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Anthroposophie / trithemius verlag / Jahrbuch 1997 Fundamentalismus

Fundamentalismus und Aufklärung in der Anthroposophie

1. Der Geist der Neuzeit und der »Streit der Anthroposophen«

Seit einiger Zeit wird in der anthroposophischen Öffentlichkeit ein Streit ausgetragen. Daß in der »anthroposophischen Bewegung« gestritten wird, ist nichts Neues. Insbesondere in ideenorientierten Gesinnungsgemeinschaften scheint das Element des Streites zum notwendigen Lebenselement zu gehören.[1]

Seit dem Beginn der Neuzeit, seit der Emanzipation des Individuums in der abendländischen Geschichte, spätestens seit der Aufklärungszeit und ihrem Programm der Versöhnung der Menschheit durch die Vernunft ist die Frage nicht mehr, ob die Konkurrenz von Wahrheitsansprüchen eine Existenzberechtigung hat, sondern wie man das Zusammenleben der Menschen trotz dieser Konkurrenz ermöglicht. Die Diskussionen der Neuzeit über soziale Utopien sind von der Entdeckung der normativen Individualität geprägt. Die Festschreibung der individuellen und kollektiven Freiheitsrechte in den modernen Verfassungen ist Ausdruck der Erkenntnis der Aufklärung, daß kollektive Wahrheitsansprüche, wenn sie sich mit der Macht des Faktischen verbünden, zu barbarischen Auseinandersetzungen führen müssen. Aber auch die individuellen Wahrheitsevidenzen dürfen kein Recht auf die Einsicht der anderen beanspruchen.[2]

Neu ist allerdings, daß dieser »Streit der Anthroposophen« in der Öffentlichkeit ausgetragen wird. Die »anthroposophische Bewegung« zeichnete sich in der Vergangenheit durch eine Strategie der Konfliktvermeidung aus. Es galt das unausgesprochene Gesetz, Divergenzen nicht offen auszutragen, sondern sie zu verschweigen und um so mehr im Verborgenen zu handeln. Gleichzeitig erhielt man nach außen die Maske der Einheit und Verbrüderung aufrecht. Wer nicht die herrschende Meinung vertrat, wurde verfemt oder noch schlimmer und weitaus wirksamer: er wurde totgeschwiegen.

Siebzig Jahre nach dem Tode der überragenden Gründergestalt (1925) beginnen überlieferte Selbstverständlichkeiten abzubröckeln, beginnen unausgesprochene Gesetze thematisierbar und angreifbar zu werden. Mag sein, daß zu dieser Entwicklung auch das Jahrbuch für anthroposophische Kritik etwas beigetragen hat. Denn wenn eine Gemeinschaft von Menschen, wenn eine »geistige Strömung« von unausgesprochenen Selbstverständlichkeiten, von unreflektierten Erwartungen und Tabus beherrscht wird, dann waltet in ihr nicht der Geist der Freiheit, sondern der Geist der Knechtschaft.

Der Geist der Freiheit ist immer zuerst ein Geist, der die Seelen trennt, weil er sie auf ihre individuelle Verschiedenheit zurückverweist, weil er ihnen bewußt macht, wovon sie beherrscht sind, bevor er sie zu ihrem freien Selbstbewußtsein führt. Einsamkeit und Freiheit sind korrelative Begriffe. Eine Gemeinschaft, die auf individueller Freiheit beruht, kann nur eine Erkenntnisgemeinschaft sein, weil die Ideen der Gemeinschaftsbildung bewußt sein müssen. Insofern beruht jede Erkenntnisgemeinschaft auf freien Entschlüssen derer, die sie bilden.

2. Das Problem der Interpretation der Gründergestalt

Gestritten wird gegenwärtig – worum anders könnte es gehen? – um das Verständnis und die Interpretation des Stiftungsmythos. Jede idealistische Gesinnungsgemeinschaft besitzt und hütet als ihren kostbarsten Schatz einen Stiftungsmythos. In der Gemeinschaft werden Berichte und Erzählungen tradiert, die die legitimen Interpretationen dieses Stiftungsmythos enthalten. Der Verlauf der Zeit nagt aber auch an der Selbstverständlichkeit dieser Erzählungen und an der Rolle der Erzähler. Neue Generationen beginnen die Überlieferung und die Überlieferer in Frage zu stellen. Es wäre unnatürlich, wenn nicht die Befreiung der Individuen und die Emanzipation des kritischen Bewußtseins sich auf die tradierten Legitimationserzählungen auswirken würden.

Die an der Anthroposophie Rudolf Steiners orientierte Gemeinschaft beginnt heute aus dem Schlaf ihres »mythischen Zeitalters« zu erwachen, in dem sie seit dem Beginn dieses Jahrhunderts träumte. Das überragende Charisma der Gründergestalt, dessen Glanz und Größe lange Zeit die Geister in Bann hielt, beginnt zu verblassen. Fragen tauchen auf wie: Was ist ein Eingeweihter? War Rudolf Steiner von Geburt an ein Eingeweihter oder wurde er es erst im Laufe seines Lebens? Wenn ja oder nein oder sowohl als auch: was bedeutet dies für das Verständnis der Anthroposophie und das Verständnis ihrer Aufgabe?

Das Auftauchen dieser Fragen setzt kritische Distanz gegenüber den Gründungserzählungen voraus. Diese kritische Distanz wiederum setzt bei denen, die von ihren naiven Identifikationen mit dem Gründungsmythos leben, emotive Kräfte frei. Die naiven Identifikationen verweigern das Gespräch, ja sie hindern ihre Besitzer daran, undurchdachte Vorstellungen in Frage zu stellen. Der Rückfall in überkommene Formen des Konfliktaustrags, die sich jenseits der individuellen Freiheit und des individuellen Verstehens bewegen, droht. Der Dämon der Macht und der Gaukelgeist der Lüge erheben ihre Häupter. Innerhalb des »mainstream« der anthroposophischen Bewegung beginnt sich eine Differenzierung abzuzeichnen: Aufklärung in der Anthroposophie oder Rückfall in das präneuzeitliche Bewußtsein. Die Anthroposophie, die angetreten ist, den individuellen Menschengeist zu seiner völligen Emanzipation zu führen (»an Gottes Stelle den freien Menschen«)[3], gerät in Gefahr zu verwehen. Marodeure ziehen gleichsam umher, die den Schatz hemmungslos plündern oder diebisch vermindern und mit ihren Marketenderinnen das zu Unrecht angeeignete Gut verprassen. Selbsternannte oder von andern berufene »Hohepriester« erscheinen, die die wahre Lehre verkündigen und gegen allen Widergeist antreten, der nicht vom Bewußtsein der bevorstehenden Verklärung ergriffen ist. Das Ende des Jahrtausends naht und die Sehnsüchte aller möglichen Sektierer suchen am ungeeignetsten Ort ihre Befriedigung.

Der Streit geht um die Gestalt des Gründers. Die verschiedenen Positionen sind markiert, die Auseinandersetzung hat begonnen, ist aber noch lange nicht zu ihrem Ende gekommen, solange die einzelnen Parteien glauben, sie könnten in die Zeit des Religionszwangs zurückkehren und den anderen vorschreiben, was sie zu glauben haben. Das Problem besteht darin, daß die individuell erlebten Evidenzen für andere nicht verbindlich sein können, so wahr sie auch sein mögen. Nicht umsonst weben die Angeloi den Freiheitsgedanken in die Tiefen der neuzeitlichen Seele.

Ich referiere kurz einige Hauptpositionen im gegenwärtigen Streit. Zuerst die Position der konstruktiven Aufklärung. Christoph Lindenberg schreibt in Individualismus und offenbare Religion (Stuttgart 1995, vgl. S. 130), dem Buch, dessen Neuerscheinen die Polemik Reuvenis im Goetheanum (10/1995) veranlaßte: Rudolf Steiner beginne mit dem, was er im menschlichen Bewußtsein, im menschlichen Erleben und Denken vorfinde. Er schiele nicht auf anderes hin, das er von außen aufgenommen habe. Er gehe seinen Weg, indem er die »tiefsten Menschenkräfte aus dem Inneren heraus« entfalte. Er weise alles Vorwissen, alle Offenbarung und Spekulation zurück. Er gehe als Zeitgenosse seinen Weg. Dieser führe ihn auch durch die Prüfung des Anti-Christentums eines Nietzsche. Er schreite aber durch diese Prüfung hindurch, überwinde den Nietzscheanismus, lasse den Keim des Christlichen reifen, der erst im Jahr 1903 aufgehe. Steiner sei im Vertrauen auf die gottgegebenen Kräfte, die sich im Menschen offenbarten, durch den Abgrund und aus ihm hervorgegangen. »Derselbe oder ein Verwandelter? Wer will das entscheiden? Aber jedenfalls einer, der seinen Weg von da an mit Riesenschritten fortsetzte.« Lindenberg vertritt die Auffassung, daß Steiner nicht wie ein präformiertes Vollkommenheitswesen aus dem Mutterschoß entsprungen und daraufhin unberührt und unbetroffen von allem Menschlichen seinen Weg gewandelt sei, ein Geistesheld und »Quasi-Gott«. Lindenberg vertritt, unbelastet von Spekulationen über okkulte Genealogie, die Auffassung, daß ein Eingeweihter des 19. und der folgenden Jahrhunderte durch das Nichts des Menschlichen hindurchgehen müsse, wenn er sich wahrhaft als Eingeweihter bezeugen wolle. In seinem Buch versucht Lindenberg akribisch, die innere (seelische) Entwicklung Steiners nachzuzeichnen, die zu jenem Durchbruch an Einsicht und Erfahrung führte, der es zuläßt, Steiner als Eingeweihten zu bezeichnen.

Eine verwandte und doch weniger konstruktive Position entwickelte 1991 David Hoffmann in seinem Buch Zur Geschichte des Nietzsche-Archivs. Er faßt seine detaillierten Faktenrecherchen wie folgt zusammen: »Obwohl Steiner bis zu seinem Lebensende an einer bruchlosen Kontinuität seiner Anschauungen festgehalten hat, ist der Wechsel von der ausdrücklichen Übereinstimmung und innigen Verbundenheit mit Nietzsche zur weltanschaulichen Distanzierung und moralisch-metaphysischen Kritik unübersehbar, so daß man hier, wo nicht von einem Bruch, so doch mindestens von einer tiefgreifenden Wandlung Steiners sprechen muß.« (S. 523) Hoffmann zeigt in seinem Buch nicht nur Steiners Wandlungen, wenn nicht gar »Brüche«, er weist auch seine Irrtümer und Erinnerungstäuschungen nach (S. 181-187). Von Hoffmann wird detailliert chronologisch und dokumentarisch rekonstruiert, daß die Behauptung in Steiners Mein Lebensgang, er sei durch den Besuch beim kranken Nietzsche in Naumburg zu seinem Buch Friedrich Nietzsche – ein Kämpfer gegen seine Zeit inspiriert worden, nicht stimmen kann, weil Steiners einzige Nietzschebegegnung am 22. Januar 1896 stattfand, sein Nietzschebuch aber im Frühjahr 1895 erschienen ist. Hoffmann: »Merkwürdig ist auch der Pleonasmus der wahren Tatsache. Vielleicht erfolgte angesichts der starken Erinnerungen an den kranken Nietzsche und an das engagierte Nietzsche-Buch eine unbewußte Zusammenziehung dieser zwei Eindrücke in einen kausalen Zusammenhang.« (S. 187) Auf S. 185 wird die z.T. wörtliche Übereinstimmung der Passage aus Mein Lebensgang (GA 28, S. 252-254), die vom Besuch beim kranken Nietzsche handelt, mit der Notizbucheintragung vom 22.Januar 1896 hervorgehoben. Hoffmanns Ausführungen legen die Vermutung nahe, Steiner habe auf diese Notizbucheintragung zurückgegriffen, als er die entsprechende Passage in Mein Lebensgang schrieb. Wieso hat Steiner dann aber die zeitliche Divergenz nicht bemerkt?

Das Bedenkenswerte an der entsprechenden Passage in Mein Lebensgang besteht darin, daß Steiner sich auf eine übersinnliche Beobachtung beruft, aus der sein Nietzschebuch hervorgegangen sein soll, was aber nachweislich falsch ist. Nach seiner ausführlichen Schilderung des Besuches beim kranken Nietzsche und der übersinnlichen Schau seines Geistes schreibt Steiner: »Ich konnte in meinen Gedanken nur stammeln, von dem, was ich damals geschaut; und das Stammeln ist der Inhalt meines Buches Nietzsche, ein Kämpfer gegen seine Zeit. Daß das Buch nur ein solches Stammeln geblieben ist, verbirgt die aber doch wahre Tatsache, daß das Bild Nietzsches es mir inspiriert hat.« (Mein Lebensgang, S. 190, Tb; S. Eisenhut – siehe weiter unten im Abschnitt Epikritik – hat zu Recht darauf hingewiesen, daß beim Zitieren dieses Textes ein Komma unterschlagen wurde. Ich habe diesen Fehler korrigiert.) Steiner konnte damals nicht aus der Schau des Geistes des Umnachteten schreiben, weil er diesen noch gar nicht in der von ihm beschriebenen Form geschaut hatte. Damit ist Steiners Glaubwürdigkeit in Frage gestellt, um eine Formulierung Heisterkamps in Info3 aufzugreifen. Sie ist aber dadurch keineswegs generell in Frage gestellt. Vielmehr zeigt der referierte Nachweis nur, daß auch Steiner, der Eingeweihte, des Irrtums fähig war – auch noch im Jahr 1924. Dabei braucht der Irrtum nicht mehr als eine Erinnerungstäuschung zu sein. Steiner glaubte, nachdem er sich an seine Schau erinnerte, er hätte sein Buch aus diesem Erlebnis heraus verfaßt. Daß er die Schau tatsächlich hatte, braucht nicht bezweifelt zu werden. Nur ist für jemanden, der »den Eingeweihten« für unfehlbar hält, der Nachweis eines einzigen Irrtums eine Infragestellung der gesamten Glaubwürdigkeit. Ich würde im Gegenteil sagen, daß ein solcher Nachweis die Glaubwürdigkeit des Eingeweihten erhöht. Denn ein vollkommen unfehlbarer und irrtumsfreier Mensch ist weniger glaubwürdig, als ein sich irrender »Eingeweihter«.

Hoffmann legte seine Untersuchungen 1991 vor. Damals ertönte merkwürdigerweise kein erregter Aufschrei. Auch nicht als Albert Vinzenz in einer Rezension des Buches von Hoffmann in Die Drei (1992, S. 243 f.) auf Dunkelstellen im Leben Steiners hinwies und schrieb: »Steiner darf ein ernsthaftes Bemühen um Aufrichtigkeit nicht abgesprochen werden, er wollte Gesichtverluste möglichst verhindern. Nur die Quellenlage ist so, daß er nicht in allen Punkten rehabilitiert werden kann [...] In diesem Schmierenstück wird Steiner an einer Stelle durch Wortbrüche der Elisabeth Förster-Nietzsche in eine Lage gedrängt, wo er sich nur noch mittels undurchsichtigen, um nicht zu sagen, lügenhaften Äußerungen rehabilitieren konnte [...] Mit Hoffmann sollten wir Steiner ernst nehmen und damit die Möglichkeit des Irrtums weder Steiner noch der Anthroposophie von vornherein absprechen«.

Eine ganz andere, nämlich die fundamentalistische Position entwickelte Sergej O. Prokofieff in seiner Apotheose des neuen Quasi-Gottes Rudolf Steiner und die Grundlegung der neuen Mysterien (Stuttgart 1982, Dornach 1986; zitiert nach der zweiten Auflage). Steiner opferte nach Prokofieff sukzessive eine Reihe seiner Wesensglieder, um am Ende dem Opfertod Christi nachzufolgen. An diese Opfertaten kann die anthroposophisch orientierte Gemeinschaft anknüpfen und sich auf die Apokalypse Prokofieffs stützen, wenn sie sich zur Rettung der Menschheit berufen fühlt. »Sanguis martyrorum semen ecclesiae«, hieß es vor sechzehn Jahrhunderten. Für Prokofieff und die übrigen Vertreter dieser Auffassung konnte es für Steiner keine wirklichen Anfechtungen oder Bewußtseinslücken geben. Allwissend schritt er durch die Welt und nahm alle Arbeiten auf sich, wie ein moderner Herkules. Nach Prokofieff mußte der präformierte Eingeweihte in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts in die Haut des Drachen schlüpfen, um den Drachen zu überwinden. Er mußte sich in das Denken Haeckels und Nietzsches so einleben, daß Außenstehende ihn für einen materialistischen Haeckelianer und einen antichristlichen Nietzscheaner hielten. »Er war weder das eine noch das andere. Er mußte nur diesen schweren Erkenntnisweg bis zum Schluß gehen, um bei der Begegnung mit Ahriman ihn schließlich mit seiner eigenen Waffe zu besiegen.« (S. 49)

Reuveni wirft Lindenberg im Goetheanum (10/1995, S. 125f.) den Willen vor, die Biographie Steiners »bis zur Unkenntlichkeit zu entstellen.« Er konstruiert gegen Ende seines in Stil und Inhalt tendenziösen und diffamierenden Pamphlets den Gegensatz zwischen einer »vorigen Generation«, die ihre »Berührungsangst vor der geistigen Gestalt Rudolf Steiners« mit dem Dogmatismusvorwurf gegen andere kaschiere. Reuveni sieht sich offenbar als Vertreter einer jüngeren Generation, die endlich Ernst mit dem Geist macht. Er wirft Lindenberg Unwissenschaftlichkeit und einen Dogmatismus der Äußerlichkeit vor, weil er nachzuweisen suche, daß Steiner sich auf seinem Lebensweg und in seiner Erkenntnisentwicklung gewandelt habe. Reuveni geht von einer Vorstellung des »Eingeweihten« aus, die die Möglichkeit von Wandlungen in der geistigen Entwicklung dieses Eingeweihten offenbar ausschließt. Reuveni glaubt, Lindenberg zweifle daran, daß Steiner ein Eingeweihter gewesen sei, ja, er wolle dieses Initiatentum schlechthin ad absurdum führen. Stattdessen geht es Lindenberg darum, sich zu fragen, wie man sich das Eingeweihtentum zu denken hat. Lindenberg wirft die Frage nach dem Wesen und der Verstehbarkeit des Eingeweihten auf, Reuveni hält schon das Aufwerfen dieser Frage für eine Infragestellung der Sache an sich.

Ganz ähnlich sieht den Sachverhalt offenbar Heisterkamp im Info3 (7/8, 1995, S.4): In der »Lindenberg-Kontroverse“ gehe es um eine für die Zukunft des Werkes Steiners entscheidende Frage, weil mit dessen Glaubwürdigkeit die Gründungssubstanz der Anthroposophie selbst auf dem Spiel stehe. Die Alternative »altmodische Autoritätsgläubigkeit« oder »moderne Kritik am Menschen Steiner« sei eine falsche Polarisierung. Lindenberg stelle die Glaubwürdigkeit Steiners und auch wesentliche Resultate geisteswissenschaftlicher Forschung in Frage, weil er zu zeigen versuche, daß Steiner seine Auffassungen im Laufe der Jahre bis hin zum völligen Gegenteil geändert habe (Christus, Reinkarnation, Nietzsche).

Allerdings läßt Heisterkamp offen, was er unter der »Gründungssubstanz der Anthroposophie« versteht. Der Begriff erinnert an den Begriff des Gnadenschatzes (thesaurus gratiae), den die katholische Kirche zu verwalten beanspruchte. So wie diese aus der »Substanz des Heiligen Geistes« schöpfen wollte, könnte auch die Anthroposophische Gesellschaft aus einem thesaurus der spirituellen Substanz zu schöpfen beanspruchen, um aus dem Sukzessionsstrom ihren Geltungsanspruch gegenüber der untergehenden Welt abzuleiten. Dieses Gedankenmotiv hat in der Geschichte der Anthroposophischen Gesellschaft seit dem Tode Rudolf Steiners immer wieder für Unfrieden gesorgt. Heisterkamp wäre zu fragen, wieso die Glaubwürdigkeit Steiners oder wesentliche Resultate der geisteswissenschaftlichen Forschung in Frage gestellt werden, wenn sich herausstellen sollte, daß Steiner genauso des Irrtums oder der Wandlung fähig war, wie andere Menschen auch. Selbst wenn Steiner tatsächlich vor der Jahrhundertwende die Reinkarnation abgelehnt haben sollte, könnte er ja zu neuen Einsichten gelangt sein. Die Passage aus Mein Lebensgang (3. Kapitel), die Reuveni im Goetheanum gegen diese Interpretation Lindenbergs anführt, ist dafür kein Gegenbeweis. Denn, daß Steiner eine geistige Welt als Wirklichkeit schaute, daß sich ihm mit aller Anschaulichkeit an jedem Menschen seine geistige Individualität offenbarte, daß er den gestorbenen Menschen auf seinem Weg in die geistige Welt weiter verfolgte, braucht nicht zu bedeuten, daß Steiner bereits eine wissenschaftliche Erkenntnis der Tatsachen und Gesetze von Reinkarnation und Karma gefunden hatte. Selbst wenn er von der Ewigkeit des Menschengeistes aufgrund der spirituellen Erfahrung überzeugt gewesen ist, könnte es sein, daß er zu diesem Zeitpunkt noch keine Erfahrung der Reinkarnation dieses ewigen Menschengeistes hatte. Es wäre ja denkbar, daß Steiner imaginative und sogar inspirative Erfahrungen der menschlichen Individualität besessen hat, daß er aber noch nicht das intuitive Bewußtsein im engeren Sinne ausgebildet hatte, das allein eine sachgemäße Erforschung der Tatsachen von Reinkarnation und Karma ermöglicht (Geheimwissenschaft im Umriß, S. 359, Tb). Da Steiner aber, wie beim Christentum auch, ablehnen mußte, was er nicht selbst erfahrungswissenschaftlich zu begründen vermochte, könnte er die herrschenden Vorstellungen über Reinkarnation und Unsterblichkeit genauso verworfen haben wie das »konfessionelle Christentum«.

Wie ich bereits in meinem Aufsatz über Nietzsche und Steiner – der so viel Aufregung und so wenig Nachdenken hervorgerufen hat – skizziert habe (Novalis 2/1995, S. 23f.; jetzt im vorliegenden Jahrbuch, S. 48f.), stellt gerade die Wandlung des Verhältnisses, das Steiner zu Nietzsche hatte, eine dokumentierbare tatsächliche Wandlung dar, weil man sonst nämlich annehmen müßte, Steiner habe durch sein Nietzschebuch Propaganda für Ahriman machen wollen. Oder wie läßt es sich rechtfertigen, daß ein Eingeweihter, der das Wesen des Geistes erkannt hat, der in Nietzsche wirkte, ein Buch schreibt, in dem er diesem Geist einen grandiosen Hymnus singt? Wenn er denn tatsächlich in die Haut des Drachen schlüpfen mußte und vollkommen durchschaute, daß es der Drache war, in dessen Haut er schlüpfte, warum mußte er dann diese Drachenbezwingung in einem Buch dokumentieren, das nicht unbedingt Zeugnis von einer solchen Drachenbezwingung ablegt, sondern eher davon, daß er sich zum Fürsprecher der übersteigerten Weltsicht eines geistig verwirrten Romantikers machte?[4]

Wenn man die verschiedenen Interpretations- und Handlungsmöglichkeiten einander gegenüberstellt, wird die Beschränktheit einer fundamentalistischen Interpretation erst bewußt. Nur indem man auch das Gegenteil von dem denkt, was man zu denken geneigt ist, prüft man die eigene Wahrheitsevidenz und befreit die eigene Einsicht vom Zwang der Emotionen oder Vorurteile. Wenn für mich unvorstellbar ist, daß ein Eingeweihter sich irren oder wandeln kann, dann sollte ich gerade das für mich Unvorstellbare denken. Ich werde dadurch dem Wesen des Eingeweihten sowie meiner eigenen Einweihung näher kommen, als wenn ich an meiner fixen Vorstellung von seiner Unwandelbarkeit festhalte. Und vice versa.

Oder ganz anders gewendet: Was, wenn das Problem darin bestünde, daß Steiner tatsächlich nicht zugeben konnte oder wollte, daß er die Dinge früher anders gesehen hat? Wenn er zum Beispiel hervorhebt, daß er vor der Jahrhundertwende bei seiner Polemik gegen das Christentum stets das konfessionelle Christentum vor Augen hatte, was implizite voraussetzt, daß er von diesem konfessionellen ein unkonfessionelles unterschied – warum machte er dann in seiner Polemik diese Unterscheidung nicht? Warum sagte er zum Beispiel nicht: Wenn ich gegen das Christentum und seine Jenseitsvorstellungen polemisiere, dann bin ich mir bewußt, daß es daneben ein anderes Christentum gibt, ein lebendiges, unmittelbares, das nicht auf dem Dogma der Offenbarung, sondern auf der Erkenntniskommunion beruht? Könnte man angesichts dieser Polemik und Steiners Enthaltsamkeit im Hinblick auf theologische Fragestellungen vom argumentum e silentio Gebrauch machen, das besagt, wenn jemand über etwas so offensichtlich schweige, dann deshalb, weil er etwas verschweige? Andererseits: Wenn Steiner von dem »Gewahrwerden der Idee in der Wirklichkeit« als der »wahren Kommunion des Menschen« (1887) spricht, was ist denn diese Kommunion? Eine Metapher, ein schönes Bild, eine Wortfloskel? Wenn sich das menschliche »Denken der Idee bemächtigt«, um mit dem »Urgrunde des Weltendaseins« zu verschmelzen, wenn Steiner 1887 schreibt: »Was die Philosophen das Absolute, das ewige Sein, den Weltengrund, was die Religionen Gott nennen, das nennen wir, aufgrund unserer erkenntnistheoretischen Erörterungen: die Idee« (Einleitungen ..., S. 162), dann ist dies die philosophische Rede von jenem Göttlichen, das jenseits des Offenbarungsdogmas liegt.

Wenn Steiner 1887 formuliert: »Die erhabenste Gottesidee bleibt doch immer die, welche annimmt, daß Gott sich nach Schöpfung des Menschen von der Welt zurückgezogen und den letzteren ganz sich selbst überlassen habe« (Einleitungen ..., S. 125), dann ist dies eine philosophische Aussage, in der Steiner ein zentrales Gedankenmotiv des englischen Deismus aufgreift. (Lindenberg zitiert übrigens diese Passage in seiner Studie nicht.) Diese deistische Aussage steht in einem spannungsreichen Kontrast zu anderen, an Gedankenformen der Hegelschen oder Schellingschen Philosophie erinnernde, pantheistische oder panentheistische Formulierungen, die Steiner im selben Jahr (1887) veröffentlicht hat: »Der Weltenlenker hat sich seiner Macht begeben, hat alles an den Menschen abgegeben mit Vernichtung seines Sonderdaseins, und dem Menschen die Aufgabe zuerteilt: wirke weiter« (Einleitungen ..., S. 200). Und schließlich die auch von Lindenberg zitierte aus den bereits 1886 erschienenen Grundlinien ...: »Der Weltengrund hat sich in die Welt vollständig ausgegossen; er hat sich nicht von der Welt zurückgezogen, um sie von außen zu lenken, er treibt sie von innen; er hat sich ihr nicht vorenthalten. Die höchste Form, in der er innerhalb der Wirklichkeit des gewöhnlichen Lebens auftritt, ist das Denken und mit demselben die menschliche Persönlichkeit.« In der Folge findet sich übrigens der Satz: »Hat somit der Weltengrund Ziele, so sind sie identisch mit den Zielen, die sich der Mensch setzt.« (S. 125)

In diesen philosophisch-theologischen Aussagen sind natürlich auch implizit Theorien über das Christentum – sei es nun konfessionell oder nicht – enthalten. Man könnte angesichts der widersprüchlichen Formulierungen fragen: Ist der Weltengrund nun in die Welt eingegangen oder nicht? Vertritt er einen Transzendentalismus oder einen Immanentismus? Offensichtlich rang Steiner in diesen Jahren um eine adäquate Ausdrucksform für seine Ideen. Steiners Denken kreist in dieser Zeit um die beiden Hauptprobleme: Wesen des Erkennens und Charakter des menschlichen Handelns. Dort geht es um die Wirklichkeit, hier um die Sittlichkeit und Freiheit. Der Begriff der Wirklichkeit ist im Grunde eine Metamorphose des Gottesbegriffs. Was Steiner die Wirklichkeit nennt, nannte Hegel das Absolute. Der Bezug auf den deutschen Idealismus, insbesondere auf Schelling, wird unübersehbar, wenn Steiner schreibt, daß der Mensch in seinem Denken mit der Wirklichkeit »in ihrer höchsten Potenz« eins werde. Der Mensch wird für Steiner zum »Vollender des Weltprozesses«, zum Fortschöpfer dessen, was der Weltengrund an Gestaltung seiner selbst offen gelassen hat. Wenn Steiners ganzes Denken um das Erkennen und die Konstitution der Wirklichkeit kreist, dann kreist sein Denken im Grunde um eine urtheologische Fragestellung: Wie kann sich der erkennende Mensch zum Absoluten in Beziehung setzen? Da er seinen individualistischen Erfahrungsstandpunkt konsequent durchführt, kann weder das Absolute noch die Wirklichkeit dem erkennenden Individuum gegeben sein. Vielmehr ist dem Menschen die Wirklichkeit aufgegeben. Das Absolut-Wirkliche hat für den Menschen aufgehört, als ein vorgegebenes zu existieren und ihm die Aufgabe gestellt: Wirke Du weiter. Deswegen wendet sich Steiner gegen das Dogma der Offenbarung, – das ist der systematische Ursprung seiner Polemik gegen die Offenbarungsreligionen. In der Ethik weist er den Lenkungsanspruch von sittlichen Autoritäten aus eben diesem Grund zurück. Die Freiheitsidee aber ist eine Metamorphose des Heilsmotives. Heil und Heiligung entspringen aus der menschlichen Individualität, wenn sie sich denkend dazu aufschwingt, ihre empirische Natur mit der Kraft und dem Licht der Idee zu durchdringen. In der Idee lebt das präexistente, transzendente Gottesreich fort, von dem die Theologie der Verstandes-Seele gesprochen hat. Aber dieses Gottesreich ist hier bei uns, in uns und unter uns, wenn wir einander begegnen. Es ist das Reich der freien Geister, in dem wir leben, weben und sind.

Man sieht: die philosophischen Werke Steiners bergen viele Fragen und werfen viele Fragen auf. Lauter Fragen, die einer gründlichen Diskussion bedürften, jenseits aller persönlichen Verunglimpfungen, die aus undurchschaubaren Intentionen entspringen, jenseits aller obrigkeitlichen Bevormundung, die Argumente durch existenzgefährdende Tathandlungen[5] ersetzt. Daß keine sektiererische Gemeinschaft den Anspruch darauf erheben kann, allein zu dieser Diskussion legitimiert zu sein, ist klar. Es kann in diesem Sinne keine wahre Lehre geben. Nicht nur das literarische Frühwerk Steiners, sein gesamtes Lebenswerk ist ein unablässig Werdendes, sich Veränderndes, in Wandlung Begriffenes. Durch die un­ab­­lässige Wandlung der Ausdrucksformen und des fokussierten Ideengehaltes legt dieses Lebenswerk Zeugnis von seiner Verbundenheit mit dem lebendigen Geist ab. An diesen Geist gälte es in der wissenschaftlichen Diskussion anzuknüpfen, denn: »nur wer sich wandelt, bleibt mit mir verwandt.«

Epikritik

Zu welch bemerkenswerten exegetischen Leistungen sich Steiners Interpreten veranlaßt sehen, wenn sie versuchen, ihr Dogma von der Unfehlbarkeit Steiners aufrechtzuerhalten, zeigt die Auseinandersetzung von Stephan Eisenhut in den Mitteilungen aus der anthroposophischen Arbeit in Deutschland Heft 3 und 4 1996.[6] In seinem ersten Beitrag legt er ein beachtliches Beispiel philologischer Kritik vor, das darin gipfelt, mir eine falsche Gesinnung[7] vorzuwerfen, in seinem zweiten ein Beispiel philosophischer Fehlinterpretation, in der ich zu einem Popperianer[8] werde, weil ich in einem Nachruf auf Popper versucht habe, die Bedeutung des von diesem beleuchteten Falsifikationsprinzips für das Studium der Anthroposophie hervorzuheben.

Zunächst fällt in Eisenhuts Beiträgen ein grundlegender Widerspruch auf. Eisenhut hält mit seiner »kritischen Überprüfung« meiner Interpretation meine These vom Irrtum Steiners für »falsifiziert«. (S. 234) Da er das Poppersche Verständnis des wissenschaftlichen Forschungsprozesses generell ablehnt, müßte er auch das Falsifikationskriterium ablehnen. Es dürfte für ihn also gar keine Möglichkeit geben, eine Aussage oder These anhand von Beobachtungen zu falsifizieren. Indem er aber das Falsifikationskriterium auf meine These anwendet, gesteht er die Anwendbarkeit dieses Kriteriums zu. Dadurch setzt er sich aber zu sich selbst in Widerspruch. Wie läßt sich dieser Widerspruch erklären? Liest man seine Ausführungen genauer, wird einem deutlich, daß er offenbar einen generellen Unterschied zwischen Steiner und anderen Wissenschaftlern (mich eingeschlossen) sieht. So »absurd« es ihm erscheint, »Steiner im Sinne des »kritischen Rationalismus« testen zu wollen« (S. 228), so anwendbar scheint ihm offenbar dieses Verfahren auf mich. Die »kritisch-distanzierte Haltung zu einer Aussage«, die Poppers Falsifikationslehre angeblich fordert, lehnt er gegenüber Steiner ab, wendet sie aber auf mich an. Warum Eisenhut in diese widersprüchliche Haltung verfällt, erklärt oder begründet er nicht. Sie ergibt sich aber konsequent aus seiner Auffassung des »Führerprinzips.« (Eisenhut schreibt »geistige Führerschaft« und »Führungsprinzip«, S. 326) Offenbar ist Steiner für ihn als geistiger Führer oder Lehrer eine so überragende und singuläre Gestalt, daß durch ihn das Falsifikationskriterium außer Kraft gesetzt wird und vor ihm der Verstand still steht. An die Stelle des Prinzips der Falsifikation tritt bei Eisenhut Steiner gegenüber das Autoritätsprinzip. Von Steiner, der für Eisenhut offenbar die überragende geistige Autorität ist, kann er »Wahrheit entgegennehmen« (S. 324), Wahrheit, die mitgeteilt wird. Hier erhebt sich aber wieder ein grundlegendes Problem. Woher weiß Eisenhut, daß Steiner eine geistige Autorität ist? Woher weiß er, daß das, was Steiner mitteilt, Wahrheit ist? Man möchte hier an den Ketzer Scotus Eriugena erinnern: Wahre Autorität geht aus der Vernunft hervor, und ohne Vernunft kann es keine Autorität geben. Das heißt, Eisenhut muß ja irgendwie zu seiner Meinung gekommen sein, Steiner sei eine Autorität, die Wahrheiten mitteile, die man einfach entgegennehmen kann. In seinem zweiten Aufsatz, in dem Eisenhut sein geistiges Führungsprinzip gegen das Poppersche Falsifikationskriterium ins Feld führt, versucht er, dieses Prinzip durch Steinerzitate zu begründen. Man kann aber das Autoritätsprinzip nicht begründen, indem man sich auf die Autorität beruft, die man erst begründen will. Genau das tut aber Eisenhut. Wenn man die autoritative Geltung der von Eisenhut zitierten Passagen (S. 326) aus Die Stufen der höheren Erkenntnis nicht voraussetzt, bleibt kein einziges Sachargument übrig, warum es nötig sein sollte, gegenüber irgend jemandem auf die Anwendung des Falsifikationskriteriums zu verzichten. Es ist übrigens amüsant zu sehen, daß Eisenhut, der mit seiner tiefgründigen Anspielung auf »säuselnde schwüle Südwinde« (S. 328) mich offenbar in die Nähe irgendeines zweifelhaften Obskurantismus rücken will, in ein klassisches katholisches Argumentationsmuster verfällt: Das Wirken des Hl.Geistes erkennt man durch den Glauben. Der Glaube wird durch den Hl.Geist bewirkt. Die Tatsache des Glaubens beweist das Wirken des Hl.Geistes. Da Eisenhut Sachargumente durch den Autoritätsbeweis ersetzt, mag ihm mit der Autorität, die er anerkennt, geantwortet werden. (Die Hinweise auf die Fundstellen verdanke ich z.T. G. Röschert.)

Vortrag vom 25.3.1907, gehalten in Berlin, GA 96: Die Veränderung des alten Einweihungsprinzips im Hinblick auf das neuzeitliche Bewußtsein erfordert das »völlige Durchbrechen jenes alten Autoritätsprinzips.«

Vortrag vom 01.01.1909, gehalten in Berlin, GA 107, über »Hindernisse für okkulte Untersuchungen«: »Vor allen Dingen müssen Sie sich vor Augen halten, daß Hellsehen nicht etwas ist, wo sich irgendeiner hinsetzt und in einen besonderen Zustand kommt und dann sagen kann, was in der ganzen Welt bis in die höchsten Welten hinauf vorgeht. So liegen die Sachen nicht. Wer das glauben würde, der würde ebensosehr gescheit denken wie derjenige, der da sagen würde: Du hast doch die Fähigkeit, in der physischen Welt wahrzunehmen; es ist dir aber doch gar nicht aufgefallen, und du hast gar nicht gesehen, als die Uhr zwölf war und du hier in dem Zimmer saßest, was um zwölf Uhr draußen an der Spree sich zugetragen hat? – Es gibt doch Hindernisse des Sehens. [...] Es ist nicht so, daß bloß durch den Entschluß, sich in den nötigen Zustand zu versetzen, nun auch alle Welten gleich offenliegen. Auch da muß der Betreffende erst zu den Dingen gehen und die Dinge untersuchen, und diese Untersuchungen, um die es sich da handelt, gehören zu den schwierigsten Dingen, weil da die größten Hindernisse entgegenstehen.«

Vortrag vom 17.6.1910, gehalten in Oslo, GA 121: »Schlecht wäre es für die Geisteswissenschaft, wenn derjenige, der noch nicht in das geistige Gebiet hineinschauen kann, auf blinden Glauben hin annehmen müßte, was gesagt wird. Ich bitte Sie, [...] nichts auf Autorität und Glauben hinzunehmen, was ich jemals gesagt habe oder sagen werde. Es gibt, auch bevor der Mensch die hellseherische Stufe erreicht, die Möglichkeit, dasjenige zu prüfen, was aus hellseherischer Beobachtung heraus gewonnen wird.“ »Darauf rechne ich, daß die Mitteilungen, welche aus dem Rosenkreuzermysterium heraus gemacht werden, nicht geglaubt, sondern geprüft werden [...]“

Vortrag vom 8.1.1911, gehalten in Frankfurt a.M, GA 127: »Gerade unsere geisteswissenschaftliche Bewegung sollte die Menschen zu freiem Urteilen aufrufen, sollte hinwegfegen alles, was bloß auf äußeren Autoritätsglauben hin herrscht. Solange in der Gesellschaft noch das Gefühl herrscht, es käme auf den Mund an, durch den gesprochen wird, solange ist noch nicht unser Ideal erreicht.“

»[...] es geht durch unsere Zeit ein starker Zug, den man nennen kann: Bequemlichkeit in Bezug auf den Glauben. Durch die Bequemlichkeit des Glaubens werden der geisteswissenschaftlichen Bewegung große Hindernisse geschaffen.“

Vortrag vom 17.6.1912, gehalten in Hamburg, GA 130: »Christian Rosenkreutz verlangt nie irgendwelchen Personenkultus und sieht darauf, daß die Lehren dem Verstande nahegebracht und eingesehen werden.“ »[...] ist es Pflicht, stets seine Vernunft zu Rate zu ziehen und nichts auf Autorität hin für wahr zu halten. Viel bequemer ist es natürlich, auf Personenkultus zu schwören, denn die Vernunft muß man sich erarbeiten. Nur die, welche prüfend dem gegenüberstehen, was aus den geistigen Welten gegeben wird, können Christian Rosenkreutz die Treue halten.“

Vortrag vom 31.10.1912, gehalten in Berlin, GA 62: In diesem öffentlichen Vortrag zum Thema Wie widerlegt man Geistesforschung? befaßt sich Steiner u.a. mit der verbreiteten Leichtgläubigkeit, mit Autoritätssucht und Scharlatanerie.

Vortrag vom 21.11.1912, gehalten in Berlin, GA 62: »[...] sollte die üble Gewohnheit, die so sehr die Wege zur übersinnlichen Erkenntnis verlegt, ganz und gar bei denen ausgetilgt werden, welche an solche Erkenntnis herantreten wollen: daß man den Geistesforscher, der in die geistige Welt hineinzuschauen vermag, deshalb, weil er dies kann, für eine besondere Autorität, für etwas Besonderes hält. Dadurch wird Autoritätsglaube und eine blinde Anhängerschaft hervorgerufen, die schon schlimm genug sind auf anderen Gebieten, die aber am allerschlimmsten sind auf dem Gebiete geisteswissenschaftlicher Forschung [...]«

Vortrag vom 18.10.1915, gehalten in Dornach, GA 254: »Niemals sollte die Phrase auftreten, daß Wahrheiten nur aufgenommen werden, weil ich sie sage! Wir würden uns gegen die Wahrheit versündigen, wenn wir so etwas sagten. Es mag etwas auf Vertrauen beruhen; das kann aber niemals zum Grundsatz gemacht werden, weil es eine Grundlage sein soll, die jeder für sich behalten sollte, weil ein anderer vielleicht besser den Weg gehen könnte: nicht auf Vertrauen hinzunehmen, sondern zu prüfen.«

Vortrag vom 20.5.1917, gehalten in München, GA 174a: »Für die Lehre braucht man dies nicht, denn sie kann geprüft werden. Nur für manche Dinge, die sich auf Einrichtungen beziehen, ist manchmal Vertrauen notwendig.“

Vortrag vom 2.5.1918, gehalten in München, GA 174a: Es ist »notwendig, daß man die Beweglichkeit des Geistes entwickle, die es ermöglicht, aus dem Sektiererischen herauszukommen zu einer weltmännischen Erfassung dessen, was in unserer geisteswissenschaftlichen Strömung darinnen sein soll.“ »Mit dem Autoritätsglauben geht es bei uns gar nicht, nur mit dem Aneignen eines freien, selbständigen Urteils.“

Vortrag vom 23.3.1921, gehalten in Stuttgart, GA 324: »Wir fürchten uns nicht vor dem Verifizieren. Wir haben nur einige Sorge vor demjenigen, was an unsere Anschauung sich heranmacht, ohne daß es prüft, ohne daß es sich einläßt gerade auf die Prüfung der Einzelheiten. Je sorgfältiger man prüfen wird, desto beruhigter können wir mit unserer Geistesforschung sein.“

Diese Zitate wurden hier nicht etwa angeführt, um sachliche Argumente zu ersetzen, sondern um nachzuweisen, daß sich Eisenhut, wenn er das Autoritätsprinzip als Erkenntniskriterium einführt, sich in Widerspruch zu seiner Autorität stellt. Daß er das Autoritätsprinzip als Erkenntniskriterium einführt, geht daraus hervor, daß er es für möglich hält, »eine Wahrheit von einer geistigen Autorität entgegenzunehmen« (S. 324). Im Interesse des Schutzes der Bewußtseins-Seele möchte man erwidern: jede Wahrheit, die man von einer Autorität entgegennimmt, wird dadurch zur Unwahrheit. Schon die platonische Anamnesisdiskussion macht deutlich, daß man Wahrheit nicht entgegennehmen, sondern nur hervorbringen kann. Die Untersuchungen Steiners in den Grundlinien ..., in Wahrheit und Wissenschaft und in der Philosophie der Freiheit weisen die Richtigkeit der platonischen Anamnesislehre nach. Eisenhuts Kriterium der wissenschaftlichen Erkenntnis setzt sich aber auch in Widerspruch zu den von ihm selbst angeführten Steinerzitaten. Eisenhut zitiert aus dem Lebensgang folgende Passage: »Steht man in der geistigen Welt darinnen, so läßt man das »Richtige« eines Standpunktes gelten. Man sieht eine photographische Aufnahme von einem »Standpunkt« als etwas Berechtigtes an. Man frägt dann nach der Berechtigung und Bedeutung des Standpunktes.« (S. 231) Genau dies ist aber die von Eisenhut verfemte »kritisch-distanzierte Haltung zu einer Aussage«. Man sieht eine Aussage oder einen Standpunkt zunächst als etwas Berechtigtes an, d.h. man geht von deren hypothetischer Geltung aus. Dann fragt man nach der Berechtigung und Bedeutung dieser Aussage oder dieses Standpunktes. Man prüft also Aussage und Standpunkt mit Hilfe des eigenen Denkens an den Beobachtungen oder an anderen Aussagen und Standpunkten. Steiner beschreibt hier nichts anderes als die Methode der Falsifikation.

Es gibt noch weitere Widersprüche in Eisenhuts Auslassungen. Er wirft mir vor, daß die Berufung auf eine Erkenntnisgemeinschaft (scientific community) mich nicht schütze gegen das »Wiedererstarken einer Moraltheologie«, daß ich scheinbar »eine sittliche Ordnung« kenne, »anhand der die »Erkenntnisgemeinschaft« die sittlichen Urteile überprüfen kann.« (S. 327) Gleichzeitig wirft er mir aber einen gänzlichen Mangel an Verständnis für die moralischen Aspekte des wissenschaftlichen Forschungsprozesses vor. Er wirft mir also einerseits den Einbezug moralischer Kriterien in den Forschungsprozeß vor, betont aber selbst die Bedeutung dieser moralischen Kriterien für den Forschungsprozeß. Er interpretiert eine Aussage von mir dahingehend, daß »nicht die Individualität des Forschers« für »den objektiven Forschungsprozeß von Bedeutung« sei, »sondern rein äußere Anforderungen«. (S. 325) Eisenhut »wundert sich nicht«, daß ich »mit keiner Silbe auf den Hochschulvermerk« einginge, der den »Zugang zum wissenschaftlichen Gespräch« »von der persönlichen Integrität des einzelnen Wissenschaftlers abhängig« mache, »insofern man diese Integrität als den Ausdruck der moralisch-geistigen Entwicklungsstufe der jeweiligen Persönlichkeit anschaut« (S. 326). In einer Anmerkung zitiert er die von ihm gemeinte Passage der Statuten der Anthroposophischen Gesellschaft: »Als Manuskript für die Angehörigen der freien Hochschule für Geisteswissenschaft, Goetheanum, gedruckt. Es wird niemand für die Schriften ein kompetentes Urteil zugestanden, der nicht die von dieser Schule geltend gemachte Vor-Erkenntnis durch sie oder auf eine von ihr selbst als gleichbedeutend anerkannte Weise erworben hat. Andere Beurteilungen werden insofern abgelehnt, als die Verfasser der entsprechenden Schriften sich in keine Diskussion über dieselben einlassen.« (S. 326) Dieser Vermerk enthält nun aber rein gar nichts von »persönlicher Integrität« oder moralisch-geistiger Entwicklung«. Er enthält im Grunde eine Selbstverständlichkeit, nämlich den Hinweis darauf, daß Beurteilung von Sachverhalten Urteilskompetenz voraussetzt und daß Urteilskompetenz auf Vor-Erkenntnis beruht. Wer keinen Begriff von der Infinitesimalrechnung besitzt, kann über diese kein Urteil fällen. Das hat mit persönlicher Integrität oder moralisch-geistiger Entwicklung nichts zu tun, sondern ist eine rein logische Bedingung. Es ergibt sich aus der Hierarchie der Begriffswelt und der Systematik des Erkennens, daß nur derjenige über Inhalte urteilen kann, der die Voraussetzungen einer solchen Urteilsbildung erfüllt. Der Hochschulvermerk ist also denkbar ungeeignet, die von Eisenhut hervorgehobene Notwendigkeit und bei mir vermißte Erfüllung von Gesinnungstreue zu begründen. Gemäß seiner eigenen »Moraltheologie« wirft er mir aber eine falsche, ja unmoralische Gesinnung vor. Er weiß nicht nur, daß meine Gesinnung falsch ist (S. 236), er weiß auch, wo mein moralisches Problem liegt. Ich kann, als kritischer Rationalist, der ich nach Eisenhuts Meinung bin, »kein Vertrauen in die menschliche Individualität«, »keine Devotion gegenüber Gedanken entwickeln« (S. 327) Ich mißbrauche Theorien (wahrscheinlich die Wahrheiten der Anthroposophie) für persönliche Zwecke (S. 327). Ich will den »Anschein erwecken«, einen »Feldzug gegen Fundamentalismus und Klerikalismus« (S. 323) zu führen. Ich gehöre zu denen, die einen »Dialog« der »Theologie« mit der »Anthroposophie« herbeiführen wollen (S. 328; Eisenhut schreibt merkwürdigerweise das Wort Anthroposophie in Anführungszeichen – ich vermute, er will damit andeuten, daß eine »wahre« Anthroposophie überhaupt nicht fähig ist, einen Dialog mit der Theologie zu führen), wobei offen bleibt, ob mich Eisenhut der ersten oder der zweiten Kategorie subsumiert. Bei mir ist das »wahrhaft Individuelle noch nicht anwesend« (S. 328). Es mangelt mir an »Wachheit« (S. 328) Ja, ich bin dem Einfluß ahrimanischer Wesenheiten verfallen, denn meine Erkenntnis­ideale sind nur in einer Welt »falscher Tatsachen« brauchbar, die von Ahriman geschaffen werden. (S. 234 in Verbindung mit S. 327) Es mangelt mir – ultima ratio – »der Wille zur Freiheit.« (S. 326) All diese in der Tat demaskierenden Einsichten gewinnt Eisenhut durch eine Analyse »meiner Schriften«, die darauf abzielt, mein »Steiner-Bild« »herauszuarbeiten« (S. 326). Offensichtlich hat aber Eisenhut keine einzige meiner Schriften[9] gelesen, denn er zitiert nirgends eine solche. Er bezieht sich lediglich auf vier Zeitschriftenaufsätze von mir. Was soll man zu moralischen Vorwürfen sagen? Menschen, die anderen gegenüber moralische Vorwürfe erheben, scheinen sich selbst für besser zu halten und diejenigen, die sie verurteilen, auch besser zu kennen, als diese sich selbst kennen. Man kann nur darauf hoffen, daß sie sich bessern.

Betrachten wir kurz die Methode, die Eisenhut selbst bei seinem »wissenschaftlichen Forschen« verfolgt. Wir sind nicht allein darauf angewiesen, sein Vorgehen zu analysieren, es findet sich in seinem ersten Beitrag sogar eine rudimentäre Methodenreflexion, auf die wir uns stützen können. Wir wissen inzwischen, daß Eisenhut die »persönliche Integrität« und die »moralisch-geistige Entwicklung« des Forschers für konstitutive Prinzipien hält, die nicht nur auf den Forschungsprozeß, sondern auch auf die Foschungsergebnisse Einfluß nehmen. Aufgrund der Negativcharakteristik, die er vornimmt, können wir sagen, daß sein Verständnis der persönlichen Integrität eines Forschers folgende Eigenschaften einschließt: man darf nicht die falsche Gesinnung haben, man muß Vertrauen in die Individualität des geistigen Führers (Rudolf Steiners) entwickeln, Devotion vor den von ihm verkündeten Wahrheiten haben, man muß »wahrhaft individuell« sein, Wachsamkeit üben und »den Willen zur Freiheit« besitzen. Folgende Eigenschaften darf man auf keinen Fall besitzen: Offenheit für Kritik, die Bereitschaft, seine Forschungen öffentlich dar- und sie der Erkenntnisgemeinschaft zur Diskussion vorzulegen, denn diese drei Grundsätze sind nach Eisenhut für meinen »kritischen Rationalismus« konstitutiv, den er ja generell ablehnt.

Entsprechend kryptisch gestaltet sich auch Eisenhuts Forschungsprozeß. Bei seiner philologischen Untersuchung beruft er sich im wesentlichen auf sein Erleben, um seine Interpretationen von Rudolf Steiners Lebensgang zu begründen. Zunächst behauptet er, er habe sich »sehr gründlich in die Ideengestaltung des Lebensganges eingearbeitet« (S. 230; nun ja, das kann jeder behaupten: aber was heißt »gründlich« und wie geht diese »Einarbeitung« methodisch vonstatten?) Zum Glück gibt uns Eisenhut noch einige Hinweise: der Leser muß sich zu »einem Erleben dieser Ideengestaltung« (Rudolf Steiners) »erheben« (S. 230). »Ein solcher Zugang wird ... nur durch eine aktive Fragehaltung gewonnen.« (S. 230) Das »Eintauchen in die Bilderfolge« [die Steiner gestaltet] »kann erst das Verständnis ermöglichen« (S. 230). »Rudolf Steiners Ausführungen bedürfen einer genauen Beachtung der Ideengestaltung.« (S. 233) »Wer innerlich miterleben kann, wie Rudolf Steiner gestaltet ...« (S. 233). Was bei diesem ganzen Eintauchen und Erleben herauskommt, ist relativ geringfügig. Eisenhut treibt seinen exegetischen Aufwand nur, um zu beweisen, daß Steiner sich nicht in einem Datum geirrt habe. Dabei kommt er zu äußerst gewaltsamen Interpretationen. »Besuche“ bei Menschen, bei denen man durch sinnlich wahrnehmbare Türen geht, werden bei ihm zu Metaphern für übersinnliche Vorgänge. Wenn Steiner im 18. Kapitel seines Lebensganges den Ausdruck »Bild« verwendet, dann interpretiert Eisenhut diesen Ausdruck nicht aus dem unmittelbar vorausgehenden Text, sondern er greift 60 Seiten zurück. Wenn Steiner von der »wahren Tatsache« spricht, daß Nietzsches Bild sein Nietzschebuch inspiriert habe, also hervorhebt, daß es sich bei dieser Inspiration um eine »wahre Tatsache« handle, dann wird dieser Satz bei Eisenhut zu einem Hinweis darauf, daß Steiner bei Nietzsche die »wahren von den falschen Tatsachen unterscheiden« konnte (S. 234). Darum geht es aber in diesem Satz aus dem Lebensgang überhaupt nicht. Wenn Steiner von dem Bild Nietzsches spricht, das sein Nietzschebuch inspiriert habe, und damit die geistige Schau des Umnachteten am Krankenlager meint, dann konstruiert Eisenhut ein zweites Bild, das sich von diesem ersten unterscheide und das Steiner eigentlich meine. In den Satz »Ich konnte in meinen Gedanken nur stammeln, von dem, was ich damals geschaut«, interpretiert Eisenhut eine umfangreiche Geschichte hinein, von der im Lebensgang keine Silbe steht. Woher weiß Eisenhut das alles? möchte man fragen. Nun, durch sein Eintauchen und Erleben. Dagegen kann man nichts sagen. Wenn er es so erlebt, dann wird es für ihn schon stimmen.

Interessanterweise geht Eisenhut, genausowenig wie alle anderen, die sich bisher in dieser Sache geäußert haben, auf den Brief von Rudolf Steiner an Pauline Specht vom 23.12.1894 ein. Diese elegante Methode, ein Problem aus der Welt zu schaffen, gehört offenbar auch zu der von Eisenhut propagierten Wissenschaftsmethodik. Selbst wenn man alles zugestehen würde, was Eisenhut behauptet, bliebe immer noch das Rätsel dieses Briefes ungelöst. Mein Vorschlag ging und geht dahin, Rudolf Steiners Konfrontation mit Ahriman nicht erst, wie Eisenhut dies tut, ins Jahr 1896 zu setzen (S. 236), sondern bereits ins Jahr 1894, ja sogar früher. Denn nicht nur die Philosophie der Freiheit enthält deutliche Spuren des Kampfes mit dem ahrimanischen Geiste[10], auch der Brief vom 23.12.1894 zeugt von diesem Kampf und erst recht das Nietzschebuch Rudolf Steiners.

Abschließend möchte ich nur noch erwähnen, daß ich Eisenhuts Deutung meines Verhältnisses zu Popper für zu abstrus halte, um überhaupt darauf einzugehen. Man möge doch bitte erst meine »Schriften« lesen, bevor man sie falsch interpretiert.

Anmerkungen

[1] Der vorliegende Aufsatz erschien zuerst in den Mitteilungen aus der anthroposophischen Arbeit in Deutschland. Er wird hier, stilistisch leicht überarbeitet, zur Dokumentation wieder abgedruckt. Der epikritische Zusatz wurde für das Jahrbuch 97 neu verfaßt.

[2] Rudolf Steiner sprach im letzten Kriegsjahr 1918 von Imaginationen, die von den Engeln in die verborgenen Seelentiefen der Menschen gewoben würden (Der Tod als Lebenswandlung, GA 182, S. 138-160; sämtliche Zitate daraus). Für das seelische Leben weben die Angeloi das Ideal der freien Religiosität. Im alltäglichen Leben – so die Absicht der Engel – soll der eine im anderen das Ebenbild eines Göttlichen erkennen. Der Umgang der Menschen untereinander im Aufblick zum höheren Ich setzt Kräfte der Liebe und Toleranz frei, die den Kern der Freiheitsidee ausmachen. An die Stelle normativer Institutionen, die für sich beanspruchen, die Offenbarungswahrheiten zu hüten und die einzig richtige Lehre vom Göttlichen zu besitzen, anstelle dogmatischer Überlieferungen, anstelle eines neuen Mythos der Paradosis setzt Steiner den unmittelbaren Sakramentalismus der Menschenbegegnung im Alltagsleben. Wenn man die Begegnung mit einem anderen Menschen als unaufhörliches Gebet betrachtet, als Opfer der eigenen Egoität und als Kommunion mit dem höheren Selbst des Anderen, dann verwirklicht man das Sakrament der lebendigen Religion, die seit dem Anbruch der Neuzeit aus den Reichen der Engel auf die Erde herabsteigt. – Die anthroposophisch orientierte Gesinnungsgemeinschaft steht mit ihren spezifischen Problemen mitten in dieser Gesamtthematik der Bewußtseins-Seele. Insofern dokumentiert auch die »anthroposophische« Gemeinschaft, daß ihr sozialer Phänotypus sich im Rahmen der neuzeitlichen Streitkultur der emanzipierten Individuen bewegt.

[3] Zitat aus einem von Rudolf Steiner zu seiner Person am 8. Februar 1892 ausgefüllten Fragebogen. Als Faksimile veröffentlicht bei: Christoph Lindenberg, Rudolf Steiner (rowohlts monographien, Band 500), Hamburg 1992, S. 51.

[4] Vgl. dazu die weiterführenden Untersuchungen in meinem Aufsatz: Nietzsche und kein Ende im vorliegenden Jahrbuch.

[5] Gemeint ist die Entlassung der gesamten Goetheanumredaktion durch den Vorstand der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft infolge der Veröffentlichung des Aufsatzes von Reuveni.

[6] Stephan Eisenhut in: Mitteilungen aus der anthroposophischen Arbeit in Deutschland, Das Nietzsche-Bild Rudolf Steiners und die »Aufklärung in der Anthroposophie« (Nr. 197) und Die Geisteshaltung der »Aufklärung in der Anthroposophie« (Nr. 198).

[7] Heft 3, Nr. 197 S. 236.

[8] Heft 4, Nr. 198, S. 323.

[9] Buchpublikationen (Schriften): 

  • Waldorfpädagogik in der Diskussion, Mitautor, Verlag Freies Geistesleben 1990.
  • Im Vorfeld des Dialogs, Mitautor, Verlag Freies Geistesleben 1992.
  • Waldorfpädagogik und Erkenntnistheorie, Verlag Freies Geistesleben 1993.
  • Meditationsphilosophie. Untersuchungen zum Verhältnis von Philosophie und Anthroposophie, Novalis Verlag 1993.
  • Das Evangelium der Bewußtseins-Seele, trithemius verlag 1995.
  • Rudolf Steiners Wissenschaftsbegriff im Gespräch mit der Gegenwart, Herausgeber und Mitautor, Beiheft 4, Die Drei 1991.
  • Die Grundlegung der Anthroposophie im Frühwerk Rudolf Steiners, Herausgeber und Mitautor, Beiheft 5, Die Drei 1992
  • Zugänge zur Wissenschaft der Freiheit, Herausgeber und Mitautor, Beiheft 8, Die Drei 1995.
  • Jahrbuch für anthroposophische Kritik 1993-1996, mit einer Reihe von Beiträgen aus meiner Feder. –

[10] Daß sich dieser Kampf gerade auf dem Gebiet abspielt, auf dem der Mensch seine individuelle Freiheit erringt, müßte eigentlich klar sein. Wenn die individuelle Freiheit das spezifische Gut ist, dessen Realmöglichkeit dem einzelnen Menschen durch die Gnade Christi gegeben wird, dann muß sich der Kampf der widerchristlichen Mächte um den und auf dem Schauplatz der menschlichen Freiheit abspielen. Von diesem Kampf spricht Rudolf Steiner auch noch 1924 mit beredten Worten: »Wenn der Mensch die Freiheit sucht, ohne Anwandlung zum Egoismus, wenn ihm Freiheit wird reine Liebe zur auszuführenden Handlung, dann hat er die Möglichkeit, sich Michael zu nahen; wenn er in Freiheit wirken will bei Entfaltung des Egoismus, wenn ihm Freiheit wird das stolze Gefühl, sich selber in der Handlung zu offenbaren, dann steht er vor der Gefahr, in Ahrimans Gebiet zu gelangen.« (Anthroposophische Leitsätze, GA 26, Dornach 1972, S. 117). Diese Gefahr droht aber dem Menschen in jeder einzelnen freien Handlung, denn Freiheit wäre keine Freiheit, wenn sie nicht ständig von der Gefahr bedroht würde, in ihr Gegenteil umzuschlagen. Das gilt nicht nur von dem die Freiheit suchenden, sondern auch von dem die Freiheit verwirklichenden Menschen. Durch seine Freiheit ist der Mensch existentiell dem Bösen ausgesetzt. Sie ist ein Gut, das in sich mindestens zweischneidig ist: der Mensch kann im Verwirklichen der Freiheit sich selbst in seinem titanischen Stolz erleben, der Naturnotwendigkeit entronnen zu sein, er kann aber auch auf den Selbstgenuß im Verwirklichen der Freiheit verzichten und erkennen, daß er seine Freiheit den geistigen Mächten verdankt, die sie ermöglicht haben. An manchen Stellen der Philosophie der Freiheit kommt diese Ambivalenz zum Ausdruck, so etwa, wenn Steiner davon spricht, daß »Idealisten« bei der »Umsetzung ihrer Ideale in die Wirklichkeit« »geistig schwelgen« und wenn er andererseits hervorhebt, daß die Selbstbestimmung durch das reine Denken und die moralische Intuition im freien Handeln auf der Überwindung der Triebe, Begierden und Instinkte, also auf der Überwindung der Egoität beruhe. Aus der Erkenntnis dieser existentiellen Ambivalenz der Freiheit könnte sich auch eine Lösung der mit dem Brief Rudolf Steiners vom 23.12.94 an Pauline Specht aufgeworfenen Fragen ergeben.


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