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Der Idealismus als Seelenerwachen: Johann Gottlieb Fichte

Johann Gottlieb Fichte sucht in seinen Reden über «Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters» und «an die deutsche Nation» eine Darstellung zu finden für die in der Menschheitsentwicklung wirksamen Geisteskräfte. Er durchdringt sich durch die Gedanken, die er in diesen Reden zum Ausdruck bringt, mit der Empfindung, dass die treibende Kraft seiner Weltanschauung aus dem innersten Wesen der deutschen Volksart fließt. Er hat die Ansicht, dass er Gedanken ausspricht, welche die deutsche Volksseele aussprechen muss, wenn sie aus dem Kern ihrer Geistigkeit heraus sich offenbaren will. Die Art, wie Fichte nach seiner Weltanschauung rang, macht verständlich, dass diese Empfindung in seiner Seele leben konnte. Für den Betrachter eines Denkers muss es bedeutsam erscheinen, die zu dessen Gedankenfrüchten gehörigen Wurzeln zu erforschen, die in seinen Seelentiefen wirken, und die nicht unmittelbar in seinen Gedankenwelten ausgesprochen sind; die jedoch als die treibenden Kräfte in diesen Gedankenwelten leben.

Was für eine Weltanschauung man hat, das hängt davon ab, was für ein Mensch man ist: Fichte sprach diese Überzeugung aus dem Bewusstsein heraus, dass alle Lebenstriebe seiner eigenen Persönlichkeit als ihre naturgemäße selbstverständliche Frucht die begriffsstarken Gipfelhöhen seiner Weltanschauung hervorbringen mussten. Dieser Weltanschauung, in deren Mittelpunkt des Verständnisses sich nicht viele versetzen wollen, weil sie, was sie finden, für weltenfremde Gedanken halten, in die einzudringen nur Aufgabe des Denkers «von Beruf» sein könne. Verständlich ist diese Empfindung bei demjenigen, der ohne philosophische Vorbereitung an Fichtes Gedanken herantritt, indem er sie in dessen Werken aufsucht. Doch ist es für denjenigen, der die Möglichkeit hat, sich in das volle Leben dieser Gedanken zu versetzen, nicht absonderlich, sich vorzustellen, dass eine Zeit kommen werde, in der man Fichtes Ideen wird in eine Form gießen können, die jedem verständlich ist, der aus dem Leben heraus sich über den Sinn dieses Lebens Vorstellungen machen will. Auch für das einfachste Menschengemüt, das ferne steht dem, was man philosophisches Denken nennt, werden diese Ideen dann zugänglich sein können. Denn sie haben zwar ihre philosophische Gestalt erhalten von dem Charakter, den die Gedankenentwicklung in Denkerkreisen um die Wende des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts angenommen hat; ihre Lebenskraft haben sie aber aus Seelenerlebnissen, die in jedem Menschen vorhanden sind. Gewiss ist gegenwärtig die Zeit noch nicht gekommen, in der ein solches Umgießen Fichtescher Gedanken aus der Sprache seiner Zeitphilosophie in die allgemein-menschliche Ausdrucksform völlig möglich wäre. Solche Dinge werden nur mit dem allmählichen Fortschreiten gewisser Vorstellungsarten im Geistesleben möglich. So wie Fichte selbst genötigt war, seine Seelenerlebnisse in die Gipfelhöhen dessen zu tragen, was man gewöhnlich abstraktes Denken nennt und kalt und lebensfremd findet, so ist es auch gegenwärtig wohl nur in eingeschränktem Maße möglich, diese Seelenerlebnisse herunterzutragen aus jenen Höhen.

Nach immer neuen Ausdrucksformen für diese Seelenerlebnisse rang Fichte von seiner frühen Jugend an bis dahin, da jäh der Tod ihn noch im Mannesalter erreichte. In allem Ringen ist ein Erkenntnisgrundtrieb bei ihm offenkundig. In der eigenen Menschenseele will er ein Lebendiges suchen, in dem der Mensch nicht nur die Grundkraft seines eigenen Daseins erfasst, sondern in dem, seinem Wesen nach, erkannt werden kann auch dasjenige, was in der Natur und in allem anderen Außermenschlichen webt und wirkt. Im Wassertropfen hat man im Verhältnis zum Meere ein winziges Kügelchen. Erkennt man aber dieses in seinem Wassercharakter, so hat man in dieser Erkenntnis auch diejenige des Wassercharakters des ganzen Meeres. Ist im Menschenwesen etwas aufzufinden, das sich als eine Offenbarung des innersten Weltwebens erleben lässt, dann darf man hoffen, durch vertiefte Selbsterkenntnis zur Welterkenntnis fortzuschreiten.

Auf dem Wege, der sich aus dieser Empfindung ergibt, wandelte die Weltanschauungsentwicklung lange vor Fichtes Zeitalter. Er aber ward mit seinem Leben auf einen bedeutungsvollen Punkt dieser Entwicklung gestellt. Wie er seine nächsten Anstöße von den Weltanschauungen Spinozas und Kants her erhielt, das ist an vielen Orten zu lesen. Die Art, wie er sich durch das Wesen seiner Persönlichkeit zuletzt in Weltanschauungsfragen verhielt, wird aber am anschaulichsten, wenn man ihm den Denker gegenüberstellt, der ebenso aus romanischem Denken hervorgegangen ist wie Fichte aus deutschem: Descartes (Cartesius. 1596-1650). In Descartes tritt deutlich zutage, wie aus der angedeuteten Empfindung heraus der Denker eine Sicherheit in der Welterkenntnis durch das Gewinnen eines festen Punktes in der Selbsterkenntnis sucht. Vom Zweifel an aller Welterkenntnis nimmt Descartes seinen Ausgangspunkt. Er sagt sich: die Welt, in der ich lebe, offenbart sich in meiner Seele, und ich bilde mir aus ihren Offenbarungen Vorstellungen über den Lauf der Dinge.

Was aber verbürgt mir, dass diese meine Vorstellungen mir wirklich etwas über das Wirken und Weben im Weltlauf sagen? Könnte es nicht so sein, dass meine Seele zwar von den Dingen gewisse Eindrücke empfängt; diese Eindrücke aber den Dingen selbst so ferne ständen, dass mir in ihnen sich nichts von dem Sinn der Welt enthüllte? Darf ich angesichts dieser Möglichkeit sagen: ich weiß dies oder jenes von der Welt? Man sieht, in diesem Meer des Zweifels kann dem Denker alle Erkenntnis zu einem Traum der Seele werden, und ihm nur die eine Überzeugung sich aufdrängen: dass der Mensch nichts wissen könne. Für einen Menschen aber, dem die Triebkraft des Denkens in der Seele so lebendig geworden ist, wie im Körper die Triebkraft des Hungers lebendig ist: für den bedeutet seelisch die Überzeugung, dass der Mensch nichts wissen könne, das gleiche, was für den Körper das Verhungern bedeutet. Alle innersten Stimmungen von Seelengesundheit im höhern Sinne bis zum Erfühlen des «Seelenheiles» hängen damit zusammen.

In der Seele selbst findet Descartes den Punkt, auf den er die Überzeugung stützen kann: die Vorstellungen, die ich mir von dem Weltenlauf bilde, sind kein Traum; sie leben ein Leben, das im Leben der ganzen Welt ein Glied ist. Wenn ich auch an allem zweifeln kann, an einem kann ich es nicht, denn ich strafte mich mit solchem Zweifel selbst Lügen. Ist es denn nicht gewiss, dass ich, indem ich mich dem Zweifel hingebe, denke? Ich könnte nicht zweifeln, wenn ich nicht dächte. Unmöglich also kann ich mein eigenes Erleben im Denken bezweifeln. Wollte ich durch den Zweifel das Denken töten: es stünde aus dem Zweifel lebendig wieder auf. Mein Denken lebt also; es steht somit in keiner Welt des Traumes; es steht in der Welt des Seins. Könnte ich glauben, dass alles andere, auch mein eigener Leib, mir ein Sein nur vortäusche; mein Denken täuscht mich nicht. So wahr ich denke, so wahr bin ich, indem ich denke.

Aus solchen Empfindungen heraus erklang Descartes': «Ich denke, also bin ich» (Cogito ergo sum). Und wer ein Ohr für solche Dinge hat, wird die Kraft dieses Wortes auch bei den auf Descartes folgenden Denkern bis zu Kant fortklingen hören.

Erst bei Fichte hört dieser Klang auf. Vertieft man sich in seine Gedankenwelt, sucht man sein Ringen nach einer Weltanschauung mitzuerleben, so fühlt man, wie auch er in der Selbsterkenntnis Welterkenntnis sucht: aber man hat die Empfindung, das «Ich denke, also bin ich» könnte seinem Ringen nicht der Fels sein, auf dem er sich sicher glaubte in den Wogen des Zweifels, die ihm die menschlichen Vorstellungen zu einem Meere von Träumen zu machen vermöchten. Man empfindet, wie bei Fichte die Fähigkeit zu zweifeln gewissermaßen in einer ganz andern Kammer der Seele sitzt als bei Descartes, wenn man sich die Sätze vorhält, die er in seiner (1800 erschienenen) «Bestimmung des Menschen» geschrieben hat: «Es gibt überall kein Dauerndes, weder außer mir, noch in mir, sondern nur einen unaufhörlichen Wechsel. Ich weiß überall von keinem Sein, und auch nicht von meinem eigenen.

Es ist kein Sein. – Ich selbst weiß überhaupt nicht, und bin nicht. Bilder sind: sie sind das einzige, was da ist, und sie wissen von sich, nach Weise der Bilder: – Bilder, die vorüberschweben, ohne dass etwas sei, dem sie vorüberschweben; die durch Bilder von den Bildern zusammenhängen, Bilder, ohne etwas in ihnen Abgebildetes, ohne Bedeutung und Zweck. Ich selbst bin eins dieser Bilder; ja, ich bin selbst dies nicht, sondern nur ein verworrenes Bild von den Bildern.

Alle Realität verwandelt sich in einen wunderbaren Traum, ohne ein Leben, von welchem geträumt wird, und ohne einen Geist, der da träumt; in einen Traum, der in einem Traum von sich selbst zusammenhängt. Das Anschauen ist der Traum; das Denken – die Quelle alles Seins und aller Realität, die ich mir einbilde, meines Seins, meiner Kraft, meiner Zwecke – ist der Traum von jenem Traume.» Diese Gedanken drängen sich Fichte nicht in die Seele wie eine letzte Wahrheit vom Dasein. Er will nicht etwa wirklich die Welt als Traumgebilde ansehen. Er will nur zeigen, dass all die Gründe, welche der Mensch gewöhnlich für die Gewissheit einer Erkenntnis aufbringt, vor einem durchdringenden Blick nicht bestehen können, dass man mit diesen Gründen nicht das Recht habe, die Ideen, die man sich über die Welt macht, als etwas anderes denn als Traumgebilde anzusehen.

Und nicht gelten lassen kann Fichte, dass im Denken selbst irgendeine Gewissheit über das Sein stecke.

Warum sollte ich sagen: «Ich denke, also bin ich», da doch, wenn ich in einem Meere von Träumen lebe, mein Denken nichts weiter sein kann als «der Traum vom Traume»? Der Einschlag, der in die Gedanken über die Welt die Wirklichkeit trägt, muss für Fichte von ganz anderer Seite kommen als vom bloßen Denken über die Welt.

Wenn Fichte davon spricht, dass die Art des deutschen Volkstums in seiner Weltanschauung lebt, so wird dieser Gedanke verständlich, wenn man gerade das Bild des Weges zur Selbsterkenntnis, den er im Gegensatze zu Descartes sucht, sich vor die Seele rückt. Dieser Weg kann als das angesehen werden, was Fichte als «deutsch» empfindet; und man kann ihn als Wanderer auf diesem Weg dem auf romanischen Geistesbahnen schreitenden Descartes gegenüberstellen. Descartes sucht einen festen Punkt für die Selbsterkenntnis; er erwartet, dass ihm irgendwo dieser feste Punkt gegenübertreten werde.

Im Denken glaubt er ihn gefunden zu haben. Fichte erwartet von solcher Art des Suchens gar nichts. Denn, was er auch finden könnte: warum sollte es denn eine höhere Gewissheit geben als vorher Gefundenes?

Nein, auf diesem Wege des Suchens ist überhaupt nichts zu finden. Denn er kann nur von Bild zu Bild führen; und kein Bild, auf das man stößt, kann von sich aus sein Sein verbürgen. Also muss man zunächst den Weg durch die Bilder ganz verlassen und ihn erst wieder betreten, wenn man von anderer Seite her Gewissheit geholt hat.

Man muss gegenüber dem «Ich denke, also bin ich» etwas scheinbar recht Einfältiges sagen, wenn man es entkräften will. Doch geht es so mit vielen Gedanken, die der Mensch in seine Weltanschauung aufnimmt: sie lösen sich nicht durch weitausholende Einwände auf, sondern durch das Bemerken einfach liegender Tatbestände. Man unterschätzt nicht die Denkerkraft einer Persönlichkeit von der Art des Descartes, wenn man ihm einen solch einfachen Tatbestand entgegenhält. Das Gleichnis vom Ei des Kolumbus bleibt ja doch ewig wahr. Und so ist es auch wahr, dass das «Ich denke, also bin ich» einfach zerschellt an dem Tatbestand des Schlafes. Jeder Schlaf des Menschen, der das Denken unterbricht, zeigt zwar nicht, dass im Denken nicht ein Sein liege, aber doch jedenfalls, dass «Ich bin, auch wenn ich nicht denke». Müsste man also das Sein aus dem Denken herausholen, so wäre es keinesfalls verbürgt für die Zustände der Seele, in denen das Denken aufhört. Wenn Fichte diese Wendung des Gedankens in dieser Form auch nicht ausgesprochen hat, so darf wohl doch gesagt werden: die Kraft, die in diesem einfachen Tatbestand liegt, wirkte – unbewusst – in seiner Seele und hinderte ihn, einen Weg zu nehmen, wie ihn Descartes genommen hat.

Durch den Grundcharakter seines Empfindens wurde Fichte auf einen ganz anderen Weg geführt.

Sein Leben von Kindheit an offenbart diesen Grundcharakter. Man braucht nur einzelne Bilder aus diesem Leben vor der Seele auftreten zu lassen, um das zu durchschauen. Aus der Kindheit wird ein bedeutsames Bild lebendig. Siebenjährig ist Johann Gottlieb. Er war bisher ein gut lernender Knabe. Der Vater schenkt ihm, um seinen Fleiß anzuerkennen, das Volksbuch vom «Gehörnten Siegfried». Der Knabe wird von dem Buche ganz eingenommen. Er vernachlässigt in etwas seine Pflichten. Er wird an sich selbst dieses gewahr. Der Vater trifft ihn, wie er eines Tages den «Gehörnten Siegfried» in den Bach wirft. Das ganze Herz des Knaben hängt an dem Buch; aber wie dürfte das Herz behalten etwas, das von der Pflicht abbringt! So lebt in dem Knaben Fichte schon unbewusst das Gefühl: der Mensch ist in der Welt als Ausdruck einer höheren Ordnung, die sich in die Seele senkt nicht durch das Interesse an diesem oder jenem, sondern durch die Wege, durch die er die Pflicht erkennt. Man sieht hier den Trieb zu Fichtes Stellungnahme gegenüber der Gewissheit von der Wirklichkeit. Gewiss für den Menschen ist nicht, was wahrnehmend erlebt wird, sondern was in der Seele so auflebt, wie die Pflicht sich offenbart.

Ein anderes Bild: Der Knabe ist neunjährig. Der Gutsnachbar seines Vaterdorfes kommt eines Sonntags in dieses, um sich die Predigt des Pfarrers anzuhören. Er trifft zu spät ein. Die Predigt ist vorbei. Die Leute erinnern sich, der neunjährige Johann Gottlieb bewahre die Predigten in seiner Seele so, dass er sie voll wiedergeben kann. Man holt ihn. Der Knabe im Bauernkittelchen tritt auf. Linkisch zunächst; dann aber die Predigt so von sich gebend, dass man merkt, was in dieser Predigt lebte, hat seine Seele ganz erfüllt; er gibt nicht bloß die gemerkten Worte wieder; er gibt sie aus dem Geiste der Predigt heraus, der in ihm lebt als vollkommenes Selbsterlebnis. Solche Fähigkeit, im eigenen Selbst aufleuchten zu lassen, was von der Welt an dieses Selbst herantrat, lebte in dem Knaben. Das ist doch die Anlage zu einem Erleben des Geistes der Außenwelt im eigenen Selbst. Das ist die Anlage dazu, in dem erkrafteten Selbst die tragende Macht einer Weltanschauung zu finden. Eine hell beleuchtete Entwicklungsströmung der Persönlichkeit führt von solchen Knabenerlebnissen zu einem Vortrag, den der geistvolle Naturforscher Steffens von Fichte, der damals Professor in Jena war, gehört hat, und den er beschreibt. Fichte fordert im Verlauf dieses Vortrages seine Zuhörer auf: «Denken Sie an die Wand!» Die Zuhörer bemühten sich, an die Wand zu denken. Nachdem sie das eine Zeitlang getan, folgt Fichtes nächste Aufforderung: «Und nun denken Sie an den, der an die Wand gedacht hat!» Welches Streben nach unmittelbarem Zusammenleben des eigenen Seelenlebens mit dem Seelenleben der Zuhörer! Der Hinweis auf eine unmittelbar vorzunehmende innere Seelenbetätigung, der nicht bloß anstrebt, dass ein mitzuteilendes Wort nachgedacht werde, sondern der ein in den Seelen der Zuhörer schlummerndes Lebendiges wecken will, auf dass diese Seelen in einen Zustand kommen, der ihr bisheriges Verhältnis zu dem Weltenlauf ändere.

In solchem Vorgehen spiegelt sich Fichtes ganze Art, einen Weg zu einer Weltanschauung zu bahnen. Er sucht nicht wie Descartes nach dem Denkerlebnis, das Gewissheit bringen soll. Er weiß, solchem Suchen winkt kein Finden. Man kann bei solchem Suchen nicht wissen, ob man im Traume oder in Wirklichkeit gefunden hat. Also nicht sich ergehen in einem Suchen. Sich erkraften aber in einem Aufwachen. Einem Aufwachen ähnlich muss sein, was die Seele erlebt, wenn sie aus dem Felde der gewöhnlichen in das der wahren Wirklichkeit dringen will. Das Denken verbürgt dem menschlichen Ich nicht das Sein. Aber in diesem Ich liegt die Kraft, sich selbst zum Sein zu erwecken. Jedesmal, wenn die Seele im Vollbewusstsein der inneren Kraft, die dabei lebendig wird, sich als «Ich» empfindet, tritt ein Vorgang ein, der sich darstellt als ein Sich-Erwecken der Seele. Dieses Sich-selbst-Erwecken ist die Grundwesenheit der Seele. Und in dieser sich selbst erweckenden Kraft liegt die Gewissheit des Seins der Menschenseele. Möge die Seele durch Traumes- und durch Schlafzustände hindurchgehen: man erfasst die Kraft ihrer Selbsterweckung aus jedem Traum und jedem Schlaf, indem man die Vorstellung des Erwachens zum Bilde ihrer Grundkraft macht. In dem Gewahrwerden der selbsterweckenden Macht erfühlt Fichte die Ewigkeit der Menschenseele. Aus diesem Gewahrwerden flossen ihm Worte wie diese: «Es verschwindet vor meinem Blicke und versinkt die Welt, die ich noch soeben bewunderte. In aller Fülle des Lebens, der Ordnung und des Gedeihens, welche ich in ihr schaue, ist sie doch nur der Vorhang, durch den eine unendlich vollkommenere mir verdeckt wird, und der Keim, aus dem diese sich entwickeln soll. Mein Glaube tritt hinter diesen Vorhang und erwärmt und belebt diesen Keim. Er sieht nichts Bestimmtes, aber erwartet mehr, als er hienieden fassen kann, und je in der Zeit wird fassen können.

So lebe, und so bin ich, und so bin ich unveränderlich, fest und vollendet für alle Ewigkeit; denn dieses Sein ist kein von außen angenommenes, es ist mein eignes, einiges wahres Sein und Wesen.» (Bestimmung des Menschen.)

Man wird nicht versucht sein, eine solche Anschauung bei Fichte als den Beweis für eine dem unmittelbaren kraftvollen Erdenleben abgewandte, lebenfeindliche Gedankenrichtung anzusehen, wenn man seine ganze Art, sich zu diesem Leben zu stellen, und die lebenfreundliche, lebenfördernde Gesinnung, die all sein Wirken und Denken durchdringt, ins Auge fasst. In einem Briefe aus dem Jahre 1790 steht ein Satz, der gerade mit Bezug auf seinen Unsterblichkeitsgedanken auf diese Gesinnung bedeutungsvolles Licht wirft: «Das sicherste Mittel, sich von einem Leben nach dem Tode zu überzeugen, ist das, sein gegenwärtiges so zu führen, dass man es wünschen darf.»

In der sich selbst erweckenden inneren Tätigkeit der Menschenseele liegt für Fichte die Kraft der Selbsterkenntnis. Und innerhalb dieser Tätigkeit findet er in der Seele auch die Stelle, wo Weltengeist im Seelengeist sich offenbart. Es webt und wirkt durch alles Sein für diese Weltanschauung der Weltenwille; und im Wollen des eigenen Wesens kann die Seele in sich diesen Weltenwillen darlegen. Das Ergreifen der Lebenspflichten, die in der Seele anders erlebt werden als die Wahrnehmungen der Sinne und der Gedanken, sind das nächste Beispiel dafür, wie der Weltenwille durch die Seele hindurchpulsiert.

So muss ergriffen werden die wahre Wirklichkeit; und alle andere Wirklichkeit, auch die des Denkens, erhält ihre Gewissheit durch das Licht, das auf sie von der Wirklichkeit des in der Seele sich offenbarenden Weltwillens fällt. Dieser Weltenwille treibt den Menschen zur Tätigkeit, zum Handeln. Als Sinneswesen muss der Mensch das, was der Weltenwille von ihm verlangt, in einer sinnlichen Weise verwirklichen. Wie aber könnten die Taten des Willens ein wirkliches Dasein haben, wenn sie dieses Dasein in einer Traumwelt suchen müssten. Nein, die Welt kann kein Traum sein, weil in ihr die Taten des Willens nicht bloß geträumt, sondern verwirklicht sein müssen.

Indem das Ich sich im Erleben des Weltwillens erweckt, erlangt es die feste Stütze der Gewissheit seines Seins. Fichte spricht sich darüber in seiner «Bestimmung des Menschen» aus: «Mein Wille soll schlechthin durch sich selbst, ohne alles seinen Ausdruck schwächende Werkzeug, in einer ihm völlig gleichartigen Sphäre, als Vernunft auf Vernunft, als Geistiges auf Geistiges wirken; – in einer Sphäre, der er jedoch das Gesetz des Lebens, der Tätigkeit, des Fortlaufens nicht gebe, sondern die es in sich selbst habe; also auf selbsttätige Vernunft. Aber selbsttätige Vernunft ist Wille. Das Gesetz der übersinnlichen Welt wäre sonach ein Wille ... Jener erhabene Wille geht sonach nicht abgesondert von der übrigen Vernunftwelt seinen Weg für sich. Es ist zwischen ihm und allen endlichen vernünftigen Wesen ein geistiges Band, und er selbst ist dieses geistige Band der Vernunftwelt ... Ich verhülle vor dir mein Angesicht und lege die Hand auf den Mund. Wie du für dich selbst bist und dir selbst erscheinest, kann ich nie einsehen, so gewiss ich nie du selbst werden kann. Nach tausendmal tausend durchlebten Geisterwelten werde ich dich noch ebensowenig begreifen als jetzt, in dieser Hütte von Erde.

Was ich begreife, wird durch mein bloßes Begreifen zum Endlichen; und dieses lässt auch durch unendliche Steigerung und Erhöhung sich nie ins Unendliche umwandeln. Du bist vom Endlichen nicht dem Grade, sondern der Art nach verschieden. Sie machen dich durch jene Steigerung nur zu einem größeren Menschen, und immer zu einem größeren; nie aber zum Gotte, zum Unendlichen, der keines Maßes fähig ist.»

Eine Weltanschauung erstrebte Fichte, die alles Sein bis zur Wurzel des Lebendigen verfolgt, und die in dem Lebendigen dessen Sinn erkennt durch das Zusammenleben der Menschenseele mit dem alles durchpulsenden Weltwillen, der die Natur schafft, um in ihr eine geistig moralische Ordnung wie in einem äußeren Leibe zu verwirklichen. Eine solche Weltanschauung war ihm die aus dem Charakter des deutschen Volkes entspringende. Ihm war eine Weltanschauung undeutsch, die nicht «an Geistigkeit und Freiheit dieser Geistigkeit glaubt», und die nicht «die ewige Fortbildung dieser Geistigkeit und Freiheit will».

«Was an Stillstand, Rückgang und Zirkeltanz glaubt oder gar eine tote Natur an das Ruder der Weltregierung setzt», widerstrebt für seine Anschauung nicht nur einer tiefer dringenden Erkenntnis, sondern auch der wahrhaft deutschen Wesensart.


Der Idealismus als Natur- und Geistesanschauung: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling

Friedrich Wilhelm Joseph Schelling steht im Beginne seines Suchens nach einer Weltanschauung Fichte insofern nahe, als auch ihm die Vorstellung von der Seele, die sich in der Tätigkeit des Selbsterweckens als in der Gewissheit ihres Daseins ergreift, zur sicheren Stütze seiner Erkenntnis wird.

Doch strahlen von dieser Grundempfindung in Schellings Geist andere Gedanken aus als in dem Fichtes.

Für diesen leuchtet in die erwachende Seele der umfassende Weltenwille als ein geistiges Lichtreich hinein; und er will die Strahlen dieses Lichtes in ihrem Wesen erkennen. Für Schelling formt sich das Welträtsel dadurch, dass er sich mit der zum «Ich» erwachten Seele der scheinbar stummen, toten Natur gegenübergestellt sieht. Aus dieser Natur heraus erwacht die Seele. Dies offenbart sich der menschlichen Beobachtung. Und in diese Natur versenkt sich der erkennende, der fühlende Menschengeist und erfüllt sich durch sie mit einer inneren Welt, die dann in ihm geistiges Leben wird. Könnte dies so sein, wenn nicht eine dem Menschenerkennen zunächst verborgene tiefinnere Verwandtschaft bestände zwischen der Seele und der Natur? Aber die Natur bleibt stumm, wenn die Seele sich nicht zu ihrem Sprachwerkzeug macht; sie scheint tot, wenn der Geist des Menschen nicht aus dem Schein das Leben entzaubert. Aus den Tiefen der Menschenseele müssen die Geheimnisse der Natur herauftönen. Soll dies aber nicht eine Täuschung sein, so muss es das Wesen der Natur selbst sein, das aus der Seele spricht. Und wahr muss sein, dass die Seele nur scheinbar in ihre eigenen Untergründe hinabsteigt, wenn sie die Natur erkennt; in Wirklichkeit muss sie durch unterbewusste Gänge wandeln, um in den Kreislauf des Naturwebens mit dem eigenen Leben unterzutauchen, wenn sie die Natur finden will.

Schelling sieht in der Natur, wie diese dem gewöhnlichen menschlichen Bewusstsein vorliegt, gewissermaßen nur einen physiognomischen Ausdruck der wahren Natur, wie man in einem menschlichen Antlitz den Ausdruck der übersinnlichen Seele sieht. Und wie man durch diesen physiognomischen Ausdruck hindurch sich in die Seele des Menschen einlebt, wenn man imstande ist, in das eigene Erleben das fremde aufzunehmen, so gibt es für Schelling eine Möglichkeit, die Erkenntnisfähigkeiten des Menschen so zu erwecken, dass diese in sich miterleben, was seelenhaft und geistig hinter dem äußeren Antlitz der Natur webt und wirkt. Weder also kann die Wissenschaft dieses äußeren Antlitzes für eine Offenbarung dessen gehalten werden, was in den Tiefen der Natur lebt; noch ist die in solcher Wissenschaft sich erschöpfende Erkenntniskraft des Menschen in der Lage, der Natur ihre wahren Geheimnisse zu entbinden. Schelling will daher eine hinter der gewöhnlichen menschlichen Erkenntniskraft liegende intellektuelle Anschauung in der Menschenseele zur Erweckung bringen. Diese Anschauungsart offenbart sich – in Schellings Sinne – als schöpferische Kraft im Menschen; aber so, dass sie nicht aus der Seele heraus Begriffe über die Natur schafft, sondern durch inniges Zusammenleben mit dem Seelenhaften der Natur die Ideenkräfte zur Erscheinung bringt, die in der Natur schaffend walten. Ängstliche Gemüter erbeben bei dem Gedanken einer Naturanschauung, die aus einer solchen «intellektuellen Anschauung» stammen soll. Und der Spott und Hohn, der über sie ergossen worden ist in der Zeit, die auf die Schellingsche folgte, waren groß. Für einen Menschen, der Einseitigkeit in diesen Dingen zu meiden versteht, gibt es gar nicht die zwiespältige Notwendigkeit: entweder sich den «Träumereien der Naturphantastik von der Art eines Schelling» hinzugeben und die sachgemäße, ernste Naturforschung des «groben Materialismus» anzuklagen; oder sich besonnen auf den Standpunkt dieser Forschung zu stellen und alle «Schellingsche Begriffsspielerei als Kinderei abzutun».

Man kann in rückhaltloser Art mit unter denen sein, welche der Naturforschung, wie sie das neueste «naturwissenschaftliche Zeitalter» fordert, die volle Geltung verschaffen wollen; und kann dennoch das Berechtigte des Schellingschen Versuches verstehen, über diese Naturforschung hinaus eine Naturanschauung zu schaffen, die auf dasjenige Feld sich begibt, welches diese Naturforschung gar nicht wird berühren wollen, wenn sie sich selbst richtig versteht. Unberechtigt ist nur der Glaube, dass es neben der mit den gewöhnlichen menschlichen Erkenntniskräften zu schaffenden Naturwissenschaft nicht eine Naturanschauung geben dürfe, die mit anderen Mitteln erlangt wird, als dieser Naturwissenschaft als solcher eigen sind. Warum sollte der Naturforscher glauben müssen, dass sein Feld nur ungefährdet ist, wenn neben ihm jeder von anderen Gesichtspunkten aus Strebende zum Schweigen gebracht wird? Wer sich in diesen Dingen nicht durch «naturwissenschaftlichen Fanatismus» den Sinn blenden lässt, dem erscheint die oft so bitter werdende Ablehnung einer geistgemäßen Naturanschauung, wie sie Schelling erstrebte, doch nicht anders, als wenn ein Liebhaber des Photographierens sagte: ich mache von dem Menschen genaue Bilder, die alles wiedergeben, was an ihm ist: man komme mir doch dieser Naturtreue gegenüber nicht mit dem Porträt eines Malers.

Mit der erweckten geistigen Anschauung wollte Schelling den «Geist der Natur» finden, der nicht nur in der sinnlichen Wahrnehmung, sondern auch in dem, was man Naturgesetze nennt, bloß seinen physiognomischen Ausdruck hat. Es ist bedeutungsvoll, sich vor die Seele zu stellen, welch gewaltigen Eindruck er mit einem solchen Streben auf diejenigen Menschen unter seinen Zeitgenossen machte, die ein offenes Gemüt für die Art hatten, wie dieses Streben aus seiner geistdurchleuchteten, machtvollen Persönlichkeit hervorbrach. Es gibt eine Schilderung, die ein liebenswürdig-geistvoller Denker, Gotthilf Heinrich Schubert, gegeben hat von den Eindrücken, die er von Schellings Wirksamkeit in Jena empfangen hat. «Was war es» – so schreibt Schubert –, «das Jünglinge wie gereifte Männer von fern und nahe so mächtig zu Schellings Vorlesungen hinzog? War es nur die Persönlichkeit des Mannes oder der eigentümliche Reiz seines mündlichen Vortrags, darinnen diese anziehende Kraft lag? ... Das war es nicht allein... In seinem lebendigen Worte lag allerdings eine hinnehmende Kraft, welcher, wo sie nur einige Empfänglichkeit traf, keine der jungen Seelen sich erwehren konnte. Es möchte schwer sein, einem Leser unserer Zeit» (Schubert schreibt 1854 nieder, was er in den neunziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts mit Schelling erlebt hatte), «der nicht wie ich jugendlich teilnehmender Hörer war, es begreiflich zu machen, wie es mir, wenn Schelling zu uns sprach, öfter so zumute wurde, als ob ich Dante, den Seher einer nur dem geweihten Auge geöffneten Jenseitswelt, lese oder hörte. Der mächtige Inhalt, der in seiner wie mit mathematischer Schärfe im Lapidarstile abgemessenen Rede lag, erschien mir wie ein gebundener Prometheus, dessen Bande zu lösen und aus dessen Hand das unverlöschende Feuer zu empfangen die Aufgabe des verstehenden Geistes ist ... . Aber weder die Persönlichkeit noch die belebende Kraft der mündlichen Mitteilung konnten es allein sein, welche für die Schellingsche Weltanschauung alsbald nach ihrem öffentlichen Kundwerden durch Schriften eine Teilnahme und eine Aufregung für oder wider ihre Richtung hervorrief, wie dies vor- und nachher in langer Zeit keine andere literarische Erscheinung ähnlicher Art vermocht hat. Man wird es da, wo es sich um sinnlich-wahrnehmbare Dinge oder natürliche Erscheinungen handelt, einem Lehrer oder Schriftsteller sogleich anmerken, ob er aus eigener Anschauung und Erfahrung spricht, oder bloß von dem redet, was er von andern gehört, ja, nach seiner eigenen selbstgemachten Vorstellung sich ausgedacht hat ... Auf die gleiche Weise wie mit der äußeren Erfahrung verhält es sich mit der inneren. Es gibt eine Wirklichkeit von höherer Art, deren Sein der erkennende Geist in uns mit derselben Sicherheit und Gewissheit erfahren kann, als unser Leib durch seine Sinne das Sein der äußeren sichtbaren Natur erfährt. Diese, die Wirklichkeit der leiblichen Dinge, stellt sich unseren wahrnehmenden Sinnen als eine Tat eben derselben schaffenden Kraft dar, durch welche auch unsere leibliche Natur zum Werden gekommen. Das Sein der Sichtbarkeit ist in gleicher Weise eine wirkliche Tatsache als das Sein des wahrnehmenden Sinnes. Auch dem erkennenden Geiste in uns hat sich die Wirklichkeit der höheren Art als geistig-leibliche Tatsache genaht; er wird ihrer innewerden, wenn sich sein eigenes Erkennen zu einem Anerkennen dessen erhebt, von welchem er erkannt und aus welchem nach gleichmäßiger Ordnung die Wirklichkeit des leiblichen wie des geistigen Werdens hervorgeht. Und jenes Innewerden einer geistigen, göttlichen Wirklichkeit, in der wir selber leben, weben und sind, ist der höchste Gewinn des Erdenlebens und des Forschens nach Weisheit ... . Schon zu meiner Zeit gab es unter den Jünglingen, die ihn hörten, solche, welche es ahnten, was er unter der intellektuellen Anschauung meinte, durch welche unser Geist den unendlichen Urgrund alles Seins und Werdens erfassen muss.»

Geist in der Natur suchte Schelling durch die intellektuelle Anschauung. Das Geistige, das aus der Kraft seines Schaffens die Natur heraussprießen ließ. Lebendiger Leib dieses Geistigen war einst diese Natur, wie des Menschen Leib der der Seele ist. Nun breitet er sich aus, dieser Leib des Weltengeistes, in seinen Zügen das offenbarend, was ihm einst das Geistige einverleibt hat, in seinem Werden und Weben die Gebärden zeigend, die Wirkungen des Geistigen darstellen. Vorangehen musste dieses Geistwirken im Weltenleibe dem gegenwärtigen Zustande der Welt, damit er sich verhärte und im Mineralreiche ein Knochensystem, im Pflanzenreiche ein Nervensystem, im Tierreiche einen seelischen Vorläufer des Menschen zeuge. So ward der Weltenleib aus seiner Jugend in sein Alter eingeführt; das gegenwärtige Mineral-, Pflanzen- und Tierreich sind die gewissermaßen verhärteten Erzeugnisse dessen, was dereinst geist-leiblich in einem Werden vollbracht wurde, das gegenwärtig erloschen ist. Aus dem Schoße des Altersleibes der Welt aber konnte die schaffende Geistigkeit erstehen lassen den seelen-geistbegabten Menschen, in dessen Innerem der Erkenntnis die Ideen aufleuchten, mit denen zuerst die schaffende Geistigkeit den Weltleib wirkte. Wie verzaubert ruht in der gegenwärtigen Natur der einst in ihr lebendig- wirksame Geist; in der Menschenseele wird er entzaubert. (Diese Darstellung des Verhältnisses Schellings zur Natur ist gewiss nicht nur keine wörtliche, sondern nicht einmal eine solche in Vorstellungen, die Schelling selbst gebraucht hat. Doch bin ich der Ansicht, dass man in solcher Kürze treu nur dann wiedergeben kann, wenn man den Geist einer Anschauung ins Auge fasst, und, um ihn auszudrücken, Vorstellungen gebraucht, die in freier Art sich ergeben, um in wenigen Worten zu sagen, was die Persönlichkeit, von der man spricht, in einer Reihe ausführlicher Werke ausgesprochen hat. Die eigenen Worte dieser Persönlichkeit können, zu diesem Ziel gebraucht, deren Geist nur entstellen.)

Mit einer solchen Art, sich zu dem «Geiste der Natur» und zu dessen Verhältnis zum Menschengeiste zu stellen, empfand sich Schelling vor der Notwendigkeit, eine Anschauung auch nun darüber zu gewinnen, wie dasjenige in der Welt aufzufassen ist, das störend in den Gang der Weltereignisse eingreift. Indem die Seele sich an die allwaltende Ideenwelt hingibt, wird sie deren fortschreitendes Schaffen erkennend erleben. Doch drängt sich, wie von einer anderen Seite des Weltdaseins, die Störung, das Übel, das Böse an die Seele heran. In dieses Feld kommt die erkennende Seele mit der Ideenwelt zunächst nicht hinein; es grenzt an sie wie der Schatten an das Licht. Wie das Licht nicht im Schattenraume anwesend sein kann, so auch nicht die im ersten Erkenntnisanlauf von der Seele unternommenen Tätigkeiten im Reiche der Störungen, des Übels, des Bösen. Im Suchen nach einer Möglichkeit, in dieses Gebiet einzudringen, fand Schelling Anregung durch diejenige Persönlichkeit, die aus dem einfachsten deutschen Volksempfinden heraus die Lösung hoher Welträtsel versucht hat: durch Jakob Böhme. Gewiss, Jakob Böhme hat über Weltanschauungsfragen viel gelesen und auch auf andere Art durch die Bildungswege viel aufgenommen, die sich dem einfachen Volksmanne in der deutschen Entwicklung des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts boten; das Beste aber, das in Jakob Böhmes Schriften auf so ungelehrte Art pulsiert, ist volkstümlicher Erkenntnisweg, ist ein Ergebnis des Volksgemütes selber. Und Schelling hat heraufgehoben in die Art der denkerischen Betrachtung, was dieses Volksgemüt in Jakob Böhmes ungelehrter, aber erleuchteter Seele erschaut hat. Es gehört zu den herrlichsten Beobachtungen, die man in der Weltliteratur machen kann, Jakob Böhmes elementarische Gemütsanschauung durch die philosophische Sprache in Schellings Abhandlung «Über das Wesen der menschlichen Freiheit» leuchten zu sehen. In dieser elementarischen Gemütsanschauung waltet die tiefsinnige Einsicht, dass niemand zu einer befriedigenden Weltanschauung kommen kann, der auf seinem Erkenntniswege nur die Mittel des denkenden Begreifens mitnimmt. In den Umkreis dessen, was denkendes Begreifen ist, schlägt aus den Weltentiefen etwas herein, das umfassender, mächtiger ist als dieses denkende Begreifen. Doch nicht mächtiger, als was die Seele in sich erleben kann, wenn ihr das denkende Begreifen nur als Glied ihres eigenen Wesens erscheint. Will man etwas begreifen, so muss man verstehen, wie es notwendig mit einem andern zusammenhängt. Die Dinge der Welt hängen aber wohl an ihrer Oberfläche, doch nicht im tiefsten Grunde ihres Wesens notwendig zusammen. In der Welt waltet Freiheit. Und nur der begreift die Welt, der in dem notwendigen Gange der Naturgesetze das Walten freier übersinnlicher Geistigkeit schaut. Die Freiheit als Tatsache kann immer mit logischen Gründen widerlegt werden. Wer das durchschaut, auf den macht keine Widerlegung der Freiheitsidee einen Eindruck.

Die urgesunde Erkenntnisart Jakob Böhmes, seine ursprüngliche volkssinngemäße Gemütserkenntnis schaute die Freiheit als durchwebend und durchwirkend alle Notwendigkeit, auch die naturgemäße. Und Schelling, von einer geistgemäßen Naturanschauung aufsteigend zur Geistesanschauung, fühlte sich im Einklang mit Jakob Böhme.

Und damit war ihm der Weg gegeben, die geschichtliche Entwicklung des Geisteslebens der Menschheit in seiner Art zu erschauen. Als das größte Erdenereignis stellte sich ihm die Tat des Christus in diese Entwicklung hinein. Was vor dieser Tat liegt, suchte er durch seine «Philosophie der Mythologie» zu verstehen. Wer da meint, in der Geschichte offenbaren sich nur Ideen, deren eine aus der anderen folgt, der versteht den Weltengang nicht. Denn mit Freiheit greift übersinnliche Wesenheit von Stufe zu Stufe in diesen Gang ein; und was die Freiheit auf einer Folgestufe vollbringt, das kann nur als eine dem Gemüt sich enthüllende Tatsache angeschaut, nicht durch logische Ideenentwicklung als notwendige Folge erdacht werden. Und als ganz freie Tatsache, als von Ideen nicht zu beleuchtende, sondern alle Ideenwelt überleuchtende Offenbarung muss das hingenommen werden, was übersinnliche Welten in der Erdenentwicklung durch Christus haben einfließen lassen. Von dieser seiner Weltauffassung will Schelling in seiner «Philosophie der Offenbarung» sprechen.

Es ist gewiss, dass gegen solche Vorstellungsart leicht der «Widerspruch» aufgewiesen werden kann, in den sie sich verstrickt. Und dieser «Widerspruch» ist Schelling auch in allen möglichen gut- und bösgemeinten Formen entgegengehalten worden. Allein, wer diesen «Widerspruch» aufbringt, der zeigt nur, dass er das Walten der freien Geistigkeit im Laufe des notwendig erscheinenden Weltenlaufes nicht anerkennen will. Schelling wollte das Wirken der Naturnotwendigkeit nicht leugnen; aber er wollte zeigen, wie auch diese Notwendigkeit eine Tat der Geistigkeit ist, die mit Freiheit die Welt durchwirkt. Und er wollte nicht etwa auf das Begreifen verzichten, weil der erste Anlauf dieses Begreifens an der Grenze der Weltenfreiheit zerschellt; er wollte zu einem Begreifen dessen aufsteigen, was die allwaltende Ideenwelt nicht in sich selber hat, aber aufnehmen kann. Die Ideen, welche die Welt erkennen wollen, brauchen nicht abzudanken, weil bloß denkendes Begreifen nicht zur Erkenntnis des Lebens ausreicht. Man braucht nicht zu sagen: weil die Ideen nicht in die Weltentiefen mit dem dringen, was zunächst in ihrem eigenen Wesen liegt, deshalb kann die Tiefe der Welt nicht erkannt werden. Nein, wenn die Ideen sich diesen Tiefen ergeben und durchdrungen werden von dem, was sie nicht in sich haben, dann tauchen sie aus Weltengründen auf, neugeboren, vom Wesen des «Geistes der Welt» durchweht. Zu solcher Weltanschauung hat es im neunzehnten Jahrhundert das in Schellings Philosophengeist fortwirkende deutsche Volksgemüt des Görlitzer Schusters Jakob Böhme aus dem siebzehnten Jahrhundert gebracht.


Der deutsche Idealismus als Gedankenanschauung: Hegel

Durch Hegel scheint in der deutschen Weltanschauungsentwicklung das «Ich denke, also bin ich» so wieder aufzuleben, wie ein Samenkorn, das in die Erde fällt, als allseitig entfalteter Baum ersteht. Denn was dieser Denker als Weltanschauung geschaffen hat, ist ein umfassendes Gedankengemälde oder gewissermaßen ein vielgliedriger Gedankenleib, der aus zahlreichen Einzelgedanken besteht, die gegenseitig sich tragen, stützen, bewegen, beleben, erleuchten. Und diese Gedanken sollen solche sein, die nicht aus den Sinneneindrücken der Außenwelt, auch nicht aus den täglichen Erlebnissen des menschlichen Gemütes stammen; sie sollen in der Seele sich offenbaren, wenn diese aus den Sinneseindrücken und Gemütserlebnissen sich heraushebt und sich zum Zuschauer des Vorgangs macht, durch den der von allem Nichtgedanklichen freie Gedanke sich zu weiteren und immer weiteren Gedanken entfaltet. Wenn die Seele diesen Vorgang in sich geschehen lässt, soll sie ihres gewöhnlichen Wesens enthoben und mit ihrem Tun in die geistig-übersinnliche Weltordnung einverwoben sein. Nicht sie denkt dann; das Weltall denkt sich in ihr; sie wird der Teilnehmer eines außermenschlichen Geschehens, in das der Mensch bloß eingesponnen ist; und sie erlebt auf diese Art in sich, was in den Tiefen der Welt wirkt und webt. Bei näherem Zusehen zeigt sich, wie bei Hegel die Weltanschauung von einem völlig anderen Gesichtspunkte aus gesucht wird als durch das Descartessche «Ich denke, also bin ich». Descartes will die Gewissheit des Seelen-Seins aus dem Denken der Seele herausholen. Bei Hegel handelt es sich darum, von dem Denken der einzelnen menschlichen Seele zunächst ganz zu schweigen, und das Leben dieser Seele so zu gestalten, dass deren Denken eine Offenbarung des Weltendenkens wird. Dann, meint Hegel, offenbart sich, was als Gedanke in allem Weltendasein lebt; und die einzelne Seele findet sich als Glied im Gedankenweben der Welt. Die Seele muss von diesem Gesichtspunkte aus sagen: Das Höchste und Tiefste, was in der Welt west und lebt, ist schaffendes Gedankenwalten, und ich finde mich als eine der Offenbarungsweisen dieses Waltens.

In der Wendung vom einzelnen Seelengedanken zum überseeischen Weltgedanken liegt der bedeutungsvolle Unterschied zwischen Hegel und Descartes. Hegel hat diese Wendung vollzogen, Descartes nicht.

Und dieser Unterschied bewirkt einen anderen, der sich auf die Ausbildung der Weltanschauungen der beiden Geister bezieht. Descartes sucht Gewissheit für die Gedanken, die der Mensch sich von der Welt bildet in dem Leben, in dem er mit seinen Sinnen und seiner Seele drinnen steht. Hegel sucht in dem Felde dieser Gedanken zunächst nicht, er sucht nach einer Gestalt des Gedankenlebens, das über diesem Felde liegt.

Ist so Hegel wohl im Gebiete des Gedankens stehengeblieben und befindet er sich dadurch in Gegensatz zu Fichte und Schelling, so tat er dies nur, weil er im Gedanken selbst die innere Kraft zu fühlen meinte, um in die übersinnlichen Reiche einzudringen. Hegel war Enthusiast gegenüber dem Erleben, das der Mensch haben kann, wenn er sich ganz der Urkraft des Gedankens hingibt. In dem Lichte des zur Idee erhobenen Gedankens entwindet sich für ihn die Seele ihres Zusammenhanges mit der Sinnenwelt.

Man kann die Kraft, die in diesem Enthusiasmus Hegels liegt, empfinden, wenn man in seinen Schriften, in denen eine für viele so zurückstoßende, knorrige, ja scheinbar grässlich abstrakte Sprache waltet, auf Stellen stößt, in denen sich oft so schön zeigt, welche Herzenstöne er finden kann für das, was er mit seinen «Abstraktionen» erlebt. Eine solche Stelle steht zum Beispiel am Schlusse seiner «Phänomenologie».

Er nennt da das Wissen, das die Seele erlebt, wenn sie die Weltideen in sich walten lässt, das «absolute Wissen». Und er blickt am Schlusse dieses Werkes zurück auf die Geister, die im Entwicklungsgange der Menschheit dem Ziele dieses «absoluten Wissens» zugestrebt haben. Von seiner Zeit aus schauend, findet er diesen Geistern gegenüber die Worte: «Das Ziel, das absolute Wissen, oder der sich als Geist wissende Geist hat zu seinem Wege die Erinnerung der Geister, wie sie an ihnen selbst sind und die Organisation ihres Reichs vollbringen. Ihre Aufbewahrung nach der Seite ihres freien in der Form der Zufälligkeit erscheinenden Daseins ist die Geschichte, nach der Seite ihrer begriffenen Organisation aber die Wissenschaft des erscheinenden Wissens; beide zusammen, die begriffne Geschichte, bilden die Erinnerung und die Schädelstätte des absoluten Geistes, die Wirklichkeit, Wahrheit und Gewissheit seines Thrones, ohne den er das leblose Einsame wäre; nur –
aus dem Kelche dieses Geisterreiches
schäumt ihm seine Unendlichkeit.»

Dieses innerlich Kraftvolle des Gedankenlebens, das sich in sich selbst überwinden will, um in ein Reich sich zu erheben, in dem es nicht mehr selbst, sondern der unendliche Gedanke, die ewige Idee in ihm lebt, ist das Wesentliche in Hegels Suchen. Dadurch erhält bei ihm das höhere menschliche Erkenntnisstreben einen umfassenden Charakter, welcher Richtungen dieses Strebens, die oft getrennt und dadurch einseitig verlaufen, zu einem Ziele führen will. Man kann in Hegel einen reinen Denker finden, der nur durch die mystikfreie Vernunft an die Lösung der Welträtsel herantreten will. Von eisigen, abstrakten Gedanken, durch die er allein die Welt begreifen will, kann man sprechen. So wird man in ihm den trockenen, mathematisch gearteten Verstandesmenschen sehen können.

Aber wozu wird bei ihm das Leben in den Ideen der Vernunft? Zum Hingeben der Menschenseele an die in ihr waltenden übersinnlichen Weltenkräfte. Es wird zum wahren mystischen Erleben. Und es ist durchaus nicht widersinnig, in Hegels Weltanschauung Mystik zu erkennen. Man muss nur einen Sinn dafür haben, dass in Hegels Werken das an den Vernunftideen erlebt werden kann, was der Mystiker ausspricht. Es ist eine Mystik, die das Persönliche, das dem Gefühlsmystiker die Hauptsache ist und von dem er allein reden will, eben als eine persönliche Angelegenheit der Seele in sich abmacht und nur das ausspricht, wozu sich die Mystik erheben kann, wenn sie aus dem persönlichen Seelendunkel sich in die lichte Klarheit der Ideenwelt hinaufringt.

Hegels Weltanschauung hat ihre Stellung im geistigen Entwicklungsgange der Menschheit dadurch, dass sich in ihr die lichte Kraft des Gedankens aus den mystischen Tiefen der Seele heraufhebt, dass in seinem Suchen sich mystische Kraft mit gedanklicher Lichtmacht offenbaren will. Und so findet er sich auch selbst in diesem Entwicklungsgange drinnen stehend. Deshalb blickte er auf Jakob Böhme so zurück, wie es in seinen (in seiner «Geschichte der Philosophie» befindlichen) Worten ausgesprochen ist: «Dieser Jakob Böhme, lange vergessen und als ein pietistischer Schwärmer verschrien, ist erst in neueren Zeiten wieder zu Ehren gekommen, Leibniz ehrte ihn. Durch die Aufklärung ist sein Publikum sehr beschränkt worden; in neueren Zeiten ist seine Tiefe wieder anerkannt worden ... Ihn als Schwärmer zu qualifizieren, heißt weiter nichts. Denn wenn man will, kann man jeden Philosophen so qualifizieren, selbst den Epikur und Bacon. ... Was aber die hohen Ehren betrifft, zu denen Böhme erhoben worden, so dankt er diese besonders seiner Form der Anschauung und des Gefühls; denn Anschauung und inneres Fühlen... und die Bildlichkeit der Gedanken, die Allegorien und dergleichen werden zum Teil für die wesentliche Form der Philosophie gehalten. Aber es ist nur der Begriff, das Denken, worin die Philosophie ihre Wahrheit haben, worin das Absolute ausgesprochen werden kann, und auch ist, wie es an sich ist.»

Und weiter findet Hegel für Böhme die Sätze: «Jakob Böhme ist der erste deutsche Philosoph; der Inhalt seines Philosophierens ist echt deutsch. Was Böhme auszeichnet und merkwürdig macht, ist, ... die Intellektualwelt in das eigene Gemüt hereinzulegen, und in seinem Selbstbewusstsein alles anzuschauen und zu wissen und zu fühlen, was sonst jenseits war. Die allgemeine Idee Böhmes zeigt sich einerseits tief und gründlich; er kommt anderseits aber, bei allem Bedürfnis und Ringen nach Bestimmung und Unterscheidung in der Entwicklung seiner göttlichen Anschauungen des Universums, nicht zur Klarheit und Ordnung.»

Solche Worte sind von Hegel doch nur aus dem Gefühle heraus gesprochen: In dem einfachen Gemüte Jakob Böhmes lebt der tiefste Drang der Menschenseele, mit dem eigenen Erleben sich in das Welterleben zu versenken – der wahre mystische Drang –; aber die bildliche Anschauung, das Gleichnis, das Symbol müssen sich zum Lichte der klaren Idee erheben, um zu erreichen, was sie wollen.

Als Vernunftideen sollen in Hegels Weltanschauung die Jakob Böhmeschen Weltenbilder wiedererstehen.

So steht der Enthusiast des Gedankens, Hegel, neben dem tiefen Mystiker Jakob Böhme innerhalb der Entwicklung des deutschen Idealismus. Hegel sah in Böhmes Philosophieren etwas «echt Deutsches», und Karl Rosenkranz, der Biograph und selbständige Schüler Hegels, schrieb zur hundertjährigen Geburtstagsfeier Hegels 1870 ein Buch «Hegel als deutscher Nationalphilosoph», in dem die Worte stehen: «Man kann behaupten, dass das System Hegels das nationalste in Deutschland ist, und dass, nach der früheren Herrschaft des Kantschen und Schellingschen, keines so tief in die nationale Bewegung, in die Förderung der deutschen Intelligenz, in die Klärung der öffentlichen Meinung, in die Ermutigung des Willens... eingegriffen hat als das Hegelsche.»

Mit solchen Worten spricht Karl Rosenkranz doch im hohen Grade die Wahrheit über eine Erscheinung des deutschen Geisteslebens aus, wenn auch anderseits Hegels Streben schon in den Jahrzehnten, bevor diese Worte geschrieben sind, bitterste und hohnerfüllte Gegnerschaft gefunden hat, eine Gegnerschaft, deren Anfangsentwicklung bald nach Hegels Tode Rosenkranz selbst mit den bedeutsamen Sätzen gekennzeichnet hat: «Wenn ich die Wut betrachte, mit welcher man die Hegelsche Philosophie verfolgt, so wundere ich mich, dass Hegels Ausdruck: die Idee in ihrer Bewegung sei ein Kreis von Kreisen, noch nicht Veranlassung gegeben hat, sie als den Danteschen Höllentrichter zu zeichnen, der, unten sich verengend, endlich auf den leibhaften Satan stoßen lässt.» (Rosenkranz: Aus meinem Tagebuch. Leipzig 1854. S.42.)

Es kann sehr verschiedene Gesichtspunkte geben, von denen aus man den Eindruck zu schildern versucht, den man von einer Denkerpersönlichkeit, wie Hegel eine ist, gewinnt. An anderer Stelle (in seinem Buche «Die Rätsel der Philosophie») hat der Verfasser dieser Schrift darzustellen versucht, welche Anschauung man über Hegel gewinnen könne, wenn man sein Werk als eine Stufe der philosophischen Entwicklung der Menschheit ins Auge fasst. Hier möchte er nur von dem sprechen, was durch Hegel als eine der Kräfte des deutschen Idealismus in der Weltanschauung zum Ausdrucke kommt. Es ist dies das Vertrauen in die tragende Macht des Denkens. Jede Seite in Hegels Werken ist eine Bekräftigung dieses Vertrauens, das zuletzt in der Überzeugung gipfelt: Wenn der Mensch völlig versteht, was er in seinem Denken hat, so weiß er auch, dass er den Zugang zu einer übersinnlich-geistigen Welt gewinnen kann. Der deutsche Idealismus hat durch Hegel das Bekenntnis zu der übersinnlichen Wesenheit des Denkens abgelegt. Und man kann die Empfindung haben, Hegels Stärken und auch seine Schwächen hängen mit der Tatsache zusammen, dass im Weltenlaufe einmal eine Persönlichkeit dastehen musste, bei der alles Leben und Wirken von diesem Bekenntnis durchseelt ist. Dann sieht man in Hegels Weltanschauung einen Quell, aus dem man schöpfen kann, was an Lebenskraft mit diesem Bekenntnis zu gewinnen ist, ohne vielleicht in irgendeinem Punkte den Inhalt der Hegelschen Weltanschauung für sich anzunehmen.

Stellt man sich so zu dieser Denkerpersönlichkeit, so kann man deren Anregung, und damit die Anregung einer Kraft des deutschen Idealismus empfangen, und mit dieser Anregung die Bestärkung zu einem ganz anderen Weltbilde gewinnen, als das durch Hegel gemalte ist. So sonderbar es klingt: Man versteht vielleicht Hegel am besten, wenn man die in ihm waltende Kraft des Erkenntnisstrebens in Bahnen leitet, die er gar nicht selbst gegangen ist.

Er hat die übersinnliche Natur des Denkens mit aller nach dieser Richtung dem Menschen zur Verfügung stehenden Kraft empfunden. Aber er hat viel Menschenkraft aufwenden müssen, um diese Empfindung einmal durch ein volles Denkerwirken hindurchzutragen, so dass er die übersinnliche Natur des Denkens nicht selbst hatte in übersinnliche Gebiete hinaufführen können. Der treffliche Seelenforscher Franz Brentano spricht in seiner «Psychologie» aus, wie die neuere Seelenkunde wohl in streng wissenschaftlicher Art das gewöhnliche Leben der Seele erforscht, wie dieser Forschung aber der Ausblick in die großen Fragen des Seelendaseins verlorengegangen ist.

«Für die Hoffnungen eines Platon und Aristoteles – sagt Brentano – über das Fortleben unseres besseren Teiles nach der Auflösung des Leibes Sicherheit zu gewinnen, würden dagegen die Gesetze der Assoziation von Vorstellungen, der Entwicklung von Überzeugungen und Meinungen und des Keimens von Lust und Liebe alles andere, nur nicht eine wahre Entschädigung sein... und wenn wirklich» die neuere Denkungsart «den Ausschluss der Frage nach der Unsterblichkeit besagte, so wäre er für die Psychologie ein überaus bedeutender zu nennen.»

Nun, man kann sagen, dass nach Ansicht vieler nicht nur die Wissenschaftlichkeit der Seelenkunde, sondern Wissenschaftlichkeit überhaupt den Ausschluss solcher Fragen zu besagen scheint. Und über Hegels Weltanschauung scheint es wie ein Verhängnis zu schweben, dass sie mit dem Bekenntnis zu der übersinnlichen Natur der Gedankenwelt sich den Zugang in eine wirkliche Welt übersinnlicher Tatsachen und Wesenheiten vermauert hat. Und wer in dem Sinne Schüler Hegels ist, wie etwa Karl Rosenkranz, in dem scheint dieses Verhängnis weiter zu wirken. Rosenkranz hat eine «Seelenkunde» geschrieben. (Psychologie oder Wissenschaft vom subjektiven Geist, von K. Rosenkranz. 1837. 3. Aufl. Königsberg 1863.)

Darin ist in dem Kapitel «Das Greisenalter» zu lesen (S. 119):

«Die Psychologie berührt hier die Frage nach der Unsterblichkeit, ein Lieblingsthema für die Laienphilosophie, oft mit einer vorgefassten Tendenz, ein Wiedersehen nach dem Tode, wie man sich auszudrücken pflegt, zu verbürgen. Ist der Geist als selbstbewusste Idealität qualitativ von seinem Organismus unterschieden, so leuchtet die Möglichkeit der Unsterblichkeit ein. Über das Wie ihrer Wirklichkeit vermögen wir aber nicht die geringste Vorstellung zu haben, die einen objektiven Wert anzusprechen vermöchte. Wir können einsehen, dass, wenn wir als Individualitäten fortexistieren, doch unser Wesen sich nicht zu ändern vermöge, nämlich im Wahren, Guten und Schönen leben zu müssen, allein die Modalität eines von unserem Organismus getrennten Daseins ist ein Rätsel für uns. Warum sollen wir denn hier die Grenze unseres Wissens nicht eingestehen? Warum sollen wir entweder die Möglichkeit der Unsterblichkeit geradezu leugnen, oder warum sollen wir phantastische Träumereien von einem Seelenschlaf, von einem Seelenleibe und ähnlichen Dogmen für Spekulation ausgeben? Wo hier das wirkliche Wissen aufhört, da tritt der Glaube ein, dem es überlassen bleiben muss, wie er sich ein nicht unmögliches Jenseits ausmalt.»

Solche Meinung offenbart Rosenkranz in einer Seelenkunde, die ganz von der Überzeugung durchdrungen ist, ein Wissen von dem zu haben, was der übersinnliche Weltengedanke in dem Wesen der menschlichen Seele zur irdischen Wirklichkeit macht. Eine ganz im Übersinnlichen weben wollende Wissenschaft, die sofort Halt macht, wo sie die Schwelle zur übersinnlichen Welt bemerkt.

Man wird dieser Erscheinung nur gerecht, wenn man in ihr etwas von dem Schicksal empfindet, das über das menschliche Erkenntnisstreben ausgegossen ist, und das in Hegels Weltanschauung so verwoben erscheint, dass sie mit aller Kraft auf die übersinnliche Natur des Denkens eingestellt ist, und um in dieser Einstellung groß zu wirken, die Möglichkeit einer anderen Einstellung für das Übersinnliche verliert.

Hegel sucht zuerst den Umkreis all der übersinnlichen Gedanken, die in der Menschenseele aufleben, wenn diese sich über alle Naturanschauung und alles irdische Seelenleben hinaushebt. Diesen Umkreis stellt er als seine «Logik» dar. Doch enthält diese Logik keinen einzigen Gedanken, der über das Gebiet hinausführte, das von der Natur und dem irdischen Seelenleben umschlossen wird.

Weiter sucht Hegel alle Gedanken darzustellen, die als übersinnliche Wesenheiten der Natur zugrunde liegen. Ihm wird da die Natur zur Offenbarung einer übersinnlichen Gedankenwelt, die in der Natur ihre Gedankenwesenheit verbirgt und sich als Ungedankliches, als das Gegenbild von sich selbst darstellt. Aber auch da finden sich keine Gedanken, die nicht im Umkreis der Sinneswelt sich auslebten.

In der Geistphilosophie stellt Hegel das Walten der Weltideen in der einzelnen Menschenseele, in den Verbänden von Menschenseelen (in Völkern, Staaten), in der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit, in Kunst, Religion und Philosophie dar. Überall auch da die Anschauung, dass in dem Seelischen, wie es mit seinem Wesen und Wirken in der Sinneswelt steht, durchaus die übersinnliche Gedankenwelt sich auslebt, dass also alles im Sinnlichen Vorhandene seiner wahren Wesenheit nach geistiger Art ist. Nirgend aber der Anlauf, mit der Erkenntnis in ein übersinnliches Gebiet zu dringen, für das keine Ausgestaltung im Sinnesreich vorhanden ist.

Man kann sich alles dieses gestehen, und doch den Ausdruck des deutschen Idealismus durch Hegels Weltanschauung nicht in dem Urteil der Verneinung suchen, dass Hegel trotz seines übersinnlichen Idealismus in der Betrachtung der Sinneswelt stecken geblieben ist. Man kann zu einem Urteil der Bejahung kommen und das Wesentliche dieser Weltanschauung in der Tatsache finden, dass hier das Bekenntnis vorliegt: Wer die vor den Sinnen sich ausbreitende Welt in ihrer wahren Gestalt erschaut, der erkennt, dass sie in Wirklichkeit eine Geistwelt ist. (1) Und dieses Bekenntnis zur Geistnatur des Sinnlichen hat der deutsche Idealismus durch Hegel ausgesprochen.


Anmerkungen:

(1) In einem hervorragenden Buche hat Otto Willmann die «Geschichte des Idealismus» behandelt. Er weist mit umfassender Sachkenntnis auf die Schwächen und Einseitigkeiten, welche in die Weltanschauungsentwicklung des neunzehnten Jahrhunderts durch die fortwirkenden Kantschen Fragestellungen und Denkrichtungen gekommen sind. Die in dieser meiner Schrift gegebene Darstellung hat im Weltanschauungsleben des neunzehnten Jahrhunderts diejenigen Triebe und Strömungen aufgesucht, durch welche sich die Denker von jenen Fragestellungen und Denkrichtungen freigemacht haben. Durch welche sie Wege beschritten haben, denen gerade diejenigen gerecht werden könnten, welche aus einer solch umfassenden Anschauung heraus urteilen, wie sie dem Buche Willmanns zugrunde liegt. Manches, was in der neueren Zeit an Kant anknüpfen will, ohne genügende Einsicht in die vorhergehende Weltanschauungsentwicklung, fällt in der Tat in Ansichten zurück, die von Willmann mit Recht in den folgenden Worten charakterisiert werden: dass «nach Aristoteles unsere Erkenntnis von den Dingen anhebe und auf Grund der Sinneswahrnehmungen erst den Begriff bilde ... dass diese Begriffsbildung durch einen schöpferischen Akt geschehe, in dem der Geist das Gedankliche in den Dingen ergreift ... Die sensualistische Plattheit muss noch immer darauf hingewiesen werden, dass das Wahrnehmen sich nicht zum Denken steigern kann, die Empfindungen sich nicht zum Begriff zusammenzuballen vermögen, dass diese vielmehr konstituiert werden müssen, und zwar auf Grund des Gedankens in den Dingen ... der uns allein notwendige und allgemeine Erkenntnis zu geben vermag» (Willmann, Geschichte des Idealismus II, 449). Wer so denkt, kann zu Schellings, zu Hegels Denkrichtung und zu manchem, was gleich ihnen sich abwendet von der «sensualistischen Plattheit», auch vom Standpunkte Willmanns aus verständnisvoll anerkennend sprechen, wenn er sich von gewissen Missverständnissen freimacht, die bei den Bekennern der Willmannschen Denkungsart - in begreiflicher Weise - herrschen. Auch die Zeit wird noch kommen, in der diese Denkungsart nach dieser Richtung hin unbefangener urteilen wird, als dies jetzt der Fall ist. Sie wird dann ebenso recht haben mit ihrer Anerkennung desjenigen, was sich in der neueren Weltanschauungsentwicklung der «sensualistischen Plattheit» entrungen bat, wie sie jetzt recht hat mit der Verurteilung dessen, was dieser und mancher anderen «Plattheit» verfallen ist.

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