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Anthroposophie / trithemius verlag / Jahrbuch 1994 Geisteswissenschaften

Die Geisteswissenschaften und die Anthroposophie – eine vergessene Herausforderung

Von Lorenzo Ravagli

Auszug aus dem Jahrbuch für anthroposophische Kritik 1994.

Die Geisteswissenschaften geraten, seit ihrem geschichtlichen Entstehen, in zyklisch wiederkehrende Legitimationskrisen. Im Verlauf dieser Legitimationskrisen werden diese Wissenschaften nicht nur mit einer fundamentalen Infragestellung ihres Sinnes, sondern auch mit Zweifeln an ihren Methoden, ja sogar an der Existenz oder wissenschaftlichen Erkennbarkeit ihrer Gegenstände konfrontiert. Sie werden nach ih­rem Praxisbezug gefragt, weil an einem solchen gezweifelt, in der Praktikabilität des Wissens aber dessen Legitimation gesehen wird. Deswegen sehen sich die Geisteswissenschaften während ihrer Legitimationskrisen auch genötigt, über die Dienste Auskunft zu geben, die sie für das soziale, politische und ökonomische Leben leisten, wie überhaupt ihre Anwendbarkeit auf dem Prüfstand steht.

Wolfgang Frühwald hat, im Abschlußbericht eines Forschungsprojekts des Deutschen Wissenschaftsrats und der Westdeutschen Rektorenkonferenz1, drei solche Legitimationskrisen in der Geschichte der Geisteswissenschaften identifiziert.

Die erste ortet er in der Gründungsphase der Berliner Universität, als Fichte, Schelling, Hegel und Humboldt mit ihren Beiträgen zur Gestaltung des Bildungsgedankens den Streit der Fakultäten zu beschwichtigen suchten und die Synthesis des Wissens im Dienste der menschlichen Persönlichkeitsentwicklung und der Öffentlichkeit (des Staates) zum Ideal erhoben. Die zweite Krise der Geisteswissenschaften sieht Frühwald um die Jahrhundertwende, in der Zeit des von Experiment, Vererbungs- und Milieutheorie bestimmten Positivismus, die zu einer Suche nach kritischer Begründung der geisteswissenschaftlichen Methoden führte. Die dritte schließlich in der Gegenwart, in der Diskussion über die Zukunft der methodisch pluralen Geisteswissenschaften in einer informatisierten Gesellschaft, die von mathematisierten und anwendungsorientierten Wissenschaften geprägt ist. Diesen dreien wäre allerdings eine vierte hinzuzufügen, nämlich die Krise der deutschen Universität in den 60ger Jahren, als die geisteswissenschaft­lichen Fakultäten durch die ideologiekritisch gesonnene Studentenschaft des Konservatismus und der unkritischen Reproduktion faschistoider Gesellschaftsstrukturen bezichtigt wurden.

In der Gegenwart jedoch geht die Diskussion wesentlich fundamentaler da­rüber, was die Geisteswissenschaften eigentlich sind. Die Frage geht nach ihrem Wesen und nach dem Verständnis, bzw. der Begründung ihrer spezifischen Eigenart inmitten des Kanons der übrigen universitären Fächer, die sich durch die praktische Verwert­barkeit ihrer Forschungsergebnisse legitimieren.

Eine der gegenwärtig diskutierten Thesen über das Wesen der Geisteswis­sen­schaften wird von Odo Marquard vertreten, der in diesen Wissenschaften »Kompensationswissenschaften« sieht.2 Die Wissenschaften des Geistes haben nach Marquard die gesellschaftlichen, lebensweltlichen Schäden der Modernisierung auszugleichen. Dieser Aufgabe kommen sie nach, indem sie von Traditionen erzählen, die sonst von keinen anderen Wissenszweigen gepflegt werden. Dadurch gleichen sie die Geschichts­losigkeit der modernen Welt aus. Denn die verfügungsorientierte, angewandte Wissen­schaft der Neuzeit ist nicht an lebensweltlichen Traditionen interessiert, Naturwissen­schaft und Technik haben einen Mangel an geschichtlichem Bewußtsein herbeigeführt, der in der vollständigen Orientierungslosigkeit von Subjekten mündet, die zwar imstande sind, die Gegenwart zu beherrschen, die aber ihren Beherrschungstechniken keinen anderen als den vorübergehenden Sinn der Befriedigung ihrer subjektiven Bedürfnisse mehr zu geben vermögen. Angesichts dieser prekären Situation, die sich in der voll­ständigen Auflösung des geschichtsbedingten sozialen Bandes der Lebenswelt spiegelt, kommt den Geisteswissenschaften die bedeutende Rolle zu, Geschichten zu erzählen, um die orientierungslos gewordenen Individuen an ihre eigene Vergangenheit zu erin­nern. Aus diesem Grund erzählen sie »Sensibilisierungsgeschichten«, die das menschliche Bedürfnis nach Farbigkeit der Welt befriedigen, das in einer von wissen­schaftlich-technischen Interessen geprägten Lebenswelt nicht berücksichtigt werden kann. Sie erzählen »Bewahrungsgeschichten« und befriedigen damit das menschliche Be­dürf­nis nach Vertrautheit mit den Gegenständen der Welt und den großen Fragen des Daseins. Und sie erzählen »Orientierungsgeschichten«, mit welchen sie ein Angebot an Sinnorientierungen vermitteln, das das menschliche Bedürfnis nach Sinngebung des indi­vi­duellen und gesellschaftlichen Lebens möglicherweise zu befriedigen vermag. Durch die Bewältigung dieser bedeutenden Aufgaben kommt den Geisteswissenschaften eine nicht wegdenkbare Funktion innerhalb des Wissensganzen zu, die auch ihre Legitimie­rung gegenüber den Anwendungswissenschaften darstellt: es ist die Aufgabe der Kom­pen­sation, also der Ersatzbildung für Mängel, die aufgrund einer einseitig verlaufenen kulturellen Entwicklung ausgeglichen werden.

Eine andere, häufig in politischen Diskussionen zu vernehmende These, spricht den Geisteswissenschaften die Aufgabe zu, Orientierungswissenschaften zu sein. Als solche sollen sie wesentlich mehr, als bloß die Akzeptanz einer unmenschlich gewor­denen Welt durch die Befriedigung subjektiver Bedürfnisse zu erhöhen. Sie sollen allge­meine und allgemeinverbindliche Orientierungen vermitteln, die imstande sind, die divergierenden gesellschaftlichen Interessen auf gemeinsame Ziele hin zu bündeln. Sie sollen ein Wissen vermitteln, das das menschliche Handeln in Politik, Wirtschaft, Recht usw. verbindlich regelt. Sie sind verantwortlich für die moralischen, ethischen und religi­ösen Normen, ohne die das Schiff des öffentlichen Lebens unweigerlich der Havarie entgegensegelt.

Jürgen Mittelstraß3, der Mitherausgeber der bereits erwähnten Denkschrift, sieht die Geisteswissenschaften mit dieser Aufgabenstellung allerdings hoffnungslos überfordert. Er lehnt den Gedanken generell ab, daß es Wissenschaften geben könnte, die besonders für die Begründung von Orientierungswissen zuständig seien. Er hält die Geisteswissenschaften deswegen für Kulturwissenschaften. Als solche verschaffen sie der Gesellschaft ein Wissen von sich selbst in Wissenschaftsform. Ihnen kommt also die Aufgabe zu, das gesamte Leben der Gesellschaft in all seinen Formen kritisch zu reflek­tieren, seinen immanenten Sinngehalt, seine verborgene Ausdruckssprache öffentlich zu machen und ein Nachdenken über diesen Sinngehalt zu ermöglichen. Demnach ist der Gegenstand der Geisteswissenschaften kein platonisch verstandener Kosmos von Werten, dessen Verbindlichkeit heute sowieso von niemandem mehr ernstgenommen würde, sondern das kulturelle Ganze als Inbegriff aller Arbeit, aller Lebens- und Wissens­formen.4

Mit dieser Auffassung von Mittelstraß geht weitgehend Theodor Bodammer5 einig. Für ihn sind die Geisteswissenschaften jene Wissenschaften, »denen es interpretie­rend um die Bedeutungsanalyse und um das Sinnverständnis der verschie­de­nen Formen menschlicher Überlieferungen und damit zugleich um das «philosophisch-praktische» Erkenntnisziel des menschlichen Selbstverständnisses geht.«6

All diesen referierten Ansichten gegenüber, die das Wesen der Geistes­wissen­­schaften angesichts ihrer Sinnkrisen bestimmen, indem sie gleichsam an der Oberfläche des Geistes stehenbleiben, möchte ich eine andere These vertreten, die These nämlich, daß die zyklisch auftretenden Legitimationskrisen der Geisteswissenschaften die Folge eines fundamentalen Begründungsdefizits dieser Wissenschaften sind. Dieses Defizit besteht letztlich darin, daß diese Wissenschaften in ihrer Gesamtheit versäumen, die Frage nach der Wirklichkeit des Geistes zu stellen. Diese These sei zunächst historisch illustriert, um sie im folgenden einer systematischen Vertiefung zuzuführen.

Historische Überlegungen zur Entstehung der Geisteswissenschaften

Wenn man geschichtlich argumentiert, dann kann man, gewiß nicht zu Un­recht, behaupten, es habe schon immer Geisteswissenschaften oder zumindest geistes­wissenschaftliche Disziplinen gegeben. Seit es eine abendländische Kultur gibt, seit die griechische Philosophie aus den Schleiern des Mythos hervorgetreten ist, mindes­tens seit Anaxagoras den Begriff des nus in das abendländische Denken eingeführt hat, auf jeden Fall aber seit Plato und Aristoteles, muß von der Existenz der Geisteswissen­schaften aus­ge­gangen werden. Für diese Wissenschaften, also Zweige des menschlichen Erkennens, war der Gegenstand der menschliche, aber auch der übermenschliche Geist und deren Wirkungen in der Menschenseele und im Kosmos. Für Anaxagoras wirkte der nus als kosmischer Ursprung der Bewegung, aber er wirkte ebenso im einzelnen, leben­digen Wesen, als dessen immanentes Prinzip. Der Geist ist für Anaxagoras Grund des Kosmos und der gesamten Ordnung, alles, was Seele hat, ist vom Geist beherrscht, der alles weiß und alles unterscheidet. Insofern das menschliche Erkennen an diesem nus teilhat und ihn erkennt, hat es an seinem Wissen teil. Die anaxagoräische Philosophie ist Wissen­schaft von diesem Geiste. Für Plato ist die Philosophie insgesamt Wissenschaft vom weltschöpferischen, weltgestaltenden Geist, während Aristoteles zu den geisteswis­sen­schaft­­lichen Disziplinen eine Reihe von naturwissenschaftlichen hinzufügt.

Gunter Scholtz7 hat gezeigt, daß im Laufe der Geschichte verschiedene Kon­zeptionen wissenschaftlicher Erkenntnisweisen entstanden, die alle in den modernen Begriff der Geis­teswissenschaften eingeflossen sind. So haben die Geisteswissen­schaf­ten als moralisch-praktische Wissenschaften, die sich auf das ethisch-politische Daseinsfeld beziehen und einen Anspruch auf Handlungsorientierung im öffentlichen und privaten Leben erheben, ihren Ursprung in der platonischen und aristotelischen Philosophie. Platos Interesse ist dem Gerechtigkeitsideal und seiner Verwirklichung in der politeia zugewandt, die nur erreichbar ist, wenn der Geist in den Herrschenden selbst zur Herr­schaft gelangt. Insofern ist die praktische Philosophie der Schulungsweg zur Verwirk­lichung der Herrschaft des Geistes in der Gemeinschaft. Für Aristoteles sind Ethik und Poli­tik als Teile der Philosophie Wissenschaften des praktisch werdenden Geistes.

Versteht man die Geisteswissenschaften aber in erster Linie als sprachliche Wissenschaften, die im Dienst der Bildung des Individuums und der Nation stehen, sieht man sie also als belles-lettres, als schöne Wissenschaften, dann kann man ihren Ursprung bis ins mittelalterliche trivium zurückverfolgen, das sich als eigenständiges Gebiet neben dem mathematisch-naturwissenschaftlichen quadrivium verstand und im Renaissance­hu­ma­nis­mus aus dem Zusammenhang mit jenem loslöste. Im Zuge der Rezeption des antik-klassischen Kulturerbes drängten die humaniora die christliche Theologie zurück und ebneten wiederum den modernen Naturwissenschaften den Weg.

Werden die Geisteswissenschaften aber vor allem als historische Wissen­schaf­ten verstanden, als die Disziplinen, in denen sich das Wissen von der geschichtlich-menschlichen Welt versammelt, dann entspringen sie in der »Sattelzeit« (Kosselleck) des 18. Jahrhunderts, in welcher die große Tendenz der Vergeschichtlichung alles Wissens ihren Anfang nimmt. Vico und Herder begründen die Geschichtsphilosophien, die zu den umfassenden Rahmenerzählungen der historischen Weltsicht werden, die zwar aus der Aufklärung hervorgehen, sie aber zugleich überwinden, indem sie den Gedanken der Entwicklung in das statische Vernunftideal der Aufklärung einführen.

Wir können also auf eine nahezu dreitausendjährige Geschichte der geistes­wissenschaftlichen Erkenntnis zurückblicken, müssen aber zugleich bemerken, daß we­der im Altertum, noch im Mittelalter, noch in der Neuzeit die Legitimität dieser Erkennt­nisform radikal in Frage gestellt wurde. Im Griechentum bis hin zum ausgehenden Helle­nismus war die Philosophie die unbestrittene Königin der Wissenschaften. Zwar lief ihr nach der Begründung der katholischen Theologie diese den Rang ab, aber letztere trat im Mittelalter an die Stelle der Philosophie, die Theologie wurde zur beherrschenden Geisteswissenschaft und übte ihre Herrschaft noch zweifelloser aus, als die Philosophie. Auch in der anbrechenden Neuzeit wurden nicht die Theologie oder die Metaphysik als solche in Frage gestellt, sondern die entstehenden Naturwissenschaften verdrängten sie lediglich aus einem Wissensgebiet, für das sie selbst mit ihren neu entwickelten For­schungs­methoden ausschließlich zuständig sein wollten.

Selbst Descartes, der große Erneuerer alles Wissens, gründete dieses Wissen in umfassenden Gedankenzügen auf philosophische Reflexionen, auf eine Methoden-Metaphysik, durch die er zugleich die traditionellen Erkenntnisinhalte der Metaphysik auf neue, methodisch sichere Grundfesten stellen wollte. Und auch Kant hat die Meta­phy­sik, also die Philosophie als Universalwissenschaft, dem Anspruch nach aufrechterhalten, indem er versuchte, sie aus der praktischen Philosophie, aus dem praktischen Apriori abzuleiten. Er bemühte sich, den klassischen Gegenständen der Geisteswissenschaften, Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, als moralischen Postulaten jene unbedingte Gewißheit zurückzugeben, die sie als Inhalte der theoretischen Philosophie verloren hatten. Erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts ergab sich eine fundamentale Veränderung. Nach der Ero­sion des deutschen Idealismus, nach dem Untergang der Hegelschen Synthese, ging mit dem Anspruch dieser Synthese der letzte Anspruch auf geistige Einheit des Wissens unter. Aus dem Zerfall des absoluten Geistes aber traten die Geisteswissenschaften als Spezial­disziplinen, insbesondere die historisch-philologischen Disziplinen hervor. Mit ihrem Hervortreten im universitären Rahmen entwickelte sich auch die Theorie der Geistes­wissen­schaften. Die universitären Geisteswissenschaften, die ihre Entstehung dem Zer­fall des Hegelschen Geistbegriffs verdankten, beerbten aber nur einen kleinen Teil des idealistischen absoluten Geistes. Das Hegelsche Absolute hatte noch die Gesamtheit des Wissens, auch des natur- und kulturphilosophischen in sich beherbergt. Nun traten aus dem Kosmos dieser Synthesis die Geisteswissenschaften neben die Naturwissenschaften, indem sie zugleich einen verengten Begriff des Geistes zu ihrer Grundlage machten, einen Geistbegriff, aus dem die schöpferische Seite des an-sich-seienden Geistes und die Seite seines naturhaf­ten Außersichseins ausgetrieben waren. Dilthey rechtfertigte diese Entwicklung nachträg­lich in seinem Versuch einer Kritik der historischen Vernunft mit einer Umdeutung des Hegelschen Begriffs des objektiven Geistes. »[...] die Voraus­setzungen, auf die Hegel diesen Begriff gestellt hat, können heute nicht mehr festge­halten werden. [...] Wir müssen heute von der Realität des Lebens ausgehen; im Leben ist die Totalität des seelischen Zusammenhanges wirksam. Hegel konstruiert meta­physisch; wir analysieren das Gegebene. Und die heutige Analyse der menschlichen Existenz erfüllt uns alle mit dem Gefühl der Gebrechlichkeit, der Macht des dunklen Trie­bes, des Leidens an den Dunkelheiten und Illusionen, der Endlichkeit in allem, was Leben ist, auch wo die höchsten Gebilde des Gemeinschaftslebens aus ihm entstehen. So können wir den objektiven Geist nicht aus der Vernunft verstehen, sondern müssen auf den Strukturzu­sammenhang der Lebenseinheiten, der sich in den Gemeinschaften fort­setzt, zurückge­hen. [...] Indem so der objektive Geist losgelöst wird von der einseitigen Begründung in der allgemeinen, das Wesen des Weltgeistes aussprechenden Vernunft, losgelöst auch von der ideellen Konstruktion, wird ein neuer Begriff desselben möglich: in ihm sind Sprache, Sitte, jede Art von Lebensform, von Stil des Lebens ebensogut umfaßt wie Familie, bürgerliche Gesellschaft, Staat und Recht. Und nun fällt auch das, was Hegel als den absoluten Geist vom objektiven unterschied: Kunst und Religion und Philosophie unter diesen Begriff, ja gerade in ihnen zeigt sich das schaffende Individuum zugleich als Repräsentation von Gemeinsamkeit, und eben in ihren mächtigen Formen objektiviert sich der Geist und wird in denselben erkannt. [...] An einem letzten Punkte trennt sich der hier entwickelte Begriff des objektiven Geistes von dem Hegels. Indem an die Stelle der allgemeinen Vernunft Hegels das Leben in seiner Totalität tritt, Erlebnis, Verstehen, historischer Lebenszusammenhang, Macht des Irrationalen in ihm, entsteht das Problem, wie Geschichtswissenschaft möglich sei. [...] Heute aber gilt es, umgekehrt das Gegebene der geschichtlichen Lebensäußerungen als die wahre Grundlage des histo­rischen Wissens anzuerkennen und eine Methode zur Beantwortung der Frage zu finden, wie auf Grund dieses Gegebenen ein allgemeingültiges Wissen der geschichtlichen Welt möglich sei.«8

Indem Dilthey an die Stelle des Hegelschen Vernunftbegriffs den Begriff des Lebens setzte, trieb er der Vernunft zugleich ihren geistig-konkreten Gehalt aus oder konsta­tierte vielmehr den Verlust dieses Gehaltes, ohne jedoch das Ideal eines allgemein­gültigen Wissens aufzugeben. Nur war aus den historischen Objektivationen des Geistes kein allgemeingültiges Wissen zu gewinnen. Denn in den historischen Objektivationen des Geistes stellen sich unbegrenzt viele, sich gegenseitig ausschließende Wahrheitsan­sprüche dar, die alle mit der gleichen Positivität auf ihrem Geltungsrecht beharren. Die Orientierung an den positiven Formen des »objektiven Geistes« führt damit auch zu einer Erosion des Ideals von der universalen Hermeneutik des Sinns. Während Hegels System in seiner trichotomischen Gliederung noch die Gesamtheit des Geistes zu umfassen be­anspruchte, brachen die sich etablierenden Geisteswissenschaften einen Teil des Geistes aus diesem System heraus. Für Hegel stellt die Logik, der erste Teil des Systems, die Ge­danken Gottes vor der Schöpfung dar. Die Naturphilosophie, als der zweite große Teil des Systems, beinhaltet die Darstellung der Formen des außersichseienden Gottesgeistes. Die Philosophie des Geistes schließlich wendet sich der Darstellung des im menschlichen Bewußtsein und in der Philosophie zu sich selbst kommenden Absoluten zu. Indem das Hegelsche System die Totalität der Formen des Geistes in sich schließt, erhebt es den Anspruch, das Wesen Gottes, als den außermenschlichen, im Weltprozeß schöpferisch wirkenden Geist, in der Form der begrifflichen Darstellung zu umfassen. Es will aber ebenso die Gesamtheit des Schöpfungswerkes als das Außersichsein des Weltgeistes begreifen und zeigen, wie der Geist in den Dingen, in allem Daseienden, als immanentes Prinzip, wirksam ist. Der schöpferische Geist hat sein Werk nicht verlassen, er wirkt in ihm, wenn er in der Natur auch nicht zu einem Bewußtsein seiner selbst gelangt, es sei denn, man rechnet den Menschen, wie Hegel dies tut, selbst zu den Gestalten der Natur. Aber er erhebt sich zugleich über die Natur, weil er der Ort ist, in dem der schöpferische Weltgeist zu jenem totalen Wissen seiner selbst findet. Der menschliche Geist wird zum Gegenstand der Philosophie in seiner Verleiblichung in der anthropologischen Abteilung, in seiner Verseelischung in der Phänomenologie des Geistes und der Psychologie und in seiner geschichtlichen und gesellschaftlichen Gestaltwerdung in Recht, Moralität und Sittlichkeit, in Kunst, Religion und Philosophie.

Die geisteswissenschaftlichen Fachdisziplinen brechen sich nun den durch den Menschen zum Objekt gemachten, den in den Schöpfungen des kulturellen und geschichtlichen Lebens Gestalt gewordenen Geist aus der Totalität des Hegelschen Abso­lu­ten heraus und machen ihn zum ausschließlichen Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung. Das heißt, sie verabschieden die Metaphysik, die Hegel dem Allerheiligsten des Wissenschaft betreibenden Volkes wieder zurückgeben wollte. Aus dieser Veren­gung resultiert der Objektivismus der Geisteswissenschaften. Sie beschäftigen sich nur mit den »objektiven« Gegenständen, mit dem in Gesellschaft und Geschichte objektiv gewordenen, mit dem gleichsam zur Erinnerung seiner selbst erstarrten Geist.

Hegel baute seine Wissenschaft des absoluten Geistes auf inneren Gewißhei­ten, auf Selbstevidenzen auf: sie gründete auf der Evidenz der reinen Begriffsent­wik­klung, der sich das historische, empirische Material unterzuordnen hatte, sogar ent­ge­gen dem feststellbaren Verlauf der positiven Geschichte. Der Weltprozeß war für Hegel, insofern er einer Darstellung im Rahmen der Wissenschaft würdig sein sollte, eine Selbsterinnerung des im reinen Denken zu sich selbst kommenden Geistes, der den ge­samten Inhalt seines Wesens bereits in sich trug. Die Hegelsche Philosophie frönte einem rigorosen Apriorismus, auch wenn sie verstohlen schielend gezwungen war, den gesam­ten Inhalt der Welt aposteriori in das Denken aufzunehmen. Aber diese Aufnahme des Weltinhaltes diente lediglich dazu, an den diversen Inhalten zu erweisen, daß sie ein Bild des sich entwickelnden Begriffs sein sollten.

Die Geisteswissenschaften dagegen orientierten sich im 19. Jahrhundert an den konkurrierenden Naturwissenschaften. Dafür ist auch wieder Dilthey geeigneter Zeuge. In seiner Arbeit Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissen­schaften schreibt er über die historische Entwicklung ihrer Methoden: »In der Ausbildung dieser Verfahrungsweisen sind die Geisteswissenschaften überall von den Natur­wissen­schaften beinflußt gewesen. Denn da diese ihre Methoden früher ent­wickelt haben, so hat sich in weitem Umfang eine Anpassung derselben an die Aufgaben der Geistes­wissenschaften vollzogen. An zwei Punkten tritt dies besonders deutlich hervor. In der Biologie sind die vergleichenden Methoden zuerst aufgefunden, die dann auf die syste­matischen Geisteswissenschaften in immer weiterem Umfang angewandt wurden, und experimentelle Methoden, welche Astronomie und Physiologie ausgebildet haben, sind auf Psychologie, Ästhetik und Pädagogik übertragen worden.«9

Die Geisteswissenschaften orientierten sich an den Methoden der Natur­wissen­schaften heißt aber, daß sie sich auch an den paradigmatischen Implikationen dieser Methoden orientierten, insbesondere am Objektivitätsideal. Das Objektivitätsideal der Naturwissenschaften beruht aber seinerseits auf der Voraussetzung, daß die Welt der Erkenntnisgegenstände objektivierbar sei und nur insoweit sie durch Experiment, Sinnesbeobachtung und Überprüfung äußerer Tatsachen objektivierbar ist, soll sie auch erkennbar sein. Die Geisteswissenschaften übernehmen dieses Objektivitätsideal und wollen fortan Wissenschaften von »Tatsachen« (nicht von Spekulationen) sein. Ihre Ge­gen­stände heißen nun »Tatsachen des Geistes«. Tatsachen des Geistes sind für Dilthey »alle von Menschen geschaffenen Gebilde«. »Die Geisteswissenschaften haben als ihre umfassende Gegebenheit die Objektivationen des Lebens. [...] Alles, dem der Mensch wirkend sein Gepräge aufgedrückt hat, bildet den Gegenstand der Geisteswissen­schaften. [...] Jetzt können wir sagen, daß alles, worin der Geist sich objektiviert hat, in den Umkreis der Geisteswissenschaften fällt.«10 In dem Moment, in dem die gewirkten Objektivationen zum Gegenstand der Geisteswissenschaften werden, mag dieser Gegen­stand auch als flüssig und in fortwährender Weiterbildung begriffen vorgestellt werden, treten an die Stelle der inneren, rein begrifflichen Selbstevidenzen der Hegelschen Meta­physik die äußeren Gegebenheiten, die, nach einem Ausdruck Droysens, das historische Mate­rial aller geisteswissenschaftlichen Erkenntnis sind. Diese Materialien vertreten in der Form von Dokumenten, historischen Quellen, Denkmälern und Überresten die objek­tiv überprüfbaren Tatsachen der empirischen Naturwissenschaften. Die Geisteswissen­schaf­­ten wollen ebenso empirisch sein, wie die Experimentalwissenschaften. Sie formen ihren Gegenstand und ihre Methode in Analogie zu den Naturwissenschaften, sie buhlen um deren Anerkennung und verlieren dabei die Spezifität ihres Inhalts aus den Augen.

Diese Entwicklung in Richtung Objektivitätsideal wird von einer zweiten über­lagert, die mit dieser ersten zusammenhängt: von der Vergeschichtlichung der Geis­tes­wissenschaften. In ihrer Vergeschichtlichung, die aus dem Rückgriff auf die objek­tivierbaren, historischen Daten resultiert, verflüchtigen sich die geheimen Dogmatiken der einzelnen Zweige der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis, ihre apriorischen Gewiß­heiten, die ein Erbe der Aufklärung waren. Gunter Scholtz hat in einer bemerkenswerten Studie11 diese Verflüchtigung nachgezeichnet: In der Theologie setzte die historisch-kri­tische Forschung ein, die zu einer Auflösung des historischen Wissens von Jesus und letzt­lich der christlichen Botschaft führte. In der Rechtswissenschaft erwies die histo­rische Rechtsschule den Begriff eines homogenen römischen Rechtes als dogmatische Annahme, die mit der tatsächlichen geschichtlichen Entwicklung nicht in Einklang stand. In der Altphilologie stellte sich die Winckelmannsche Reinzeichnung des Klassischen Al­ter­tums als Wissenschaftsdichtung heraus. Die historische Forschung führte insgesamt zu der Erosion des Fortschrittsdogmas der Aufklärung.

Am Ende dieses Prozesses ist die übergeschichtliche Vernunft mit all ihren apriorischen Gewißheiten, mit ihren zeitlosen Werten und Normen selbst zu einem geschichtlichen Gebilde geworden.

Der Mensch kann sein Wesen nicht mehr aus einer zeitlosen Vernunft und der Vernünftigkeit ihrer Wahrheiten, sondern nur noch aus der Geschichte verstehen. Die philosophische Introspektion wird als Erkenntnismittel der Geisteswissenschaften abgelehnt. Alles wissenschaftliche Erkennen wird stattdessen aus der Struktur des ge­gen­ständlichen Auffassens entwickelt. Der große Diltheysche Ternar: »Ausdruck, Erle­ben, Verstehen« ist ein Versuch, diesen Verzicht auf intuitive Selbsterkenntnis des Geistes zur wissenschaftlichen Methode zu erheben.

Der systematische Begriff der Geisteswissenschaften und seine Begründung in den »Grundlinien einer Erkenntnistheorie...«

Wenden wir uns nach dieser historischen Skizze der systematischen Vertie­fung zu. Mitten in der beschriebenen historischen Entwicklung steht Steiner mit seinem Versuch, die wissenschaftliche Erkenntnis in Akten meditativer Selbsterfassung des den­ken­den Geistes zu begründen. Steiner geht in seinen Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung von einer Untersuchung des menschlichen Erkennens aus. Durch diese Untersuchung weist er den produktiven Anteil des erkennenden Geistes an der Wirklichkeitsbildung nach. Die Wirklichkeit ist dem Menschen nichts äußerlich Gegebenes. Sie kann nicht von außen empfangen werden, weder in der Natur-, noch in der Geisterkenntnis. Ein Denken, das bloß beobachtet, steht zusammenhangslosen Ein­zel­heiten gegenüber. Zusammenhänge sind nicht gegeben, sondern müssen durch das Denken in den gegebenen Weltinhalt erst hineingewoben werden. Der Aufbau von Zusammenhängen ist die Leistung des menschlichen Geistes im Erkennen. Jegliche Form von Zusammenhang ist vom menschlichen Geist mit Hilfe von Begriffen und Ideen, die den Zusammenhang schlechthin darstellen, gestiftet. Die Begriffe und Ideen stellen unhinterfragbare Selbstevidenzen dar, in die die Wahrnehmungsinhalte der Welt ein­gebettet werden. Wenn kein Zusammenhang als bloße Wahrnehmung gegeben ist, dann bedeutet dies, daß die Einheit der menschlichen Person, das Identitätsbewußtsein, keine bloße Wahrnehmungsgegebenheit sein kann, sondern durch Akte des Denkens oder Geistes gestiftet werden muß. Es bedeutet ferner, daß der räumliche Zusammenhang von Gestalten, Dingen und Körpern, keine bloße Wahrnehmungsgegebenheit sein kann, sondern durch ebensolche Akte des Geistes gestiftet wird. Und es bedeutet, daß auch der zeitliche Zusammenhang von Bewegungen, Vorgängen, Geschehnissen und Entwic­klungen keine bloße Wahrnehmungsgegebenheit sein kann, sondern durch Akte des Geistes gestiftet sein muß.

Die Beobachtung dieser zusammenhangstiftenden Akte ist aber nur in einer meditativen Bewußtseinsverfassung möglich, zu der die Untersuchungen in den Grund­linien... hinführen wollen, auch wenn sie keine konkreten Anweisungen zu ihrer Ent­wicklung geben. Diese meditative Bewußtseinsverfassung unterscheidet sich erheb­lich vom gewöhnlichen Bewußtsein des Alltagsmenschen. Das gewöhnliche Bewußtsein des Alltags lebt in den Ergebnissen der zusammenhangstiftenden Akte, ohne diese Akte selbst anzuschauen. Da es sie nicht anschaut, hat es auch kein Bewußtsein von ihnen. Es lebt in den Folgen seiner eigenen intelligiblen Akte, ohne sich dessen bewußt zu sein. Das gewöhnliche Bewußtsein ist selbst ein Produkt der Wirksamkeit des Geistes, ohne ein Wissen von dieser Wirksamkeit zu haben. Es entsteht aus der Wirksamkeit eines ihm übergeordneten Geistes, eines Denkens, das noch nicht zum Anschauungsinhalt dieses Bewußtseins geworden ist. Deswegen ist er aber nicht minder wirksam. Gegenüber dem gewöhnlichen Bewußtsein ist dieser zusammenhangstiftende Geist überpersönlich oder übermenschlich, weil er das Hervorgehen des individuellen Persönlichkeitsbewußtseins aus seiner fließenden Gestaltungskraft bewirkt und selbst nicht erschöpfend in diesem Bewußtsein aufgeht. Das gewöhnliche Bewußtsein geht demnach mitsamt seiner Wirk­lichkeit aus der Wirksamkeit eines überpersönlichen Geistes hervor. Dieser überper­sön­liche Geist ist solange überpersönlich, als er nicht zum Anschauungsinhalt des mensch­lichen Bewußtseins geworden ist, das heißt, solange das gewöhnliche Bewußt­sein nicht die transzendentalen Akte seines eigenen, überpersönlichen Geistes zum Inhalt seines Er­kennens gemacht hat.

Der überpersönliche Geist wirkt in differenzierter Weise, dem gewöhnlichen Bewußtsein transzendent, in der Konstitution der Welt dieses Alltagsbewußtseins. Ge­nauer gesprochen lassen sich drei Formen des überpersönlichen Geistes, drei Arten von geistigen Wesen unterscheiden.

Die erste stiftet das Identitätsbewußtsein der Alltagspersönlichkeit, den Zu­sam­menhang der Einzelwahrnehmungen der Person, der Erinnerungen dieser Person. Sie überbrückt die durch den Schlaf bedingte Diskontinuität des Bewußtseins, indem sie die vergangenen Bewußtseinsinhalte mit den gegenwärtigen zu einer Einheit zusam­men­schließt. Die für Kant unerklärliche transzendentale Einheit der Apperzeption, die Syn­thesis der Vorstellungen in der Einheit des Selbstbewußtseins, findet hier durch die geistige Beobachtung der einheitstiftenden Akte des überpersönlichen Geistes ihre Erklä­rung. Die charakterisierten Akte des überpersönlichen Geistes können dem mensch­lichen Engel zugeschrieben werden.

Das Wirken dieses überpersönlichen Geistes des einzelnen Menschen mani­festiert sich auch in anderen Bereichen des individuellen Lebens. So etwa in der Chiffren­schrift des persönlichen Schicksals, die der Biographie ablesbar ist. Alles Einzelne, das dem Menschen widerfährt, Begegnungen mit Menschen, Ereignisse, die Erkenntnis­pro­zesse in Gang setzen, die Reifungsprozesse auslösen, kann von der Tiefenher­meneutik des Schicksals als Zeichen einer Schicksalssprache gedeutet werden. Der Engel, der unan­geschaute, überpersönliche Geist des Einzelmenschen, stiftet die individuelle zeitliche Einheit des menschlichen Lebens, zu der auch der in der Zukunft liegende Anteil des mensch­lichen Geistes gehört, den sich das empirische Subjekt noch nicht zum Bewußt­sein gebracht hat.

Die Wissenschaft, die sich mit der empirischen Persönlichkeit und ihrer trans­zendentalen Konstitution befaßt, nennt Steiner Psychologie. Ihr Gegenstand ist der mensch­liche Geist als tätiges Wesen, das heißt als Wesen, das spezifische Konstitutions­leistungen vollbringt. In dieser Wissenschaft vom konstitutiv wirkenden Menschengeist sind alle moralisch-praktischen und ethischen Wissenschaften fundiert, die sich auf das Handeln des individuellen Geistes und dessen Gesetzmäßigkeiten beziehen. Sie bein­haltet eine Biographik als Schicksalswissenschaft. In ihr erscheint die individuelle Bio­graphie als Dialog des Menschen mit seinem Engel. Die Sprache dieser Biographie soll tiefenhermeneutisch gelesen werden. Die individuelle Existenz des Einzelmenschen ist durch den Engel mit allen vergangenen und künftigen Verkörperungen seines Geistes verknüpft, als dessen Metamorphosen unter Einbezug seiner irdischen Schicksale sie sich darstellen. Von dieser tiefenhermeneutischen Biographik aus läßt sich eine spirituelle Tiefenpsychologie denken, die auf der Erforschung der Beziehung des Menschen zu sei­nem Engel beruht. Sie hat aus der Art dieser Beziehung die Konfiguration des indi­vidu­ellen Schicksals, die Entstehung von Krankheit und Unglück, sowie die übrigen Um­stände des Geschicks zu verstehen.

Eine zweite Form des Geistes, die in der Konstitution des gewöhnlichen Be­wußt­seins unbeobachtet wirksam ist, stiftet den Zusammenhang des Raumes, in dem das gewöhnliche Bewußtsein sich vorfindet. Diesem verdankt es also den Aufbau von Gegenständen und die Einordnung seines Wahrnehmens in räumliche Dimensionen. Ebenso ist die Einordnung des Menschen in den geographisch-klimatischen Zusammen­hang seines Lebensschauplatzes, in den er geboren wird, in dem er aufwächst, der zu einem unbewußten (vergessenen) Bestandteil seiner Person, seines Charakters, seiner Gewohnheiten wird, auf das Wirken dieses Geistes zurückzuführen. Der Mensch gehört durch Geburt, Kindheit und Jugend einer Menschengemeinschaft an, mit der er den Schau­platz seines Lebens teilt und mit der er durch die Geschichte seiner Kindheit verbun­den ist. Er ordnet sich, ohne dies bewußt zu vollbringen, in landschaftlich, sprachlich und kulturell geprägte Eigentümlichkeiten ein, die sich nicht auf seine individuelle Person beschränken, sondern, die er mit den Angehörigen seiner Familie, seines Stammes oder Volkes gemeinsam hat. Die Stiftung dieses Zusammenhangs des einzelnen Individuums mit der sprachlich-kulturell bedingten, durch Traditionen übernommenen und über­mit­tel­ten Intersubjektivität, zu der die Muttersprache ebenso gehört wie die sprachlich sedi­mentierte Vorstellungswelt, verdankt das einzelne Individuum einem geistigen We­sen, das Steiner als Erzengel, als Volksgeist, bezeichnet. Der Erzengel umfaßt nicht bloß einen Einzelmenschen und die Metamorphosen seiner irdischen Existenzen, er umfaßt eine Viel­zahl von Menschen, die durch die genannten typischen Eigentümlichkeiten gekenn­zeich­net sind, und die vor allen Dingen durch die Zugehörigkeit zu ihrem sie gemeinsam inspirierenden Geist geprägt sind.

Im Gegensatz zu den Autoren der historischen Schule (Savigny, Grimm, Dil­they) versteht Steiner den Volksgeist nicht bloß als Idee oder als Abstraktion aus einer Summe empirischer Beobachtungen. Der Begriff des Volksgeistes wird vielmehr aus der geistigen Beobachtung des reellen Wirkens des Volksgeistes in den beschriebenen trans­zendentalen Konstitutionsleistungen gewonnen.

Die Wissenschaften, die im Zusammenhang mit dem Wirken der Volksgei-ster in Betracht kommen, sind die Volkskunde, die Staatswissenschaften und die Völker­psy­chologie. Sie werden von Steiner in den Grundlinien... beispielhaft, stellvertretend für die übrigen, dargestellt. In der Beobachtung des Wirkens der Volksgeister sind aber auch alle sprachlichen Wissenschaf­ten (Philologien) und die gesellschaftlichen Wissenschaften (Soziologie, Ökonomie, Rechts­wissenschaft) fundiert.

Gegenstand der Volkskunde und der Staatswissenschaft ist die Volksindi­vidualität, die Vernunftorganisation des einzelnen Volkes, das unsterbliche geistige Indi­vi­du­um, in das die einzelnen menschlichen Individuen eingebettet sind. Aus der Erkennt­nis dieses unsterblichen Individuums ist die dem jeweiligen Volk angemessene Verfas­sung zu entwickeln, die den Volksorganismus sinnvoll gliedert und den Einzelnen seinen Platz im Ganzen finden läßt. Insofern hängen mit den Wissenschaften, die aus der Er­kenntnis des Volksgeistes hervorgehen, auch die Bildungs- und Erziehungswissen­schaf­ten zusammen, die die Volksangehörigen aus der verschiedenartigen typischen Konstitu­tion zum Ideal des allgemein-menschlichen Lebens emporbilden sollen.

Schließlich kann von einer dritten Form des überpersönlichen Geistes gespro­chen werden, die in der Konstitution der Welt des gewöhnlichen Bewußtseins wirksam ist. Sie stiftet die Einordnung des einzelnen Individuums in den universellen zeitlichen Zusammenhang des Weltgeschehens, ebenso wie das empirische Bewußtsein ihr die Kon­­sti­tution von Bewegung und Entwicklung verdankt.

Das einzelne Individuum findet sich immer schon im geschichtlichen Zusam­men­hang vor, in dem es heranwächst. Es hat nicht nur an seiner individuellen Lebensge­schichte teil, sondern auch an der Geschichte der Gattung, der es ebenso angehört, wie dem Volk, aus dem es herauswächst. Auch die einzelnen Volksindividualitäten sind in den epochalen Zusammenhang der Geschichte eingebettet, der sie alle umgreift. Die einzelnen Individuen und die Volksindividualitäten konkurrieren mit ihren jeweiligen Eigentümlichkeiten im geschichtlichen Horizont um Dominanz. Der epochale Rahmen der Geschichte umfaßt die gesamte Menschheit und schließt sie zum Subjekt der Univer­salgeschichte zusammen.

Diesen universellen, geschichtlich-zeitlichen Horizont, der sich in einzelne, singuläre Epochen differenziert, stiften die Zeitgeister. Der singuläre Charakter der Epochen, der die gesamte Menschheit umgreift, und nicht auf einzelne geographische Schau­plätze beschränkt ist, geht auf deren Wirksamkeit zurück. Auch der Zeitgeist ist kei­ne Abstraktion, sondern eine wesenhafte geistige Realität, die in den zeitlichen Konstitutionsleistungen des überpersönlichen Geistes beobachtbar ist.

Die Wissenschaft, die sich mit dem geistigen Inhalt der Epochen befaßt, ist für Steiner in den Grundlinien... die Geschichte. Er lehnt hier die kausale Betrachtung der Geschichte, wie sie von Herder gepflegt worden ist, der von Naturgesetzen der Ge­schichte gesprochen hat, ebenso ab, wie das Sprechen von Ideen, die in der Geschichte wirken (Ranke, Humboldt) oder das Sprechen von abstrakten, sittlichen Mächten (Droysen). Ihren geistigen Inhalt erhalten die einzelnen aufeinanderfolgenden Epochen durch die Intentionen und Ideale der handelnden Individuen, der Persönlichkeiten, die den Gang der Geschichte bestimmen.

Fragt man danach, warum bestimmte Individuen mit bestimmten Ideen zu bestimmten Zeiten auftreten, fragt man, wo diese Ideen herstammen, mit deren Hilfe die einzelnen Menschen geschichtsgestaltend wirken, fragt man nach dem Sinn, dem telos der Geschichte, dann kann diese Fragestellung zur Beobachtung der Zeitgeister führen, die die Anlässe für das Bewußtwerden solcher Ideen herbeiführen, die bestimmte Menschen zu bestimmten Zeiten zur Inkarnation leiten, um geschichtsgestaltende Para­digmenwechsel zu ermöglichen. Die Beobachtung der Gesetzmäßigkeit, nach der sich die allgemeinen Bewußtseinsbedingungen des menschlichen Lebens wandeln, führt zur Idee einer Bewußtseinsgeschichte, in der die Signatur des Zeitgeistwirkens ansichtig wird. In der Beobachtung des Wirkens dieser Zeitgeister sind letztlich alle ge­schichtli­chen Wissenschaften, ist die geschichtliche, genetische Betrachtungsweise fun­diert.

Die Untersuchungen in den Grundlinien... versuchen die Geisteswissen­schaften auf die Wirklichkeit des Geistes zurückzubeziehen. Erst durch den Einbezug die­ser Wirklichkeit des Geistes wäre das anhaltende Begründungsdefizit der Geistes­wissen­schaften zu beheben, an dem diese in ihren zyklisch wiederkehrenden Legiti­mationskrisen leiden. Auf dem Hintergrund dieses Rückbezugs auf die Wirklichkeit des Geistes könnten sie auch ihre verlorene Orientierungsfunktion neu gewinnen, sie könn­ten damit ihr eigentliches Wesen, Freiheitswissenschaften oder Emanzipationswissen­schaften zu sein, erst richtig entfalten.

Für Steiner sind die Geisteswissenschaften Freiheitswissenschaften. Sie füh­ren den Menschen durch Selbstaufklärung in Akten der meditativen Selbsterfassung auf den Weg der Emanzipation vom Geist, der in ihm wirkt, ohne daß er ein Bewußtsein davon hat. Sie führen ihn vom Leben in den Produktionen des Geistes zur Anschauung des produzierenden Geistes, zur Erkenntnis der Engel, als der individuellen Schicksals­geister, aber auch der Volks- und Zeitgeister. So wie die goetheanistische Naturwissen­schaft von der natura naturata zur natura naturans, zur schöpferischen, geistigen Natur führt, so die goetheanistische Geisteswissenschaft vom intellectus ectypus, der sich bloß mit den überlieferten Inhalten der Traditionen befassen kann, zum intellectus archetypus, der selbst schöpferisch an der Gestaltung der künftigen Wirklichkeit teilzunehmen ver­mag.

Aus der Erfassung des Real-Geistigen ergeben sich erweiterte Begriffssys­teme, die in der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft als Modellvor­stel­lungen oder heuristische Prinzipien fungieren, von denen die Forschung auf den ein­zelnen Fachgebieten geleitet werden kann, auch wo keine originären Beobachtungen des Real-Geistigen vorliegen.

Anmerkungen:

1) Wolfgang Frühwald: Humanistische und naturwissenschaftlich-technische Bildung: die Erfahrung des 19.Jahrhunderts, in: Geisteswissenschaften heute. Eine Denkschrift, Frankfurt 1991, S.73f.

2) Odo Marquard: Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien, Stuttgart 1986.

3) Jürgen Mittelstraß: Die Geisteswissenschaften im System der Wissenschaft, in: Geisteswissenschaften heute, a.a.O., S. 15f.

4) Ebenda, S.43.

5) Theodor Bodammer: Philosophie der Geisteswissenschaften, München 1987.

6) Ebenda, S.118.

7) Gunter Scholtz: Zwischen Wissenschaftsanspruch und Orientierungsbedürfnis. Zu Grundlage und Wandel der Geisteswissenschaften, Frankfurt 1991.

8) Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Frankfurt 1981, S.183-85.

9) A.a.O., S.156.

10) A.a.O., S.179/80.

11) Gunter Scholtz: Zwischen Wissenschaftsanspruch und Orientierungsbedürfnis, a.a.O., S.44f.

12) Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, S.98.


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