebewesen, Engel und Zwischenwesen geherrscht. Nachdem er aber seine Macht missbraucht hatte, entzog ihm Gott seine Vorrangstellung, die Unsterblichkeit und die Erlaubnis, mit geistigen Wesen zu kommunizieren. Nur einige wenige auserwählte Menschen wie Enoch, Elias, Moses, David, Salomo und der König von Tyrus pflegten diese Gabe fort. Das Ziel der Initiation in den ägyptischen Ritus war die Wiederherstellung der ursprünglichen Reinheit und Macht des Menschen, die dadurch erreicht werden sollte, dass dieser wieder in die Welt der Geister eintrat. Dieser Grad wurde als eine Art Séance zeremonieller Magie beschrieben, bei der ein Knabe oder ein Mädchen, welche die Taube des Ritus repräsentierten, als Vermittler zwischen der physischen und der geistigen Welt wirkten, indem sie in einem Zustand der Trance in eine Wasserkaraffe blickten. Die Rituale beschrieben drei Stufen der Wiederherstellung: eine spirituelle, eine intellektuelle und eine physische. Dreifach erneuert, war der Initiierte zu außerordentlichen Taten der Theurgie und des Heilens imstande.

Die Vorstellungen vom Fall des Menschen aus der ursprünglichen Gnade in die Finsternis der stofflichen Welt und der Notwendigkeit der Wiederherstellung erinnern natürlich an die mystischen Lehren von der Wiedereinsetzung der Wesen, die unter den Auserwählten Cohens und den Chevaliers Bienfaisants verbreitet waren. Es ist möglich, dass Cagliostro diese Lehren bereits 1781 durch Barbier de Tinan, den Präfekten der Chevaliers Bienfaisants sowie Baron von Lutzelburg und Laurent Blessig, zwei andere Straßburger Ritter dieses Ritus kennenlernte. Eine andere Theorie besagt, Cagliostro habe die Ideen Pasquallys bereits viel früher gekannt. Laut John Yarker soll Cagliostro nach seiner Initiation in London 1776 in einer Buchhandlung ein Manuskript von George Cofton über die ägyptischen Ursprünge der Maurerei gefunden haben. Cofton soll ein ehemaliger katholischer Priester aus Irland gewesen sein, den die Lehren Martinès de Pasquallys beeinflusst hatten.

Die theurgischen und alchymischen Aspekte des von Cagliostro geschaffenen Systems werden besonders an der Beschreibung zweier »Quarantänen« oder magischer Klausuren deutlich. Beide dauerten vierzig Tage. Die erste enthielt Rituale und Gebete, die zur theurgischen Herbeirufung der sieben Erzengel mit Hilfe von Talismanen, Siegeln und Fünfecken führten. Die zweite zielte auf die physische Verjüngung und den alchymischen Erwerb der Unsterblichkeit. Die Rituale bestanden aus Fasten, Aderlass und der Einnahme gewisser als »Körner« bezeichneter weißer Pillen, bei denen es sich um aufeinanderfolgende Gaben der »materia prima« handelte. Bei der Einnahme des zweiten Kornes am 33. Tag verlor der Kandidat Haut, Haare und Zähne , aber wenn er das letzte Korn am 36. Tag zu sich nahm, kamen Haut, Haare und Zähne zurück und der Kandidat erlangte seine ursprüngliche Gesundheit wieder. Diese Wunder dürften zu den »geheimsten Geheimnissen« gehören, die man in der esoterischen Maurerei erleben konnte.

Die illuministischen Gesellschaften und viele Formen der Hochgradmaurerei waren in ihren Ideen und Praktiken offen esoterisch. In vielen Fällen gehörten ihre Mitglieder mehr als einer Organisation an und die illuministischen Gruppierungen unterhielten mit den Maurerlogen eine symbiotische Beziehung, deren Mitglieder ihrerseits mit Abstammungsmythen und hermetischen Lehren umgingen. Es sei daran erinnert, dass die französische Maurerei sich frühzeitig von der säkularisierenden, entchristlichenden, demokratisierenden Tendenz der englischen Großloge absetzte (für welche die Anderson-Konstitutionen stehen), indem sie christliche, mittelalterliche, ritterliche und aristokratische Formen ausbildete. Nachdem diese höheren Grade und ihre implizite Hierarchie sich entwickelt hatten, war es möglich, die höheren Grade mit esoterischem Wissen zu verbinden. Die Übernahme esoterischer, hermetischer, theosophischer, alchymischer und rosenkreuzerischer Vorstellungen ist ein komplexer Vorgang, der mit dem Fortwirken der Theosophie und des Pietismus im 18. Jahrhundert und ihrer wachsenden Bedeutung in der Gegenaufklärung zu tun hat.

Die maurerische Laufbahn von Jean Baptiste Willermoz illustriert, wie die Freimaurerei sich auf die Suche nach ihrer tieferen Bedeutung machte. Enttäuscht von der Banalität und Frivolität seiner früheren maurerischen Erfahrungen, hielt er an der Überzeugung fest, die Maurerei enthalte »seltene und wichtige Wahrheiten«. Er versuchte sie so zu reformieren, dass ihre Adepten diese höhere Bedeutung verstehen konnten. So wie Willermoz waren auch viele Hochgradmaurer, die sich auf Initiationen und okkulte Lehren eingelassen hatten, für höhere Geheimnisse empfänglich, während die illuministischen Gruppierungen in der Maurerei eine verwandte Strömung erblickten, die über die gleiche Inspiration, dieselbe Symbolik und hierarchische Ordnung verfügte. Indem die kontinentale Maurerei esoterische Themen mit den Hochgraden verknüpfte, wandelte sie sich zu einem kraftvollen Werkzeug, das die westlichen esoterischen Traditionen durch das 18. Jahrhundert hindurch aufrecht erhielt und zu ihrer Verbreitung beitrug.

Emanuel Swedenborg

Goodrick-Clarke führt Emanuel Swedenborg (1688-1772) als Hauptrepräsentanten der Theosophie des 18. Jahrhunderts und Schlüsselgestalt in der Geschichte der westlichen Esoterik ein. Aber mit der Theosophie Jacob Boehmes und seiner Nachfolger im 17. Jahrhundert (das man als »goldenes Zeitalter der Theosophie« bezeichnen kann) hat die Gottesweisheit Swedenborgs wenig Ähnlichkeit. Und sie unterscheidet sich ebenso sehr von der Theosophie seiner Zeitgenossen Martinès de Pasqually oder Saint-Martin. Schon Antoine Faivre ist aufgefallen, dass Swedenborgs Gottesweisheit zwar Mittelwesen, Korrespondenzen und einen Zugang zu höheren Welten kennt, aber gänzlich der mythischen und dramatischen Elemente entbehrt, die man in früheren und zeitgenössischen Formen der Theosophie findet. So gibt es bei Swedenborg weder einen Fall der Menschheit, noch eine Reintegration, weder eine Transmutation, noch eine Wiedergeburt. Stattdessen bewegt er sich in einem relativ nüchternen Mesokosmos voller Geister, der in einer sachlichen Sprache beschrieben wird. Bei diesen Geistern handelt es sich um die Seelen der Verstorbenen, welche die Lebenden belehren, die Heilige Schrift deuten und neue theologische Ideen vermitteln. Man könnte sagen, Swedenborgs Theosophie sei erheblich von der Wissenschaft und der Rationalität der Aufklärung beeinflusst worden, aber es finden sich ebenso Einflüsse des protestantischen Pietismus in ihr. Seine Anpassung an den säkularisierenden Einfluss der Aufklärung lässt ihn zu einer Schlüsselgestalt in der Herausbildung der modernen Esoterik werden.

Aufgeklärter Wissenschaftler ...

Swedenborg darf als Wissenschaftler und Visionär einen herausragenden Platz in der europäischen Geistesgeschichte beanspruchen. Gegen Ende eines gepeinigten Jahrhunderts geboren, hatte er Teil am Aufbau jener modernen Weltsicht, die auf Vernunft, Wissenschaft und materiellem Fortschritt beruht. Bevor er 25 Jahre alt war, hatte er bereits mit Isaac Newton, Edmund Halley und anderen führenden Wissenschaftlern in England, Frankreich und Holland zusammengebarbeitet. Zwischen 1680 und 1710, dem Jahr, als Swedenborg sein Heimatland verließ, um nach London und Paris zu gehen, entwickelten sich in den europäischen Hauptstädten dank Christian Huygens, Robert Boyle, Robert Hooke und Hermann Boerhaave die neuen Wissenschaften der Astronomie, Physik, Chemie und Biologie rapide. Gleichzeitig schufen Denker wie René Descartes und Baruch de Spinoza geometrische und mechanistische Philosophien, die der Welt optimistisch eine rationale, zweckmäßige Ordnung zugrunde legten. Zwischen 1700 und 1740 schufen die europäischen Wissenschaften in hohem Tempo ein rationales Verständnis der Natur, mit dem Ziel, ihre Kräfte für den Nutzen des Menschen einzusetzen. Die schnelle Vermehrung wissenschaftlicher Erkenntnis sowie ihre Anwendung in der Navigation, Technik und Industrie entfesselte eine einzigartige Woge ökonomischen Wachstums in Europa und legte den Grund für die koloniale Expansion.

Swedenborg war in dieser sich schnell verändernden Welt zu Hause. Er arbeitete an technischen Erfindungen, neuen Maschinen und großen Projekten der Ingenieurskunst und hatte zwischen 1724 und 1747 ein Amt im schwedischen Ministerium für Bergbau inne. Er reiste überall in Europa herum und veröffentlichte bahnbrechende Werke auf so unterschiedlichen Gebieten wie der Astronomie, der Physik, dem Ingenieurswesen, der Chemie, der Geologie, der Anatomie, der Physiologie und Psychologie. Gleichzeitig spielte er eine wichtige Rolle in öffentlichen Institutionen Schwedens, die mit Finanzen und Politik zu tun hatten. Diese weltlichen, rationalen Interessen absorbierten Swedenborg vollständig. Bis zu seinem 50. Geburtstag schien er an Religion kein Interesse zu haben und nahm kaum an einem Gottesdienst teil. Aber im Frühjahr 1744 änderte sich das Leben dieser bekannten Gestalt der europäischen Wissenschaft, dieses Mitglieds der Schwedischen Akademie, das auf der Höhe seiner Macht angelangt war, plötzlich und unwiderruflich.

... und Visionär

Swedenborg erlebte bei seiner Reise durch Holland, in der Osterwoche 1744, eine emotionale Krise, die in einer nächtlichen Vision des Christus gipfelte. Er fiel aus seinem Bett, fand sich an Jesu Brust ruhen und fühlte sich von Gott zu einer besonderen Mission berufen. In den folgenden Monaten versuchte er sich in seinem neuen religiösen Erleben zurecht zu finden. Er führte ein enthüllendes Traumtagebuch und schrieb »Worship and Love of God«, eine außerordentliche Synthese aus Mythologie und Wissenschaft. Im Frühjahr 1745 hatte er in London seine erste Vision der spirituellen Welt und ihrer Bewohner. Gott der Herr erschien Swedenborg und erklärte ihm, seine Mission sei es, »der Menschheit die spirituelle Bedeutung der Hl. Schrift zu erklären.«

Von da an besaß Swedenborg die Fähigkeit, in die geistige Welt zu blicken und empfing ständig Inspirationen, die den Inhalt seiner neuen Berufung konkretisierten. 1748 begann er an den »Arcana Coelestia«, den »Himmlischen Geheimnissen« zu schreiben, einem achtbändigen visionären Werk, auf das ein Strom von weiteren Büchern folgte, die der Theologie und der Bibelexegese gewidmet waren, unter anderem »Erden im Himmel«, »Das Letzte Gericht«, »Das Neue Jerusalem und seine himmlische Lehre« und sein berühmtestes Buch, »Himmel und Hölle«, die alle 1758 erschienen. In den 1760er Jahren veröffentlichte er weitere Bücher zur Schriftdeutung. Die Verstorbenen und die Engel erklärten ihm deren Bedeutung durch Visionen, die ihn in imaginative Paläste und Gärten, in Vorlesungssäle, Kollegien und Konferenzen führten, die in wunderbaren, geheimnisvollen Landschaften lagen.

Swedenborgs visionäre Fähigkeit war einzigartig. Niemals zuvor hatte es einen christlichen Visionär gegeben, der zugleich über die intellektuelle Ausbildung und die Fähigkeiten eines Wissenschaftlers verfügte. Im Unterschied zu den Entrückungen, mystischen Vereinigungen und Aufstiegserlebnissen, die den englischen, deutschen und spanischen Mystikern vom Mittelalter bis ins 17. Jahrhundert vertraut waren, nahmen Swedenborgs Visionen stets auf die Bedeutung der Hl. Schrift Bezug, was seinen Büchern eine bemerkenswerte Nüchternheit verleiht. Man liest einen prosaischen, aber überzeugenden Bericht über Begegnungen mit Geistern, deren Mitteilungen detaillierte Informationen über Gott, den Himmel und die Erde, die Aufgaben des Menschen, das Letzte Gericht und das Leben nach dem Tode enthalten.

Swedenborgs Geburt fiel in die Zeit des Aufstiegs des europäischen Rationalismus, seine neue spirituelle Berufung während des Höhepunktes der Aufklärung schien zu dieser in krassem Widerspruch zu stehen. In der Mitte des Jahrhunderts hatte die Anbetung der Natur und der Vernunft, die in den Werken Voltaires, Jean-Jacques Rousseaus und Kants ihren Höhepunkt erreichte, den Prozess der Säkularisierung beschleunigt. Swedenborg rief naturgemäß Kontroversen hervor und die Lager waren schnell gebildet. 1760 verteidigte Friedrich Christoph Oetinger (1702-1782), der berühmte deutsche Pietist und Prälat, Swedenborgs Werk und lud ihn nach Deutschland ein. Oetingers äußerst wohlwollendes Buch »Swedenborgs und anderer irdische und himmlische Philosophie« war aus seinen Studien zu Boehme entstanden und verglich den schwedischen Seher mit anderen zeitgenössischen Denkern. In der Zwischenzeit schrieb Immanuel Kant eine bissige und – wie er später selbst zugestand – , ungerechte Besprechung mit dem Titel »Träume eines Geistersehers« (1766), die das Ansehen Swedenborgs unter den Denkern der Aufklärung beschädigte. Während Swedenborgs Visionen Tagesgespräch in England, Frankreich und Deutschland waren, brach in Schweden eine kirchliche Kontroverse los und man bemühte sich darum, sein Werk für häretisch zu erklären. Irgendwann erlosch dieser Sturm und Swedenborg wurde rehabilitiert. Er starb 1772 im Alter von 84 Jahren in London. Am Ende des Jahrhunderts hatten seine vielen Anhänger in England die »Neue Kirche« gegründet, um seine Lehren zu propagieren, die sich im 19. Jahrhundert in Amerika und anderen Ländern ausbreitete. 1911 wurde Swedenborgs Leichnam in die Kathedrale von Uppsala umgebettet. Als berühmter Sohn seines Landes verehrt, ruht er dort neben Königen und anderen führenden Gestalten Schwedens.

Swedenborg ist nicht nur eine führende Gestalt in der Geschichte der christlichen Mystik und der westlichen Esoterik, er ist gleichzeitig auch ein bedeutender Repräsentant des Denkens des 18. Jahrhunderts. Inspiration und hochfliegende Ziele, ein leidenschaftliches Interesse an den neuen mathematischen Wissenschaften und eine erstaunliche Fähigkeit des Forschens und wissenschaftlichen Arbeitens, sowie sein öffentliches Leben und seine politischen Aktivitäten als Adliger im schwedischen Oberhaus und seine Reisen nach Amsterdam, Leipzig, Paris, Rom und London zeichnen ihn als kosmopolitischen Philosophen der Aufklärung aus. Swedenborg ist auch für die Geschichte des religiösen Denkens von Bedeutung, da er der protestantischen Theologie neue Perspektiven eröffnete, welche die Rechtfertigung durch den Glauben, die Ethik, die Eschatologie und das Leben nach dem Tod betreffen. Er lässt sich deshalb sowohl in den Hauptstrom der westlichen esoterischen Tradition einordnen, als auch in die Geschichte der christlichen Visionäre.

Das Zeitalter der Vernunft und der Pietismus

Das Jahr 1710, in dem Swedenborg das erste Mal nach England kam, ruft Bilder eines eleganten Hannoveranischen London hervor. Hier standen die jüngst errichtete St. Pauls Kathedrale Christopher Wrens, das Greenwich Observatorium unter der Leitung des königlichen Astronomen John Flamsteed und die eleganten Herrenhäuser, die von erfolgreichen Whig-Magnaten zur Zeit von Königin Anne gebaut worden waren. Die Bank von England hatte 1694 ihre Tore eröffnet, täglich wurden neue Beteiligungsgesellschaften gegründet und der Handel expandierte in England und Europa. Aber diese komfortable, ja selbstgefällige Ära war ein relativ junges, hart erkämpftes Phänomen. Nur ein Vierteljahrhundert zuvor hatte sich Europa einem Zeitalter der Religionskriege entwunden, die nahezu ununterbrochen von 1559 bis 1689 währten. Während dieser Periode wurde Europa von den französischen Bürgerkriegen erschüttert, von der niederländischen Revolte, der schottischen Rebellion, dem Kampf der spanischen Armada gegen England, dem Dreißigjährigen Krieg in Deutschland, der puritanischen Revolution und dem Bürgerkrieg in England. All diese Konflikte hatten ihren Ursprung in der religiösen Kontroverse, die im frühen 16. Jahrhundert durch die Reformation in Gang gesetzt worden war, deren Auswirkungen Europa mehr als anderthalb Jahrhunderte mit Brandschatzung und Mord überzogen. Noch waren die Erinnerungen an Märtyrer, Kreuzzügler, Aberglauben, Intoleranz, den Kampf der Sekten und an Hymnen singende Armeen nicht verblasst. Erst als diese ideologischen Konflikte in den 1680er Jahren endgültig ausgebrannt waren, kehrte die europäische Politik zu ihren säkularen Leitbildern zurück. Seither waren die Menschen glücklich, in die weltlichen, aber komfortablen Reiche von Handel und Investment, Wissenschaft und sozialem Fortschritt eintauchen zu dürfen.

Aber die Aufklärung war ein vielschichtiges Phänomen, das aus drei Phasen bestand, von denen die frühe und die späte Phase Zeugen blühender konkurrierender mystischer und präromantischer Strömungen waren. In der Frühaufklärung entstand in Deutschland und Schweden als Reaktion gegen den orthodoxen Lutheranismus die pietistische Bewegung, in die viele bedeutende deutsche Idealisten geboren wurden, Kant und Andreas Rüdiger eingeschlossen. Swedenborg war der Sohn von Jesper Swedberg (1653-1735), eines mächtigen Bischofs der schwedischen lutheranischen Kirche. Als junger Mann war Swedberg weit herumgereist und hatte den englischen Puritanismus und den deutschen Pietismus erlebt, eine Bewegung die von Johannes Arndt (1555-1621) in Gang gesetzt und von Philipp Jakob Spener (1635-1705) und August Hermann Francke (1633-1727) fortgeführt wurde. Diese Männer verbanden ihren lutherischen Glauben mit einer Frömmigkeit des Herzens, die sie Waisenhäuser, Schulen und die soziale Wohlfahrt im allgemeinen verbessern ließ. Swedberg war von der Forderung des Pietismus nach aktiver christlicher Arbeit beeinflusst und verwarf die Vorstellung, der Glaube allein genüge, um die Seele zu retten. In seinen hohen Ämtern als Bischof, Rektor der Universität und Theologieprofessor suchte er die Strenge der lutherischen Orthodoxie zu mildern, indem er die Seelsorge verbesserte und besonderes Gewicht auf die persönliche Bekehrung und ein praktisch gelebtes Christentum legte. Er glaubte als frommer Christ an Engel, Geister, den Teufel und die Wirksamkeit von Exorzismen und sah Gott und Satan in einem tödlichen Kampf um jede Menschenseele, seine eigene nicht ausgenommen, die von zahlreichen Versuchungen heimgesucht wurde. Dies war die Umgebung, in der Emanuel Swedenborg aufwuchs.

Die »geometrische« Weltsicht Newtons

Die Beschäftigung des jungen Swedenborg mit humanistischen Studien unter der Aufsicht seines Schwagers Eric Benzelius (1675-1743), in dessen Haushalt er von 1703-1709 lebte, bedeutet einen großen Schritt weg von den starken religiösen Überzeugungen und der Frömmigkeit seines Vaterhauses. Benzelius, ein glänzender junger Professor in Uppsala, ermunterte Swedenborg zu diesen Studien und könnte entscheidend bei seiner Förderung gewesen sein. Er sandte eine ganze Reihe von aufgeweckten jungen Studenten in die Städte Westeuropas, um sich dort in Forschungsgebiete zu vertiefen, die es in Schweden noch nicht gab. Als Swedenborg nach London ging, hatte er bereits die Werke von Isaac Newton, Nicolas Malebranche, John Norris und Robert Boyle verschlungen und schien das kirchengebundene Christentum hinter sich gelassen zu haben.

Auch wenn der Bischof fürchtete, sein Sohn sei zu den Atheisten und Freidenkern übergelaufen, betrachtete Swedenborg die Natur wie viele zu dieser Zeit als Buch, das Gott geschrieben hatte und das als Quelle der Erkenntnis nur von der Hl. Schrift übertroffen wurde. Die Vorstellung eines vernünftig geordneten Universums, das eine Offenbarung Gottes und die sichtbare Realisation seines Willens war, verlieh der Wissenschaft eine priesterliche Dimension. In dieser Hinsicht war Swedenborg von Jan Swammerdam (1637-1680) beeinflusst, dem berühmten holländischen Naturgelehrten, dessen wunderschön illustriertes Buch über Insekten den suggestiven Titel »Biblia naturae« (»Bibel der Natur«, 1737) trug.

Swedenborgs frühe Leidenschaft für die Wissenschaft spiegelt den Glauben des Rationalismus an eine Naturordnung wieder, die auf Gott zurückzuführen ist. Die Wissenschaft, der er 1710 in England begegnete, war von der mechanistischen Weltsicht beherrscht. Mathematik, Mechanik und Astronomie waren Teile einer Wissenschaft der Zahlen und Körper. Aus der Messung und Korrelation von Phänomenen gingen Naturgesetze in Gestalt mathematischer Formeln hervor, und Unbekannte konnten mit Hilfe von Algebra und numerischer Kalkulation berechnet werden. Die Mathematisierung physischer Körper, Kräfte, Bewegungen, Gewichte und Maße wurde angewandt, um die Bewegung von Projektilen, Planeten und Gezeiten vorauszusagen, um die Aufnahmefähigkeit von Schiffen, die Größe von Dämmen und Kanälen und die Leistungsfähigkeit von Maschinen zu berechnen. Swedenborg glaubte, Mathematik, Geometrie und Mechanik offenbarten die tiefste Ordnung der Natur und stellten die Mittel bereit, um diese den Zwecken des Menschen zu unterwerfen. 1718 veröffentlichte er sogar einen Aufsatz, der versuchte, geistige und gedankliche Vorgänge aus kleinsten Vibrationen oder »Schwingungen« herzuleiten, wobei er sich auf eine Idee des italienischen Wissenschaftlers Giovanni Alfonso Borelli (1608-1679) bezog. In den 1720er Jahren setzte er den Versuch fort, mit Hilfe mechanischer Begriffe die Sinneswahrnehmung und das menschliche Bewusstsein zu erklären.

Swedenborgs wissenschaftliches Denken in seinem ersten bedeutenden Werk, den »First Principles of Natural Things« (»Erste Prinzipien der Natur«, 1734) zeugt von dieser mechanistischen und geometrischen Weltsicht. Aber selbst in diesem Werk nimmt Swedenborg »das Unendliche» – womit er eine erste unerklärliche Ursache bezeichnete, die als Quelle der Energie in die menschliche Seele strömt – von dieser mechanistischen Kausalität aus (ebenso in seinem Buch »The Infinite and the Final Cause of Creation« [»Das Unendliche und die letzte Zweckursache der Schöpfung«, 1734]). Dieser Gedanke erinnert an den englischen Deismus, der von John Toland (1670-1722) und Matthew Tindal (ca. 1655-1733) unter »religionshungrigen Rationalisten« begründet wurde, und mit der umstrittenen Richtung des Arianismus verbunden war. Diese religiöse Minderheitenbewegung des frühen Christentums hatte die Trinität und die Göttlichkeit Christi zugunsten eines einzigen väterlichen Gottes verworfen. Führende Aufklärer im hannoveranischen England neigten arianischen, deistischen Ansichten zu, da sie eher mit der mechanistischen und mathematischen Weltsicht vereinbar schienen, als irgendeine Form des Theismus, der davon ausging, dass Gott durch Offenbarung und Wunder in den Gang der Natur und Geschichte eingreift. Zu den Deisten gehörten Isaac Newton (1642-1727) und seine Schüler William Whiston (1667-1752) und Samuel Clarke (1675-1729), deren spektakulärer Bruch mit der Kirche während Swedenborgs erstem Aufenthalt in London für einen Skandal sorgte.

Vitalistische Ideen

Unter dem Einfluss deutscher Aufklärer ging Swedenborg von seiner geometrischen und mechanistischen Weltsicht zu einer organischen und vitalistischen über, welche die Natur als lebendiges, beseeltes Ganzes betrachtete. Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716), Christian Wolff (1679-1754) und Andreas Rüdiger (1673-1731) führten in die Wissenschaft und den Rationalismus wieder teleologische Fragestellungen ein. Rüdiger, ein Professor für Philosophie in Halle und Leipzig, stand dem Pietismus nahe. Mit seiner Kritik an der Verwendung mathematischer Methoden in der Philosophie rief Rüdiger eine neue Strömung der akademischen Philosophie im 18. Jahrhundert ins Leben. Zusammen mit seinem jungen Kollegen Christian August Crusius (1715-1775) setzte er sich dem dominanten Einfluss Wolffs entgegen und inspirierte Kant in seiner vorkritischen Phase. Swedenborg beeindruckte vor allem Rüdigers »Göttliche Physik« von 1716, weil sie die mechanische Erkenntnis einer organischen Philosophie der Natur unterordnete, die im Falle Rüdigers von Henry More (1614-1687), einem Cambridger Platoniker stammte.

Den Kern der vitalistischen Ansichten Swedenborgs bildete seine Idee des mathematischen Punktes, den er aus der Bewegung des Unendlichen herleitete, das seiner Auffassung nach nicht den mechanischen Gesetzen unterlag. Diesem Punkt schrieb er eine potentielle Energie zu, deren Übergang zur Aktivität die ersten Partikel und damit die Materie entstehen ließ. Auf diese Weise wird die Bewegung, die aus der potentiellen Energie des Unendlichen entspringt, zum Prinzip des Lebens, welches das gesamte Universum durchdringt. Diese vitalistische Idee widersprach der vorherrschenden cartesischen Unterscheidung zwischen Geist und Körper. Descartes hatte behauptet, die Seele sei etwas rein Geistiges und Gedanken seien abstrakt, aber diese geistige Welt entbehrte jeder konkreten Verbindung mit der sichtbaren, »realen« Welt der Dinge. Swedenborg sah hingegen in einer organisch-vitalistischen Wissenschaft eine Möglichkeit, zu erklären, wie das Geistige im Stoff wirkt, wie es Organe gestaltet, um später durch diese Organe zu wirken. Daher betrachtete er die metaphysische Annahme, geistige Kräfte seien transzendent und abstrakt, als Entmachtung und Verbannung dieser Kräfte aus der Welt, und versuchte stattdessen, sie wieder mit einer physisch fundierten Naturwissenschaft in Verbindung zu bringen, welche das Leben und die Beseelung aus ebendiesen geistigen Kräften erklärte.

Seine Schriften »Dynamik der Seelenwelt, 1740-1741 und »Die Seelenwelt II« (1744-1745) zeugen von dieser Denkweise. Die zwei umfangreichen Werke, die detaillierte Beschreibungen der menschlichen Anatomie, Physiologie und Psychologie enthalten, lassen erkennen, wie sehr sich der Autor darum bemüht, den Sitz der Seele zu finden. Swedenborgs »archeus« (die ursprüngliche Energie) und die »vis formatrix« oder »vis plastica« (die Bildekraft) verbinden den makrokosmischen Gott mit dem Mikrokosmos des einzelnen Menschen, indem sie die formenden Kräfte in den Kosmos selbst verlegen, der seine implizite, von Gott gegebene Ordnung schrittweise entfaltet. Swedenborg beruft sich in seinen Ausführungen auf Henry More und Johann Baptista van Helmont (1577-1644) und reiht sich damit in eine lange Tradition der Naturphilosophie ein, die von Albertus Magnus und Nicolaus Cusanus über Paracelsus – der den Begriff des »archeus« geprägt hatte – und Jacob Boehme bis zu den Rosenkreuzern und Robert Fludd reichte. Martin Lamm hat diese Tradition erforscht, und Swedenborgs Interesse am Neuplatonismus sowie die Tatsache belegt, dass seine wissenschaftliche Weltsicht durch die ihm zuteil gewordenen religiösen Offenbarungen nicht grundlegend verändert wurde (»Emanuel Swedenborg: The Development of His Thought«, 2000; schwedische Erstausgabe 1915). Ernst Benz sicherte später die wissenschaftliche Wiederentdeckung Swedenborgs und seine Befreiung aus einem hagiographischen Kontext ab, indem er dessen Werke in der Hauptströmung der westlichen esoterischen Tradition mit ihren neuplatonischen und hermetischen Vorstellungen über die Beziehungen zwischen Gott und der Seele des Menschen verortete (Benz, »Swedenborg, Naturforscher und Seher«, 1. Aufl. 1948).

Korrespondenzen

Diese esoterischen und mystischen Vorstellungen über Gott, die Natur und den Menschen treten in Swedenborgs späteren wissenschaftlichen Arbeiten deutlich hervor. Seine visionären Schriften, die sich auf Unterhaltungen mit Geistern und Engeln stützen, arbeiteten die esoterische Lehre der Korrespondenzen aus. Seine eigene Auffassung dieser Korrespondenzen, die in der »Dynamik der Seelenwelt« dargelegt wird, fasste bereits ein Manuskript mit dem Titel »Ein hieroglyphischer Schlüssel zu den natürlichen und geistigen Geheimnissen, vermittelt durch Spiegelungen und Korrespondenzen« zusammen, das er 1741 verfasste, das aber erst nach seinem Tod 1784 veröffentlicht wurde. In diesem Werk erläutert Swedenborg bereits vier Jahre vor der Vision seiner Berufung ein Grundgesetz, das die Verwirklichung des göttlichen Lebens in den unterschiedlichen Reichen des Kosmos beherrscht. Es besteht eine Übereinstimmung zwischen den göttlichen, geistigen und natürlichen Dingen und eine Korrespondenz zwischen ihren Zeichen. Die Beziehung zwischen den göttlichen, geistigen und natürlichen Dingen entspricht jener zwischen Urbild, Abbild und Schatten.

Swedenborgs organisch-vitalistische Weltsicht hatte bereits die aristotelische Idee der Form und die »vis formatrix«, die Bildekraft, in sich aufgenommen, die jedem Naturwesen als schöpferische Kraft innewohnt. Seine Vorstellung des schöpferischen Prinzips, das sich wie ein »Ideenkeim« verhält, spiegelt die neuplatonische Idee wieder, dass die universellen Formen in den Stoff eindringen, um ihn zu gestalten. In seinem Werk »Die Verehrung und Liebe Gottes« erklärt Swedenborg, dass alle Körper und Formen der Natur sich aus ihrer Seele, ihrem Urbild herleiten, das sie abbilden. Aus seiner Sicht enthalten die ägyptischen Hieroglyphen eine Erinnerung an diese ursprüngliche, geistig anschaubare Form, die das Wesen der Dinge darstellt. »Die Ägypter scheinen diese Lehre ausgearbeitet zu haben und sie haben diese Korrespondenzen mit unterschiedlichen Hieroglyphen ausgedrückt, die nicht nur die Naturgegenstände abbildeten, sondern auch ihr geistiges Gegenstück.« (»Arcana coelestia« 6692, 7097, 7926; »Spirituelles Tagebuch«, 6083). Lamm und Benz haben darauf hingewiesen, dass Swedenborg mit Texten der neuplatonischen Tradition vertraut war, die beschreiben, wie der göttliche Geist sich stufenweise in immer mehr verdichtenden Abbildern seiner selbst offenbart. Aber Swedenborg bezog sich nicht nur auf die hermetische Entsprechungslehre, sondern auch auf Marsilio Ficinos Übersetzung Plotins sowie die Theologie des Aristoteles, einen pseudepigraphischen neuplatonischen Text, also zwei Kernstücke der esoterischen Philosophie.

Ursprünglich nahm Swedenborg an, allen Worten und Texten wohne eine höhere geistige Bedeutung inne und er ging wie Boehme von der universellen Präsenz der Signaturen in der gesamten Schöpfung aus. Aber seit seiner Vision im April 1745 bezog er die Korrespondenzen zunehmend auf das Wort Gottes. Die Hl. Schrift erschien ihm nun als das sichtbare Abbild der göttlichen Wahrheit, das im Sinne des Goethewortes: »Du gleichst dem Geist, den du begreifst ...« auf das Bewusstsein des Menschen zugeschnitten war. Die göttliche Wahrheit ist durch alle Welten hindurch abgestiegen. Auf ihrer höchsten Stufe können nicht einmal die Engel sie begreifen. Auf einer untergeordneten Stufe wird sie für die Engel verständlich und auf einer weiteren auch für andere Wesen der geistigen Welt. Auf der tiefsten Stufe bildet sich die göttliche Wahrheit in den Worten der Hl. Schrift ab, die der Mensch verstehen kann. Der Wortsinn der Schrift ist der Ausgangspunkt, er ist wie eine Hülle, die den geistigen und himmlischen Sinn umschließt. Das physische Wort ist der Behälter eines geistigen und himmlischen Sinnes, ebenso, wie die irdische Welt der Behälter des höheren, geistigen und himmlischen Lebens ist. Die Buchstabenzeichen sind der Leib des himmlischen Wortes, sein Schleier, in den es sich hüllt, damit es dem Menschen auf Erden zugänglich wird. In seinen Büchern »Die Lehre der Hl. Schrift (1763) und »Die wahre christliche Religion« (1771) legte Swedenborg den Umriss einer Enzyklopädie der Korrespondenzen vor, mit den unterschiedlichen Bedeutungen von Tieren, Pflanzen und Mineralen, aber auch von Zahlen, Farben, Bewegungen, Gesten und Gegenständen, die in der Bibel vorkommen. Dieselbe Symbolik entdeckte er auch in seinen Visionen und Träumen.

Die Liebe und der innere Mensch

Nachdem Swedenborg seine neue Gabe der geistigen Wahrnehmung empfangen hatte, legte er seine wissenschaftliche Arbeit beiseite, zog sich im Juni 1747 von seinen Aufgaben im Bergbauministerium zurück und widmete sich ganz dem Studium und der Erklärung der Bibel. In seiner Einleitung zu den »Arcana Coelestia« schrieb er: »Die Gnade des Herrn hat mir das Geschenk des Umgangs mit Geistern und Engeln zuteil werden lassen, den ich nun schon seit einigen Jahren ununterbrochen genieße.« Seither habe er seine Theologie auf der Grundlage von Visionen, Unterhaltungen mit Engeln und gelehrten Diskussionen in der Geisterwelt entwickelt. Diese Theologie schloss Themen wie den inneren und den äußeren Menschen, das Letzte Gericht und Gottes schöpferische Liebe ein, die sich in der Erschaffung einer lebendigen, harmonischen und geordneten Welt äußerte.

In »Himmel und Hölle« identifiziert Swedenborg ein jedes Wesen mit dem, was es am meisten liebt, mit seiner »amor regnans« (»beherrschenden Liebe«): ein Mensch ist das, was er liebt. Ein jeder bestimmt sein inneres Wesen und sein Selbstverständnis durch den Gegenstand seiner Liebe. Während des Lebens auf der Erde wurzelt der innere Mensch im äußeren. Der äußere Mensch gestaltet sich selbst durch das äußere Gedächtnis, das fortwährend neue Eindrücke und Anregungen empfängt, die das Verhalten und den Charakter bestimmen.

Nach dem Tod des Leibes empfängt der Mensch nur noch innere, geistige Eindrücke. Der innere geistige Mensch wird im Leben nach dem Tode vervollkommnet, aber nur in dem Maß, als sich bereits der äußere Mensch um moralischen Fortschritt bemüht hat. Der äußere Mensch kann im Leben nach dem Tod nicht verbessert werden, sondern behält den Charakter, den er sich während des Lebens im Leib angeeignet hat. Swedenborgs Beschreibung der Beziehung von Leib und Geist über den Tod hinaus beeinflusste die esoterischen Ansichten Johann Kaspar Lavaters (1741-1801), des Begründers der Physiognomie. Bei Swedenborg findet sich die Idee des »archetypischen« Menschen, nach der Adam und seine Nachkommen Antlitze besaßen, in denen der innere und der äußere Mensch vollkommen übereinstimmten. Wenn sich etwas so vollkommen entspricht, dann wird der physiognomische Ausdruck schlicht zur archetypischen Sprache. Das körperliche Aussehen der Menschen der Vorzeit brachte die Grundtendenz ihres Seins und ihre individuellen, geistigen und emotionalen Erlebnisse vollständig zum Ausdruck. Die äußere Form war so von der inneren durchdrungen, dass das Antlitz schlicht das Innere bedeutete. (»Arcana Coelestia«, 607, 1119, 3527, 3573)

Tod und Jüngstes Gericht

Nach dem Tod ist der innere Mensch befreit und kann sich ungehindert entfalten, woraufhin er sich einer Gesellschaft zuwendet, die seinen Neigungen entspricht. Jedermann wird von der herrschenden Liebe angezogen, die seinem Wesen innewohnt und ihn zu jenen hinzieht, die von der selben Liebe erfüllt sind – man sucht also die Gesellschaft verwandter Geister. Himmel und Hölle sind demnach keine Welten, die auf den Menschen warten und in die er aufgrund eines göttlichen Urteils nach dem Letzten Gericht versetzt wird. Es gibt keine Engel oder Dämonen unabhängig vom Menschen. Die Hölle besteht aus Menschen, deren Grundtendenz egoistisch ist und die gegen Gott und seine Worte hier auf Erden rebelliert haben. Es gibt auch keinen Himmel unabhängig vom Menschen. Der Himmel besteht aus Menschen, die sich aufgrund ihrer gemeinsamen Liebe zu Gott und ihren Nächsten zusammenschließen. Jede Tat ist in dieser Gemeinschaft ihre eigene Belohnung, ebenso wie in der Hölle jede Tat ihre eigene Bestrafung ist.

Swedenborgs Lehre von Himmel und Hölle steht für eine Theologie, die auf radikale Art in der persönlichen spirituellen Entwicklung gründet. Katholiken und Protestanten hatten stets gelehrt, die Toten würden beim Klang der letzten Posaune körperlich auferstehen, um dem Letzten Gericht unterworfen zu werden und je nach Urteil in der Hölle oder im Himmel landen. Dieses Urteil kam von außen und war endgültig. Im Unterschied dazu beschreibt Swedenborg Himmel und Hölle als geistige Möglichkeiten und Steigerungen irdischer Eigenschaften. Seine Theologie betrachtet die Entwicklung der menschlichen Person auf der Erde und nach dem Tod als kontinuierlichen Prozess. Die irdische, körperliche Welt ist von der geistigen nicht künstlich getrennt. Vielmehr entwickelt sich der innere Mensch des physischen Lebens geistig in der nachtodlichen Welt weiter.

War Swedenborg Esoteriker?

Wenn man Swedenborg in die Geschichte der westlichen Esoterik einfügen will, dann wird die Frage nach der Kontinuität seines Denkens zentral für seine Bewertung als Wissenschaftler und Mystiker. Inge Jonsson orientierte sich an Lamm, der die philosophische Kontinuität zwischen dem wissenschaftlichen Werk und der visionären Theologie aufgezeigt hat (Inge Jonsson, »Emanuel Swedenborg«, New York 1971). Aber Jonsson versuchte den Einfluss des Neuplatonismus der Renaissance, der Cambridge-Platoniker und der naturphilosophischen Tradition des Paracelsus und Johann Baptist van Helmonts auf Swedenborg zu minimieren und stattdessen hervorzuheben, was er alles dem cartesischen Denken und der Aufklärung verdankte. Sie behauptet, Swedenborg habe lediglich einige kleine Änderungen  an seinen psychophysischen Spekulationen vornehmen müssen, um bei jenen Ideen zu landen, die er später durch seine geistigen Visionen empfing.

Swedenborgianer (Mitglieder der Kirche, die von seinen Anhängern gegründet wurde), die an der Vorstellung einer unmittelbaren Offenbarung festhalten, haben auf die kanonische Bemerkung des Visionärs hingewiesen, er habe nie die christlichen Theosophen Boehme oder Law gelesen, weil er seinen Geist für die Belehrungen der Geister habe frei halten wollen. Und in der Tat finden sich in seinen visionären Werken keinerlei Zitate außer solche aus der Hl. Schrift, deren Erklärung er als seine Berufung betrachtete. Jonssons Auffassung steht der Ansicht von Benz entgegen und lässt Swedenborg vor allem als wissenschaftlichen Denker erscheinen, dessen spätere visionäre Laufbahn dazu führte, dass er zu Unrecht als Esoteriker gebrandmarkt wurde, der auf der Welle einer inzwischen ad acta gelegten Naturphilosophie mitschwamm, ja noch schlimmer, als Geisterseher und Rückfall in ein abergläubisches Zeitalter.

Marsha Keith Schuchard hat jedoch gezeigt, wie tief Swedenborg in der westlichen esoterischen Tradition verwurzelt war. Sie hat nachgewiesen, wie sehr Leibniz sich für das Rosenkreuzertum und die christliche Kabbala interessierte und dass er seinen brillanten schwedischen Kollegen Eric Benzelius ermutigte, den Alchemisten und Kabbalisten Franz Mercurius van Helmont (1618-1698) zu besuchen. Schuchards vieldiskutierte Forschungen legen nahe, dass Swedenborg sich sein ganzes Leben lang mit dem Rosenkreuzertum, der Freimaurerei und der christlichen Kabbala beschäftigte. Eine besonders provozierende Behauptung Schuchards besagt, Swedenborg habe lange Zeit Beziehungen zu einem esoterischen Kreis in London unterhalten, dem auch William Blake und Graf Cagliostro angehörten und der von Samuel Jacob Falk geführt worden sei, einem mysteriösen jüdischen Alchemisten und Kabbalisten. Wenn man Swedenborg nicht nur als Menschen betrachtet, der sich für spirituelle Erkenntnisse interessierte, sondern auch für politische und soziale Aktivitäten, dann erscheint diese Behauptung nicht mehr so abwegig.

Jane Williams-Hogan, eine führende Swedenborg-Spezialistin, hat untersucht, welche von Faivres Kategorien des esoterischen Denkens sich bei Swedenborg finden lassen. Swedenborgs Theologie bietet eine Fülle von Korrespondenzen, eine reiche Welt von Mittelwesen und die Idee der Wiedergeburt. Aber Williams-Hogan meint, Swedenborg habe der Natur kein eigenes Leben zugesprochen, »auch wenn sie das Geistige wiederspiegle und offenbare.« Dies würde bedeuten, dass sich eine höhere spirituelle Welt des Lebens in einer niederen materiellen Welt spiegelt, die ihrem Wesen nach tot ist. Insofern fände sich das esoterische Motiv einer kontinuierlich beseelten Welt, die Geist und Stoff miteinander versöhnt, bei Swedenborg nicht.

Bei seinen früheren wissenschaftlichen Untersuchungen auf dem Gebiet der Anatomie, Neurologie und Psychologie hatte Swedenborg die Natur bis in ihre kleinsten Teilchen erforscht, ohne den Sitz der Seele in der physischen Welt entdecken zu können. Der Versuch, Spuren des Göttlichen in der Natur zu finden, führte in eine intellektuelle Sackgasse, oder wie er selbst sagte, »in einen Abgrund«. Auch wenn Swedenborg anfangs von der geometrischen und mechanischen Weltsicht Descartes, Spinozas und englischer Naturwissenschaftler ausging, wurde er doch später von Wolff und Rüdiger beeinflusst, denen er die organische, vitalistische Idee einer Entelechie oder geistigen Hierarchie verdankte, die der Schöpfung innewohnt und sich in der Entwicklung entfaltet. Dennoch kann man den grundlegenden Dualismus des Transzendenten und der Natur immer noch in Swedenborgs Idee der Natur als einer cartesischen »res extensa« erkennen. Diese Idee brachte ihn an die Grenzen der Wissenschaft. Er überwand diese Sackgasse durch eine religiöse Krisis, auf die eine Initiation in die Welt der Geister folgte. Deren erlösende Theologie lehrte Swedenborg, dass nach dem Tod eine Vereinigung zwischen dem lebendigen Schöpfer und seiner Schöpfung möglich ist, an einem Ort, der weder göttlich noch natürlich ist, sondern eine Stätte der Imagination, die als Himmel bezeichnet wird. In diesem verbleibenden Dualismus (der sich von der monistischen Pansophie der frühmodernen Naturphilosophie unterscheidet) kündigt sich bereits der Spiritismus und der wissenschaftliche Okkultismus als eine neue Phase der westlichen Esoterik an. Hanegraaff hat bemerkt, dass Swedenborgs Idee einer Zwischenwelt, in der die menschliche Seele an sich selbst arbeiten kann, spätere psychologische Formen der Esoterik vorankündigt. Mehr noch: seine wissenschaftlich akribischen Beschreibungen der Geisterwelt nehmen den Okkultismus voraus, der von der konkreten Welt der Sinne ausgeht, um durch sie zu einem Beweis des Geistigen zu gelangen.

Swedenborgscher Illuminismus

Swedenborg gründete weder eine esoterische Gruppe noch eine Kirche, aber seine Ideen waren für die Illuministen des 18. Jahrhunderts höchst anziehend. Seine mögliche Verbindung mit Samuel Jacob Falk (ca. 1710-1782) in London könnte einen bedeutenden Kanal für einen solchen Einfluss geöffnet haben. In Podolien geboren, war Falk schon in seiner Jugend dem antinomischen, milleniaristischen Sabbatianismus beigetreten, bevor er nach Deutschland auswanderte, wo er an verschiedenen Höfen zu Gast war. 1739 oder 1740 siedelte Falk nach England über, wo er als der »Baal-Schem von London« (»Meister der göttlichen Namen«) bekannt wurde und einen umstrittenen Ruf als Kabbalist genoss. Von 1760 an zog er mystisch interessierte Freimaurer an, die sich für die Kabbala und ihre magischen Versprechen interessierten. Angeblich empfing Marquis de Thomé, der Begründer eines Swedenborg-Ritus in Paris, von ihm kabbalistische Unterweisungen. Es wurde auch – gestützt auf zeitgenössische Quellen in St. Petersburg und Straßburg – behauptet, Cagliostro habe 1776 während eines Aufenthalts in London eng mit Falk zusammengearbeitet, um hier seinen ägyptischen Ritus zu entwickeln. Später führten verschwörungstheoretische Berichte, die auf seine Befragung durch die Inquisition zurückgingen, die Herkunft seines ägyptischen Ritus ebenfalls auf seine angebliche Bekanntschaft mit Falk im Jahr 1776 zurück. Die angelologischen und magischen Aspekte des Ritus von Cagliostro haben in der Tat mehr mit jüdischen als ägyptischen Traditionen gemeinsam.

Der Swedenborgsche Illuminismus war eine kräftige internationale Strömung in den 1770er und 1780er Jahren und stellte die Verbindung zwischen einer Reihe esoterischer Maurergemeinschaften her, die weiter oben beschrieben wurden. Der französische Chirurg Benedict Chastanier (1739 – ca. 1816) hat angeblich bereits 1767 in Frankreich eine Loge »Erleuchteter Theosophen« gegründet, die sich auf die anonymen Schriften Swedenborgs stützte. Als er 1774 nach England ausgewandert war, erfuhr er die Identität des Autors und gründete 1776 eine maurerische Gesellschaft in London, die unter dem Namen »Universale Gesellschaft« bekannt wurde und der Verbreitung der Schriften Swedenborgs diente. Ihr gehörten die Künstler Richard Cosway und Phillipe-Jacques de Loutherbourg sowie der General Charles Rainsford (1728-1809) an, der später Gouverneur von Gibraltar war, ein eifriger Sammler alchymischer und rosenkreuzerischer Manuskripte, der im Laufe seiner militärischen Karriere vielen Hochgradlogen auf dem Kontinent beigetreten war. 1775 traten Chastanier und der Marquis de Thomé den »Philalethen« bei, einer maurerischen Gesellschaft, die von Savalette de Langes in Paris begründet worden war. Eine andere Swedenborgsche Gruppe im London der 1780er Jahre versammelte sich auf Einladung Jacob Duchés im Lambeth Asyl für weibliche Waisenkinder, wo Duché Kaplan war. 1782 nahmen Chastanier und General Rainsford Kontakt zu verwandten Gruppen in Berlin und Paris auf, indem sie eine Broschüre auf französisch veröffentlichten, in der die Grade der »Universal Society« beschrieben wurden. 1783 wurde eine weitere Gesellschaft , die »Theosophical Society« gegründet, um der »Universal Society« als Veröffentlichungsorgan zu dienen.

Die Swedenborgschen Illuminaten in London unterhielten enge Beziehungen zu anderen esoterischen Gesellschaften in Paris, Avignon und Stockholm. Chastanier pflegte seine Kontakte in Paris und konferierte mit dem Marquis de Thomé, der 1784 und 1785 einen Gegenbesuch in London machte. Im Sommer 1783 begannen General Rainsford und William Bousie, ein englisch-französischer Händler, mit der Pariser Loge der »Philalethen« zu korrespondieren, um den Konvent der letzteren im April 1785 vorzubereiten, der die Riten paramaurerischer und esoterischer Gesellschaften untersuchen sollte. Rainsford steuerte Informationen zu Swedenborg, Falk und der kabbalistischen Symbolik der Höheren Grade bei, und Bousie, der 1776 Cagliostro in London kennengelernt hatte und 1783-1787 mit der Universalen und der Theosophischen Gesellschaft zu tun hatte, diente als Verbindungsmann zwischen den Swedenborgianern in London, Paris und Avignon. Bousie und Chastanier hielten auch Kontakt mit den »Erleuchteten von Avignon«. Im Dezember 1785 kam Graf Grabianka nach London, um hier Swedenborgianer für seinen endzeitlichen Kult des »Neuen Jerusalem« zu gewinnen. Er stellte enge Beziehungen zu Jacob Duché her, nahm regelmäßig an den Treffen der Theosophischen Gesellschaft teil und versprach, noch vor seiner Abreise 1786 den Schlüssel zu allen Weisheiten zu offenbaren. Im Februar 1787 schrieb er aus Avignon, um den Glauben der »Erleuchteten von Avignon« zusammenzufassen. Zwei englische Swedenborgianer, William Bryan und John Wright, reisten Ende 1788 über Paris nach Avignon, wo sie sieben Monate blieben, um Auszüge aus den Mitteilungen der »Heiligen Stimme« abzuschreiben und mit den Brüdern an Gottesdiensten teilzunehmen. Das Klima des revolutionären Mystizismus mit seiner Sehnsucht nach religiösen und politischen Umwälzungen zog in den nächsten Jahren viele Adlige und Aristokraten in die südfranzösische Stadt.

Swedenborgs Vermächtnis

Neben den illuministischen Zirkeln war Swedenborgs unmittelbare Hinterlassenschaft die »Neue Kirche«, die in England in dem Augenblick entstanden war, als seine Publikationen in Schweden zu Untersuchungen wegen Ketzerei geführt hatten. Verschiedene englische Geistliche (Anglikaner und Quäker), Ärzte und Wanderprediger griffen seine Sache auf und 1783 existierte bereits die »Theosophische Gesellschaft« (weder mit der Gefolgschaft Boehmes noch mit der späteren Gründung Blavatskys zu verwechseln), um die »himmlischen Lehren vom Neuen Jerusalem« zu verbreiten. Die Neue Kirche fußte auf Swedenborgs Theologie und wurde 1787 gegründet. Sie wanderte als mystisch gefärbte, protestantische Reformbewegung bald nach Nordamerika und über die ganze Welt. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wuchs die Neue Kirche in Großbritannien und bestand aus über 70 Kongregationen mit mehr als 6.300 Mitgliedern. Seither sind die Kongregationen in England wieder kleiner geworden, parallel zum abnehmenden Kirchenbesuch seit dem II. Weltkrieg. Ein Schisma ließ 1890 in den USA zwei Organisationen entstehen: die »General Convention« und die »General Church«. Während die erstere von einst 7000 Mitgliedern auf etwa 2000 im Jahr 1999 geschrumpft war, hat die letztere sich sehr um Erziehung und Gemeinschaftsbildung bemüht und verfügte 2003 weltweit über knapp 5000 Mitglieder. Die USA rühmen sich außerdem dreier von der Neuen Kirche inspirierten Colleges, die eine Ausbildung in Geisteswissenschaften und zum Swedenborgschen Geistlichen anbieten.

Bedeutender als die Organisationen ist jedenfalls das spirituelle und intellektuelle Erbe Swedenborgs. Seine rationale Mystik beeinflusste so unterschiedliche Denker wie Kant, Oetinger, Lavater, Schelling und Wladimir Solowjof. Auch Künstler wurden von ihm angeregt, darunter William Blake, Goethe, Coleridge, Robert Browning, Elizabeth Barrett Browning, Honoré de Balzac, Dostojewski und W.B. Yeats. Ralph Waldo Emerson (1803-1882) und Walt Whitman (1819-1892), die Pioniere des amerikanischen Transzendentalismus, übernahmen die Idee der Korrespondenz zwischen der spirituellen und physischen Welt und entwickelten ihre eigenen Begriffe des Symboles und der Hieroglyphen daraus. Von den Mitgliedern der James-Familie schrieb der ältere Henry James (1811-1882) am eifrigsten über Swedenborg, während sein Sohn William (1842-1910) nach dem Zusammenhang von Wissenschaft und Religion suchte, vor allem in seinem bekanntesten Werk »The Varieties of Religious Experience« (1902). Der japanische Philosoph D.T. Suzuki nannte Swedenborg den »Buddha aus dem Norden« und der französische Esoterikforscher Henry Corbin verglich sein Werk mit der islamischen Mystik. Neuerdings zeigen sich Swedenborgs Ideen über das Leben nach dem Tod auch in Filmen wie »What Dreams May Come« von Vincent Ward (2001). In all diesen Übernahmen geht es um das Wechselspiel zwischen Geist und Stoff und die Zustände des Menschen nach dem Tod. Diese Themen sind Swedenborgs bleibendes Vermächtnis an die moderne Esoterik.

Vom Mesmerismus zum Spiritismus

Die intellektuelle Elite der Aufklärung betete die Vernunft als höchste Autorität, als Werkzeug zur Kontrolle der Natur, zur Entmachtung der Religion und zur Herausforderung des politischen Absolutismus an. Aber manchen Aufklärern entging nicht, dass die Vernunft nur eine Methode ist, Wissen zu organisieren. Kant meinte in seiner »Kritik der reinen Vernunft« (1781), sie vermöge kein absolutes Wissen hervorzubringen. Das »Ding an sich« bleibe unerkannt und die beschränkten und täuschungsanfälligen Sinne könnten nur die Außenseite der Dinge (das »Ding für uns«) erfassen. Die Zweifel an der metaphysischen Leistungsfähigkeit der Empirie und die Einsicht in die Grenzen der Vernunft deuten auf die inneren Widersprüche der Aufklärung. Das verheerende Erdbeben von Lissabon (1755) erschütterte die Öffentlichkeit zutiefst und stellte den neu gewonnenen Optimismus mit den ewigen Fragen nach der Unsicherheit und Ungerechtigkeit des Lebens auf die Probe.

Es gab viele Faktoren, die den Glauben der Aufklärung an die Vernunft und ihre Haltung zu Autorität und Religion relativierten. Die Gegenaufklärung betonte den Primat von Religion, Wundern, lokalen Sitten und Gebräuchen gegenüber den intellektuellen Moden der bürgerlichen Elite. Bereits um 1690 führte die Entstehung des Pietismus zum Wiederaufstieg der Spiritualität in lutheranischen Gemeinschaften, die sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts oft mit religiös-wissenschaftlichen Interessen an Hermetik, Alchemie und Medizin verband. Der grenzenlose Hunger der absolutistischen Fürsten nach Geld, mit dem sie ihren extravaganten Lebensstil finanzieren konnten, förderte das Interesse an den angeblichen Fähigkeiten der Alchemie, Gold zu erzeugen, und okkultistische Abenteurer wie Giacomo Casanova (1725-1798), Graf Cagliostro (1743-1795) und der Graf von Saint-Germain (gest. 1784) benutzten die Astrologie, die Kabbala und die Alchemie, um die leicht empfänglichen Adligen und Bürgerlichen zu manipulieren.

Swedenborgs wissenschaftliche Laufbahn und seine Suche nach dem Sitz der Seele, die zahlreichen illuministischen und maurerischen Gesellschaften in Frankreich und Deutschland, die sich mit Mystik, Renaissance-Hermetik und zeremonieller Magie beschäftigten, deuten laut Goodrick-Clarke auf ein Bedürfnis nach Erkenntnissen, die über die Fakten hinausgingen, welche von der neuen Wissenschaft mit Hilfe von Messungen und Berechnungen von Körpern und Bewegungen zu Tage gefördert wurden. Und die Wissenschaft selbst entwickelte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine ganze Reihe organisch-vitalistischer Ideen, um jene wundersamen, unsichtbaren Kräfte zu fassen, von denen die Welt durchdrungen war: Isaac Newtons Schwerkraft, Benjamin Franklins Elektrizität und die von Joseph Black, Henry Cavendish und Joseph Priestley entdeckten Gase waren lauter unsichtbare Entitäten. Aber ihre Handhabung führte zu handgreiflichen Demonstrationen physischer Kräfte. Die Leydener Flasche, der Blitzableiter, Heißluftballons und bemannte Flüge legten nahe, dass die Welt von wunderbaren Fluida durchdrungen war. Die Idee war alt und ging bis auf die Naturphilosophie des Paracelsus zurück, ließ sich aber gut auf solche neuen Phänomene wie die Elektrizität, den Magnetismus und die Chemie anwenden. Die Verbindung dieser Fluida mit dem menschlichen Geist sollte zur Entstehung einer neuen Strömung in der Geschichte der Esoterik führen: dem animalischen Magnetismus.

Franz Anton Mesmer

Laut Goodrick-Clarke bildet die vitalistische, vorromantische Phase der Wissenschaft des 18. Jahrhunderts den Hintergrund, vor dem Denken und Leben Franz Anton Mesmers (1734-1815), des berühmten Entdeckers des »animalischen Magnetismus« und seiner Anwendung zur Heilung von Krankheiten, verstanden werden kann. Mesmer wurde in Iznang in der Nähe von Radolfzell am Bodensee geboren. Zuerst für eine kirchliche Laufbahn vorgesehen, studierte er Philosophie und Theologie an den jesuitischen Universitäten von Dillingen und Ingolstadt in Bayern, bevor er sich 1760 in Wien medizinischen Studien zuwandte. Auch wenn er im 19. Jahrhundert von okkultistischen Strömungen vereinnahmt wurde, betrachtete er sich selbst als Newtonianer, der nichts als die mechanischen Kräfte erforschen wollte, die im Kosmos wirken. Seine medizinische Dissertation »Vom Einfluss der Planeten auf den menschlichen Körper« (1766) untersuchte die Ursachen der universellen Gravitation und postulierte die Existenz eines unsichtbaren, universell verbreiteten Fluidums, das fortdauernd überall hinfließt und für die gegenseitige Beeinflussung der Himmelskörper, der Erde und der Lebewesen verantwortlich ist. Das universelle Fluidum, das durch die Erde und alle Kreaturen hindurchströmt, sollte wie die Ozeane auf der Erde Gezeiten unterworfen sein. Für Mesmer war es die »Ursache der universellen Gravitation« und die »Grundlage aller körperlichen Eigenschaften, welche die kleinsten flüssigen und festen Teilchen unserer Körper zusammenzieht und ausdehnt und den Zusammenhalt, die Elastizität, die Erregbarkeit, den Magnetismus und die Elektrizität bewirkt« und er bezeichnete das Wirken dieses Fluidums in lebenden Organismen als »animalische Gravitation«.

1767 eröffnete Mesmer in Wien eine Praxis. 1773-1774 behandelte er Franziska Österlin, die an Hysterie litt und eine Vielfalt physischer Symptome zeigte, die während ihrer Anfälle wellenförmig kamen und gingen. Mesmer glaubte, einen Zusammenhang zwischen ihrer Krankheit und seiner kosmologischen These zu erkennen. Die Symptome der Hysterie erschienen ihm als Beispiel der Gezeiteneffekte des universalen Fluidums, das durch den Körper der Patientin floss. Um diese Gezeiten zu beeinflussen, benutzte er Magnete, wie sie teilweise bereits in der Medizin verwendet wurden. 1774 arbeitete er mit dem Jesuiten Maximilian Hell (1720-1792) zusammen, dem Hofastronomen der Kaiserin Maria Theresia. Hell stellte die erforderlichen Magnete her und Mesmer erreichte eine bemerkenswerte Heilung. Als Hell die Entdeckung für sich beanspruchte, behauptete Mesmer, die Heilung sei nicht von den Magneten verursacht worden, sondern vom heilenden Fluidum, das er in die Patientin geleitet habe. Sein öffentliches Ansehen als Heiler wuchs und er wurde eingeladen, 1775 und 1776 Patienten in Süddeutschland, der Schweiz und Ungarn zu behandeln.

In Bayern bat Kronprinz Max Joseph Mesmer darum, die Erfolge Johann Joseph Gassners (1727-1779) zu erklären, eines Priesters, der Heilungen durch Exorzismen und Handauflegen bewirkte. Mesmer betrachtete diese Heilungen als weiteren Beweis dafür, dass die Genesung weder Wundern noch Magneten zuzuschreiben war, sondern einer Energie im Körper des Heilers. Sein Hauptinteresse galt der Frage, wie diese Energie gehandhabt werden konnte und er entwickelte im Folgenden eine therapeutische Methode, die auf Berührungen, hypnotischen Blicken und magnetisierten Stäben beruhte, welche das Ungleichgewicht des Fluidums im Körper des Patienten beseitigen sollten. Seine Methode bezeichnete er als »animalischen Magnetismus«. Bei seinen späteren Behandlungen saßen die Patienten zusammen um ein »baquet«, eine hölzerne Wanne, die mit Eisenspänen, Sand und Flaschen gefüllt war, die magnetisiertes Wasser enthielten. Die Patienten hielten Eisenstangen, die sie in die Wanne tauchten und bildeten eine Kette, durch welche das magnetische Fluidum floss, das ihnen die gewünschte Heilung bringen sollte.

Mesmerismus als ausgegrenzte Wissenschaft

Frustriert von der skeptischen Zurückweisung seiner Theorien durch die medizinischen Autoritäten Wiens, siedelte Mesmer im Februar 1778 nach Paris über. Ängstlich darauf bedacht, die früheren Reaktionen auf die empirischen Beweise seiner Heilungen zu vermeiden, suchte er die Anerkennung der Wissenschaftler für seine Theorie eines universalen Fluidums. In Paris übten noch immer Voltaire, Diderot und d'Alembert das Hohepriesteramt des kritischen Denkens aus. Aber auch die Naturwissenschaftler waren vertreten: Laplace arbeitete an der Kosmologie, Buffon an der Biologie, Lavoisier an der Chemie und Lagrange an der Algebra. Mesmer hoffte, in diesem wissenschaftlichen Milieu ernstgenommen zu werden. Aber sein Ruf als Wunderheiler und die Schwierigkeit, zu beweisen, dass und wie ein unsichtbares Fluidum wirkt, verhinderten seine Anerkennung. Seine Annäherungsversuche an die französische Akademie der Wissenschaften und die Königliche Akademie für Medizin waren vergeblich. Sein erster bedeutender Konvertit war Charles Deslon, ein Mitglied der Pariser Fakultät für Medizin und der persönliche Leibarzt des Grafen d'Artoise, des späteren Königs Charles X. In der Zwischenzeit blühte Mesmers Praxis, zog eine enorme Zahl von Patienten an und machte durch Berichte von wundersamen Heilungen von sich reden. Zwischen 1779 und 1784 entwickelte sich ein bitterer Streit zwischen Befürwortern und Gegnern des Mesmerismus, der in zahlreichen Pamphleten ausgetragen wurde und den Ausschluss Deslons aus der Fakultät zur Folge hatte.

Mesmers »Mémoire sur la découverte du magnétisme animal« («Denkschrift über die Entdeckung des animalischen Magnetismus«) aus dem Jahr 1779 entwickelten 27 Thesen zum universalen Fluidum und dem animalischen Magnetismus. Seine Gegner entdeckten schnell, dass seine Lehre vom universellen Fluidum eine Neuauflage von Ansichten war, die man schon bei Paracelsus, Jan Baptista van Helmont, Robert Fludd und William Maxwell, dem schottischen Arzt König Charles I. finden konnte. Michel Augustin Thouret vertrat diese These 1784 in seinen »Recherches et doutes sur le magnétisme animal« (»Untersuchungen und Zweifel über den animalischen Magnetismus«). Mesmer mochte eine neue rationale Wissenschaft begründet haben, aber seine Theorien wurzelten in esoterischen Traditionen. Sein »Fluidum« war eine moderne Ausdrucksform für alte Spekulationen über subtile Agentien wie das sogenannte Pneuma. Theorien über subtile Stoffe (wie zum Beispiel den Äther) sind in der Tat ein Hauptmotiv der westlichen Esoterik und aus der belebten, beseelten Natur kaum wegzudenken. Die Verwandtschaft zwischen dieser älteren Tradition und dem Mesmerismus brachte dem letzteren viele Unterstützer bei den Illuministen des 18. und den Okkultisten des 19. Jahrhunderts ein.

Der Mesmerismus wirft laut Goodrick-Clarke die wichtige Frage nach dem Ort der Esoterik im modernen Denken und der Wissenschaft auf. Mesmer erzielte erstaunliche Erfolge: er heilte Blinde und Behinderte und fügte zerbrochene Leben wieder zusammen. Immer mehr Patienten, besonders die Reichen und Angesehenen, suchten sein Behandlungszimmer auf. Von den Armen verlangte er nichts, von den Reichen dafür um so mehr. Manche Ärzte waren beeindruckt, andere skeptisch, viele neidisch. Auch wenn der Mesmerismus zu funktionieren schien, waren die Hypothesen, die ihn erklärten, leicht angreifbar, weil sein unsichtbares Fluidum mit keinem bekannten Messgerät nachgewiesen werden konnte.

Im März 1784 wurde der animalische Magnetismus von zwei königlichen Kommissionen untersucht. Den Kommissionen gehörten an: Lavoisier, der amerikanische Diplomat Benjamin Franklin, der französische Astronom Jean Sylvain Bailly und eine Reihe von Mitgliedern der Akademie der Wissenschaften und der Königlichen Gesellschaft für Medizin. Die Soziologie der Wissenschaft übt wie man weiß einen großen Einfluss auf die Akzeptanz oder die Zurückweisung von Ideen aus. James Webb bezeichnete dieses »zurückgewiesene« oder »ausgegrenzte« Wissen (»rejected knowledge«) als »Häresie des Irrationalismus«. Die Strategie der epistemologischen Ausgrenzung ist tatsächlich mit den häresiologischen Etikettierungen vergleichbar, welche die Kirche in früheren Jahrhunderten benutzte, um esoterische Abweichler abzuwerten (insbesondere die Gnosis, Hermetik und Mystik). Im Zeitalter der Vernunft wurde Mesmers Fluidum von professionellen Wissenschaftlern als »okkulte Erklärung« zurückgewiesen. Das Verhalten seiner Patienten, die Trancezustände, Krisen und nervöse Zuckungen erlebten, unterstrich den Eindruck des Irrationalen. Mesmer verstärkte die kultische Atmosphäre bei seinen Sitzungen zusätzlich mit einer Aura des Geheimnisvollen: die Räume waren in sanftes Licht getaucht und er trug Gewänder mit okkulten Symbolen. In eine wissenschaftliche Subkultur abgedrängt, suchten die Anhänger Mesmers Alliierte im esoterischen Milieu.

Mesmerismus und Illuminismus

Auch wenn der Mesmerismus als wissenschaftliche Entdeckung von den königlichen Kommissionen verworfen wurde, blühte er in ganz Europa als Heilmethode und kulturelles Phänomen. 1781 gründeten Nicolas Bergasse, ein reicher Anwalt aus Lyon und Guillaume Kornmann, ein Bankier aus Straßburg, in Paris eine »Gesellschaft für Harmonie«, die Mesmers Heilmethoden und Ideen verbreiten sollte. Vom Hauptquartier aus wurde ein Netzwerk von magnetischen Gesellschaften in der Provinz eröffnet, das nach dem Vorbild der Freimaurer organisiert war und wegen seiner zweideutigen Position zwischen Rationalismus und Esoterik bemerkenswert ist. Zwanzig solche Gesellschaften, die sich der Geheimhaltung verschrieben und wie Sekten verhielten, existierten Mitte der 1780er Jahre in Straßburg, Lyon, Bordeaux, Montpellier, Nantes und anderen großen Städten Frankreichs. Die Gesellschaften verknüpften medizinische Behandlung mit politischen Ideen zur sozialen Emanzipation, zur Humanisierung der Gesellschaft und zur radikalen Sozialreform.

Hochgradmaurer in Lyon und Straßburg gaben dem Mesmerismus eine starke illuministische Färbung. Armand Marie Jacques Chastenet, der Markgraf von Puységur, gründete in Straßburg eine mesmeristische Gesellschaft unter dem Namen »Société des Amis Réunis«, die enge Beziehungen zur Loge »La Candeur«, der wichtigsten der 29 Straßburger Logen, unterhielt. Durch seine mesmeristische Praxis entdeckte Chastenet den künstlichen Somnambulismus, der ein reiches Feld spiritueller Spekulation eröffnete. 1787 korrespondierte die Stockholmer »Exegetische und Philanthropische Gesellschaft«, eine Gruppe von Swedenborgianern, mit der Straßburger Gesellschaft über spiritistische Fragen, was darauf hindeutet, dass die Schweden durch mesmerisierte Medien mit den Geistern der Toten zu kommunizieren versuchten. Die Lyoner Gesellschaft stand unter dem Einfluss von Jean-Baptiste Willermoz, dessen esoterische Interessen aufgrund seiner Beteiligung an den theurgischen Ritualen der »Auserwählten Cohens« belegt sind. Die Lyoner Gesellschaft »La Concorde« rekrutierte zahlreiche Theosophen, Alchemisten und Rosenkreuzer aus Willermoz' masonischem Orden der »Chevaliers Bienfaisants de la Cité Sainte«. Auch Louis Claude de Saint-Martin, der sich 1784 der Pariser Gesellschaft angeschlossen hatte, war in den Mesmerismus verwickelt. Er wirkte nicht nur als spiritueller Ratgeber für Willermoz, sondern erteilte seinen Rat auch dem Chevalier de Barberin, dem Leiter der Lyoner Gruppe und dem Marquis de Puységur, der nach einer Theorie der spirituellen Bedeutung des Somnambulismus suchte. Mesmer war von diesen Entwicklungen nicht beeindruckt, da er weiter nach wissenschaftlicher Anerkennung suchte. Von einem Besuch der Lyoner Gesellschaft im August 1784 kehrte er enttäuscht zurück, weil Willermoz ihm erklärt hatte, er sehe keinen Unterschied zwischen visionären Erfahrungen und der mesmeristischen Trance.

Animalischer Magnetismus und Somnambulismus

Nach wiederholten Auseinandersetzungen mit Deslon und Bergasse verließ Mesmer im Jahr 1785 Paris. Aber der animalische Magnetismus hatte sich dank der Experimente anderer bereits von Mesmer emanzipiert. Der Graf von Puységur und sein Bruder, der Vizegraf Jacques Maxime Paul Chastenet von Puységur, hatten zu den ersten Schülern Mesmers in Paris gehört. Im April 1784 begannen sie die erlernten Methoden bei den Bauern auf ihren Ländereien in Buzancy nahe Soissons anzuwenden. Sie führten ihre Sitzungen unter offenem Himmel durch, ihre Patienten hielten sich an einem Seil fest, das von einem magnetisierten Baum herunterhing. Während Mesmers Patienten in der Regel durch Krämpfe und eine Krisis hindurchgingen, stellten die Puységurs fest, dass die ihrigen auf die Behandlung mit einem ruhigen Trancezustand reagierten, in dem sie hochgradig beeinflussbar waren. In diesem somnambulen Zustand schliefen sie zwar, konnten aber auf Fragen antworten und berichten, was sie erlebten. Als Armand diese Experimente mit anderen Patienten wiederholte, stellte er fest, dass dieser Bewusstseinszustand regelmäßig eintrat. Manche Somnambulen vermochten ihre eigenen Krankheiten zu diagnostizieren, Gedanken zu lesen und Phänomene und Ereignisse wahrzunehmen, die dem gewöhnlichen Bewusstsein nicht zugänglich waren.

In den späten 1780er Jahren vernachlässigten Mesmeristen die medizinische Anwendung zugunsten der esoterischen Aspekte. Die tiefe Trance ihrer Patienten, die als erweiterter Bewusstseinszustand interpretiert wurde, führte oft zu prophetischen und hellsichtigen Erlebnissen. Die frühesten Beispiele des modernen Spiritismus können, so gesehen, mit Mesmer in Verbindung gebracht werden. Schon vor dem Ende des 18. Jahrhunderts fragten die »Animisten« oder »Spiritisten« die Somnambulen gelegentlich nach der unsichtbaren oder nachtodlichen Welt. Von Pasqually und Mesmer inspiriert, praktizierte Willermoz einen spiritistischen Magnetismus, um nach Bestätigungen für den ursprünglichen Zustand der Menschheit vor dem Fall zu suchen. Die spiritistischen Phänomene schlossen Visionen, Hellhören und automatisches Schreiben ein. Willermoz untersuchte die Trancezustände von Jeanne Rochette, die von Kontakten mit Engeln berichtete und war von den göttlichen Botschaften beeindruckt, die Marie-Louise de Monspey 1785 vom Geist der Jungfrau Maria empfangen haben wollte. Saint-Martin fertigte eine Abschrift dieser automatischen Botschaften an, da sie die Lehren Pasquallys zu bestätigen schienen. Magnetiseure begannen darüber nachzudenken, ob die Seele des Somnambulen während des Trancezustandes den Körper verließ und sich mit den Verstorbenen unterhalten konnte. Da der Mesmerismus hauptsächlich in der Aristokratie verbreitet war, fegte die Revolution ihn beiseite und er kam in Frankreich erst nach dem Fall Napoleons wieder auf.

Der Graf von Puységur und seine französischen Anhänger, die Mesmers ursprüngliche These eines universalen Fluidums vertraten, wurden als »Fluidisten« bezeichnet, während der Martinist Chevalier de Barberin glaubte, alle Heilungen durch Magnetisierung und Somnambulismus gingen auf den Willen, den Glauben und Gott zurück, der auf die Seele einwirke. Barberin verzichtete auf Magnete und »baquets«. Seine Anhänger, die Vorläufer der modernen Geistheilung, wurden als »Spiritisten« oder »Animisten« bezeichnet. Die Animisten verneinten die Existenz eines animalischen Magnetismus, schrieben die Trancezustände der Suggestion und Imagination zu und nahmen so die Hypnose und andere Aspekte der späteren Psychologie vorweg.

Animalischer Magnetismus, Theosophie und Naturphilosophie in Deutschland

Der animalische Magnetismus kam bald nach Deutschland, wo er sich oft mit mystischen Ideen verband. Ihm hatten Prokop Divisch, Friedrich Christoph Oetinger und Ludwig Fricker bereits in den 1760er Jahren durch ihre »Theologie der Elektrizität« einen fruchtbaren Boden bereitet. Der Priester, Theosoph und Historiker Oetinger hatte ein »elektrisches Feuer« in allen Dingen postuliert, das seit der Beseelung des Universums existiere und den Menschen mit allen Ebenen des Lebens verbinde. Heinrich Jung-Stilling (1740-1817), ein weiterer Pietist und Theosoph und enger Freund des jungen Goethe, schrieb über die visionäre Erfahrungen und bezog den animalischen Magnetismus in seine »Theorie der Geisterkunde« (1808) ein. Der führende deutsche Theosoph Franz von Baader (1765-1841) schrieb ein Buch »Über die Ekstase oder das Verzücktsein der magnetischen Schlafredner« (1817).

Der animalische Magnetismus wurde auch in die deutsche Naturphilosophie integriert, die enge Beziehungen zur Theosophie unterhielt. Die Naturphilosophie entstand als spezifisch deutsche Spielart der Naturwissenschaft zwischen 1790 und 1820 in der deutschen Romantik. Sie deutete die Natur als lebendigen, spirituellen Text, der mit Hilfe von Korrespondenzen, Harmonien und Analogien entschlüsselt werden konnte. Im Unterschied zur induktiven Wissenschaft arbeitete die Naturphilosophie mit ewigen, absoluten und ursprünglichen »Typen«, wodurch sie ihren Zusammenhang mit der Hermetik bekundete, die davon überzeugt war, dass der Geist des Menschen die geistigen Vorgänge der Natur widerspiegle. Der romantische Philosoph Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775-1854) kam durch Oetinger zur Theosophie und wandte sich der Lektüre Boehmes zu. Schellings frühes Werk »Die Weltalter« (1797) griff die neuplatonische Idee der Weltseele wieder auf, während die meisten Naturphilosophen Spezialisten im Bereich der Chemie, Physik, des Ingenieurwesens und der Medizin waren und mit der Universität Jena zu tun hatten. Sie beschäftigten sich insbesondere mit dynamischem Prozessen und unsichtbaren Einflüssen, wie dem Magnetismus, dem Galvanismus, der Elektrizität, der Elektrochemie, aber auch mit der Psychologie, in der sie frühe Konzepte des Unbewussten und der Traumdeutung entwickelten.

Einige romantische Naturphilosophen wurden zu Theoretikern des animalischen Magnetismus. Ein führender Naturphilosoph und Theosoph, Gotthilf Heinrich Schubert (1780-1860), behauptete in seinen Büchern »Ansichten von der Nachtseite der Natur« (1808) und »Die Symbolik der Träume« (1814), Somnambule im Trancezustand stünden mit den geistigen Kräften der Natur in Verbindung. Der animalische Magnetismus stellte damit die Einheit zwischen dem bewussten und unbewussten Leben wieder her. Der Naturphilosoph Adam Karl August Eschenmayer (1768-1852) gab zusammen mit Dietrich Georg Kieser das »Archiv für thierischen Magnetismus« heraus. Der letztere verfasste ein »System des Tellurismus oder thierischen Magnetismus« (1826). Daneben schrieb Eschenmayer Bücher über die somnambule »Seherin von Prevorst« und eine Abhandlung über die Metaphysik der Natur, in der er insbesondere die Chemie und Medizin beleuchtete. Friedrich Hufeland schrieb über die Sympathie zwischen den Lebewesen und Karl Friedrich Burdach sprach von einem transpersonalen magnetischen Raum, zu dem die magnetische Trance Zugang verschaffen sollte. Um 1815 war der animalische Magnetismus mit Lehrstühlen in Berlin und Bonn ein respektables akademisches Thema in Deutschland.

Im Unterschied zu den frühen Praktikern in Frankreich beschäftigten sich die  deutschen Verfechter des animalischen Magnetismus meist mit Zwischenwelten, Theosophie und Esoterik. Eine Schlüsselfigur bei dieser romantischen Förderung des animalischen Magnetismus war der schwäbische Arzt und Dichter Justinus Kerner (1786-1862), der von Schuberts Buch über die Traumsymbolik beeindruckt war, sich um 1820 mit dem animalischen Magnetismus zu befassen begann und später die erste Biografie Mesmers schrieb. 1829 veröffentlichte er seinen berühmten Bericht über Friederike Hauffe, die »Seherin von Prevorst« (1801-1829), eine Patientin, die er wegen akuter Hysterie magnetisch behandelt hatte. Hauffe wurde durch die magnetische Behandlung zu einer Mustersomnambulen, die aus ihrer kränklichen Konstitution einen gewissen Nutzen zog, vor allem aber in ihren Trancezuständen eine enorme Sensitivität zeigte, hellsichtige Prophetien erlebte und Visionen von Geistern und kosmischen »Sonnenkreisen« und »Lebenskreisen« hatte. Ihre komplexen kosmologischen und chronologischen Diagramme, die irdische Ereignisse zur höheren Welt in Beziehung setzten, waren Beispiele für eine esoterische Philosophie, die Korrespondenzen zwischen Mikro- und Makrokosmos voraussetzte, mit Imagination und Mittlerwesen umging und von der Umwandlung der Seele der Seherin zeugte. Dank der Dokumentation Kerners wurde die Seherin von Prevorst in ganz Europa berühmt und Kerners Werk (das 1845 ins Englische übersetzt wurde) sollte später den Spiritismus mit dem Mesmerismus und der Esoterik verknüpfen.

Der spätere animalische Magnetismus in Frankreich und England

Der animalische Magnetismus rief im postnapoleonischen Frankreich und im England des 19. Jahrhunderts ein enormes Interesse und eine Fülle kontroverser Literatur hervor. Die späteren Theoretiker in Frankreich waren jedoch mehr am Problem des Willens als an den Geheimnissen des Somnambulismus interessiert. Ein Schüler Puységurs vor der Revolution, Joseph Philippe François Deleuze (1753-1835) veröffentlichte eine »Histoire critique du magnétisme animal« (»Kritische Geschichte des tierischen Magnetismus«, 1813), in dem er behauptete, das magnetische Fluidum sei eine Emanation, die vom Magnetiseur ausgehe und von seinem Willen dirigiert werde, der auch die entscheidende Rolle bei der Heilung spiele. Ein portugiesischer Abbé, José Custodio de Faria, der in Paris praktizierte, leugnete die Existenz eines Fluidums und schrieb die Erfolge der Behandlung der Empfänglichkeit des Patienten für den Einfluss des Magnetiseurs zu. Sein Buch »Le sommeil lucide« (1819, »Der luzide Schlaf«, 1819) hatte eine großen Einfluss auf Alexandre Bertrand, dessen »Traité du somnambulisme« (»Abhandlung über den Somnambulismus«, 1823) die Idee der Suggestion als therapeutischer Methode vorwegnahm. Eine andere wichtige Gestalt war der Baron Jules Dupotet de Sennevoy (1798-1881), ein Medizinstudent, der 1820 an den ausgedehnten mesmeristischen Experimenten im Hȏtel-Dieu in Paris teilgenommen hatte, in der Untersuchungskommission von 1831 mitwirkte und als homöopathischer Arzt von 1837 bis 1845 in London tätig war. Hier wurde auch seine »Introduction to the Study of Animal Magnetism« (»Einführung in das Studium des animalischen Magnetismus«, 1838) veröffentlicht.

Die mesmeristischen Veranstaltungen von Dupotet und Regazzoni in Frankreich und England bezeugen auch deren Attraktivität als Bühnendarbietung. Bei Regazzonis Vorführungen im Jahr 1856 hielten zufällig ausgewählte Personen mit verbundenen Augen an einer imaginären kabbalistischen Linie an, die er zuvor über den Boden gezogen hatte. In einem anderen Fall fiel ein Mädchen mit verbundenen Augen, allein von Regazzonis Willen beeinflusst, zu Boden, als wäre es vom Blitz getroffen worden. Regazzonis Fähigkeiten provozierten Vergleiche mit der Magie und Dupotets theoretisches Werk »La magie dévoilée« (»Die entschleierte Magie«, 1875) setzte den Mesmerismus tatsächlich mit der traditionellen Praxis der Magie gleich. Dupotet war der Auffassung, der Wille rufe die Trancezustände genauso hervor wie die Phänomene der Magie. Diese Ideen sollten den modernen Okkultismus beeinflussen. Helena Petrowna Blavatsky stellte ebenfalls eine Beziehung zwischen dem Mesmerismus und der Magie her und bezeichnete Dupotet als »Großmeister« und »Fürsten« der französischen Mesmeristen. Sie zitierte ausführlich aus seinem Werk und betrachtete ihn als Adepten, der den Zusammenhang von Trancezuständen und Magie erkannt habe. Blavatsky war selbst eine stramme »Fluidistin«, nicht nur wenn sie Mesmer zitierte, sondern auch bei ihrer Erklärung der Magie und der göttlichen Inspiration des Universums.

Die englischen Ärzte, die sich für animalischen Magnetismus einsetzten, waren alle von Praktikern auf dem Kontinent beeinflusst. Richard Chenevix erlebte ihn erstmals 1803 oder 1804 in Deutschland und überzeugte sich 1816 in Paris von seiner Wirksamkeit durch Demonstrationen des Abbé Faria. John Elliotson (1791-1868), ein bedeutender englischer Arzt und Professor für Medizin an der Universität London, der für die Gründung des University College Hospital 1834 verantwortlich war, traf Chenevix erstmals 1829, aber erst als er Dupotet 1837 bei seiner Arbeit zusah, wurde er zu einem leidenschaftlichen Verfechter des animalischen Magnetismus. Dupotet war Fluidist und Elliotson folgte seiner Interpretation. Er experimentierte in den Räumen des Krankenhauses und führte Operationen durch, während sich die Patienten in einem somnambulen Zustand befanden. Aber seine Kollegen brachten ihm heftigen Widerstand entgegen und schließlich wurde er aus dem Krankenhaus geworfen. Daraufhin eröffnete er eine private Praxis und gab das Periodikum »The Zoist« (1843-1855) heraus, das den Mesmerismus zusammen mit der Phrenologie propagierte, was dazu führte, dass ersterer als populäre Religion zu blühen begann, nicht aber als anerkannte medizinische Methode.

James Braid (1795-1860), ein schottischer Chirurg, der in Manchester praktizierte, begann sich 1841 für den Mesmerismus zu interessieren, als er Demonstrationen beiwohnte, die ein reisender Schweizer Mesmerist namens Charles Lafontaine gab. Braid glaubte, das Phänomen erklären zu können, für das er in seinem Buch »Neurypnology: or the Rationale of Nervous Sleep« (1843) den Begriff »Hypnotismus« prägte. Er behauptete, der Zustand könne durch die Fixierung auf einen kleinen Gegenstand, der vor die Augen gehalten werde, hervorgerufen werden. Sein Buch wurde in England ignoriert, aber in den 1860er Jahren von der französischen Psychiatrie wieder entdeckt. Indem er ihn seiner fluidistischen Erklärung und seiner esoterischen Interpretation beraubte, verschaffte Braid dem animalischen Magnetismus unter dem Namen »Hypnose« Eintritt in die Welt der modernen Psychologie.

Swedenborgianismus und Mesmerismus in den Vereinigten Staaten

Der animalische Magnetismus wurde 1838 durch einen Franzosen, Charles de Poyen, in die Vereinigten Staaten eingeführt und breitete sich ab 1840 unter spiritistischen und okkultistischen Gruppen, die oft auch Ideen Swedenborgs vertraten, schnell aus. Phineas Parkhurst Quimby (1802-1866), ein amerikanischer Arzt, hörte Poyen in Belfast, Maine bei einem Vortrag und begann ab 1840 selbst als reisender Arzt den Mesmerismus zu verbreiten. William Levingston, der mit dem animalischen Magnetismus experimentierte, fand in Andrew Jackson Davis (1826-1910), einem Schuster, der unter dem Namen der »Seher von Poughkeepsie« bekannt wurde, ein ideales Trancemedium. Davis konnte sich im Trancezustand geistig an ferne Orte bewegen, über Gegenstände Vorträge halten, von denen er im Wachbewusstsein nichts wusste, mit verbundenen Augen Bücher  lesen und medizinische Diagnosen stellen, die zu Heilungen führten. Er kommunizierte mit einem Geist, den er später als Swedenborg identifizierte und verfasste 1847 »The Principles of Nature«, in dem er sich über Swedenborgs Ideen unterschiedlicher geistiger Welten, die geistige Ehe und die Anziehung des Gleichen durch das Gleiche ausließ. Das Besondere an seinem Buch war, dass es im Trancezustand verfasst worden sein sollte und insofern andere »gechannelte« Literatur der modernen Esoterik, wie Blavatskys »Entschleierte Isis«, Levis' »Wassermann-Evangelium Jesu Christi« oder Jane Roberts »Seth-Material« vorwegnahm. Die »Prinzipien der Natur« erreichten schnell mehr als 30 Auflagen und wurden zu einem Gründungstext des modernen Spiritismus.

Der animalische Magnetismus war unter amerikanischen Swedenborgianern seit 1794 kontrovers diskutiert worden. Die Swedenborgianer hatten schnell eine Verbindung zwischen Mesmers magnetischen Zuständen und dem neueren Phänomen der spiritistischen Kommunikation mit Geistern hergestellt und das Thema wurde dringlich, nachdem Davis die spektakuläre Behauptung aufgestellt hatte, mit Swedenborg zu kommunizieren. Seine Verkündigung und die spiritistische Bewegung verursachten in der Neuen Kirche erhebliche Konflikte, da Swedenborg vor der Kontaktaufnahme mit Verstorbenen gewarnt, aber auch dazu aufgefordert hatte, auf ihre Mitteilungen zu hören. George Bush (1794-1859), ein Swedenborgianer und Professor für asiatische Sprachen, war von der Authentizität der Trancezustände von Davis überzeugt, zweifelte aber daran, dass dieser mit Swedenborg kommunizierte.

Die Trancevorträge von Davis zogen viele an, unter anderem den Autor Edgar Allan Poe und den Hellseher Thomas Lake Harris (1823-1906). Der in England geborene Harris war kurze Zeit Geistlicher der Universalistischen Kirche in Amerika gewesen, um dann zur Gruppe um Davis zu stoßen. Harris war von der neuen Welle des Spiritismus beeinflusst und gründete in kurzer Folge eine Swedenborgkirche in New York, eine spiritistische Gemeinschaft in Virginia, kehrte dann zum Swedenborgianismus zurück, um schließlich eine endzeitliche Gemeinschaft zuerst in New York, dann am Eriesee und schließlich ab 1875 in Kalifornien zu leiten. Er vertrat radikale Ansichten über die eheliche Liebe (die jenen Swedenborgs widersprachen), Spiritismus, Feen und später über orientalische Religion, Freimaurerei und esoterische Weisheit. Wie Bruce Campbell festgestellt hat, wurde der Okkultismus Mitte des 19. Jahrhunderts in Amerika hauptsächlich in Form des Mesmerismus, des Swedenborgianismus und der Freimaurerei eingeführt.

Neues Denken und christliche Wissenschaft (New Thought, Christian Science)

Phineas Parkhurst Quimby führte mit seiner Kombination von Mesmerismus und Glaubensheilung Gesundheit und Krankheit eines Menschen auf dessen Imagination zurück. Diese Ideen sollten ab 1870 entscheidend für die Verbreitung einer neuen religiösen Bewegung in den USA sein, die sich mit Heilung, Gesundheit und dem leiblichen Wohl beschäftigte und als »Mental Science«, »Mind Cure«, »Boston Craze« oder »New Thought« bezeichnet wurde. Sowohl der New Thought als auch die Christian Science verbanden eher traditionelle christliche Ideen mit metaphysischen Traditionen des 19. Jahrhunderts. Die letzteren waren diffus, schlossen aber eine weltliche Form von Spiritualität ein, die um mystische Erfahrung und die Bedeutung der Macht des Geistes über den Körper kreiste, insbesondere die Heilung durch geistige Kräfte. Von 1847 bis zu seinem Tod 1866 widmete Quimby sein Leben der Heilung von Kranken und behandelte in dieser Zeit mehr als 12.000 Menschen. Einige von ihnen trugen dazu bei, dass er berühmt wurde.

Zu diesen gehörte Warren Felt Evans (1817-1889), einer der ersten, der ernsthaft über Quimbys Lehren schrieb und seine Ideen mit jenen von Swedenborg verglich. Evans Werke schlossen Titel ein wie »The Mental Cure, illustrating the influence of the Mind on the Body« (1869), »Mental Medicine« (1872), »Soul and Body« (1875), »The Divine Law of Cure« (1881) und »Esoteric Christianity and Mental Therapeutics« (1886). Die frühere Patientin Mary B. Patterson, später Eddy (1821-1910) war praktisch invalide, gesundete aber 1862 dank der Behandlung Quimbys. Ihr erstes Buch, »Science and Health with Key to the Sciptures« (1875) gab Quimbys Ideen in Verbindung mit biblischen Lehren wieder. Die Autorin bezeichnete es als »Lehrbuch der Christian Science«. 1879 gründete Mary Eddy zusammen mit Anhängern eine Gemeinschaft, die später als »First Church of Christ, Scientist (The Mother Church)« bezeichnet wurde.

Die früheren Patienten Quimbys, Julius (1838-1893) und Annetta Dresser (1843-1935), riefen die »Mental Science«-Bewegung in Boston ins Leben. 1882 entstand ein Streit zwischen Mary Eddy und einem ihrer früheren Studenten, Edward J. Arens sowie Julius Dresser, der zusammen mit seiner Frau und seinem Sohn Horatio streng am Heilungssystem von Quimby festhielt und die Herkunft der Ideen Eddys in Frage stellte. Julius Dresser argumentierte zugunsten der Priorität Quimbys in einem Buch mit dem Titel »The True History of Mental Health« (1887) und Annetta Dresser stellte ihre Version in »The Philosophy of P.P. Quimby« (1895) dar. Die Dressers riefen eine Bewegung ins Leben, die der »Christian Science« von Mary Eddy Konkurrenz machen sollte und nannten sie »New Thought Movement«. Diese Bewegung bestand aus kleinen unabhängigen Gruppen in Boston, die 1895 den »Metaphysischen Club« bildeten und ein Magazin namens »New Thought« herausgaben. Die Bewegung der Dressers verbreitete sich schnell in ganz Nordamerika. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte sie sich mit Autoren wie Ralph Waldo Trine, Emma Curtis Hopkins und William Walker Atkinson ein Massenpublikum gesichert. Atkinson verfasste mehr als zwanzig Bücher über hermetische Weisheit, Magnetismus, Hindu-Atemtechniken, Joga, Karma und die Kraft der Visualisierung. Durch die New-Thought-Bewegung passte sich der Mesmerismus an die amerikanische Lebensphilosophie an, die den Einzelnen für seinen Gesundheitszustand, sein Wohlergehen, sein Glück und seinen Reichtum verantwortlich macht.

Moderner Spiritismus

Der amerikanische Spiritismus, den die französischen vorrevolutionären spiritistischen Magnetiseure und die romantischen Naturphilosophen bereits vorangekündigt hatten, nahm 1848 als populäre sozioreligiöse Bewegung Fahrt auf. Die zwei Schwestern Catherine (Kate) (1837-1892) und Margaretta (Maggie) Fox (1833-1893) begannen Geisterbotschaften in Form von Klopfgeräuschen in ihrem Haus in Hydesville in Rochester, New York zu empfangen. Als man die Überreste eines toten Hausierers im Keller entdeckte, wurde allgemein angenommen, die Klopfgeräusche seien seine Mitteilungen von jenseits des Grabes. Ann Leah Underhill (1814-1890) nahm die Werbung und das Management für die Séancen der Geschwister in die Hand, die kurz darauf in New York City abgehalten wurden. Die beiden Mädchen wurden nationale Berühmtheiten. Die Hydesville-Bewegung besaß soziale, moralische und politische Untertöne. Der offensichtliche Hunger der protestantischen Sekten an der Ostküste nach dem Übernatürlichen, nach sinnlicher Ergänzung ihrer Religion und nach Zeichen der göttlichen Gnade überwältigte alle Kritiker und Skeptiker. Den Höhepunkt erreichte die Begeisterung Mitte der 1850er Jahre, in denen eine ganze Reihe von Publikationen erschienen, die das Phänomen beschrieben: Charles Hammonds »Light from the Spirit World« (»Licht aus der Geisterwelt«, 1852), Judge Edmonds und George Dexters »Spiritualism« (»Spiritismus«, 1853) oder Robert Hares »Experimental Investigation of Spirit Manifestations: Demonstrating the Existence of Spirits and Their Communication with Mortals« (»Experimentelle Untersuchung von Geistererscheinungen: Beweis der Existenz von Geistern und ihrer Kommunikation mit den Lebenden«, 1855).

Die neue Bewegung breitete sich rasch aus, neue Medien traten überall im Nordosten hervor, neue Methoden der Kommunikation mit Geistern wurden entwickelt, und immer spektakulärere, theatralischere Demonstrationen der Gegenwart und Macht der Geister entstanden. Die physischen Phänomene schlossen Tischrücken ein, das Verrücken von Möbeln, Schreiben der Geister auf Tafeln, phosphoreszierende Flammen, telekinetische Materialisierung von Gegenständen, von selbst spielende Musikinstrumente, das Erscheinen von Geisterhänden, die Levitation der Medien, Geistergesichter, die durch das Kabinett des Mediums sichtbar wurden und dreidimensionale Körper, die unter den Teilnehmern der Séance herumgingen. Die neue amerikanische Bewegung erreichte England, als das Medium Maria Hayden im Jahr 1852 London besuchte und als Daniel Dunglas Home (1833-1886) mit seinen Darbietungen, zu denen auch Levitationen gehörten, 1855 einen Aufruhr hervorrief. Der Séancenraum bot eine neue Form der Heiligen Kommunion, der Glaube wurde durch sinnliche Evidenz ersetzt, das Sakrament durch die Manifestation von Geistern. Der Spiritismus rief ein eigenes Bekenntnis ins Leben, das sich in den neugotischen Kirchen der Industriestädte des 19. Jahrhunderts ausbreitete. Zugezogene Vorhänge, Dämmerlicht, intime Zirkel, attraktive weibliche Medien, Geister in durchsichtigen Kleidern, fremdartige Stimmen, Ausströmung von Fluida (Ektoplasma), sind einige Beispiele für das viktorianische Interesse an Geheimnis, Sex und Tod und die Sehnsucht nach der »anderen Welt« jenseits des kalten Lichtes der wissenschaftlichen Rationalität.

Spiritismus und Parapsychologie (Psychical Research)

Der Spiritismus ist als neue religiöse Bewegung bedeutsam, aber seine Beziehung zur Esoterik ist weniger eindeutig. Der moderne Spiritismus besitzt interessante Ähnlichkeiten mit der antiken Theurgie (Medien, Trancezustände, veränderte Stimmen, Geisterkommunikation). Aber die Trivialität der modernen Geisterbotschaften, die so häufig die persönlichen Sorgen und Hoffnungen der Teilnehmer wiederspiegeln, und der Mangel einer zusammenhängenden Weltsicht, die sich auf mehr bezieht, als das Leben hinter dem Schleier des Todes, disqualifizieren ihn als eine mögliche Variante der esoterischen Philosophie. Oft manifestierten sich die Geister Verstorbener bei Séancen, Engel und andere Mittelwesen blieben fern. Selbst die Geister von Religionsgründern traten selten in Erscheinung. Die spiritistische Vision des glücklichen Aufenthalts der Verstorbenen im »Sommerland« trug zur Verbreitung eines utopischen Glaubens an soziale Experimente und endzeitliche Visionen der Zukunft bei (z.B. bei Thomas Lake Harris oder Charles Fourier). Patrick Deveney meinte, dem Spiritismus gehe es allein um die Fortexistenz nach dem Tod, während seine übrigen Ansichten auf das Diesseits gerichtet seien: den sozialen Fortschritt und Reformen.

Der Spiritismus ist das Produkt der modernen Massengesellschaft. Dass er sowohl die Industriearbeiter als auch die Mittelklasse anzog, deutet auf seine religiöse Funktion in der entzauberten Welt der säkularen Moderne hin. Außerdem unterhielt er eine enge Beziehung zur positivistischen Wissenschaft, die Mitte des 19. Jahrhunderts ihren Siegeszug antrat. Der Spiritismus ließ aber auch ab 1850 eine empirische psychische Forschung entstehen, die versuchte, den Wert und die Gültigkeit seiner Phänomene zu prüfen. Hervorragende britische Wissenschaftler und Philosophen wie Sir William Crookes, Sir Oliver Lodge, Alfred Russel Wallace, Lord Raleigh, Frederic W. H. Myers, Frank Podmore und Edmund Gurney waren wichtige Akteure in der Geschichte der »Society for Psychical Research«, die 1884 in London begründet wurde. Wie Faivre und Hanegraaff bemerkt haben, hatten der Spiritismus und andere Strömungen des modernen Okkultismus nichts mehr mit der esoterischen Spiritualität der Hermetik, den engelhaften Mittlerwesen und der Ursprache der Natur zu tun. Die Geister der Toten, die durch moderne Methoden kontaktiert werden, benutzten banale Zeichen, um Botschaften mitzuteilen und bedienten sich offensichtlich weltlicher Praktiken. Ihre Gegenwart und ihre Offenbarungen müssen in theatralischen Darbietungen gezeigt und von Skeptikern mit technischen Mitteln aufgezeichnet und überprüft werden. Nur eine entzauberte Welt bedarf solcher prosaischen Beweise. Zeitgenössische Esoteriker wie Rudolf Steiner oder René Guénon haben den Spiritismus deswegen als Materialismus verurteilt.

Mesmers animalischer Magnetismus war eine traditionelle Form der Pneumatologie, der die wissenschaftliche Anerkennung versagt blieb. Als geheimer Erbe von Ideen, die von Paracelsus, Robert Fludd und William Maxwell stammten, fand der Mesmerismus Zustimmung bei französischen Geistmagnetiseuren und Illuministen der 1780er Jahre und unter den romantischen Theosophen und Naturphilosophen in Deutschland, wofür Kerners Darstellung der Seherin von Prevorst das Hauptbeispiel darstellt. Als die fluidistische Theorie zugunsten der Hypnose und der Suggestion aufgegeben wurde, fand der animalische Magnetismus Eingang in die säkularen Strömungen der Psychologie und in Selbsthilfepraktiken. Auch wenn die Ideen Swedenborgs und des animalischen Magnetismus vom modernen Spiritismus aufgegriffen wurden, entstand er doch unabhängig von diesen und seine Motive und Interessen waren vergleichsweise weltlich. Abgesehen von der visionären Hellsicht und den kosmologischen Spekulationen von Andrew Jackson Davis zeigte der moderne Spiritismus wenig Interesse an der Ausarbeitung esoterischer Kosmologien, an Mittlerwesen oder der Umwandlung der Seele. Erst mit seiner Transformation in den modernen Okkultismus durch Pascal Beverley Randolph, Emma Hardinge Britten und Helena Petrowna Blavatsky nahm er jene weiter reichenden esoterischen Perspektiven in sich auf, die magische Praktiken, spirituelle Evolution, geistige Hierarchien und die Reinkarnation zu bieten vermochten.

Rituelle Magie von 1850 bis heute

Wer sich in umfassender Weise mit der Geschichte der abendländischen Esoterik befassen will, muss auch die Erneuerung des Okkultismus und der rituellen Magie zur Kenntnis nehmen, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vollzog.

Diese Erneuerung ist ein komplexes, durch eine Vielzahl von Faktoren bedingtes Phänomen. Schon die Romantik förderte das Interesse an der Nachtseite der Natur und des Bewusstseins und dadurch die Empfänglichkeit für den Mesmerismus, den Spiritismus und die Magie, die sich als Methoden anboten, in das Jenseits des Alltagsbewusstseins einzudringen. Zwischen 1821 bis 1826 antwortete Georg Conrad Horst mit seiner sechsbändigen »Zauber-Bibliothek«, die Hexerei, Theurgie, Prophezeiung und Zauberei behandelte, auf dieses wachsende Bedürfnis. Mitte des 19. Jahrhunderts erschienen eine Reihe von verwandten Büchern, unter anderem Joseph Ennemosers »Geschichte der Magie« (1844), die 1854 von William Howitt ins Englische übersetzt wurde, der seinerseits eine »Geschichte des Übernatürlichen« schrieb (»History of the Supernatural«, 1863). In Frankreich veröffentlichte Roger Gougenot des Mousseaux unter den Titeln »La magie au dix-neufième siècle« (1860) und »Les hauts phénomènes de la magie« (1862) eine Reihe von Enthüllungen. Das Schlüsselwerk des französischen Okkultisten Eliphas Lévi gehört in dieses Milieu.

Die Freimaurerei spielte mit ihrer Tradition hermetischer Weisheit bei der Erneuerung des Okkultismus eine wichtige Rolle. Die Vorherrschaft der Hochgrad-Theosophie Pasquallys, Willermoz' und Cagliostros stellte sicher, dass die Maurerei leicht in die esoterischen Traditionen integriert werden konnte. Ellic Howe hat die Geschichte der englischen »Winkelmaurerei« im 19. Jahrhundert nacherzählt, die okkultes Wissen durch eine Vielzahl kleiner Orden und Gesellschaften verbreitete. Diese Gruppen beriefen sich auf die unterschiedlichsten legendären Traditionen, auf das alte Ägypten, auf Asien oder auf die Rosenkreuzer, das heißt, den Orden der Gold- und Rosenkreuzer und ihre Hochgradmaurerei, die im 18. Jahrhundert in Mitteleuropa entstanden waren. Mitte der 1860er Jahre gründeten einige englische Maurer einen in Grade eingeteilten Orden, die »Societas Rosicruciana in Anglia« (SRIA), dessen Aufgabe das Studium westlicher esoterischer Traditionen war. 1888 riefen einige seiner Mitglieder einen explizit magischen Orden ins Leben, den »Hermetic Order of the Golden Dawn« (»Hermetischer Orden der Goldenen Dämmerung«), um das magische Wissen und Können mit Hilfe von Graden und Initiationen zu pflegen.

Möglicherweise spiegelt sich in der Ausbreitung der Winkelmaurerei auch die Erneuerung des Ritualismus wieder, die in der Anglikanischen Kirche durch die Bewegung von Oxford unter John Keeble, Henry Newman und Edward Pusey seit 1830 vorangetrieben wurde. Die anglokatholische Erneuerungsbewegung suchte dem nüchternen anglikanischen Gottesdienst ein elaboriertes Ritual entgegenzustellen, das reiche sinnliche Erlebnisse, zusätzliche Sakramente und farbenfrohe Messgewänder bot. Diese Bewegung übte in der englischsprachigen Welt einen großen Einfluss aus, was sich an der Wiederaufnahme der Sakramentenverehrung durch die anglikanische Kirche und die Wiederbelebung religiöser Orden seit der Jahrhundertmitte zeigt. Gegen Ende des Jahrhunderts verknüpften der Golden Dawn und andere okkulte Orden in Frankreich diesen wiederentdeckten Sinn für den Ritualismus mit jenem künstlerischen Geschmack, der das fin-de-siècle in England und Frankreich auszeichnete. Das rituelle Vorbild der Maurerei wirkte sich auch auf andere okkultistische Gruppen aus. 1910 führte Annie Besant (1847-1933), die Nachfolgerin von Helena Petrowna Blavatsky, durch die Gründung einer Adoptionsloge (die auch Frauen offenstand) winkelmaurerische Ideen in die Theosophie ein.  Ihr Mitstreiter Charles Webster Leadbeater (1854-1934), ein früherer anglokatholischer Geistlicher, schloss sich der Adoptionsmaurerei an und gründete 1917 die »Liberal-Katholische Kirche«, die den Ritualismus und okkultistische Ideen miteinander verband und diese in der englischsprachigen Welt, besonders in Australien, verbreitete.

Eliphas Lévi und die Erneuerung des Okkultismus in Frankreich

Eliphas Lévi (1810-1875) ist eine Schlüsselgestalt bei der Erneuerung des Okkultismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Er beeinflusste Gruppen in England, Frankreich und Deutschland. In Paris als Alphonse Louis Constant geboren und aufgewachsen, fühlte er sich zum katholischen Priesteramt hingezogen, bewegte sich aber auch in literarischen, linksgerichteten und feministischen Kreisen. Neben einem politischen Radikalismus pflegte er auch ein mystisches Interesse. Er hatte sich in Knorr von Rosenroths »Kabbala denudata« (»Entschleierte Kabbala«, 1677-1684) vertieft, die Werke Boehmes, Swedenborgs, Saint-Martins und Fabre d'Olivets, des Übersetzers der »Goldenen Verse des Pythagoras« und Schöpfers einer esoterischen Kosmogonie, gelesen. Constant lernte Joseph Maria Hoëne-Wronski (1776-1853) kennen, einen älteren polnischen Emigranten, der sich seit langem mit Esoterik und messianischer Prophetie beschäftigte und sich in der Kabbala, bei Boehme und in der Gnosis gut auskannte. Wronski war 1797 aus der russischen Armee ausgetreten, um in Deutschland zu studieren, wo er stark von Kant, Fichte und Schelling beeinflusst wurde und ging im Jahr 1800 nach Frankreich. 1803 erlebte er eine mystische Erleuchtung, durch die er das Absolute entdeckt zu haben glaubte und widmete seither sein Leben der Entwicklung und Darstellung einer »Absoluten Philosophie«. Er beschäftigte sich mit Geschichtsphilosophie und teilte die Zeit in drei Epochen ein, deren letzte die menschliche Vernunft in Übereinstimmung mit den göttlichen Gesetzen bringen werde. Wronski war ausschlaggebend für die Ausrichtung Constants auf Magie und Okkultismus. Da Wronski selbst esoterische Ideen mit revolutionären Erwartungen verband, fühlte sich Constant von dessen religiösem und wissenschaftlichem Utopismus stark angezogen.

Constant veröffentlichte sein erstes Werk über Magie »Dogme de la haute magie 1855 (»Dogma der hohen Magie«), ein Jahr später das »Rituel de la haute magie (»Ritual der hohen Magie«, 1856) und benutzte seither das Pseudonym Eliphas Lévi (gebildet aus den hebräischen Entsprechungen seines Vornamens). Seine späteren Werke »Histoire de la haute magie« (»Geschichte der hohen Magie«, 1860) und »La Clef des Grands Mystères« (»Der Schlüssel der großen Mysterien«, 1861) setzten seine Synthese der »okkultistischen« Traditionen fort. Lévis Zusammenschau der westlichen magischen Tradition fußte auf Quellen des Mittelalters und der Renaissance, insbesondere auf Trithemius, Agrippa von Nettesheim und Paracelsus. Der Mensch ist ein Mikrokosmos, sympathetische Korrespondenzen verbinden die drei Welten: die natürliche oder physische, die spirituelle oder metaphysische und die göttliche oder religiöse Welt, durch eine hierarchische Analogie. Der Magier kann auf die verschiedenen Ebenen einwirken, indem er Wesen und Mächte durch Zaubersprüche, Zeichen, kabbalistische Formeln und Talismane anruft. Lévi war der Ansicht, alle okkulten Wissenschaften hätten sich, um der Verfolgung durch das Christentum zu entgehen, in Symbole und Allegorien gehüllt. Die okkulten Wissenschaften – vom Tarot über die Alchemie bis zur Kabbala – wurden im Geheimen weitergegeben und waren nur für Initiierte zugänglich. Bei seiner Konstruktion dieser synkretistischen magischen Tradition praktizierte Lévi einen Konkordismus, den bereits die gelehrten Magier der Renaissance pflegten, der von Faivre als »extrinsisches Merkmal« der esoterischen Philosophie bezeichnet wurde.

Lévis Untersuchung der Lehren der transzendentalen Magie ist denkbar umfassend. In seinen beiden ersten Büchern diskutiert er kosmologische Grundlagen wie die Dyade, Triade und Tetrade mit Hilfe einer synkretistischen Begrifflichkeit, die den salomonischen Tempel, die männlich-weibliche Geschlechterpolarität sowie die gnostische, maurerische und taoistische Symbolik einbezieht. Er schildert die magischen Kräfte der Tetrade (Vierheit), die auf den Beziehungen der vier magischen Elemente und der Elementargeister beruht. Die Herrschaft des Willens über die physische Seele der vier Elemente wird in der rituellen Magie durch das Pentagramm dargestellt. Die Elementargeister in Erde, Wasser, Luft und Feuer unterwerfen sich diesem Zeichen, wenn man es in einem Kreis oder auf einem Altar anbringt, der magischen Anrufungen dient. Lévi behauptete, das Hauptziel der Magie sei es, den Willen zu verdichten und auf einen einzigen Gegenstand zu richten. Der Magier nutze das Ritual, um seine Kräfte zu sammeln und umzuwandeln und dann auf die äußere Welt einzuwirken. Lévi mischte in seine Philosophie der Magie mesmeristische Ideen, wenn er die sympathetische Magie mit Hilfe des »Astrallichtes« oder eines »großen magischen Wirkmediums« erklärte, das er als subtiles Fluidum beschrieb, welches das gesamte Universum durchdringt und sich in vier physischen Kräften manifestiert: in Feuer, Licht, Elektrizität und Magnetismus. Dieses Wirkmedium kann der menschliche Wille beeinflussen und es kann seinerseits Wirkungen in der menschlichen Imagination hervorrufen. Magische Operationen vermitteln Zugang zu den Energien und Wesen des Astrallichtes und erzeugen auf diesem Wege übernatürliche Phänomene und das Hellsehen.

Weitere Kapitel beschreiben die hellenistische Mythologie, die Kabbala, die Alchemie, Zaubersprüche- und tränke, die Totenbeschwörung, die schwarze Magie und die Weissagung. Neu an Lévis Ausführungen sind Korrespondenzen, die er zwischen den 22 Pfaden des kabbalistischen Lebensbaumes und den 22 Tarotkarten herstellt. Auf eine esoterische Bedeutung der Tarotkarten (die wahrscheinlich im 15. Jahrhundert in Italien entstanden) wies erstmals Antoine Court de Gébelin (1725-1784) hin, ein protestantischer Geistlicher, Hochgradmaurer und Anhänger Mesmers. In seinem Buch »Le Monde primitif« (1773-1784), einem neunbändigen Werk, das die ursprüngliche Harmonie der alten Welt durch die Wiederentdeckung einer universellen Ursprache wiederherstellen wollte, schrieb er ihnen einen ägyptischen Ursprung zu. Diese Idee griff Jean-Baptiste Alliette (1738-1791) auf, ein okkulter Kartenleser, der unter dem Namen »Etteilla« seit den 1770er Jahren in Paris arbeitete. Etteilla deutete den Tarot als Buch des Thoth, das von den Priestern im alten Ägypten offenbart worden sei. Lévis Verknüpfung der Kabbala und des Tarot, das er als Quelle wirkmächtiger, magischer Symbolik auffasste und nicht bloß als Mittel der Schicksalsdeutung, sollte die künftige Praxis vieler magischer Orden beeinflussen. Nahezu der gesamte moderne Okkultismus betrachtet den Tarot als Quelle wirkmächtiger, magischer Bilder und setzt seine Übereinstimmung mit den anderen Symbolsystemen der Astrologie, der Alchemie und der Magie voraus. Lévi war nicht nur der erste, der das Tarot auf diese Weise mit anderen okkulten Wissenschaften verband, er war auch der erste bedeutende moderne Kompilator der westlichen esoterischen Tradition, dessen populär illustrierte Werke die rituelle Magie, die Hermetik und die gelehrten Magier der Renaissance wieder dem gebildeten Publikum in Europa und den USA zugänglich machten. Es wurde behauptet, das Werk Lévis sei das »Nadelöhr« gewesen, durch das die westliche esoterische Tradition der Magie, die zu seiner Zeit am Dahinsiechen war, in die Moderne eingewandert sei.

1854 besuchte Lévi London, wo er englische Okkultisten, unter anderem Sir Edward Bulwer-Lytton, den Autor von »Zanoni« (1842) traf, der in dieses Buch eine Fülle esoterischen Wissens hatte einfließen lassen. Höhepunkt seines Aufenthaltes soll die Herbeirufung des antiken Thaumaturgen (Wundertäters) Apollonius von Tyana durch ein magisches Ritual gewesen sein. 1861 besuchte er London erneut und wurde seither von einer jüngeren Generation von Okkultisten als Adept bewundert. Kenneth Mackenzie, der Historiker der Freimaurerei, besuchte ihn in Paris, MacGregor Mathers, ein Mitbegründer des »Hermetischen Ordens der Goldenen Dämmerung« nannte ihn einen »großen Kabbalisten«. Arthur Edward Waite veröffentlichte eine Anthologie seiner Schriften und übersetzte seine Hauptwerke ins Englische, Aleister Crowley schließlich glaubte, er sei eine Reinkarnation Lévis. Helena Petrowna Blavatsky übersetzte seinen Bericht über die Herbeirufung des Apollonius von Tyana und zitierte ihn des öfteren in ihrer »Entschleierten Isis«. Diese Anerkennung zeigt seine Bedeutung für die Erneuerung des westlichen Okkultismus.

Antoine Faivre sah in Lévi die Hauptfigur des Okkultismus im 19. Jahrhundert. Während sich frühere Esoteriker einer hermetischen Variante der Wissenschaft verschrieben, weisen moderne Okkultisten den wissenschaftlichen Fortschritt oder die Modernität nicht zurück. Die praktischen Erfolge der positiven Wissenschaft und ihrer Technologien luden sie vielmehr dazu ein, diese in eine ganzheitliche Weltsicht zu integrieren. Die Pansophie der späten Renaissance ist noch heute evident, aber der moderne Okkultismus sucht Beweise für sie durch wissenschaftliche Experimente oder versucht, seine Einsichten in einer wissenschaftlichen Sprache vorzutragen.

Gerard Encausse, genannt Papus

Gérard Encausse (1865-1916), genannt Papus, war ein führendes Mitglied des 1887 rekonstituierten Hermes-Zweiges der Theosophischen Gesellschaft Paris und gab seit 1888 eine eigene Zeitschrift namens »L'Initiation« heraus. Papus, ein Arzt, Forscher und Experimentalwissenschaftler, veröffentlichte das einflussreichste Buch über Okkultismus seit Lévi: den »Traité méthodique de science occulte« (»Methodische Abhandlung über die okkulte Wissenschaft«, 1888), gründete esoterische Zeitschriften, darunter »La Voile d'Isis« (»Schleier der Isis«), und verfasste eine ganze Reihe medizinischer Schriften. Zu seinen zahlreichen okkulten Werken über Heilkunst, Kabbala und das Handlesen gehört auch ein Buch über das »Tarot der Zigeuner« (»Tarot des Bohémiens, 1889), das die Beziehung zwischen dem Tarot und der Kabbala untersucht. Eines seiner Hauptwerke, »La Kabbale«, widmete er 1892 dieser geheimen Tradition des Westens. Papus wurde stark von Joseph-Alexandre Saint-Yves d'Alveydre (1842-1910) beeinflusst, der eine Reihe okkultistischer und politisch-utopischer Bücher verfasste. Papus erweckte auch den Martinistenorden wieder zum Leben – oder genauer gesagt, er erfand ihn unter Berufung auf eine angebliche Kette der Initiation, die von Louis Claude de Saint-Martin ausgegangen sei. Als Haupt dieses Ordens gründete er viele neue Logen in Europa und Amerika. Er trat auch dem kabbalistischen »Orden des Rosenkreuzes« bei, den Stanislas de Guaita (1861-1897) und Joséphin Péladan (1858-1918) führten, einem Orden, der eine künstlerisch gefärbte Esoterik repräsentierte, die mit der neuromantischen symbolistischen Bewegung verbunden war.

Der Hermetische Orden der Goldenen Dämmerung

Die mit der Freimaurerei verknüpfte »rosenkreuzerische« Tradition initiatorischer Gesellschaften wirkte mit Eliphas Lévis Einsatz für die westliche Magie zusammen, um eine bunte Schar englischer Okkultisten hervorzubringen, die sich seit Ende des 19. Jahrhunderts mit zeremonieller Magie beschäftigten. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewannen der Spiritismus und der Okkultismus immer mehr Anhänger, was auch die Anziehungskraft der Freimaurerei erhöhte. 1866 gründete eine kleine Gruppe von Maurermeistern, die sich für esoterische Traditionen interessierte, eine maurerisch-rosenkreuzerische Studiengruppe, die »Societas Rosicruciana in Anglia« (SRIA). Durch Robert Wentworth Little (1840-1878) ins Leben gerufen, organisierte sich die SRIA hierarchisch und gab sich Grade nach dem Vorbild der deutschen Gold- und Rosenkreuzer im 18. Jahrhundert. Little verfolgte vielerlei maurerische Interessen und galt als eifriger Student der Werke Eliphas Lévis. Er gelangte in den Besitz gewisser alter deutscher Rosenkreuzerschriften und konsultierte darüber Robert Mackenzie (1833-1886), einen Kenner esoterischer Traditionen und ägyptischer Altertümer, der behauptete, bereits einige Jahre früher mit deutschen Rosenkreuzern in Kontakt getreten zu sein. In den 1870er und 1880er Jahren bearbeitete die SRIA – die noch heute existiert – gewisse Rituale und veranstaltete Vorträge über esoterische Themen, darunter Spiritismus, maurerische Symbolik und die Kabbala.

Drei Brüder der SRIA gründeten den »Hermetischen Orden der Goldenen Dämmerung«, der zum Prototyp und führenden Beispiel paramaurerischer magischer Orden werden sollte. Die Initiative ergriff William Wynn Westcott (1848-1925), ein Gerichtsmediziner aus London, der seit 1871 Freimaurer war. Er hatte am University College in London Medizin studiert und zusammen mit seinem Onkel bis 1879 in Somerset praktiziert, als er nach Hendon umsiedelte, um sich dem Studium der Kabbala, der Hermetik, der Alchemie und des Rosenkreuzertums zuzuwenden. Diese Interessen veranlassten 1880 seinen Beitritt zur SRIA. Seine ersten Veröffentlichungen waren Studien zum Sepher Yetzirah, zur Bronzetafel Kardinal Bembos (Mensa Isiaca), zur Zahlenlehre sowie eine Übersetzung von Lévis »Magischem Ritual des Sanctum Regnum«, einem Werk, das sich mit den Trümpfen des Tarot befasst. Westcott gab später das neunbändige Sammelwerk »Collectanea Hermetica« (1893-1902) heraus, das neue englische Übersetzungen alchymischer, hermetischer und kabbalistischer Schriften enthielt. 1882 lernte Westcott Samuel Liddell Mathers kennen, der in diesem Jahr der SRIA beigetreten war. Beide suchten nach einer stärker praktisch ausgerichteten Esoterik und verbanden sich mit der kurzlebigen »Hermetischen Gesellschaft«, die Anna Kingsford 1884 gegründet hatte, um der östlich orientierten Theosophischen Gesellschaft Blavatskys westliche (christliche) esoterische Traditionen entgegenzustellen. Um 1886 hatte Westcott begonnen, über einen magischen Orden nachzudenken, der auf den westlichen esoterischen Traditionen beruhte, in dessen Gründung er bald darauf verwickelt wurde.

Die Ursprünge der zeremoniellen Magie des Ordens der Goldenen Dämmerung und ihrer Rituale sind in den Schleier des Geheimnisses gehüllt, da Westcott sich darum bemühte, dem Orden eine exotische rosenkreuzerische Autorität zu verleihen. Er behauptete, er habe im August 1887 von Reverend A.F.A. Woodford, einem Pastor und gut bekannten Freimaurer, ein verschlüsseltes Manuskript erworben, das in einer geheimen Schrift, die aus der Polygraphie des Johannes Trithemius entwickelt worden sei, fünf magische Grade beschrieb (Lévi hatte in seinem »Ritual« behauptet, die besten Texte der mittelalterlichen zeremoniellen Magie seien auf diese Weise verschlüsselt). Höchstwahrscheinlich wurde dieses Manuskript ursprünglich von Kenneth R.H. Mackenzie verfasst, dessen Papiere nach seinem Tod in den Besitz Westcotts gelangten. Westcott fälschte daraufhin einen imaginären Briefwechsel mit einer gewissen (wohl fiktiven) Anna Sprengel, einer deutschen »Adeptin«, die in den Papieren Mackenzies erwähnt worden war. Ziel dieses Schwindels war es, eine angebliche Abstammung von einer mysteriösen kontinentalen okkulten Loge zu etablieren und damit die Autorität, einen eigenen Tempel dieses Ordens in England zu begründen. Letztere war für Westcott angesichts der Vorliebe der englischen Maurerei für legitime Sukzession von besonderer Bedeutung. Westcott lud daraufhin Mathers ein, aufgrund des Materials in dem verschlüsselten Manuskript ausgefeilte Rituale zu entwickeln. Zur selben Zeit schlug er Mathers vor, mit ihm zusammen den Orden zu leiten und den vollständigen Plan einer Initiation zu schaffen. William Robert Woodman (1828-1891), ein Arzt im Ruhestand und »Höchster Magier« der SRIA wurde zum dritten Leiter des Ordens ernannt. Ellic Howes Analyse der zwielichtigen Dokumente, die der Gründung des Ordens der Goldenen Dämmerung zugrunde liegen, wurde von Robert Gilbert um eine Sammlung von Zeugnissen von Zeitgenossen ergänzt (Ellic Howe, »The Magicians of the Golden Dawn«, London 1972; Robert A. Gilbert, »The Golden Dawn Companion«, Wellingborough  1986).

Samuel Liddell Mathers (1854-1918) wurde in London als Sohn eines Klerikers geboren und von seiner verwitweten Mutter in Bournemouth großgezogen. 1877 wurde er Freimaurer und begann seine mystischen Studien. 1885 zog er nach London, wo er mit Anna Bonus Kingsford, der Präsidentin der englischen Theosophischen Gesellschaft in Kontakt kam. Kingsfords esoterische Interessen waren in erster Linie westlich und 1884 hatte sie zusammen mit Edward Maitland die »Hermetische Gesellschaft« gegründet, die dem Studium der westlichen hermetischen Tradition und der Kabbala gewidmet war. Mathers bewegte sich in diesen Kreisen. Er machte die Bekanntschaft Blavatskys, mit der er über die Kabbala diskutierte. 1886 hielt er über diese Vorträge in der Theosophischen Gesellschaft. 1887 veröffentlichte er eine Übersetzung der »Entschleierten Kabbala« von Knorr von Rosenroth.

Mathers umfangreiche Untersuchungen der Geschichte, Lehren und Rituale der Magie fanden einen opulenten Ausdruck in der Gestaltung der Rituale für die verschiedenen Grade und Einweihungsstufen des Ordens der Goldenen Dämmerung. Mathers verbrachte viel Zeit im Britischen Museum, um sich ausreichende Kenntnisse der griechisch-ägyptischen Magie und der mittelalterlichen Zauberhandbücher anzueignen, die er mit seinen Studien der Kabbala ergänzte. 1888 veröffentlichte er ein kleines Buch über den okkulten Tarot, auf das die Übersetzung eines mittelalterlichen magischen Textes, des »Schlüssels des Königs Salomo« (»Clavicula Salomonis«, 1889) folgte. Neben der Magie interessierte sich Mathers auch für Kriegswissenschaften. Unter dem Einfluss der zeitgenössischen keltischen Erneuerung fügte er seinem Namen den Bestandteil »MacGregor« hinzu. 1892 zogen Mathers und seine Frau Mina, die Schwester des französischen Philosophen Henri Bergson, nach Paris, wo sie den Athanor-Tempel Nr. 7 der Goldenen Dämmerung gründeten. Hier benutzte Mathers auch den Titel »Comte de Glenstrae« und übersetzte weitere mittelalterliche Handbücher der Magie: »The Book of the Sacred Magic of Abra-Melin the Mage« (1898), «The Grimoire of Armadel«, das als Manuskript unter Tempelmitgliedern kursierte und eine Ausgabe des »Lemegeton« (»The Lesser Key of Solomon«, zu dem die »Goetia« gehörte), das 1904 von Aleister Crowley veröffentlicht wurde. Diese mittelalterliche Magie der Beschwörungen, magischen Zirkel, Pentagramm-Rituale und geweihter Talismane war eng mit der jüdischen Tradition und der Kabbala verbunden. Mathers Ausgaben der magischen Handbücher suchten diese aus ihrer Verbindung mit der schwarzen Magie zu lösen. Die von ihm geschaffenen Rituale und Praktiken der Goldenen Dämmerung waren daher mehr der spirituellen Magie der alexandrinischen Hermetik verpflichtet, als der mittelalterlichen Beschwörungsmagie.

Mit ihrer beachtlichen Produktion von Schriften, zu der die Rituale des Ordens gehörten, gelang Westcott und Mathers die Wiederherstellung der prisca theologia der Renaissancemagie mit ihrer Synthese aus Hermetik, Neuplatonismus und Kabbala. Beide umschlossen mit ihren Publikationen große Teile der westlichen esoterischen Traditionen. Dem Beispiel Lévis folgend, machten sie eine vergessene, von ihnen rekonstruierte universelle Lehre, die auf Zoroaster, Hermes Trismegistos, Moses, Orpheus, Pythagoras und Plato zurückging, zum Herzstück ihrer neuen Institution, die in die westliche magische Tradition initiieren sollte. Diese Tradition sollte dem Rosenkreuzertum verbunden sein, über das Westcott mehrere Werke veröffentlichte. Das erste Manifest, die »Fama Fraternitatis« (1614) hatte behauptet, seine Philosophie sei keine »neue Erfindung«, sondern gehe auf Adam zurück und sei Moses und Salomo bekannt gewesen. Entsprechend wurden die Initianden der Goldenen Dämmerung bei ihrer Einweihung in den zweiten Grad eingeladen, sich dieser »prisca theologia« anzuschließen, die von Christian Rosenkreuz überliefert worden sei: »Wisse, o Anwärter, dass die Mysterien der Rose und des Kreuzes seit ewigen Zeiten existiert haben und dass in Ägypten, Eleusis, Samothrake, Persien, Chaldäa und Indien diese Riten praktiziert und diese Weisheit gelehrt wurde.« Wouter Hanegraaff bezeichnete die moderne Rekonstruktion der prisca theologia im späten 19. Jahrhundert durch Lévi und Blavatsky als eine »Form der alten Weisheit, die auf einer esoterischen Interpretation der vergleichenden Religionswissenschaft« beruhe. Im Fall der Goldenen Dämmerung wurde diese alte Weisheit den Initianden durch dramatische Rituale und Grade als eine lebendige Tradition nahegebracht.

Die Hierarchie der Grade und ihre Rituale

Bereits die SRIA benutzte nach dem Vorbild der Gold- und Rosenkreuzer ein System aus neun Graden. Da das verschlüsselte Manuskript sich auf die zehn Sephiroth (die Emanationen der Gottheit) im kabbalistischen Baum des Lebens bezog, entwickelte Mathers ein nahezu identisches System von Graden, die in drei unterschiedliche Orden aufgegliedert waren:

Erster Orden

Neophyt                                0 o= 0 o
Zelator                                  1 o = 10 o Malkuth (Königreich)
Theoricus                              2 o = 9 o Yesod (Fundament)
Practicus                               3 o = 8 o Hod (Glanz)
Philosophus                          4 o = 7 o Netzach (Sieg)

Zweiter Orden

Adeptus Minor                     5 o = 6 o Tiphereth (Schönheit)
Adeptus Major                     6 o = 5 o Geburah (Strenge)
Adeptus Exemptus              7 o = 4 o Chesed (Barmherzigkeit)

Dritter Orden (Geheime Obere)

Magister Templi                   8 o = 3 o Binah (Intelligenz)
Magus                                  9 o = 2 o Chokmah (Weisheit)
Ipsissimus                            10 o = 1 o Kether (Krone)

Mathers arbeitete die Rituale und die Lehrstunden für die ersten fünf Grade aus. Im Unterschied zur SRIA, die gelehrte Vorträge anbot, besaß der erste oder äußere Orden der Goldenen Dämmerung ein voll ausgebildetes Curriculum zeremonieller Magie. Der Lehrplan für den »Zelator« schloss die Namen und alchymischen Symbole der drei Prinzipien der Natur ein, die Metalle, die in der Alchemie den sieben Planeten zugeordnet werden, die Namen der alchymischen Prinzipien der Sonne und des Mondes, des Grünen Löwen, des Königs und der Königin, die Namen und astrologische Bedeutung der zwölf Häuser des Tierkreises und der Aspekte der Planeten, die Anordnung der zehn Sephiroth im Baum des Lebens auf Hebräisch und Englisch, die Namen und Beschreibungen der Cherubim, die Namen der zehn Himmel von Assia in Hebräisch und englisch, die Namen der 22 Tarotkarten und der vier Farben im Kartenspiel. Höhere Grade erweiterten diesen Lehrplan beträchtlich, und die entsprechenden Zeremonien, die auf dem Logenritual der Maurerei basierten, benutzten eine Vielfalt von Gewändern, Farben, Passworten, Zeichen und Griffen.

Der Grad des Neophyten und sein Ritual sollten den Aspiranten in ein neues Leben führen, verliehen ihm einen neuen Namen oder ein magisches Motto und öffneten seine Seele dem Licht. Die Initiation sollte die Verbindung zwischen Mikro- und Makrokosmos bewusst machen. Die folgenden vier Grade boten elementare Riten der Erde, des Wassers, der Luft und des Feuers, ergänzt durch ägyptisch-hermetische und kabbalistische Korrespondenzen. Mit diesen Ritualen versuchte der äußere Orden, die Elementarkräfte im Tempel (der den Makrokosmos repräsentierte) und in der Seele der Zelebranten und Aspiranten zu beiderseitigem Fortkommen ins Gleichgewicht zu bringen. Die Stimmung dieser Rituale antwortete auf die kulturellen Neigungen der spätviktorianischen Zeit. Während die Freimaurerei die Grundlage der Tempelpraxis lieferte, entsprachen die Zeremonien dem kirchlichen Trend zum Ausbau des Ritualismus zu dieser Zeit. Der Schmuck des Tempels, die farbenfrohen ägyptischen Gewänder und das dramatische Spektakel der Rituale kamen den Neigungen der zeitgleichen Strömungen der Neuromantik und des Symbolismus in der Literatur und den Künsten entgegen.

Der Zweite Orden (Ordo Rosae Rubeae et Aureae Crucis)

Kein Spektakel zeremonieller Magie, sondern Unterricht wurde im zweiten Orden geboten. Dieser hatte, wenigstens auf dem Papier, von Anfang an existiert, als Westcott und Mathers sich selbst den 7 o = 4 o Grad, den höchsten im zweiten Orden zusprachen. 1892 hatte Mathers Rituale für einen zweiten Orden der Goldenen Dämmerung ausgearbeitet. Bei diesem handelte es sich um einen spezifisch »rosenkreuzerischen« Orden mit dem Namen »Ordo Rosae Rubeae et Aureae Crucis« (»Orden der roten Rose und des goldenen Kreuzes«). Aspiranten, welche die ersten fünf Grade absolviert hatten, konnten sich für den »Portal-Grad« bewerben, der den Schleier »Paroketh« zwischen den Welten Yetzirah und Briah in der Kabbala symbolisierte. Die Zeremonie bestand aus einer Eröffnung, dem Ritual des Kreuzes und der vier Elemente, dem Ritus des Pentagramms und den fünf Pfaden (dem 21. bis 26. Pfad im Baum des Lebens, die den Schleier Paroketh kreuzen und ihren Entsprechungen im Tarot) sowie einem zeremoniellen Abschluss. Das Ritual des »Adeptus Minor« im zweiten Orden beruhte auf der Legende des Christian Rosenkreutz und schloss die Wiederentdeckung seines Grabes ein. Die Gestaltung der Gruft und des Grabes mit ihren kabbalistischen, alchymischen und astrologischen Symbolen und Inschriften orientierte sich an den Schilderungen der »Fama Fraternitatis«. Die Dekorationen in voller Lebensgröße wurden von Mathers und seiner künstlerisch begabten Frau verschwenderisch mit okkulten Farben geschmückt.

Das Curriculum des zweiten Ordens verband die Korrespondenzen der natürlichen oder sympathetischen Magie mit den Techniken der zeremoniellen Magie. Hier gab es genaue Anweisungen für das Ritual und eine erhabene Beschwörung des Pentagramms. Adepti Minores lernten, Talismane, Lotuszauberstäbe, magische Schwerter sowie die vier elementarischen Waffen anzufertigen und sie zu handhaben. Andere Rituale bezogen sich auf die Weihung planetarischer Talismane. Mathers studierte auch die Manuskripte und Tagebücher John Dees im Britischen Museum und im Ashmolean Museum in Oxford, um ein zusammenhängendes System »enochischer« Magie für den zweiten Orden auszuarbeiten. Die Rituale und Praktiken des zweiten Ordens, die einen Überfluss zeremonieller Gewänder, Anrufungen, magischer Lichter, Feuer, Kerzen und Räucherungen unter einem reich geschmückten Tempelgewölbe entfalteten, hinterließen in den Teilnehmern tiefe Eindrücke. Die Magie wurde hier als Evokation verstanden, das heißt als Aktivierung jener Elemente der Seele, die den makrokosmischen Kräften der Natur entsprechen. Die Praktiken des zweiten Ordens weisen auf ein Verständnis der Magie als einer besonderen Form religiöser Erfahrung hin, die auf den Willen und die Erweiterung des Bewusstseins abzielte.

Wachstum und Niedergang

Dem Isis-Urania-Tempel Nr. 3 in London (die ersten beiden Tempel standen laut Gründungslegende auf dem Kontinent) schloss sich ein Osiris-Tempel Nr. 4 in Weston-Super-Mare (1888) und ein Horus-Tempel Nr. 5 in Bradford (1888) an. Ein Amen-Ra Tempel Nr. 6 wurde 1893 in Edinburgh eröffnet, während Mathers 1893 den Ahathoor-Tempel Nr. 7 in Paris gründete. Im Mai 1892 gehörten dem äußeren Orden der Goldenen Dämmerung 150 Mitglieder an. Als Mathers damit begann, Initiationen in den Ordo Rosae Rubeae et Aureae Crucis vorzunehmen, setzte sich dieses Wachstum fort. Ende 1894 hatte der zweite Orden 50 Mitglieder, und der äußere 224. Viele bekannte Künstler traten dem Orden der Goldenen Dämmerung bei. William Butler Yeats, der irische Dichter, trat im März 1890 aus der Theosophischen Gesellschaft in den Orden über und wurde ein guter Bekannter Mathers. Annie Horniman, die Tee-Erbin, die später das Abbey Theater in Dublin baute, trat schon früher in diesem Jahr bei und Florence Farr, eine bekannte Schauspielerin und die Geliebte George Bernard Shaws wurde von Yeats im Juli 1890 eingeführt. Yeats blieb dem Orden und seinem Nachfolger, der »Stella Matutina«, bis in die 1920er Jahre verbunden. Viele Theosophinnen kamen dazu und Ärzte und andere Akademiker bildeten den Kern der häufig maurerischen männlichen Mitgliedschaft.

Mathers herrischer Führungsstil sowie seine Abwesenheit im Ausland riefen zunehmende Spannungen mit anderen Brüdern und Schwestern des zweiten Ordens hervor. Mitglieder in London revoltierten schließlich im Januar 1900, als Mathers Aleister Crowley in den zweiten Orden aufnahm. Crowley hatte sich dem äußeren Orden im November 1898 angeschlossen und schnell den Philosophus 4 o = 7 o erreicht. Aber die Londoner Mitglieder fanden, er passe nicht zu ihnen. Mathers reagierte auf die Revolte, indem er den Gründungsmythos Westcotts und die Sprengelbriefe zur Fiktion erklärte, und behauptete, allein er habe jemals direkten Kontakt mit den geheimen Oberen des dritten Ordens gehabt. Im Jahr 1902 bildeten die Londoner Rebellen einen Nachfolgeorden namens »Stella Matutina«, den R. W. Felkin und J. W. Brodie-Innes leiteten, der einen eigenen Amun-Tempel errichtete. Edward Berridge rief einen loyalistischen Orden ins Leben, der später unter dem Namen »Alpha et Omega« (A ∴ O ∴) bekannt wurde und in einem neuen Isis-Tempel bis 1913 weiter arbeitete.

Trotz seines relativ kurzen Lebens hat der Orden der Goldenen Dämmerung das ganze 20. Jahrhundert hindurch zahlreiche Nachfolger gezeugt, die zeremonielle Magie praktizierten. Zwischen 1936 und 1940 veröffentlichte Israel Regardie, der Stella Matutina 1933 beigetreten war, das komplette Ritual des Ordens. Während die ursprünglichen Orden dahinstarben, wurden die Ritualtexte in den 1970er Jahren neu gedruckt, was eine neue Generation von Magiern entstehen ließ, die in Europa und Nordamerika erneut Tempel gründeten.

Arthur Edward Waite

Arthur Edward Waite (1857-1942), ein fruchtbarer Autor und Herausgeber esoterischer Werke, der dem zweiten Orden 1899 beigetreten war, übernahm den ursprünglichen Isis-Urania-Tempel. Waite war 1891 in den äußeren Orden aufgenommen worden, hatte sich nach der Erlangung des 4 o = 7 o Grades 1893 zurückgezogen, aber 1896 wieder angeschlossen. Er zog jedoch die Mystik der rituellen Magie vor. Nach der Spaltung im Jahr 1900 schuf er rosenkreuzerische und christliche Rituale, aus denen er die ursprünglichen ägyptischen, hermetischen und heidnischen Anspielungen entfernte. Sein eigener »Unabhängiger und Rektifizierter Orden R.[osae] R.[ubeae] et A.[ureae] C.[rucis]« entstand im Jahr 1903 und existierte bis 1914, als er ihn wieder schloss. Im Juli 1915 gründete Waite einen neuen mystischen Orden, die »Bruderschaft des Rosenkreuzes«, dem für einige Jahre Charles Williams, ein Autor religiöser Allegorien angehörte. Evelyn Underhill, die bekannte Verfasserin von Werken über christliche Mystik, war Mitglied des ersteren Ordens und ihre Beteiligung legt nahe, dass Waites mystische Zeremonien geeignet waren, religiöse Erfahrungen hervorzurufen. Waites Unabhängiger und Rektifizierter Orden hatte seine eigenen Nachfolger. Einige seiner Mitglieder mit rosenkreuzerischen Interessen, die aus ihrer Beziehung zu Rudolf Steiner entstanden waren, schlossen sich Felkins Merlin-Loge an. Andere, mit neuplatonischen Interessen, spalteten sich ab, um den »Schrein der Weisheit« zu gründen, eine esoterische Gesellschaft, die geschmackvolle Editionen des Göttlichen Pimander, der Werke Plotins und des Dionysios Areopagita herausgibt. Ihr Universeller Orden bearbeitet in seinem Landhaus in Brook in der Nähe von Goldalming in Surrey noch immer ein Ritual.

Waite hatte sich schon lange vor seiner Aufnahme in die Goldene Dämmerung mit Okkultismus befasst. Nach der Konversion seiner Mutter zum Katholizismus im Jahr 1863 entwickelte er eine Liebe zu Ritualen und Riten. Während der 1880er Jahre entdeckte er die Schriften Eliphas Lévis und veröffentlichte eine Anthologie daraus, »The Mysteries of Magic« (1886). Später übersetzte er einige der Hauptwerke Lévis. Sein erstes umfangreiches Buch über das Okkulte, »The Real History of the Rosicrucians«, erschien 1887, bald folgte »The Magical Writings of Thomas Vaughan« (1888). Danach veröffentlichte er »The Occult Sciences« (1891) und später eine ganze Reihe von Übersetzungen alchymischer Werke, darunter »The Hermetic Museum«, »The Triumphal Chariot of Antinomy«, »Collectanea Chemica« und gesammelte Werke von Edward Kelley und Paracelsus. 1894-1895 veröffentlichte er eine eigene Zeitschrift, »The Unknown World«, die sich mit Mystik, Alchemie und Hermetik befasste. Weite Werke Waites sind: »The Book of Black Magic and of Pacts« (1898), »The Life of Louis Claude de Saint-Martin« (1901), »The Hidden Church of the Holy Graal« (1909), »The Pictorial Key to the Tarot« (1911), »The Secret Tradition in Freemasonry« (1911) und »The Holy Kabbala« (1929), das von Gershom Scholem, dem führenden Kenner der Materie, sehr gelobt wurde.

Aleister Crowley und die Magie von Thelema

Aleister Crowley (1875-1947) schloss sich dem Orden der Goldenen Dämmerung 1898 noch in der Universität von Cambridge an, wo er Gedichte verfasst hatte und in okkulte Literatur eingetaucht war. Er sog das System der rituellen Magie schnell in sich auf. 1900 praktizierte er die zeremonielle Magie des Abra-Melin (in Mathers neuer Übersetzung), um »die Erkenntnis seines Schutzengels zu erlangen und mit ihm zu kommunizieren«. Nachdem er Mathers Trennung vom zweiten Orden mitverursacht hatte, bereiste er zwischen 1900 und 1903 Nord- und Südamerika, Indien und China und studierte Joga, Tantrismus, Buddhismus und das I Ging, das alte chinesische System magischer Schau, das er mit der Kabbala verglich. Während er 1904 in Ägypten weilte, diktierte ihm eine offenbar exkarnierte Intelligenz namens »Aiwass« das »Buch des Gesetzes«, eine Offenbarung von Thelema oder des magischen Willens. Ihre Maxime lautet: »Tu, was du willst, soll sein das ganze Gesetz!« Aiwass verkündete ein neues Zeitalter der Freiheit, das Zeitalter des Horus, in dem die »Sklavenreligionen« des Christentums, des Islam und des Buddhismus einem ungehemmten Individualismus und der totalen Selbstverwirklichung weichen sollten. Crowley brach mit Mathers und gründete 1907 seinen eigenen Orden namens »Astrum Argentinum«, in dem er Rituale der Goldenen Dämmerung nutzte und mit Joga und anderen östlichen Praktiken vermischte. Die alte Gradeinteilung behielt er bei.

1912 wurde Crowley durch Theodor Reuß, einen Titelhändler, in einen deutschen paramasonischen Orden, den »Ordo Templi Orientis« (O.T.O.) aufgenommen. Möglicherweise hatte Carl Kellner (1850-1905), ein reicher deutscher Industrieller mit gewissen Kenntnissen des Joga, Reuß dazu angeregt, einen magischen Orden zu gründen, der auf dem Kundalini Joga und den polaren Energien der Sexualität fußte. Der Orden entstand irgendwann zwischen 1906 und 1912 unter der Führung von Reuß, der die tantrische Sexualmagie mit Hilfe gewisser angeblich templerisch-rosenkreuzerisch-gnostischer Praktiken deutete. Diese eklektische Idee stammte aus der »phallischen« Interpretation der Kultur durch Hargrave Jennings, die dieser in seinem Buch »The Rosicrucians, their Rites and Mysteries« (1870) entwickelt hatte, das in okkulten Kreisen im Umlauf war, sowie aus Publikationen des deutschen Okkultisten Max Ferdinand Sebaldt (1859-1916) über Sexualmagie. Crowley nahm die Sexualmagie bereitwillig als Hauptbestandteil in sein magisches System auf. Crowley, der 1922 die Nachfolge von Reuß in der Führung des O.T.O. antrat, wurde von Teilen der rosenkreuzerischen Subkultur der 1920er Jahre, zu der die »Fraternitas Saturni« gehörte, verehrt.

Crowley entwickelte sein eigenes System der Magie (die er »magick« schrieb) aus drei Strängen: der rituellen Magie der Goldenen Dämmerung, die Astrologie, Kabbala und orientalische Importe enthielt; einer westlichen Form des Tantrismus, die aus dem O.T.O. abgeleitet war; und dem Evangelium von Thelema, das lehre, alle sollten Selbsterkenntnis erlangen und entsprechend soziale und moralische Schranken hinter sich lassen. Crowley identifizierte sich selbst mit dem großen Tier 666 aus der Apokalypse und stach mit allen Arten antinomischen Verhaltens hervor. Seine magischen Rituale schlossen Geschlechtsverkehr mit weiblichen und männlichen Partnern ein, und riefen in Verbindung mit starkem Drogenkonsum Visionen von Göttern, Dämonen und übernatürlichen Erscheinungen hervor. Die klarste Darstellung seines Systems ist in »Magick in Theory and Practice (1929) enthalten und seine Magie wird immer noch von mehreren Nachfolgeorden des O.T.O. praktiziert. Gerald Gardner (1884-1964), der Begründer der modernen Hexerei, führte die Magie Crowleys in die neuheidnische Wicca-Bewegung ein.

Dion Fortune und das Innere Licht

Violet Mary Firth (1891-1946), die aus der Dynastie der Stahlmagnaten aus Yorkshire stammte, ist eine weitere wichtige Erbin der Esoterik der Goldenen Dämmerung. Als Studentin hatte sie eine traumatische Erfahrung mit psychischen Angriffen, die sie zu einer Psychotherapieausbildung und einer entsprechenden Tätigkeit in London führte. Sie fühlte sich zu Mythologie und Esoterik hingezogen und suchte Kontakt mit magischen Orden. 1919 wurde sie in Brodie-Innes »Alpha et Omega« aufgenommen und im Jahr darauf wechselte sie zu einer Loge des A ∴ O ∴, die Mina Mathers in London begründet hatte, nachdem ihr Mann in Paris verstorben war. In der Goldenen Dämmerung nahm Firth das Motto »Deo Non Fortuna« an, das phonetisch das Pseudonym vorbildete, unter dem sie bekannt wurde. Zu dieser Zeit nahm sie auch an einer Studiengruppe der Theosophischen Gesellschaft in London teil. Von den Vorträgen unbeeindruckt, fand sie in der Bibliothek Annie Besants Buch »The Ancient Wisdom« (1897). Die darin enthaltene Erzählung von der weißen Bruderschaft, einer Hierarchie von Adepten, die über die Evolution der Menschheit wacht und diese leitet, beeinflusste sie tiefgehend. Wie auch immer, statt sich den Theosophen anzuschließen, wurde sie Mitglied einer Gruppe, die Theodore Moriarty (1873-1923) führte, ein Freimaurer, Mystiker und Wundertäter, den sie in ihren Büchern »The Secrets of Dr. Taverner« (1926) und »Psychic Self-Defense« (1930) als Arzt-Magus porträtierte.

Moriarty trug sein eigenes System einer kleinen Gruppe von Menschen als »universale Theosophie« vor, einer Gruppe, die auch symbolische Rituale in einer Loge durchführte, die Männer und Frauen zuließ. Dion Fortunes Interesse an Atlantis, esoterischer Heilung, Kosmologie und Trancemedien gehen auf Moriartys Einfluss zurück. Glastonbury mit seinen Ruinen einer mittelalterlichen Abtei in Somerset, die traditionell mit Joseph von Arimathia verbunden wird, und seinem Reichtum an druidischen, christlichen und Gralsüberlieferungen wurde zu einem frühen Mittelpunkt ihrer Tätigkeit. 1921 übte sie dort zusammen mit dem hellseherischen Archäologen Frederick Bligh Bond (1864-1945) die Tätigkeit eines Trancemediums aus. 1924 erwarb ihre Gruppe in Glastonbury Land und errichtete ein Hauptquartier in London, wo sie Logenarbeit in drei Graden durchführte. Sie benutzte ihre Trance, um mit Meistern in Verbindung zu treten, die ihr Wissen von den »inneren Ebenen« zukommen ließen und eine Kosmologie, die jener der Theosophie gleicht, die sie später unter dem Titel »The Cosmic Doctrine« (1925) veröffentlichte. Sie vertrat ein esoterisches Christentum und wurde 1925 Präsidentin der christlichen mystischen Loge der Theosophischen Gesellschaft, verließ diese aber 1927, um die Gemeinschaft (später Bruderschaft) des »Inneren Lichtes« zu gründen. Keltische und heidnische Elemente, die Mythologie von Atlantis und Avalon und ägyptisch-hermetische, magische Traditionen charakterisieren die Rituale der Gruppe zwischen 1928 und 1939.

Dione Fortunes viele Bücher schließen Titel ein wie »The Esoteric Orders and Their Works« (1928), »The Training and Work of an Initiate« (1930), »Spiritualism in the Light of Occult Science« (1931) und »The Mystical Qabalah« (1935). Daneben verfasste sie eine Reihe beliebter okkulter Romane, die viele Erzählungen über zeremonielle Magie enthalten. Dione Fortune erschloss sich christliche, keltische und heidnische Quellen und bewegte sich immer mehr auf die heidnischen Ursprünge zu. Ihre eklektische Inspiration, verbunden mit ihrem Glauben an die offenbarende Kraft des Weiblichen, hat die New-Age-Formen der Magie und des Neopaganismus beeinflusst. Ihre »Bruderschaft des Inneren Lichtes« (seit 1946 »Society of Inner Light«) praktiziert noch immer Gruppenmeditation, symbolische Visualisierungen und Rituale und betont die Bedeutung ägyptischer Quellen und der Kabbala, die sie jedoch in einen christlichen Rahmen einbettet. Eine verwandte Gruppe, die »Diener des Lichtes« (»Servants of Light«) wurde 1965 von W. Ernest Butler, einem Schüler Fortunes gegründet und wird bis heute von Dolores Ashcroft-Novicki geleitet. Ihre magische Arbeit fußt auf der hermetischen Kabbalah.

Die moderne Ritualmagie nahm die Beschäftigung der Jungschen Psychoanalyse mit Archetypen und dem kollektiven Unbewussten voraus. Verwurzelt in Symbolik und Ritual der Freimaurerei, suchten die magischen Orden die Kräfte des inneren Lebens oder der höheren Ebenen der Wirklichkeit zu erwecken. Diese Erweckung fand im Stile der traditionellen Renaissancemagie statt und bestand im Ausagieren eines Dramas der Korrespondenzen, die den Mikrokosmos mit dem Makrokosmos verbanden. Die Kabbalah (mit Lévis Verknüpfung zum Tarot) spielte in diesen Systemen eine wichtige Rolle, ebenso wie die ägyptischen, hermetischen und rosenkreuzerischen Bezüge. Der aus all dem resultierende Synkretismus ist ein typisch modernes Phänomen, ebenso wie das Gewicht, das auf den Willen und die Macht des Einzelnen gelegt wurde.

Helena Petrowna Blavatsky und die Theosophische Gesellschaft

Nicholas Goodrick Clarke widmet der Erneuerung der Theosophie durch H.P. Blavatsky in seiner Geschichte der westlichen Esoterik ein ganzes Kapitel. Zu Recht, denn die Theosophische Gesellschaft, die 1875 von Helena Petrowna Blavatsky und Henry Steel Olcott gegründet wurde, spielte bei der Verbreitung dieser Esoterik in der Moderne eine zentrale Rolle. Ihr Erscheinen zusammen mit dem Spiritismus und anderen religiösen Bewegungen wies auf die zunehmende Kluft zwischen dem orthodoxen religiösen Glauben und der Wissenschaft im Westen. Der Fortschritt von Wissenschaft und Technologie forderte den traditionellen christlichen Glauben an die Allmacht Gottes, die Notwendigkeit der Gnade und das Leben nach dem Tode heraus. Die Vorrangstellung des Menschen innerhalb einer göttlichen Ordnung stellte das Erscheinen von Darwins »The Origin of Species« (1859) in Frage. Seine Theorie der biologischen Evolution, welche den Menschen in die Tierreihe stellte, sowie die Bildung der Arten auf den Kampf ums Überleben und die natürliche Selektion zurückführte, stellte die geistige Identität des Menschen und den aus ihr abgeleiteten Sinn des Lebens in Frage. Die moderne Wissenschaft konzentrierte sich auf konkrete, materielle Fakten und ihre Erklärungen der physischen Welt verstärkten nur das wachsende Misstrauen in die Autorität der Bibel. Viele Menschen mit spirituellen Neigungen wurden von der Wissenschaft verunsichert, konnten aber in der orthodoxen Religion keinen Trost mehr finden.

Die moderne Theosophie – im Unterschied zur Theosophie Boehmes und seiner Nachfolger – griff diese Bedürfnisse in einer vorwärtsgewandten Weise auf. Sie adaptierte die zeitgenössischen wissenschaftlichen Ideen und postulierte eine spirituelle Evolution durch zahllose Welten und Ebenen. Auf diese Weise stellte sie die Würde und den Sinn des irdischen Menschenlebens im kosmischen Kontext wieder her. Während der Spiritismus bloß ein Weiterleben nach dem Tode postulierte, verortete die Theosophie das Schicksal des Menschen in einer emanatistischen Kosmologie und Anthropologie, die aus dem Neuplatonismus und orientalischen Religionen abgeleitet waren, sie wiederholte die hellenistische Umarmung exotischer östlicher Ideen, aber diesmal handelte es sich um den Buddhismus und Hinduismus, der in das abendländische Denken aufgenommen wurde. Blavatsky zog mit ihrer Popularisierung von Reinkarnation und Karma, den geheimen Meistern (Mahatmas) und ihren Erzählungen über Tibet als Land zeitloser Weisheit viele spirituelle Sucher in Europa, Nordamerika und Indien in ihre neue religiöse Bewegung.

Die Theosophie war ein entscheidender Faktor bei der Wiederbelebung der esoterischen Traditionen des Abendlandes. Die Schriften Blavatskys stellten Materialien des Neuplatonismus, der Renaissancemagie, der Kabbalah und der Freimaurerei, ägyptische und griechisch-römische mythologische und religiöse Überlieferungen sowie Lehren aus dem Buddhismus und dem Advaita Vedanta als Bestandteile jener uralten Weisheit dar, die seit Urzeiten bestanden habe. Ihre fortgeschrittenen Adepten im Himalaya, Erben einer Tradition, die bis in die atlantische Zeit und noch weiter zurückging, gehörten zu jener Kette von Eingeweihten, die schon die prisca theologia der Renaissance postuliert hatte, die nun durch die romantische Faszination für den Orient eine Erweiterung erfuhr. Schon die Renaissance verstand unter ihrer »uralten Weisheit« eine universelle Form des Wissens, die keine geographischen oder kulturellen Grenzen kannte und eine Synthese aller damals bekannten europäischen und orientalischen Traditionen darstellte. Diese Tendenz zur Globalisierung setzte die Theosophie fort, indem sie den Dialog mit exotischen Weisheitsoffenbarungen wieder aufnahm, durch deren Integration sie nicht nur global attraktiv wurde, sondern auch erheblich zum internationalen Wachstum der Esoterik im 20. Jahrhundert beitrug. Mit ihrer Organisation, ihren Publikationen und Lehren wurde die Theosophische Gesellschaft darüberhinaus zu einem Vorbild für andere rosenkreuzerische, maurerische und okkulte Gesellschaften, die sich der Verbreitung esoterischer Ideen verschrieben.

Blavatskys frühe Reisen und die »Meister«

Helena Petrowna Blavatsky (1831-1891) wurde als Kind des Offiziers Peter von Hahn und Helena Andreyewnas, geborener Fadeyew, einer bekannten Romanautorin, die jung starb, im ukrainischen Ekaterinoslaw (heute Dnjepropetrowsk) geboren. Sie hatte russische, hugenottische und deutsche Vorfahren. Ihre Großmutter mütterlicherseits, Prinzessin Helena Pawlowna Dolgorukow, stammte aus einer der ältesten russischen Familien. Helenas Kindheit war von rätselhaften paranormalen Phänomenen geprägt und sie entwickelte ein frühes Interesse an Esoterik. Sie verbrachte viel Zeit in der großen okkulten Bibliothek des Prinzen Pavel Dolgorukow (gest. 1838), des Vaters ihrer Großmutter, der Ende der 1770er Jahre in eine rosenkreuzerische Loge der russischen Freimaurerei aufgenommen worden war. Ein alter Freund der Familie, Prinz Alexander Golitsyn, ein Freimaurer und Mystiker, ermunterte sie, ins Ausland zu reisen, um nach der alten Weisheit zu suchen.

1849 heiratete Helena mit 17 Jahren Nikifor Blavatsky (geb. 1809), den Vizegouverneur der Provinz Eriwan in Armenien, den sie aber bereits in den Flitterwochen wieder verließ. Danach begann eine Serie ausgedehnter Reisen durch die ganze Welt. Nach ihren widersprüchlichen und unentwirrbaren Schilderungen brachten sie diese Reisen in den folgenden 25 Jahren nach Europa, in den Nahen Osten, nach Nordamerika und möglicherweise nach Indien und Tibet. Diese ausgedehnten Reisen, die für eine Frau, die allein unterwegs war, damals höchst ungewöhnlich waren, bezeugen ihre ruhelose Suche nach Weisen und okkulten Lehrern in exotischen Kulturen.

Zu Anfang war der Nahe Osten Hauptgegenstand ihres Interesses. Sie reiste in die Türkei, nach Griechenland und Ägypten. Zeitweise begleitete sie Albert Rawson (1828-1902) ein junger amerikanischer Abenteurer, Autor und Künstler. 1850 nahmen die beiden die Belehrungen von Paulos Metamon, einem koptischen Magier in Kairo entgegen. Zu Beginn des Jahres 1851, in dem die große Weltausstellung stattfand, reiste Blavatsky über Frankreich nach London, wo sie im August das erste Mal ihren »Meister« traf. Sie behauptete, er habe sie aufgefordert, sich für eine wichtige Aufgabe vorzubereiten, die einen dreijährigen Aufenthalt in Tibet erforderlich mache. Ihre weitere Pilgerschaft brachte sie durch die Vereinigten Staaten (angeblich erneut zusammen mit Rawson) und Lateinamerika, schließlich 1852 nach Indien. Der Zugang zu Tibet wurde ihr dieses Mal verwehrt. 1854 war sie erneut in den USA, 1856-57 wiederum in Indien, Kaschmir, Burma und Teilen von Tibet. An Weihnachten 1858 kehrte sie zu ihrer Familie nach Russland zurück, wo sie ihre Fähigkeit demonstrierte, psychische Phänomene hervorzurufen (Klopfen, Glockentöne, Möbelrücken, Telepathie). Anfang 1868 erreichte sie in Florenz eine Botschaft ihres Meisters, ihn in Konstantinopel zu treffen und von dort aus reiste sie zusammen mit Rawson über Land nach Tibet.

Von ihrem Meister »Morya« hieß es, er lebe in der Nähe des großen Klosters Tashi Lhunpo in Shigatse, dem Sitz des Pantschen Lama. Hier betrieben Morya und ein anderer Meister, Koot Hoomi, beide Kaschmiris aus dem Punjab, eine beim Kloster gelegene spirituelle Schule. Die Meister waren fortgeschrittene Adepten mit übermenschlichen Fähigkeiten, weder dem Kloster noch dessen Regeln unterworfen, aber mit einem vollständigen Zugang zu dessen Bibliothek und Ressourcen. Blavatsky, so ihre Erzählung, wurde von ihnen als Schülerin (»chela«) angenommen und erhielt jene Belehrung, nach der sie sich stets gesehnt hatte. Sie erhielt eine Einführung in die heilige Literatur des tibetischen Buddhismus, durfte die Schätze des Klosters sehen und wurde zur Missionarin der Meister im Westen ausgebildet. Angeblich hielt sich Blavatsky zwischen 1868 und Ende 1870 in dieser abgelegenen Gegend des Himalaya auf, um sich auf ihre künftige Tätigkeit vorzubereiten. Blavatsky behauptete stets, ihre Berufung, dem Westen spirituelle Erleuchtung zu bringen, gehe auf diese Initiation zurück. Nach ihrer Ankunft im Westen begründete sie Ende 1871 eine kurzlebige Gesellschaft für die Erforschung des Spiritismus in Kairo. Nach weiteren Reisen durch Europa ließ sie sich für kurze Zeit in Paris nieder, wo sie 1873 von Meister Morya die Anweisung erhielt, in die Vereinigten Staaten weiter zu ziehen.

Ob – und wenn ja – welche Beziehungen Blavatsky zu diesen Meistern während ihrer Jahre des Reisens und der Initiation unterhielt, lässt sich heute nicht mehr mit Sicherheit ermitteln. Ihre Äußerungen sind nahezu alle retrospektiv und stammen aus ihrer späteren indischen Phase. Die Idee einer Bruderschaft der »Meister« selbst stammt jedoch mit Sicherheit nicht aus einem orientalischen Kontext, auch wenn es dort die Gestalt des »Gurus«, des spirituellen Führers gibt und auch andere Religionen wie zum Beispiel der Islam (Sufismus) solche Meister kennen. Es leitet sich vielmehr über die Hochgradmaurerei von der rosenkreuzerischen Idee unsichtbarer, geheimer Adepten ab, die zum Wohl der Menschheit wirken. Aber bereits das neue Testament spricht Jesus als »Rabbi«, als spirituellen Lehrer oder Meister an. So verstanden ist die Idee der »Meister« ein wesentliches, intrinsisches Merkmal des westlichen Okkultismus. Die Idee einer »großen weißen Bruderschaft«, die die Menschheit auf höhere Stufen der Entwicklung hebt, hat im 20. Jahrhundert die Esoterik erheblich beeinflusst (z.B. Annie Besant, Alice Bailey, H. Spencer Lewis, Elizabeth Clare Prophet, G. I. Gurdjieff) und findet sich in großen Teilen der New-Age-Spiritualität.

Vom Spiritismus zur Alten Weisheit

Blavatskys öffentliches, besser dokumentiertes Leben begann mit ihrer Ankunft in den Vereinigten Staaten im Jahr 1873. Sie nahm zunächst Kontakt mit der spiritistischen Bewegung auf, die damals in Nordamerika außerordentlich weit verbreitet war. Im Herbst 1874 traf sie den späteren Mitbegründer der Theosophischen Gesellschaft, Henry Steel Olcott (1832-1907), einen bekannten Anwalt mit einem Interesse am Spiritismus, auf dem Bauernhof der Eddys in Chittenden, Vermont, von dem aus er für New Yorker Zeitungen über Séancen berichtete, bei denen Materialisationen von Geistern beobachtet werden konnten. Blavatsky veröffentlichte ebenfalls Artikel über Spiritismus und begann aktiv in dieser Bewegung mitzuwirken. Sie kommunizierte mit einem Geist namens »John King« und verteidigte öffentlich diskreditierte spiritistische Medien.

Aber sie glaubte auch, der amerikanische Spiritismus sei bar jedes realen okkulten Wissens, mochte er den Materialismus noch so sehr in Frage stellen. Bereits im Februar 1875 begann sie ihr Interesse an der westlichen esoterischen Tradition unter Bezug auf die Magier der Renaissance und die Begrifflichkeit der Kabbalah zu bekunden und benutzte erstmals den Ausdruck »Theosophie«. Bald wandte sie sich vom Spiritismus ab. Im März 1875 traten an die Stelle John Kings die Meister Serapis Bey und Tuitit Bey, Mitglieder einer geheimnisvollen Gemeinschaft, die sich »Bruderschaft von Luxor« nannte, die laut Blavatsky einer ägyptischen  Gruppe der universellen mystischen Bruderschaft angehörten. Olcott und Blavatsky bildeten im Mai 1875 eine Gesellschaft mit dem Namen »Miracle Club«, um die Öffentlichkeit über die spiritistischen Phänomene und ihre Medien aufzuklären. Im Juli 1875 begann sie Artikel für das kurzlebige Bostoner Magazin »Spiritualist Scientist« zu schreiben, in denen sie sich auf Gnostiker, Paracelsisten, Alchemisten und Rosenkreuzer bezog. Ihre Quellen waren Eliphas Lévi, Hargrave Jennings und andere zeitgenössische Okkultisten. In diesen Artikeln erwähnte sich auch erstmals die Existenz okkulter Bruderschaften von Adepten.

Olcott empfing im Sommer 1875 mehr als zwanzig Briefe von Serapis Bey, die ihn dazu aufforderten, weitere Anstrengungen zur spirituellen Entwicklung zu unternehmen. Manche dieser Briefe erteilten ihm taktischen Rat über das weitere Vorgehen. Immer wieder fordern die Briefe dazu auf, den Willen zu schulen, das Wissen zu erweitern, höhere Kräfte zu meistern und latente Fähigkeiten zu entwickeln. Sie fassen diese Aufforderung mit dem Motto »Try« zusammen und verdichten damit das Bestreben des Okkultismus, der sich als höhere Form der Erfahrungswissenschaft verstand, in einer kurzen Formel. Dasselbe Motto, »TRY«, verwendete auch der amerikanische »Rosenkreuzer« Paschal Beverly Randolph (1825-1875). Joscelyn Godwin hat die ganze Bewegung der 1870er Jahre, die den Okkultismus fördern wollte, als eine Gegenbewegung zum Spiritismus charakterisiert. Während sich die Spiritisten auf die Offenbarungen von Séancen konzentrierten, zogen die Okkultisten die seelische Erfahrung vor, die sie mit dem Studium alter Bücher über Magie, Hermetik und die Kabbalah verbanden. Blavatskys »Okkultismus« ist ebenso Teil dieser Gegenbewegung zum Spiritismus, wie die »ägyptisch« ausgerichtete Hermetik. (Joscelyn Godwin, »The Theosophical Enlightenment«, 1994).

Die »Entschleierte Isis« und die westliche Esoterik

Im September 1875 begann Blavatsky an ihrem ersten Buch zu schreiben, das 1877 veröffentlicht werden sollte: der »Entschleierten Isis« (»Isis Unveiled: A Master Key to the Mysteries of Ancient and Modern Science and Theology«). Das Werk stellt eine enzyklopädische Übersicht dar, das von ihren weitläufigen Kenntnissen antiker Religionen, Philosophien und Mythologien, aber auch der zeitgenössischen Wissenschaft zeugt. Ein Grundthema der westlichen Esoterik klingt bereits im Vorwort an: »Unser Werk ist ein Plädoyer für die Anerkennung der hermetischen Philosophie, der alten universellen Weisheits-Religion, des einzigen Schlüssels zum Absoluten in Wissenschaft und Theologie.« Das zweibändige Werk rechnet vom Standpunkt des modernen Okkultismus mit der materialistischen Wissenschaft ab. Der erste Band, »Wissenschaft«, beginnt mit einer Attacke auf Darwins »Ursprung der Arten« und Thomas Huxleys »Physical Basis of Matter«. Weitere Kapitel über Spiritismus, psychische Phänomene, Mesmerismus, die Kabbalah und die überlegene Weisheit und Technologie alter Völker, versuchen die Überheblichkeit der modernen Wissenschaft herauszustellen und zu untergraben. Der zweite Band, »Theologie«, enthält Polemiken gegen das Christentum, stellt esoterische Formen dieses Christentums, insbesondere der Gnosis dar, diskutiert erneut die Kabbalah, antike und moderne Geheimgesellschaften, unter anderem die Jesuiten und die Freimaurer, und vergleicht das Christentum zu seinem Nachteil mit dem Hinduismus und Buddhismus.

Das Generalthema all dieser Auseinandersetzungen ist die Existenz einer uralten Weisheitsreligion, einer Uroffenbarung. Die vielen Glaubensformen der Menschen sollen alle von einer universellen Religion abstammen, die Plato genauso wie den alten Weisen der Hindus bekannt war. Die Weisheitsreligion wird mit der Hermetik identifiziert, »dem einzigen Schlüssels zum Absoluten in Wissenschaft und Theologie«. Jede Religion fußt auf derselben Wahrheit oder »geheimen Lehre«, die das »Alpha und Omega der universellen Wissenschaft« enthält. Diese alte Weisheitsreligion ist zugleich die Religion der Zukunft. In einigen Jahrhunderten werden die Weltreligionen des Buddhismus, Hinduismus, Christentums und Islam vor den »Fakten« und der»Erkenntnis« der alten, universellen Weisheit weichen. Diese alte Weisheitsreligion ist eine hermetische Philosophie, die auf einer emanatistischen Kosmologie gründet. Im Unterschied zum Darwinismus lehrt diese Weisheit nicht die Evolution des Menschen aus dem Tierreich, sondern dessen »Involution« »aus höheren und spirituelleren Wesen«. Ein »göttlicher Funke« ist in die stoffliche Welt abgestiegen, und nachdem er den tiefsten Punkt der Verdichtung erreicht hat, beginnt er wieder zu seiner Quelle aufzusteigen. Blavatsky integriert so den modernen Evolutionismus in ihren Entwurf, aber lediglich als zweiten Teil, als Zyklus des Wiederaufstiegs und außerdem reformuliert sie den biologistischen Imperativ in spirituellen Begriffen: »Die Menschheit muss am Ende bis in die Physis hinein vergeistigt werden.«

Die Ausdrücke »Theosophie« und »Theosoph« erscheinen bereits in der »Entschleierten Isis«. Blavatsky erwähnt zwar Boehme nur im Vorübergehen, bezeichnet aber die Paracelsisten oder »Feuer-Philosophen« des 16. Jahrhunderts als »Theosophen«. Durchgehend ist die Theosophie der antiken alexandrinischen Welt ihr Vorbild, zum Beispiel, wenn sie bemerkt, dass die neuplatonische Schule die mystische Theosophie des alten Ägypten mit der verfeinerten griechischen Philosophie verbunden habe. Sie zitiert öfter ihren Mitarbeiter, Professor Alexander Wilder (1823-1908), den Autor von »New Platonism and Alchemy« (1869), der für den Neuplatonismus den Begriff »eklektisches theosophisches System« geprägt hatte. Wilder wird gewöhnlich die Einführung der »Entschleierten Isis« mit dem Titel »Before the Veil« (»Vor dem Schleier«) zugeschrieben. Blavatsky stützte sich ihrerseits durchgehend auf die Ideen Platos, Plotins, Porphyrius' und Jamblichus' und fasste deren Ansichten in die Begrifflichkeit der eklektischen Theosophie Wilders. Umgekehrt betrachtete sie die moderne Theosophie als Erbin des alexandrinischen Neuplatonismus und ließ dabei die christlichen Formen der Theosophie völlig außer Acht.

Die Gründung der Theosophischen Gesellschaft

Seit Anfang des Jahres 1875 hatten Blavatsky und Olcott sich überlegt, wie die philosophische und experimentelle Untersuchung spiritistischer Phänomene gefördert werden könnte. Die Meister waren dabei angeblich ebenfalls involviert. Auf Morya anspielend hatte Blavatsky vermutlich Anfang 1875 in das Memorandum »Wichtige Notiz« über ihre Initiative in Philadelphia geschrieben: »M ∴ bringt Anweisung, eine Gesellschaft zu gründen – eine geheime Gesellschaft wie die Rosenkreuzerloge.« Ihre Wohnung am Irving Place 46 in New York wurde zu einem Treffpunkt für Menschen mit okkulten Neigungen. Am 7. September 1875 versammelte sich eine Gruppe, um einen Vortrag von George Henry Felt (1831-1906) über »The Lost Canon of Proportion of the Egyptians« oder »Die Kabbalah« zu hören (je nach Quelle, die den Vortrag referiert). Andere Anwesende hatten verwandte okkulte Interessen. Dr. Seth Pancoast (1823-1889), ein Professor der Anatomie, besaß die größte kabbalistische Bibliothek in den USA und veröffentlichte 1877 und 1883 Bücher über dieses Thema. Emma Hardinge Britten (1823-1899) war ein bekanntes englisches Trancemedium, das in New York wohnte, und schrieb über okkulte Themen. Charles Sotheran (1847-1902) war ein prominenter Freimaurer, der den swedenborgianischen Hochgradritus in den USA repräsentierte und ein Buch über Cagliostro verfasst hatte. Henry J. Newton (1823-1895) interessierte sich für Geisterfotografie und war der Präsident der ersten Spiritistengesellschaft in New York. Charles Carleton Massey (1838-1905) war ein Londoner Anwalt, der später die Britische Theosophische Gesellschaft ins Leben rufen und bei der Gründung der »Society for Psychical Research« mitwirken sollte. Er übersetzte mehrere deutsche Publikationen zu diesem Thema von Friedrich Zöllner, Eduard von Hartmann und Carl du Prel.

Olcott betrachtete die Ausführungen Felts über Mittlerwesen als einen Beweis für die Existenz von Elementargeistern, die seiner Auffassung nach in mancherlei Verkleidungen bei Séancen erscheinen konnten. Blavatsky stimmte Olcott zu, dass sie eine Gruppe gründen sollten, um solche Fragen zu untersuchen. Am nächsten Tag, dem 17. September 1875, wurde eine Gesellschaft ins Leben gerufen, um den »Okkultismus, die Kabbalah usw. zu erforschen«. Bei weiteren Zusammenkünften wurden Funktionäre benannt, Olcott zum Präsidenten und Pancoast und Felt zu Vizepräsidenten gewählt und Blavatsky zur korrespondierenden Sekretärin. Die westlichen esoterischen Traditionen, die in ihren Artikeln und der »Entschleierten Isis« anklingen, sowie die okkulte Wissenschaft und das Experiment, waren das ursprüngliche Aufgabengebiet der Theosophischen Gesellschaft in New York. In einem Brief an den russischen Parapsychologen Alexander Aksakow schrieb Blavatsky: »Olcott organisiert jetzt die Theosophische Gesellschaft in New York. Sie wird aus gelehrten Okkultisten und Kabbalisten, aus hermetischen Philosophen des 19. Jahrhunderts, aus leidenschaftlichen Kennern der Antike und Ägyptologen bestehen. Wir wollen Experimente durchführen, um den Spiritismus und die Weisheit der Antike miteinander zu vergleichen, indem wir wörtlich den Anweisungen der alten Kabbalisten, sowohl der jüdischen als der auch ägyptischen folgen. Viele Jahre habe ich die hermetische Philosophie in Theorie und Praxis studiert ... und bin zum Schluss gekommen, dass der Spiritismus mit seinen physischen Manifestationen nichts anderes ist, als die Pythia der Antike oder das Astrallicht des Paracelsus.«

Blavatsky brachte dieses Ziel der Theosophischen Gesellschaft auch in der »Entschleierten Isis« zum Ausdruck: »Das Ziel ihrer Begründer waren praktische Experimente mit den okkulten Kräften der Natur.« Die Präambel der Statuten besagte, die Gruppe hoffe, tiefer als die Wissenschaft »in die esoterischen Philosophien des Altertums« einzudringen und »Wissen von den Gesetzen, die das Universum beherrschen, zu sammeln und zu verbreiten«. Der Glaube an eine universelle Bruderschaft und die asiatischen Religionen wurden 1878 hinzugefügt, nachdem die Theosophische Gesellschaft mit Indern in Kontakt gekommen war.

Die Theosophische Gesellschaft in Indien

Bis zum Jahr 1878 konzentrierte sich die Theosophische Gesellschaft auf die Betonung des Primats des Geistigen gegenüber der Materie und beschäftigte sich mit Phänomenen des praktischen Okkultismus, insbesondere der Astralprojektion. In der Zwischenzeit lockte der Orient als Heimat spiritueller Geheimnisse. Blavatsky spielte regelmäßig auf ihre Verbindungen zu östlichen Adepten der mystischen Bruderschaft an; die »Entschleierte Isis« und ihre Artikel bezogen sich wiederholt auf den Hinduismus und den Buddhismus. Ihr romantisches Bild des Ostens war ein Produkt des kolonialen Kontaktes mit Indien. Die deutsche Gelehrsamkeit der Romantik hatte in der Nachfolge der britischen Orientstudien zu einer hohen Achtung vor Indien als einer Quelle religiöser und philosophischer Weisheit geführt. Rammohun Roy (1772-1833), der berühmte Hindu-Reformer, verbreitete die Idee eines indoeuropäischen goldenen Zeitalters, behauptete, alle Religionen hätten eine gemeinsame Quelle und verknüpfte das unitarische Christentum mit dem Vedanta. Sir Edward Arnolds »The Light of Asia« (1879) trug zur Verbreitung des Wissens über den Buddhismus im Westen bei. Beide werden in Blavatskys Schriften erwähnt. Blavatsky und Olcott knüpften Kontakte zu Sympathisanten in Indien und Ceylon, die Blavatskys Einsatz für ihre traditionelle Religion und Kultur im Unterschied zur Haltung christlicher Missionare schätzten. Diese indischen Kontakte führten zu einer Zusammenarbeit mit dem »Arya Samaj«, einer hinduistischen Reformbewegung, die 1875 von Swami Dayanand Saraswati in Bombay gegründet wurde, der zu den Lehren des Veda zurückkehren wollte.

In einem Rundbrief formulierte die Theosophische Gesellschaft 1878 ihre Ziele neu, um die Erkenntnis der Naturgesetze, insbesondere ihrer okkulten Manifestationen, die Entwicklung latenter Kräfte im einzelnen Menschen, die Würdigung östlicher Religionsphilosophien und vor allem die Bildung einer Bruderschaft der Menschheit mit aufzunehmen. Diese Ziele wurden schrittweise in der noch heute gültigen Fassung präzisiert:

1. Den Kern einer universellen Bruderschaft der Menschheit zu bilden, ohne Unterschied der Rasse, des Glaubens, des Geschlechts, der Kaste oder Farbe.

2. Das Studium alter und moderner Religionen, Philosophien und Wissenschaften.

3. Die Untersuchung der unerklärten Gesetze der Natur und der latenten psychischen Kräfte im Menschen.

Die Verbindung mit dem Arya Samaj bot Anlass, die Geschäfte nach Indien zu verlegen und im Dezember 1878 brachen Olcott und Blavatsky über London Richtung Subkontinent auf. Im Februar 1879 trafen sie in Bombay ein. Von Bombay aus warben Olcott und Blavatsky in der Folgezeit durch viele Reisen und mit Hilfe von Beziehungen zu führenden Intellektuellen und Politikern unermüdlich für die Theosophie. Im Oktober 1879 begannen sie mit der Herausgabe einer Zeitung mit dem Namen »The Theosophist«. Besonders gebildete Inder waren vom Einsatz der Theosophen für die indische Religion und Philosophie beeindruckt, was vor dem Hintergrund des wachsenden Widerstandes gegen die Werte und den Glauben der europäischen Kolonialmächte von nicht zu unterschätzender Bedeutung war. Im Mai 1880 bekannten sich Blavatsky und Olcott während einer Reise nach Ceylon offiziell zum Buddhismus. Hier wurden sie von gewaltigen Menschenmengen gefeiert und neue Zweige der Theosophischen Gesellschaft entstanden.

Durch ihre Reisen und Begegnungen und die Mitarbeiter ihrer Zeitschrift kam Blavatsky zunehmend mit der indischen Philosophie in Berührung, insbesondere mit Samkaras Advaita Vedanta, den Upanischaden und der Bhagavad Gita, die in ihren späteren Artikeln und Werken eine herausragende Stellung einnehmen. Ihre Vorliebe für den Advaita Vedanta ging auf dessen Interpretation der höchsten Realität als eines monistischen, nichttheistischen, apersonalen Absoluten zurück. Diese nichtdualistische Sicht des Parabrahman als eines universellen göttlichen Prinzips sollte zur ersten fundamentalen These der »Geheimlehre« werden, an der sie 1883 zu schreiben begann. Zur gleichen Zeit nahm Blavatsky auch buddhistische Ideen in ihre Theosophie auf , um schließlich den Buddhismus und den Advaita Vedanta als die gemeinsame Quelle ihrer esoterischen Lehre zu interpretieren.

Die Mahatmas und der Esoterische Buddhismus

Alfred Percy Sinnett (1840-1921), der angloindische Herausgeber der einflussreichen Tageszeitung »The Pioneer«, war ein bedeutender theosophischer Konvertit in Indien. Ein anderer war Allan Octavian Hume (1829-1912), der ehemalige Sekretär der englischen Kolonialregierung. Blavatsky besuchte Sinnetts Familie ab September 1880 regelmäßig in ihrer Sommerresidenz in Simla. Während ihres ersten Besuchs rief sie eine Reihe beeindruckender paranormaler Phänomene hervor. Zu dieser Zeit begannen Mitglieder der geheimen Bruderschaft (die bald als Meister Koot Hoomi und Morya identifiziert waren) eine umfangreiche Korrespondenz, die hauptsächlich an Sinnett gerichtet war, anfangs auch an Hume. Diese sogenannten Mahatma-Briefe, die sich meist aus dem Nichts materialisierten, sollten zwischen 1880 und 1885 zu mehr als hundert Sendschreiben anwachsen. Sinnetts Zugang zur Presse und seine eigenen Bücher ließen die Theosophie dem englischsprachigen Publikum in Indien und England schnell bekannt werden. Sein erstes Buch, »Die okkulte Welt« (»The Occult World«, 1881) machte Blavatskys Fähigkeiten und die Mahatma-Briefe zur Sensation und zog das Interesse der Londoner »Society for Psychical Research« auf sich. Sein zweites Buch »Esoteric Buddhism« (Esoterischer Buddhismus«, 1883) verbreitete die grundlegenden Lehren der Theosophie in ihrem neuen asiatischen Gewand in Anlehnung an die philosophischen und kosmologischen Erläuterungen, die in den Mahatma-Briefen enthalten waren. 1883 kehrte Sinnett nach England zurück, wo er Vizepräsident und Sekretär der Londoner Loge der Theosophischen Gesellschaft wurde.

Von 1881 an entfalteten Blavatsky und ihre »Meister« (Brüder, Mahatmas) schrittweise ein komplexes philosophisches Gebäude, das eine Kosmogonie, den Makrokosmos, spirituelle Hierarchien und Mittlerwesen einschloss, wobei die letzteren zu einer hierarchischen Interpretation des Mikrokosmos in Beziehung standen. Ein Hauptmotiv der Theosophie ist die siebenfältige Struktur des Seins, eine Struktur, die den Makrokosmos ebenso wie den Mikrokosmos durchdringt. Die erste Darstellung des siebenfältigen Prinzips im Menschen wurde im Oktober 1881 von A.O. Hume auf der Grundlage von Mitteilungen veröffentlicht, die er von Koot Hoomi erhalten hatte.

Reinkarnation, Karma und spirituelle Evolution

In der »Entschleierten Isis« hatte Blavatsky nicht nur vom dreieinen Prinzip im Menschen (Leib, Seele, Geist) gesprochen, das sowohl Plato als auch Paulus kannten, sie verneinte auch die Möglichkeit einer Reinkarnation auf der Erde.

Ende 1882 hatte sie jedoch ihre Sicht im Kontext der siebenfältigen Konstitution des Menschen revidiert, die nun zum integralen Bestandteil der Reinkarnation wurde. Die drei niederen Prinzipien – der Körper, das Lebensprinzip und sein astrales Gegenstück – werden beim Tod zurückgelassen, und die vier höheren Prinzipien begeben sich auf die nächste spirituelle Ebene, den Astralplan (kama loka), der eine Art von Fegefeuer darstellt. Am fünften Prinzip, Manas, sind ein höherer und ein niederer Teil unterscheidbar, und in ihrem fortdauernden Kampf schließen sich die besten, erhabensten und geistigsten Teile dem sechsten Prinzip, Buddhi an, während sich der verbleibende Rest sich mit dem Wunschkörper (kama rupa) verbindet und schließlich auflöst. Das höhere Prinzip, Manas, das Ego der reifen irdischen Persönlichkeit, folgt dem sechsten und siebten Prinzip in einen spirituellen Zustand namens Devachan. Das Devachan entspricht dem christlichen Himmel, einem Zustand individueller Glückseligkeit, dessen Dauer und Intensität durch das Verdienst und die Spiritualität des Lebens auf der Erde vor der Reinkarnation der drei höheren Prinzipien in eine neue irdische Existenz bestimmt ist. Von der Wiedergeburt heißt es, sie finde durchschnittlich alle 1500 Jahre statt, während der Aufenthalt im Devachan als Belohnung für das positive Karma viel länger dauern kann.

Die Weiterentwicklung der Vorstellung von der Dreieinheit aus Leib, Seele und Geist zu der siebenfältigen Konstitution des Menschen und zur Reinkarnation war nicht durch die Rezeption hinduistischer Lehren bedingt, die in der Regel fünf Prinzipien voraussetzen, sondern geht auf die Inspiration durch siebenfältige Motive der westlichen Esoterik zurück, die in der Astrologie, Alchemie und Kabbalah vorherrschen. Sieben Prinzipien erlaubten eine differenziertere Betrachtung der spirituellen Konstitution des Menschen. Diese sieben Prinzipien und ihre Funktion sind höchstwahrscheinlich durch das Motiv der »aufsteigenden Metempsychose« motiviert, welche die spirituelle Entwicklung ermöglichen soll. Da die Darwinsche Evolution eine zentrale Idee der westlichen Wissenschaft in den 1860er und 1870er Jahren war, versuchte Blavatsky, ihre esoterische Philosophie mit der modernen Wissenschaft zu versöhnen. Wenn die Seelen lediglich durch viele Leben gingen, wie konnte dieser Prozess in wissenschaftlichen Begriffen erklärt werden und für ein westliches Publikum irgendeine Bedeutung haben? Wouter Hanegraaff meinte, Blavatsky habe dieses Problem bei der Abfassung der »Entschleierten Isis« noch nicht gelöst, aber 1882 mit der Idee des Karma eine Antwort gefunden. Karma und Reinkarnation bieten mit ihrer Erzählung von den nachtodlichen Zuständen eine Idee, die der progressiven, optimistischen, westlich-aufklärerischen Auffassung entgegenkommt und greifen zugleich die protestantische Moral der Selbstentwicklung und Selbstverantwortung auf, indem sie die Reinkarnation aus ihrem Zusammenhang mit dem orientalischen Fatalismus befreien.

Kosmologie und spirituelle Hierarchien

Sinnetts Korrespondenz mit den Mahatmas aus dem Jahr 1882 bezog sich auf Lehren über periodische Zyklen der Manifestation (manvantaras) und der Ruhe (pralaya) des Universums. Zu diesem Zeitpunkt begann die Entfaltung der charakteristischen, weitläufigen theosophischen Kosmologie mit der Emanation des vedantischen Parabrahman oder des Adibuddha, der alles durchdringenden, höchsten, absoluten Intelligenz gemäß den Lehren des nördlichen Buddhismus. Ihre Vermittler sind die sich periodisch manifestierende Gottheit Avalokiteshvara, die von sieben aktiven Intelligenzen, den Dhyani Chohans unterstützt wird, die stufenweise Atome, Moleküle, Elemente, Minerale, Pflanzen, Tiere und Menschen formen und zwar durch eine absteigende Involution, bei der sich spirituelle Substanz vermaterialisiert. Sinnetts Ausführungen bieten eine klare Darstellung der Emanationen und sukzessiven siebenfältigen Manifestationen, die so zentral für die theosophische Kosmologie sind. In ihnen geht es um die Konstitution des Menschen, die Planetenkette, die Perioden der Weltentwicklung, die nachtodlichen Zustände des Ego im Devachan und Kama Loka, um den Fortschritt der Menschheit, die buddhistische Kosmologie und die Zyklen des Universums. Sowohl die »Mahatma-Briefe« als auch der »Esoterische Buddhismus« zeigen, wie spirituelle Kosmologien und Hierarchien, mit denen wir aus den westlichen Traditionen des Neuplatonismus, der Gnosis und Hermetik vertraut sind, eine Verbindung mit den komplexen östlichen Hierarchien des nördlichen, tibetischen Buddhismus eingehen und sich mit zeitgenössischen wissenschaftlichen Ideen der planetarischen, paläogeografischen und biologischen Evolution zusammenschließen. Die Mahatmas Morya und Koot Hoomi nehmen ebenso wie Blavatsky fortlaufend auf diese modernen Wissenschaften Bezug, insbesondere auf die Theorien von Charles Darwin, Sir Archibald Geikie, William Boyd Dawkins und John Fiske.

Blavatsky beschrieb die zyklische Manifestation und den Rückzug oder die Ruhephasen des Universums mit Hilfe der Kosmologie des nördlichen Buddhismus, der eine fortschreitende spirituelle Evolution annimmt. Der Adibuddha emaniert den ersten Logos (Vajradhara, entsprechend dem Purusha), den zweiten Logos (Vajrasattva, entsprechend der Prakriti) und den dritten Logos (Mahat). Der Adibuddha emaniert sieben Dhyani-Buddhas (oder Dhyan-Chohans), die sieben Söhne des Lichtes oder Logoi des Lebens. Diese kosmologischen Wirkmächte sind unmittelbar für den Aufbau und die Gesetze des Universums verantwortlich. Die emanatistische Kosmologie wird als eine »Hierarchie des Mitleids« beschrieben, da jede der absteigenden Hierarchien (Adibuddha, die drei Logoi, die Dhyani-Buddhas, die Dhyani-Boddhisattvas, die überirdischen Boddhisattvas, die irdischen Buddhas und die Menschen) mit der zunehmenden Erleuchtung der Welt in Beziehung steht. Ihre Manifestation in den unterschiedlichen Zeiten und geografischen Räumen besitzt eine soteriologische Bedeutung. Die Erwartung des Maitreya, des künftigen Buddha der sechsten »Wurzelrasse«, besaß eine mächtige heilende Kraft und wurde zu einer Kernidee späterer Bewegungen, die sich von der Theosophie inspirieren ließen.

Die »Geheimlehre«

Blavatsky widmete den Rest ihres Lebens unermüdlich dem Schreiben. Sie kehrte aus Indien nach Europa zurück und lebte von August 1885 bis Mai 1886 in Würzburg, wo sie die Arbeit an ihrem Hauptwerk, der »Secret Doctrine« fortsetzte. Nach einem Aufenthalt in Ostende 1886-87 ließ sich Blavatsky in London nieder und umgab sich mit loyalen Schülern. Im Oktober 1888 gründete sie die Esoterische Abteilung der Theosophischen Gesellschaft gegründet, als Schule für ihre Anhänger in London, denen sie eine Reihe esoterischer Instruktionen gab. Eine kleinere Gruppe persönlicher Schüler empfing ihre fortgeschrittenen Unterweisungen bis zu ihrem Tod im Mai 1891.

»Die Geheimlehre« ist ein zweibändiges Werk von etwa 1500 Seiten und erhebt den Anspruch, das grundlegende Wissen zu enthalten, aus dem alle Religionen, Philosophien und Wissenschaften entstanden sind. Es behauptet, auf den »Dzyan-Strophen« zu fußen, einem mysteriösen Text, der in der unbekannten Senzar-Sprache geschrieben ist, von der kein Linguist je gehört hat. Blavatskys reife Lehre fußte auf drei Prinzipien: (1) der Existenz einer absoluten Realität, der unendlichen und ewigen Ursache von allem; (2) der Periodizität des Universums: seinem zyklischen Erscheinen, Wachstum, Welken und Verschwinden; (3) der Identität »aller Seelen mit der Universal-Seele: der Pilgerschaft jeder Seele oder jedes Funkens durch den Zyklus der Inkarnation«. Von diesen Prinzipien inspiriert, enthält die Geheimlehre vier fundamentale Ideenkomplexe: die Evolution, des Menschen siebenfältige Konstitution, Karma und Reinkarnation und Lehren über die Zustände nach dem Tod.

Auch wenn Blavatsky nun ihre Kosmologie in einer Terminologie vortrug, die aus dem Sanskrit, dem Tibetischen und dem Buddhismus geschöpft war, blieb sie doch tief in der hermetisch-kabbalistischen Weltsicht verwurzelt, dass das Untere wie das Obere ist. Ihr Panorama der zyklischen Schöpfung des Universums beschreibt die Entfaltung des universellen Geistes in einer komplexe Hierarchie göttlicher Mächte, die allen Aspekten der Schöpfung im manifesten Universum ihre Form geben. Der Mikrokosmos des Menschen enthält Analogien zum Makrokosmos. Der gesamte Inhalt der höheren Welten wird kartografiert und mit Hilfe von Analogien zu den Inhalten der unteren Welten in Beziehung gebracht. Die Theosophie präsentiert das Universum als belebtes, beseeltes Ganzes, das von geistigen Mittelwesen erfüllt ist (Dhyan Chohans, Jivas, Intelligenzen, Gestalter, Planetengeister, Lipikas). Diese mythologischen Wesen verleihen den aufeinanderfolgenden Schichten des geordneten, hierarchischen Kosmos ihre Formen. Als ewige, geistige Komponenten des Seins wandern die Atma-Buddhi-Monaden, die zwei höchsten Prinzipien des Menschen, durch zahlreiche Inkarnationen, vergeistigen ihre vorübergehenden Träger und ermöglichen so eine spirituelle Evolution.

Die kosmische Apersonalität dieser Erzählungen dient lediglich als Hintergrund für das zentrale Thema der Geheimlehre, das ihre herausragende Bedeutung für religiöse Sucher verbürgt. Das individuelle Schicksal des Menschen und die moralischen Probleme der individuellen Entwicklung sind die Hauptthemen des Buches, das von der Reinkarnation der individuellen Seele nach Maßgabe ihres Karmas, des Gesetzes von Ursache und Wirkung, in jedem einzelnen Leben erzählt, während sie unablässig bestrebt ist, sich spirituell weiter zu entwickeln. Das letzte Ziel des Menschen ist die Emanzipation der Seele. Der physische Leib und der Astralleib lösen sich nach dem Tode auf, aber die höhere Dreiheit von Manas, Buddhi und Atma überlebt den Tod. Viele Reinkarnationen sind nötig, bevor diese Dreiheit sich in einem physischen Leib manifestieren kann. Wenn es einmal so weit ist, wird die Menschheit auf die Stufe der Götter aufgestiegen sein.

Blavatskys Kosmologie trägt alle wesentlichen Züge der Faivreschen »westlichen Esoterik«: Korrespondenzen zwischen dem Makrokosmos und dem Mikrokosmos, eine lebendige Natur als komplexes, pluralistisches, hierarchisches und beseeltes Ganzes, Imagination und Mediation in Form von vermittelnden Geistwesen, Symbolen und Mandalas und die Erfahrung der Transmutation der Seele durch Reinigung und Aufstieg.

Blavatskys Vermächtnis

Der Hauptbeitrag der Theosophie zur westlichen Esoterik besteht in einigen wichtigen Neuerungen: (1) der Assimilation von Elementen orientalischer Religionen aus der Perspektive vergleichender Religionswissenschaft, die von früheren okkultistischen Autoren wie Hargrave Jennings und Godfrey Higgins verweist; (2) der Ausarbeitung des Prinzips der Siebenheit und seiner vielfältigen Beziehungen zu gnostischen, hermetischen, kabbalistischen und buddhistischen Kosmologien und Hierarchien; (3) dem Bezug dieses Prinzips zu Reinkarnation und Karma und seiner Anwendung auf die Idee der spirituellen Evolution; (4) der Präsentation esoterischer Ideen im Kontext der modernen Wissenschaft, wozu Evolution, Geologie, Anthropologie und Rassentheorien gehören. Innerhalb dieser Innovationen gehören die Perspektiven der Theosophie für die vergleichende Religionswissenschaft und ihre evolutionären Ideen zu den wichtigsten Beiträgen. Die spirituellen Führer Blavatskys, die Brüder, Meister oder Mahatmas, stehen in der Tradition der rosenkreuzerischen geheimen Adepten, die den spirituellen Fortschritt der Menschheit fördern und hegen. Indem sie die Idee des Adepten mit jener der spirituellen Entwicklung verband, schuf Blavatsky die wirkmächtige Vorstellung eines zuhöchst entwickelten Adepten, dessen Bewusstsein weit über das des Durchschnittsmenschen hinausreicht. Die Meister und die große weiße Bruderschaft haben das ganze zwanzigste Jahrhundert hindurch neue religiöse Bewegungen inspiriert.

Blavatskys Einfluss auf ihre Zeitgenossen und die Nachwelt war nachhaltig. Die Wirkungen der Theosophischen Gesellschaft in Indien und im Westen sind beträchtlich. Die spätere Geschichte der Gesellschaft unter der Präsidentschaft Annie Besants, die zugleich dem Indischen Nationalkongress vorstand, unterstreicht die Rolle, welche sie bei der Stärkung des indischen Selbstbewusstseins gegenüber dem Kolonialherren gespielt hat; sowohl Gandhi als auch Nehru fanden durch die Theosophie ihr eigenes religiöses und philosophisches Erbe wieder. Im Westen war die Theosophie vielleicht der bedeutendste Einzelfaktor beim Wiederaufleben des Okkultismus. Sie lenkte das modische Interesse am Spiritismus auf eine kohärente Lehre, die Kosmologie, moderne Anthropologie und die Theorie der Evolution mit der spirituellen Entwicklung des Einzelmenschen verband. Sie schöpfte aus den traditionellen Quellen der westlichen Esoterik und globalisierte diese, indem sie sie in der Begrifflichkeit der asiatischen Religionen neu formulierte. Dadurch bereitete die Theosophie den Weg für die vergleichende Religionswissenschaft, was erstmals durch das Weltparlament der Religionen 1893 in Chicago sichtbar wurde. Indem sie die Bedeutung des Bewusstseins als einer Kraft der spirituellen Entwicklung hervorhob, bekämpfte sie materialistische und mechanistische Modelle der Natur und führte zugleich eine moderne, dynamische Dimension in das traditionelle hermetische Weltbild der Korrespondenzen von Mikro- und Makrokosmos ein.

Zwischen 1880 und 1930 stimulierte die Theosophie auf signifikante Weise das Interesse an der esoterischen Tradition unter den Gebildeten Europas und Amerikas. Theosophische Publikationen beleuchteten viele Aspekte der Tradition, von der Antike bis zur Renaissance und befruchteten Bewegungen des modernen Okkultismus (z.B. Orden der zeremoniellen Magie, wie den Hermetischen Orden der Goldenen Dämmerung und seine vielen Abkömmlinge im 20. Jahrhundert). G.R.S. Mead (1863-1933) und Rudolf Steiner (1861-1925), die beide zu den frühen Vertretern der Theosophie gehörten, betonten später ihre westlichen Quellen, indem sie die Beiträge der Gnosis, Hermetik, des Neuplatonismus, des Rosenkreuzertums und der Wissenschaft Goethes zur esoterischen Tradition unterstrichen. Mead beeinflusste entscheidend C.G. Jung, dessen Theorie der Psychoanalyse der esoterischen Tradition der romantischen Naturwissenschaften Wesentliches verdankt, während Steiners Anthroposophie die esoterische Tradition mit zeitgemäßen Anwendungen in der Pädagogik, Landwirtschaft und Medizin verband. Das kulturelle Vermächtnis der Theosophie ist vielfältig; sie beeinflusste die moderne Kunst, die Quantenphysik und in jüngster Vergangenheit auch das New Age.

Moderne Esoterik und neue Paradigmen

Erben der Theosophie

Die Theosophie hat laut Nicholas Goodrick-Clarke bei der Verbreitung der westlichen esoterischen Traditionen in der Moderne eine Hauptrolle gespielt. Meister, spirituelle Hierarchien, nachtodliche Zustände und die Vorstellung einer geistigen Entwicklung sind heute geradezu Gemeinplätze, besonders in den sogenannten neuen religiösen Bewegungen. Die Theosophische Gesellschaft war ein zähes Gewächs, aus dessen Stamm in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eine ganze Reihe einflussreicher esoterischer Bewegungen hervorgingen. Nach dem Tod Henry Steel Olcotts im Jahr 1907 führten Annie Besant (1847-1933) und Charles Webster Leadbeater (1854-1934) die Theosophische Gesellschaft Adyar weiter und entwickelten bis in die 1930er Jahre die Theosophie der »zweiten Generation« oder »Neotheosophie«. Diese betonte den Erwerb und die Anwendung psychischer okkulter Fähigkeiten, insbesondere der Hellsicht, die der Erforschung des Astralplans und vergangener Leben diente. Die Theosophische Gesellschaft nährte auch eine besondere Naherwartung, die auf Leadbeater zurückging, der 1909 verkündete, ein indischer Knabe, Jiddu Krishnamurti (1896-1986), werde als Vehikel des Weltlehrers, des Christus oder Herrn Maitreya (des Buddha der sechsten Wurzelrasse) dienen und damit die Aussagen Blavatskys über die spirituelle Hierarchie erfüllen. Leadbeater war der führende Vertreter dieser messianischen Vorstellungen. Er war durch die 1917 erfolgte Begründung der ritualistischen Liberal-Katholischen Kirche auch verantwortlich für die Integration des Katholizismus und seiner Sakramente in die Theosophische Gesellschaft. Auch wenn Krishnamurti 1919 seine Mission wiederrief, was zu einem vorübergehenden Einbruch in der Erfolgsgeschichte der Theosophischen Gesellschaft führte, blieb er ein anerkannter spiritueller Führer, dessen Schriften bis heute viele Leser finden.

1902 wurde der als Goetheforscher und Nietzscheinterpret bekannte Rudolf Steiner Generalsekretär der Theosophischen Gesellschaft in Deutschland. In den folgenden Jahren traten aber zunehmend Differenzen zwischen der von ihm vertretenen und der östlich orientierten Theosophie hervor. Während er viele Aspekte der komplexen Kosmologie und der geistigen Konstitution des Menschen beibehielt bzw. weiter entwickelte, ließ er die tibetischen Meister fallen, stellte Christus als Heilsgestalt in den Mittelpunkt und betonte gegenüber den östlichen Einflüssen die westlichen Traditionen der Rosenkreuzer-Esoterik. 1912 kam es zum Bruch und die deutsche Sektion ging nahezu vollständig in der neu gegründeten Anthroposophischen Gesellschaft auf. Steiner verfasste nicht nur rund dreißig Bücher, sondern hielt auch nahezu 6.000 Vorträge über eine Vielzahl esoterischer Gegenstände. Vor allem aber wurde er durch die Begründung der Waldorfpädagogik, der biodynamischen Landwirtschaft, der Heilpädagogik, einer esoterischen Form der Medizin und Pharmazeutik sowie der Eurythmie zu einem Pionier der praktischen Anwendung der Esoterik im modernen Lebensalltag. Die Anthroposophische Gesellschaft, die nach einer Krise 1923 neu gegründet wurde und ihren Sitz im Goetheanum in Dornach in der Schweiz errichtete, koordiniert die verschiedenen Landesgesellschaften, die für die Verbreitung der esoterischen Lehren, Publikationen und Praktiken Steiners sorgen.

Die Arkanschule von Alice A. Bailey (1880-1949) wurzelte ebenfalls in der Theosophie und vertrat deren Auffassungen über die alte Weisheit, die Meister und die Evolution des Menschen und des Kosmos. Bailey begegnete soll 1919 ihrem Meister Djwal Khul (der als »der Tibeter« bezeichnet wird) begegnet sein, dessen Lehren, die sie durch Channelling empfing, von ihr in rund 24 Büchern zwischen 1922 und Ende der 1940er Jahre veröffentlicht wurden. Djwal Khul offenbarte einen göttlichen Plan der spirituellen Entwicklung des Universums, die durch eine Aufeinanderfolge von Rassen und Zivilisationen erfolgen sollte. Eine Hierarchie geistiger Lehrer, die von Christus geführt wird, ist für die Umsetzung dieses Plans verantwortlich und hat die Menschheit durch die aufeinanderfolgenden Zeitalter geführt. Nach Bailey war Christus der Meister aller Meister und die Meister der Weisheit (Mahatmas) seine Schüler. Auch in ihren Auffassungen von Reinkarnation und Karma schloss sich Bailey Blavatsky und den übrigen Theosophen an.

Obwohl Baileys Lehre, insofern sie theistisch ist und von einem kosmischen Christus spricht, an die christliche Theosophie erinnert, übernimmt sie auch viele Vorstellungen Blavatskys, insbesondere jene von den sieben Strahlen. Blavatsky setzte diese zu den sieben hierarchischen Stufen der Engel oder Dhyani-Chohan in Beziehung, die mit unterschiedlichen Farben und Tönen assoziiert sind und zusammen den offenbaren Logos bilden. Jede einzelne Stufe der Hierarchienwelt besitzt ihre eigene Farbe, die sieben Farben des Sonnenspektrums korrespondieren ebenfalls mit den sieben Strahlen. Jede der einzelnen Hierarchiestufen wirkt gestaltend in einem der sieben Königreiche der Natur und der Aura in einem der sieben Prinzipien des Menschen. Die Strahlen spielen als Träger von Korrespondenzen in Baileys esoterischer Psychologie eine große Rolle und wurden zu einem zentralen Motiv des New Age. Baileys Vorstellung der geistigen Hierarchien, die sich aus Blavatskys Idee der »Hierarchie des Mitleids« entwickelte, beeinflusste in den 1920er Jahren Leadbeater und später die Auffassungen des New Age von der »großen weißen Bruderschaft«.

Der Einfluss der Theosophie geht weit über ihre organisierten Mitglieder und Publikationen hinaus. Der Biograph von Leadbeater meinte, dieser habe auf die Religionen des New Age einen bestimmenden Einfluss gehabt: »Solche Begriffe wie Meister, Reinkarnation, Karma, Akashachronik, Atlantis, Lemurien, Schamballa, Astralplan, Monade, Schwingung und psychische Fähigkeit, die in der modernen okkulten Literatur ständig vorkommen, wurden von Leadbeater maßgeblich geprägt.« (Gregory Tillett, The Elder Brother, 1982) Besant und Leadbeater verfassten 1902 gemeinsam ein einflussreiches Buch mit dem Titel »Thought-Forms« (»Gedankenformen«), einen Bericht über die hellsichtige Untersuchung von Farben und Lichtern, die von bestimmten Gedanken erzeugt werden. Jede Gedankenregung, sei es Anziehung, Demut, Ärger, Sympathie, Angst oder Gier, erzeugt eine Schwingung, welche die Farbe der verschiedenen subtilen Leiber des betreffenden Menschen verändert. Die Gedanken erzeugen auch ihre je eigenen fließenden Formen, eine Art von geometrischem Muster. Die Untersuchungen erstreckten sich auch auf die Gedankenformen von Musik. Das Buch enthält Tafeln mit opulent kolorierten Tafeln, auf denen die Gedankenformen abgebildet sind, die von den Kompositionen Mendelssohns, Gounods oder Wagners erzeugt werden.

Leadbeaters Bücher über die Farben und Formen der Gedanken, die subtilen Leiber und Auren beeinflussten die frühe abstrakte Malerei Wassily Kandinskys und Piet Mondrians. Kandinsky erwarb 1908 eine Ausgabe der »Gedankenformen« und schloss sich 1909 der Theosophischen Gesellschaft an. Sein Werk »Über das Geistige in der Kunst« war für die Entwicklung der modernen Malerei von zentraler Bedeutung. Seine »Improvisationen«, eine Serie von Gemälden, die um 1916 entstanden sind, sollen direkt von den Illustrationen in Leadbeaters Buch über die Gedankenformen beeinflusst worden sein. In seinem Buch widmet Kandinsky einige Absätze der Theosophie und zitiert Blavatskys »Schlüssel zur Theosophie«. Auch Piet Mondrian schloss sich 1909 der Theosophischen Gesellschaft an. Er experimentierte mit farbigen geometrischen Formen, in denen er die Ordnung des Universums abzubilden versuchte und besaß ein Porträt Blavatskys, das in seinem Studio hing. Andere Maler der Moderne, darunter Paul Klee, Paul Gauguin und Nicholas Roerich, wurden ebenfalls von der Theosophie beeinflusst.

Der Vierte Weg

Die Bewegung des »vierten Weges«, die mit dem kaukasischen Thaumaturgen George Iwanowitsch Gurdjieff (1866-1949) und Pjotr Demianowitsch Ouspensky (1878-1947) verbunden ist, stellt ein weiteres Beispiel einer esoterischen Schule dar, die eine komplexe Kosmologie und Vorstellungen spiritueller Entwicklung mit künstlerischen Ausdrucksformen verband. 1907 entdeckte der russische Universalgelehrte Ouspensky die Theosophie und begann mit einem intensiven Studium okkulter Literatur. Sein erstes philosophisches Werk, das »Tertium Organum«, war zutiefst esoterisch und befasste sich mit höheren Bewusstseinszuständen als Erkenntnisquellen. Ouspenksy, der vom Joga und der östlichen Weisheit stark angezogen war, reiste nach Indien und besuchte 1913 die Theosophen in Adyar. Nach seiner Rückkehr traf er Gurdjieff, der bei den Meistern Zentralasiens nach esoterischer Weisheit gesucht hatte und in Sankt Petersburg wirkte. Ouspensky glaubte, Gurdjieff habe ein neues System des Denkens, eine allumfassende Form der Erkenntnis entdeckt. Gurdjieff begann eine neue Form des Balletts, eine »heilige Gymnastik« zu entwickeln. Seine Versuche zogen die Aufmerksamkeit des russischen Komponisten Thomas von Hartmann, des Bühnenbildners Alexander von Salzmann und der Choreografin Jeanne von Salzmann auf sich. Die Gruppe Gurdjieffs pilgerte durch das revolutionäre Russland, nach Konstantinopel und Deutschland, um sich schließlich in Frankreich niederzulassen, wo Gurdjieff 1922 in Fontainebleau eine Schule eröffnete.

In »Beelzebubs Erzählungen für seinen Neffen« stellte Gurdjieff seine Ideen in Form einer mythopoetischen Kosmogonie dar, die von einer Hierarchie unterschiedlicher Ebenen innerhalb eines lebendigen Universums sprach und die Geschichte der Menschheit in zwei Strömungen unterteilte: eine bewusste initiatische und eine unbewusste profane. Gurdjieff war der Auffassung, der Mensch werde von »Identifikationen« mit Dingen der äußeren Welt und Kräften seiner niederen Natur beherrscht und handle gewöhnlich ohne Freiheit, rein mechanisch. Die Aufgabe der Erleuchtung bestehe darin, das eigentliche Wesen des Menschen zu »erwecken« und ihn zu wirklicher Selbsterkenntnis zu führen. Gurdjieff sah den Menschen in einem Spannungsfeld von Biologie, Metaphysik und Kosmologie. Sein »Strahl der Schöpfung«, der an die theosophische Terminologie erinnert, setzte Herz und Geist zu einer ausgedehnten Hierarchie von Planeten und Sternen, bis hinauf zum Absoluten, der Quelle alles Seins, in Beziehung. Die gesamte kosmische Ordnung ist abgestuft und die einzelnen Stufen stehen zu den Tonleitern der Musik in Beziehung. Nur wenn man sein eigentliches Wesen und seine verborgene Bestimmung entdeckt, kann man aus der universellen Energie schöpfen, die durch die Hierarchien herabfließt und beginnen, eine aktive, bewusste Rolle zu spielen. Die Menschen sind zwar biologische Gattungswesen, aber die spirituelle Entwicklung kann jeder selbst in die Hand nehmen und sich aus seinen Abhängigkeiten befreien.

Auch wenn Gurdjieffs System traditionelle Ideen der westlichen Esoterik durchspielt, weist es auch Neuerungen auf, etwa die semitonalen Intervalle auf der diatonischen Skala, die an die musikalischen Korrespondenzen Robert Fludds erinnern, aber von diesen abweichen. Gurdjieffs »Gesetze der Drei und Sieben« liegen seinem Schlüsselsymbol, dem »Enneagramm« und dem Diagramm der Ernährung zugrunde, das Nahrungsmittel, Luft und Teile des Mikrokosmos zu einander in Beziehung bringt. Gurdjieffs Kosmologie ist reich an Korrespondenzen und unterstreicht die Bedeutung der Umwandlung der Seele durch »bewusste Bewegungen« und andere Techniken, welche die gewohnheitsmäßigen Identifikationen aufbrechen sollen. Ouspensky versuchte die Lehren Gurdjieffs in einem metaphysisch kohärenten System zusammenzufassen, das er unter dem Titel »Auf der Suche nach dem Wunderbaren« (1950) veröffentlichte. Englische Interpreten bildeten später die Gedanken Gurdjieffs und Ouspenskys in ihren eigenen Gruppen, Instituten und Schriften fort. John Godolphin Bennett (1897-1974), ein Wissenschaftler, Techniker und Philosoph traf Gurdjieff erstmals 1921 und arbeitete später mit Ouspensky zusammen, mit dem er 1946 in Coombe Springs, Kingston-on-Thames, Surrey ein Institut gründete. Bennett nahm in den späten 1940er Jahren Kontakt mit Gurdjieff auf und gewann die Überzeugung, dessen System lasse sich mit der modernen Wissenschaft verbinden. Er veröffentlichte zahlreiche Schriften, darunter das vierbändige »Dramatic Universe« (1956-1966) und »The Masters of Wisdom« (1977). Ende 1953 reiste er durch den Nahen Osten, in der Hoffnung, Gurdjieffs ursprüngliche Quellen unter den Sufimeistern zu finden. Seine Erzählung über diese Reise veröffentlichte er unter dem Titel »Journeys in Islamic Countries« (1976-1977). Rodney Collin (1909-1956) arbeitete ebenfalls mit Ouspensky zusammen und verfasste zahlreiche Bücher. Seine »Theorie des himmlischen Einflusses« (»Theory of Celestial Influence«, 1954) stellt ein monumentales Epos über die Menschheit, die Zivilisation und das Universum dar, dem die kosmologischen Ideen der Drei und Sieben und das Enneagramm zugrunde liegen. Maurice Nicoll (1884-1953) schließlich, ein Psychiater und Jungscher Analytiker, studierte 1922 bei Gurdjieff und gründete später Gruppen in England. Sein beeindruckendes fünfbändiges Werk »Psychological Commentaries on the Teaching of G.I. Gurdjieff and P.D. Ouspensky (1952-1954) stellt einen Versuch dar, deren esoterische Philosophie mit der modernen Psychologie in Einklang zu bringen.

Die Verwissenschaftlichung der Esoterik

Seit der Renaissance hat die Esoterik einen Diskurs betrieben, der deduktive, neuplatonische und hermetische Formen der Gnosis und empirische Untersuchungen der Naturordnung, die auf Beobachtung fußten, miteinander verband. Robert Fludds meisterhafte Panoramen des Makro- und Mikrokosmos versuchten, das gesamte zeitgenössische Wissen in einem hierarchisch geordneten Ganzen zusammenzufassen, dessen Struktur auf die Hermetik, die paracelsische Naturphilosophie und die Kabbalah zurückging. Aber im späten 19. Jahrhundert begann die schiere Vermehrung des Wissens über kausale Zusammenhänge in der physischen Welt die traditionelle hierarchische Weltsicht einzuebnen. An deren Stelle trat eine positivistische, operationalistische Deutung der Natur. Die einseitige Bevorzugung des Experimentes, des Zweifels und der Kausalität hat zu einer zerstückelten Sicht des Kosmos geführt, die sich umfassenden Ordnungen und vertikalen Hierarchien verschließt. Die endlose Ansammlung von Fakten, Formeln und physischen Gesetzen erzeugt eine Welt unzusammenhängenden Wissens. Dieses verstandesmäßige, operationale Wissen stützt sich allein auf die Wahrnehmungen der Sinne und kann daher nicht den Status einer absoluten Erkenntnis beanspruchen. Wie Kocku von Stuckrad betont hat, ist eines der Kennzeichen der Esoterik ebendieser Anspruch auf absolute Erkenntnis.

Mit ihrem Anspruch auf ebendiese Erkenntnis haben die esoterischen Bewegungen des beginnenden 20. Jahrhunderts die kosmologischen Elemente der westlichen Traditionen bewahrt. Ihre Auffassung des Universums und des Menschen fußt intrinsisch auf analogischen und symbolischen Korrespondenzen zwischen Mikro- und Makrokosmos, bei denen geistige Mittlerwesen eine zentrale Rolle spielen. Gleichzeitig schöpften sie die Metaphern und Paradigmen, die sie benutzten, um ihre Kosmologien zu beschreiben, in größerem oder geringerem Umfang aus wissenschaftlichen Vorstellungen, genauer gesagt, aus jenen Ideen, die in der Wissenschaft gebräuchlich waren. Blavatskys Vorstellungen über Evolution und ihr ganzes System von Globen, Runden, Wurzelrassen, kosmischen Ebenen und Strahlen wurden von Leadbeater und Alice Bailey weiter ausgebaut und in ausgefeilten Diagrammen dargestellt, welche die esoterische Kosmologie grafisch aufbereiteten. Eine Reihe von Werken über »technische Theosophie«, die Arthur Edward Powell in den 1920er Jahren veröffentlichte, enthält hochkomplexe Illustrationen der Beziehungen zwischen Kraftzentren, Chakren, Lebenskernen und Teilchen, um die makrokosmischen Einflüsse in der esoterischen Physiologie zu erklären. In den 1980er Jahren erweiterte der japanische Wissenschaftler Hiroshi Motoyama Leadbeaters Spekulationen durch elektrophysiologische Untersuchungen über subtile Netzwerk der Chakren und Nadis, die als Energieleiter in den subtilen Leibern des Menschen dienen. Diese Systeme sind die modernen verwissenschaftlichten Entsprechungen zu den Radierungen Robert Fludds aus dem 17. Jahrhundert, welche die kosmischen Hierarchien und die spirituellen Bestandteile des Körpers und Gehirns darstellten.

Aber der wissenschaftliche Aspekt der modernen Esoterik ist nicht nur eine Frage der Terminologie. Vielmehr geht es ihr darum, ein Problem zu lösen, das sich aus der modernen Wissenschaftsentwicklung ergeben hat: sie versucht, die Kluft zwischen der Welt des Geistes und der Welt des Stoffs zu überbrücken. Im Unterschied zum cartesischen Dualismus deutet das moderne esoterische Denken die stoffliche Welt als Erscheinungsform einer spirituellen Welt und spiritueller Kräfte, die an der Schöpfung des Seins beteiligt sind. Moderne Esoteriken haben daher traditionelle Metaphern wie das neuplatonische »Pneuma«, das alchymische »Feuer« und das »Fluidum« der Mesmeristen in »ätherische Kräfte«, »Energien« und »Schwingungen« umgetauft. Das ganze 20. Jahrhundert hindurch hat eine breite Front praktischer Esoterik zu einer großen Zahl alternativer Therapien und Technologien beigetragen, welche die Bedeutung des Willens, der Intentionalität und subtiler Energien betonen. Die Untersuchung subtiler Energien in Wissenschaft und Medizin durch esoterische Bewegungen steht in direkter Beziehung zu ihren Vorstellungen über kosmische Korrespondenzen und Mittlerwesen.

Diese Form des wissenschaftlichen Denkens gab es bereits zwischen 1795 und 1830 in der romantischen Naturphilosophie, der die Natur als zusammenhängendes, analogisches, sich selbst offenbarendes Ganzes erschien. Durch Steiners Beschäftigung mit den wissenschaftlichen Schriften Goethes (1749-1832) zu Farben und Formen in der Botanik, gibt es eine direkte Verbindung von den organisch-vitalistischen Ideen des letzteren zu der Form der Wissenschaft, die innerhalb der an Steiner anschließenden Bewegung heutzutage praktiziert wird. Steiner erläuterte die anthroposophische Sicht der Wissenschaft unter anderem in drei Vortragsreihen über Licht, Wärme und Astronomie, die er zwischen 1919 und 1921 für Waldorflehrer hielt. Seine Lehre von den vier Ätherarten ist ein intrinsischer Bestandteil einer komplexen Kosmologie planetarischer Entwicklungsreihen und ihrer Beziehung zu geistigen Hierarchien. Steiner regte zwei Labortechniken an, die imstande sein sollten, die Wirksamkeit ätherischer Kräfte in der Natur zu zeigen: die kapillare Dynamolyse (Steigbildmethode) und die sensitive Kristallisation.

Ehrenfried Pfeiffer (1899-1961), eine führende Gestalt in der biodynamischen Bewegung, betrieb Untersuchungen ätherischer Kräfte mit Hilfe der Chromatographie und der Kristallographie. Er nahm erstmals 1920 an Steiners Vorträgen teil und war von der Idee fasziniert, ätherische Bildekräfte manifestierten sich in der Natur. In seinem Laboratorium in Dornach entwickelte Pfeiffer eine Technik, Kupferchlorid – ähnlich wie Wasser in Eis – zu kristallisieren. In den Formen bilden sich die Substanzen ab, die dem Kupferchlorid hinzugefügt wurden. Die Methode wird verwendet, um die feinen Unterschiede in der Qualität von Nahrungsmitteln und Kompost zu untersuchen. Pfeiffer stellte auch Kristallisationen von Blut her, um medizinische Diagnosen zu erstellen.

Lili Kolisko (1889-1976) entwickelte die Technik des Steigbildes, um die Wirksamkeit ätherischer Kräfte in Substanzen nachzuweisen. Diese Technik verwendet Filterpapier, das Lösungen aufnimmt und bezieht metallische Salze mit ein, die zu den Planeten in Beziehung stehen. In der Form der Steigbilder spiegelt sich der Nährwert von Nahrungsmitteln und die Kraft homöopathischer Arzneien. Später führte sie auch Experimente durch, die astronomische Ereignisse zu Mustern in Beziehung setzten, die in den entsprechenden Metallsalzen beobachtbar waren. Diese Arbeit wurde fortgesetzt und bestätigt durch Untersuchungen, die Agnes Fyfe (1898-1986), Wilhelm Pelikan und Nick Kollerstrom durchführten, um die nichtlokalen, akausalen Korrespondenzen zwischen Planeten und den ihnen entsprechenden Metallen nachzuweisen. Der Ingenieur und Anthroposoph Theodor Schwenk (1910-1986) war von der Idee inspiriert, dass auf der vierten Stufe der planetarischen Evolution die Kräfte des Lebensäthers zu kondensieren beginnen, um Formen zu erzeugen, die in den Bewegungen flüssiger und gasförmiger Substanzen beobachtbar sind. Schwenk war ein Pionier der Strömungsforschung und setzte die ätherischen Rhythmen zu den körperlichen Formen in der mineralischen, pflanzlichen und tierischen Welt in Beziehung.

Auch die Adyar-Theosophie hat ihre eigenen wissenschaftlichen Unternehmungen betrieben. In den 1890er Jahren führten Besant und Leadbeater hellsichtige Untersuchungen zu den atomaren Formen von Substanzen durch und veröffentlichten ihre Ergebnisse in einem Buch mit dem Titel »Occult Chemistry« (1908). Eine beträchtliche Zahl bedeutender Wissenschaftler gehörte zwischen 1930 und 1960 der Theosophischen Gesellschaft an. Seither hat H.J. Arnikar, ein Radiochemiker, die okkulte Chemie wieder aufgegriffen und Stephen M. Phillips, ein theoretischer Physiker in Cambridge, wissenschaftliche Arbeiten über okkulte Fernsicht und die hellsichtige Untersuchung von Partikeln veröffentlicht, welche die Stringtheorie bestätigen sollen. Weitere, insbesondere indische Wissenschaftler, wären hier zu nennen, wie etwa M. Srinivasan, ein früherer Leiter des Atomforschungszentrums in Bombay, I.K. Taimni, dessen Arbeit die traditionelle Synthese spiritueller Philosophie und moderner Wissenschaft fortsetzt und Edi Bilimoria, der eine neue Bewegung ausgebildeter Wissenschaftler repräsentiert, die konventionelle Wissenschaft mit Theosophie verbinden.

Feldtheorie und Wissenschaft im New Age

Die geschilderte Verwissenschaftlichung bezieht sich auf die empirischen Forschungen der traditionellen Esoterik an der Natur und betrifft deren Wahrnehmung, die Art wie sie imaginiert wird und ihren Bezug zum Menschen, soweit es um Korrespondenzen, die Lebendigkeit, geistige Hierarchien und die Umwandlung der Seele geht. Aber in der modernen Wissenschaft gibt es auch andere Entwicklungen, durch die sich nicht nur ihre Diskurse als Kolonisationsgebiet für die Esoterik anbieten, sondern auch diese Wissenschaft selbst. Es handelt sich dabei um ein Beispiel für die von Stuckrad vorgetragene diskursanalytische Behauptung, wissenschaftliche Hypothesen und Metaphern importierten esoterische Formen des Denkens und Vorstellens.

Seit ihrer Entdeckung durch Paracelsus und Athanasius Kircher haben magnetische und später elektrische Felder der wissenschaftlichen Spekulation über Kräfte, die alle Teile des Kosmos verbinden, ein breites Feld eröffnet. Auf die paracelsischen, belebenden Einflüsse der Gestirne folgte das Fluidum Mesmers und das Astrallicht des 19. Jahrhunderts. Der Versuch, subtile Einflüsse zu verstehen, hat wiederholt zu Experimenten geführt, die solche Einflüsse nachweisen sollten. Karl von Reichenbach (1788-1869) ein für seine Analyse von Kreosot, Paraffin und Phenol bekannter deutscher Chemiker, postulierte die Existenz einer Kraft, die er als »Od« bezeichnete, die mit Elektrizität, Magnetismus und Wärme verbunden sei, sich aber von diesen unterscheide. Die meisten Substanzen sollten dieses Od ausstrahlen, das von sensitiven Menschen wahrgenommen werden könne. Reichenbach zeigte, dass diese Lebenskraft mit den Wahrnehmungen der Wünschelrutengänger, dem Mesmerismus und anderen vergleichbaren Erscheinungen zusammenhing. Durch Experimente erkannte er eine Polarität zwischen der rechten und linken Körperhälfte des Menschen und stellte fest, dass Sensitive die menschliche Aura wahrnehmen. Einige Jahre später entwickelte Edwin Babbitt (1829-1905) in den USA aufgrund seiner eigenen hellseherischen Beobachtung der psychomagnetischen Kraftlinien, die den menschlichen Körper umgeben, eine Form von Farbtherapie. Leadbeaters Auren wurden von Walter J. Kilner als »magnetische Ausstrahlungen« bestätigt (»The Human Atmosphere«, 1911) und Oscar Bagnall tat desgleichen mit seinem Werk »The Origin and Properties of the Human Aura« (1937). 1939 entdeckte Semyon Kirlian eine Form von Fotografie, die eine elektrische Korona um Gegenstände herum sichtbar machte. Er sah darin einen Beweis für die Existent der Aura und manche behaupten, die Kirlianfotografie könne die Akupunkturstellen am menschlichen Körper sichtbar machen.

Vitalistische Theorien der Natur und Medizin spielten bei der Entwicklung des Begriffs der Lebenskraft in der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts eine zentrale Rolle. Samuel Hahnemann (1755-1843) entdeckte aufgrund von Experimenten an sich selbst die homöopathische Medizin. Als er beobachtete, dass ein Heilmittel die Krankheitssymptome hervorrief, die es heilen sollte, leitete er daraus den Grundsatz der Homöopathie ab: »Was in einem gesunden Menschen eine Reihe von Symptomen hervorruft, vermag einen Kranken zu heilen, der dieselben Symptome zeigt.« Diese Medizin wurzelt in einer rigorosen empirischen Testmethode, die jedes mögliche Heilmittel zuerst an Gesunden erprobt, während das jeweilige Heilmittel später in hoch verdünnter, »potenzierter« Form verabreicht wird. Bei gebräuchlichen homöopathischen Potenzierungen lässt sich am Ende keinerlei molekulare Spur des Ausgangsstoffes mehr nachweisen. Hahnemann sprach in romantischen Begriffen von »geistartigen Substanzen«, einer »potentiellen Energie«, einem »Wesen« und »Lebenskräften«, um die Heilkraft dieser verschwundenen Substanzen zu erklären, auch wenn seine strikt empirische Vorgehensweise ihn von der Naturphilosophie seiner Zeit unterschied. Die Homöopathie ist heute in den USA, in Europa und Indien eine anerkannte Richtung der Medizin. Da sie einen empirischen Beweis für ihre Wirksamkeit, ja eine geradezu positivistische, rationale Erklärung für ihre Vorgehensweise bot, überlebte sie als eine wichtige Form der komplementären Medizin alle Anfeindungen der Schulmedizin. Wie der Mesmerismus arbeitete sie mit einem Prinzip, für das es keinen greifbaren Beweis gibt, dessen Wirkungen dennoch nachweisbar sind.

Zwischen 1920 und 1950 fanden auf den Gebieten der Bioelektrizität, der Zellstrahlung und der Empfindlichkeit von Lösungen und Kolloiden gegenüber elektromagnetischen Wellen und radioaktiver Strahlung wegweisende Forschungen statt. Wissenschaftler untersuchten auch den Einfluss elektromagnetischer Wellen auf psychische Phänomene, wie das Wünschelrutengehen, die Radiästhesie (Pendeln), die Hypnose und die Sensitivität von Tieren für Himmelsrichtungen. Viele Wissenschaftler waren überzeugt, dass solche Phänomene tatsächlich existierten und dass sie anerkannten physikalischen und physiologischen Gesetzen unterliegen. Da diese Forschungen das elektromagnetische Feld betrafen, das in und um lebende Organismen herum vorhanden ist, entstanden neue Theorien über ein allgemeines, alles verbindendes Feld. Zwischen 1935 und 1950 veröffentlichte Harold Saxton Burr, ein ehemaliger Lehrstuhlinhaber für Anatomie an der Yale University School of Medicine, zahlreiche Studien über elektromagnetische Felder als Grundstrukturen aller lebenden Organismen. Er war überzeugt davon, dass alle Lebewesen durch diese Lebensfelder (die er »L-Felder« nannte) am Schicksal und Sinn des Universums teilhätten.

Die Idee eines einheitlichen elektromagnetischen Feldes trieb die wissenschaftliche und medizinische Forschung zu weiteren Überlegungen, die von der Existenz einer zusammenhängenden belebenden Kraft ausgingen. Wilhelm Reich (1887-1957) postulierte eine Bioenergie, die er als »Orgon« bezeichnete, die mit den Emotionen des Menschen nahe verwandt sei, und baute Maschinen, um diese Energie anzureichern und zu nutzen. Andere Versuche mit Bioenergie schlossen die Radionik ein, eine umstrittene Therapie aus den 1920er Jahren, die auf der Idee beruht, dass jegliches Leben und alle Stoffe Schwingungen enthalten, deren Frequenz beeinflusst werden kann, um die Gesundheit wiederherzustellen. Entsprechende Geräte sollen Krankheiten diagnostizieren und die Gesundheit wiederherstellen, indem sie heilende Frequenzen aussenden, welche die unharmonischen Schwingungen der Krankheit harmonisieren. Die Therapie wurde erstmals von Albert Abrams (1863-1924) propagiert und seit den 1940er Jahren von Ruth Drown, Aubrey Westlake George de la Warr, Malcolm Rae und David Tansley weiterentwickelt. Die Nutzung eines »Bindegliedes« in der Form eines Haarbüschels des Patienten als Mittel der Diagnose und der Fernheilung erinnert an eine magische Verbindung, die akausal und nicht ortsgebunden ist. Die Radionik dehnt die wissenschaftlichen Erklärungen der Bioenergie und der elektromagnetischen Felder in ein Gebiet aus, das im eminenten Sinne esoterisch ist. Es dürfte kein Zufall sein, dass David Tansley (1934-1988) der Hauptrepräsentant dieser Forschungsrichtung, seine Theorie mit der theosophischen Kosmologie und Physiologie von Alice A. Bailey in Verbindung brachte.

Die Beobachtung elektromagnetischer Strahlung in Lebewesen hat zur Idee einer Kommunikation zwischen Zellen geführt. Der Orthopäde Robert O. Becker führte ausgedehnte Experimente über elektromagnetische Frequenzen in Organismen durch und entwickelte neue Theorien über Gewebe und die Heilung von Körpergliedern. Seine elektrochemisch ausgerichteten Technologien der Zellregeneration beruhen auf einem morphogenetischen Feld, das erstmals der amerikanische Embryologe Paul Weiss in den 1930er Jahren ins Gespräch brachte, einem Feld, das in Form elektromagnetischer Information die Urbilder der organischen Strukturen enthält und deren Wachstum beeinflusst. Weiss hat die Umrisse einer Theorie der Energiemedizin entwickelt, die kleinste Energien (Autosuggestion, Visualisierung) mit hohen Energien (Elektrotherapie) kombiniert. Beckers Auffassung der Homöopathie als einer elektromagnetischen Verstärkung unterstützten die Forschungen von Jacques Benveniste (1935-2004), einen Immunologen und Direktor des Französischen Instituts für Gesundheit und Medizinische Forschung (INSERM). 1984 entdeckte Benveniste, dass Wassermoleküle gewisse elektromagnetische Informationen aufnahmen, die Ausdruck der chemischen Wirkungen einer Substanz in so hohen Verdünnungsgraden waren, dass keinerlei Moleküle der betreffenden Substanz in der Lösung mehr nachgewiesen werden konnten. Seine Entdeckung stellte eine mögliche Erklärung dar, wie hoch potenzierte homöopathische Arzneimittel wirken könnten. Benveniste behauptete, Moleküle und die Anziehungskräfte der Moleküle sendeten elektromagnetische Schwingungen aus, diese Signale könnten digital aufgezeichnet und auf den Organismus zurückübertragen werden, der empfänglich für die Wirkungen der ursprünglichen Substanz sei.

Wissenschaftler, die solche Vorstellungen eines einheitlichen Feldes befürworten, müssen nicht notwendigerweise eine esoterische Weltsicht gutheißen, aber ihre Ergebnisse wurden für radikal imaginative neue Synthesen benutzt, welche die Natur des Bewusstseins und des Universums betreffen. Der Biologe Rupert Sheldrake (1942-) entwickelte eine neue Naturphilosophie, die eine Hypothese über Bildekräfte einschließt. Er hat seine Theorie der »morphischen Resonanz«, die sich auf die ältere Vorstellung der morphogenetischen Felder stützt, auf die Entwicklung und das Verhalten von Pflanzen und Tieren, auf die telepathische Kommunikation zwischen Tieren und Menschen, die Wahrnehmung und die Metaphysik angewandt. Die Holographie hat einen weiteren fruchtbaren Boden für Feldtheorien bereitgestellt. Diese Lasertechnik wird benutzt, um dreidimensionale Abbildungen von Objekten zu erzeugen. Die Holographie legt nahe, dass Gegenstände in Schwingungsmuster umgewandelt werden können, die ihrerseits als Grundstruktur aller Substanzen betrachtet werden. Außerdem scheint jeder einzelne Teil eines Hologramms die gesamte Schwingungsinformation zu enthalten, die nötig ist, um das ganze Objekt zu rekonstruieren. Der Neurowissenschaftler Karl Pribram (1919-) hat ein holonomisches Modell der Erkenntnis entwickelt, das die Speicherung von Informationen im Gehirn nach holographischen Prinzipien postuliert und annimmt, die Wahrnehmung der Wirklichkeit sei eine Projektion von Schwingungszuständen in die Außenwelt. David Bohm (1917-1992) ein amerikanischer Quantenphysiker leistete wesentliche Beiträge zur theoretischen Physik und Philosophie. 1959 begegnete er den Schriften Krishnamurtis, dessen Ideen ihn an seine eigenen Forschungen in der Quantenmechanik erinnerten. Auch Bohm vertrat eine holonomische Sicht des Gehirns, der Wahrnehmung und der allem zugrunde liegenden Ordnung des Universums, die er in seinen Büchern »Wholeness and the Implicate Order« (1980, «Ganzheit und Implizite Ordnung«) sowie »Science, Order,  and Creativity« (1987, »Wissenschaft, Ordnung und Kreativität«) zum Ausdruck brachte.

Solche und vergleichbare Theorien des Bewusstseins und einheitlicher Felder zogen besonders Individuen und Gruppen an, die dem New Age zuzurechnen sind. Diese spirituelle Bewegung des späten 20. Jahrhunderts opponiert gegen die rationalistische, positivistische und mechanistische Weltsicht der modernen Industriegesellschaften und stellt ihnen eine Reihe alternativer Paradigmen entgegen: die Spiritualität der Weltreligionen, veränderte Bewusstseinszustände, psychische Phänomene, neuheidnische Spiritualität (druidisch, keltisch, germanisch), Schicksalserkenntnis mit Hilfe der Astrologie, des Tarot und des I Ging sowie eine Vielzahl von Psychotherapien und Heilmethoden. In seiner bahnbrechenden Studie zur New Age-Religion hat Wouter Hanegraaff die Grundzüge dieser Bewegung beschrieben, für die Geisterkenntnis, Heilen, persönliches Wachstum, Neuheidentum und eine neue Form von Wissenschaft kennzeichnend sind. Er schildert, wie die Autoren des New Age ihre holistischen Theorien des Lebens und der Natur mit Hilfe der Metaphern und Modelle beschreiben, die aus den genannten Feldtheorien stammen. Die angestrebte einheitliche Weltsicht, die in Naturgesetzen ausdrückbar ist, wird von säkularen Wissenschaftlern typischerweise als möglicher Triumph über Religion und Metaphysik dargestellt. Im Unterschied dazu legt die New Age-Wissenschaft nahe, dass diese neuen Theorien das Wirken der Natur in einem absoluten, göttlichen Sinn zu entschlüsseln vermögen, und daher der Religion eine wissenschaftliche Grundlage geben.

Bekannte Autoren des New Age wie Marilyn Ferguson und Lynn McTaggart haben die Feldtheorien in eine Weltsicht integriert, die einer verwissenschaftlichten Form der Esoterik entspricht. In ihrem Buch »The Aquarian Conspiracy« (1980), einem Manifest der New Age-Spiritualität, setzte sich Ferguson ausführlich mit den Theorien Ilya Prigogines, der Quantentheorie, der Holographie und dem Werk von Pribram und Bohm auseinander. Prigogines Paradigma der Selbstorganisation führte zu Erich Jantschs Theorien der Evolution. Ferguson charakterisiert die esoterischen Implikationen von Pribram wie folgt: »Die Schwingungsmuster des Gehirns, seine mathematischen Prozesse, könnten mit dem Ursprungszustand des Universums identisch sein ... Unsere geistigen Prozesse bestehen in Wahrheit aus denselben Kräften, wie das Prinzip, das alles organisiert hat.« Die monistische Identifikation des Bewusstseins und der Natur wurde zu einem wiederkehrenden Motiv unter den Autoren des New Age. Sie stellt eine säkularisierte Form der Naturphilosophie und des Diskurses über Mikro- und Makrokosmos dar.

Lynn McTaggarts einflussreiches Buch »The Field« (2001) verbindet solche Themen wie Hal Puthoffs »Nullpunktfeld«, ein spekulatives Konzept, das eine grenzenlose Energie postuliert, die Quantenpartikeln entspringt, das Werk des deutschen Physikers Fritz-Albert Popp über Photonen, die von lebenden Organismen ausgesendet werden und mit der DNA zusammenhängen, und die Hypothesen von Becker, Sheldrake, Benveniste und Pribram. Bewusstsein, kollektives Gedächtnis, Allwissenheit, Heilung, Absicht, Nichtlokalität, Sehen in die Ferne und Kommunikation mit den Toten sollen alle aus dem Nullpunktfeld verständlich sein. Indem sie die Sprache der Wellen, ihre Phasen, Amplituden, Frequenzen und Interferenzen zum Alphabet der Natur erklärt, beschwört McTaggart eine verwissenschaftliche Form der Beseelung, die Korrespondenzen, Analogien, Synchronizitäten und die Identität von Mikro- und Makokosmos begreiflich erscheinen lässt. »Das Nullpunktfeld ist eine Art Schatten des Universums ... ein Spiegelbild, eine Aufzeichnung von allem, was jemals war.« »Jeder Teil des Universums könnte mit jedem anderen in jedem Augenblick in Verbindung stehen.« »Die Natur ist nicht blind und mechanisch, sondern offen, intelligent und absichtsvoll ... die Information wurden überallhin gleichzeitig übertragen«, so dass »das Gehirn bloß ein Empfangsorgan, ein Lesemechanismus für das umfassendste Speichermedium, das Feld, ist.«

Die Heiligung der Seele: Jungsche Esoterik

Feldtheorien sprechen von einem universellen Zusammenhang, der den esoterischen Ideen der Korrespondenz und eines beseelten monistischen Kontinuums entspricht, welches das gesamte Universum durchdringt. Sie legen auch eine Spiegelbildlichkeit zwischen dem Geist und der wahrgenommenen Realität nahe. Die geistigen Hierarchien der traditionellen Esoterik, die Idee der Umwandlung der Seele oder des Aufstiegs in höhere Sphären, kommen in ihnen aber nicht vor. Insofern sind sie immer noch von jenem säkularen Niveauverlust gekennzeichnet, der diese Hierarchien eingeebnet hat. An deren Stelle bieten sie eine pantheistische Vision verkörperter Immanenz, die von einem Kontinuum elektrischer Ladung, subatomaren Partikeln oder Schwingungen repräsentiert wird. Sobald aber diese Feldtheorien in die Psychologie integriert werden, nehmen sie die Gestalt der traditionellen Esoterik an. Seit Platos Emanzipation der Seele vom Leib hat die westliche Esoterik dieser stets einen Anteil an der Gottheit zugeschrieben. Das Corpus Hermeticum sprach von ihrem Ursprung in Gott und ihrem Wiederaufstieg zum göttlichen Geist. In der Renaissance setzte Ficino die individuelle Seele zur Weltseele in Beziehung, während Pico della Mirandola den Menschen als Bindeglied zwischen Himmel und Erde betrachtete. Der Diskurs der Renaissance über die Souveränität und potentielle Göttlichkeit der Seele hat letzten Endes zu der modernen postreligiösen Vorstellung geführt, dass der Mensch keines Erlösers oder Mittlers mehr bedarf, sondern sich selbst zur Quelle des Heils werden muss.

Das Werk des Schweizer Psychologen C.G. Jung (1875-1961) war für eine ganze Reihe esoterischer Bewegungen im 20. Jahrhundert bedeutsam. Als Medizinstudent wurde Jung vom Spiritismus angezogen und experimentierte mit Trancemedien Hier erlebte er seine erste Begegnung mit transpersonalen Aspekten der Persönlichkeit. Er studierte das Werk Ernst Haeckels (1834-1919), eines Professors für Zoologie in Jena, der führenden Autorität für Evolutionsbiologie in Deutschland. Dieser vertrat die These, das Individuum rekapituliere die Entwicklungsschritte seiner Art (die Phylogenese). Jung brachte dies auf die Idee einer »Phylogenese der Seele«, in der die frühen Religionen und Mythologien den weniger entwickelten, unbewussten Schichten des Geistes entsprechen. 1909 machte sich Jung erstmals daran, das Unbewusste zu erforschen, indem er sich mit den griechisch-römischen Mysterienkulten, später auch der Gnosis beschäftigte. Gegen Ende des I. Weltkriegs hatte Jung eine Theorie universeller Symbole entwickelt, die vom kollektiven Unbewussten erzeugt werden. Diese Symbole bezeichnete er als »Archetypen«.

Seine Theorie, die er zwischen 1920 und 1940 kontinuierlich weiter ausbaute, führte Jung zur selbstständigen Wiederentdeckung esoterischer Imaginationen. Dabei spielte auch die Technik der »aktiven Imagination« eine Rolle, die Jung möglicherweise durch Herbert Silberer (1882-1923) kennenlernte, einen Schweizer Freudianer, der Freimaurer war und sich mit Alchemie beschäftigte. Die aktive Imagination bezieht sich auf die Umwandlung der unbewussten Archetypen durch ihre Integration in den höheren Archetyp des Selbstes. Jung bezeichnete diesen Prozess als »Individuation«. Um 1930 hatten diese im Kern esoterischen Ideen Jung von der gnostischen Mythologie zu alchemistischen Texten geführt und er publizierte Studien zu Paracelsus und psychologische Deutungen der Alchemie. Spätere Arbeiten befassten sich mit Astrologie und dem I Ging. Jung interpretierte die von den traditionellen magischen Wissenschaften geübte Kunst der Voraussage als akausale Interaktion der Synchronizität zwischen dem Subjekt und dem Weltgeschehen. In seinen späteren Werken, wie dem »Mysterium Coniunctionis« (1955-1956), sprach Jung von der Einheit der Welt, deren unterschiedliche Ebenen miteinander korrespondieren und deshalb untereinander und mit der menschlichen Seele kommunizieren können.

Jungs ursprüngliches Interesse am Abstieg in die Urgründe des kollektiven Unbewussten und seiner Archetypen zeugt von seiner Beziehung zur Romantik und ihrer Suche nach einer Erkenntnis des Überrationalen. Seine Annahme, die Seele vermöge sich in die potentielle Ganzheit des Selbstes umwandeln, stellt eine psychologisierte Form von Esoterik dar, die er seiner frühen Beschäftigung mit der Evolutionstheorie verdankt. Jungs Betonung der »Tiefen« und der Ursprünglichkeit unterscheidet sich von der hermetischen Vorstellung des Aufstiegs, die für die traditionellen Formen der Transmutation von Ficino bis zur modernen Theosophie charakteristisch ist. Aber durch seine Beschäftigung mit Alchemie und Astrologie, seine Idee der Synchronizität und seinen »unus mundus«, die eine Welt, in der die Symbole die Realität und die Realität die Symbole wiederspiegeln, stellte die Tiefenpsychologie der Esoterik weitere Paradigmen zur Verfügung.

Auch wenn Jung von älteren Psychologen wie Karl Eschenmayer, Justinus Kerner und Carl Gustav Carus (1789-1869) ausging, die alle der romantischen Naturphilosophie zugehörten, übte er einen mächtigen Einfluss auf das New Age aus. Es verdankt ihm die Sakralisierung des Selbstes als des Göttlichen im Menschen. Die früheren transpersonalen Paradigmen des Mesmerismus, der geistigen Heilung, der Selbstheilung und des New Thought in den USA empfingen durch Jungs Sakralisierung der Seele neue Impulse, als seine Form der Psychotherapie sich ab den 1960er Jahren verbreitete. Neue Systeme der transpersonalen Psychologie entwickelten ahistorische Konzepte der Seele und hielten es für möglich, dass diese an universellen Formen der Erfahrung teilhaben könne. Jungs Archetypen und Symbole als Verbindungsglieder zwischen der inneren und der äußeren Welt haben auch neue Deutungen der Homöopathie hervorgebracht, die von einer Kongruenz der Formen oder Funktionen der Natur mit den Symbolen als Ausdrücken seelischer Energie ausgehen. Jung schuf eine dem 20. Jahrhundert angehörende Reinterpretation der paracelsischen Signaturen Gottes in der Natur, ihrer Erforschung und Anwendung. Im New Age spielt Jungs Idee der Synchronizität bei der Interpretation der astrologischen Voraussage, des Tarots oder der Traumdeutung eine große Rolle. Sein Einfluss auf die Psychologie, die Komplementärmedizin und religiöse Formen des New Age zeugt von der Wendung der westlichen Esoterik zur Seele, die sie empfänglicher für Spirituelles macht, als die herkömmlichen Formen organisierter Religiosität. Diese Entwicklung erinnert an den Aufstieg der Theosophie, des Pietismus und der rosenkreuzerischen Alchemie im 17. und 18. Jahrhundert, mit denen das Jungsche Denken verwandt ist.

Die westlichen esoterischen Traditionen haben seit ihren Ursprüngen in den religiösen Philosophien des Hellenismus von umfassenden Ordnungen und Hierarchien gesprochen, die den Menschen mit einer großen Vision des Kosmos verbanden, in der die einzelne Seele eine Bedeutung, eine Bestimmung und einen Anteil am Göttlichen hat. In den unterschiedlichsten Formen kamen diese Visionen zum Ausdruck: im Neuplatonismus und der Kabbalah, der Alchemie, Astrologie und Magie, der christlichen Theosophie, Blavatskys Synthese westlicher und östlicher Traditionen, Ficinos Astralmagie, dem Rosenkreuzertum und Jungs Tiefenpsychologie. Die Esoterik fand stets Antworten auf die religiösen und kulturellen Wandlungen des Westens, was die Metamorphose göttlicher Emanationen in Archetypen ebenso zeigt, wie jene der alchymischen Elemente in Symbole oder jene der Engel in elektromagnetische Frequenzen. Die grundlegende Familienähnlichkeit der esoterischen Traditionen zeigt sich nicht nur in Faivres Merkmalen, sondern auch in der außerordentlichen Schätzung, die dem Individuum und seiner Beziehung zum Kosmos, seiner potentiellen Erlösung und Vollendung im Westen zukommt. Die westlichen esoterischen Traditionen halten nach wie vor an diesem Projekt fest, wenn auch in sich ständig weiter entwickelnden Formen. Immer aber suchen sie nach der einzigartigen Gnosis der Erleuchtung, einem transhistorischen Wissen um die wahre Herkunft des Menschen, das ihn zu der Ganzheit und Unschuld der Ursprünge zurückführt. Dies ist laut Goodrick-Clarke das bleibende Erbe der westlichen Esoterik, deren historische und kulturelle Wirksamkeit, zusammen mit ihrer Fähigkeit, die religiösen oder wissenschaftlichen Orthodoxien herauszufordern, ständigen Wandlungen unterlag. Die Esoterik scheint oft aufzublühen, wenn neue exotische Quellen der spirituellen und religiösen Spekulation erschlossen werden, die imstande sind, verhärtete Dogmen und Orthodoxien in Frage zu stellen. So lange der Westen am Bild des freien Menschen als eines integralen Bestandteils des größeren Ganzen aus Himmel, Erde und Schöpfer festhält, so lange wird auch die Esoterik ein Bestandteil seiner wissenschaftlichen und religiösen Landschaft sein.

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