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Praktische Schlußbetrachtung

Die Stellung unserer erkennenden Persönlichkeit zum objektiven Weltwesen war es, worüber wir durch die vorhergehenden Betrachtungen Aufschluss verlangten. Was bedeutet für uns der Besitz von Erkenntnis und Wissenschaft? Das war die Frage, nach deren Beantwortung wir suchten. Wir haben gesehen, dass sich in unserem Wissen der innerste Kern der Welt auslebt. Die gesetzmäßige Harmonie, von der das Weltall beherrscht wird, kommt in der menschlichen Erkenntnis zur Erscheinung. Es gehört somit zum Berufe des Menschen, die Grundgesetze der Welt, die sonst zwar alles Dasein beherrschen, aber nie selbst zum Dasein kommen würden, in das Gebiet der erscheinenden Wirklichkeit zu versetzen. Das ist das Wesen des Wissens, dass sich in ihm der in der objektiven Realität nie aufzufindende Weltengrund darstellt. Unser Erkennen ist - bildlich gesprochen - ein stetiges Hineinleben in den Weltengrund.

Eine solche Überzeugung muss auch Licht auf unsere praktische Lebensauffassung werfen.

Unsere Lebensführung ist ihrem ganzen Charakter nach bestimmt durch unsere sittlichen Ideale. Diese sind die Ideen, die wir von unseren Aufgaben im Leben haben, oder mit anderen Worten, die wir von dem machen, was wir durch unser Handeln vollbringen sollen.

Unser Handeln ist ein Teil des allgemeinen Weltgeschehens. Es steht somit auch unter der allgemeinen Gesetzmäßigkeit dieses Geschehens. Wenn nun irgendwo im Universum ein Geschehen auftritt, so ist an demselben ein Zweifaches zu unterscheiden: der äußere Verlauf desselben in Raum und Zeit und die innere Gesetzmäßigkeit davon.

Die Erkenntnis dieser Gesetzmäßigkeit für das menschliche Handeln ist nur ein besonderer Fall des Erkennens. Die von uns über die Natur der Erkenntnis abgeleiteten Anschauungen müssen also auch hier anwendbar sein. Sich als handelnde Persönlichkeit erkennen heißt somit: für sein Handeln die entsprechenden Gesetze, d.h. die sittlichen Begriffe und Ideale als Wissen zu besitzen. Wenn wir diese Gesetzmäßigkeit erkannt haben, dann ist unser Handeln auch unser Werk. Die Gesetzmäßigkeit ist dann nicht als etwas gegeben, was außerhalb des Objektes liegt, an dem das Geschehen erscheint, sondern als der Inhalt des in lebendigem Tun begriffenen Objektes selbst. Das Objekt ist in diesem Falle unser eigenes Ich. Hat dies letztere sein Handeln dem Wesen nach wirklich erkennend durchdrungen, dann fühlt es sich zugleich als den Beherrscher desselben. Solange ein solches nicht stattfindet, stehen die Gesetze des Handelns uns als etwas Fremdes gegenüber, sie beherrschen uns; was wir vollbringen, steht unter dem Zwange, den sie auf uns ausüben. Sind sie aus solcher fremden Wesenheit in das ureigene Tun unseres Ich verwandelt, dann hört dieser Zwang auf. Das Zwingende ist unser eigenes Wesen geworden. Die Gesetzmäßigkeit herrscht nicht mehr über uns, sondern in uns über das von unserm Ich ausgehende Geschehen. Die Verwirklichung eines Geschehens vermöge einer außer dem Verwirklicher stehenden Gesetzmäßigkeit ist ein Akt der Unfreiheit, jene durch den Verwirklicher selbst ein solcher der Freiheit. Die Gesetze seines Handelns erkennen heißt sich seiner Freiheit bewusst sein. Der Erkenntnisprozess ist, nach unseren Ausführungen, der Entwicklungsprozess zur Freiheit.

Nicht alles menschliche Handeln trägt diesen Charakter. In vielen Fällen besitzen wir die Gesetze für unser Handeln nicht als Wissen. Dieser Teil unseres Handelns ist der unfreie Teil unseres Wirkens. Ihm gegenüber steht derjenige, wo wir uns in diese Gesetze vollkommen einleben. Das ist das freie Gebiet. Sofern unser Leben ihm angehört, ist es allein als sittliches zu bezeichnen. Die Verwandlung des ersten Gebietes in ein solches mit dem Charakter des zweiten ist die Aufgabe jeder individuellen Entwicklung, wie auch jener der ganzen Menschheit.

Das wichtigste Problem alles menschlichen Denkens ist das: den Menschen als auf sich selbst gegründete, freie Persönlichkeit zu begreifen.

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