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Anthroposophie / trithemius verlag / Jahrbuch 2002 Gegner

Die Anthroposophie und ihre Gegner

Von Lorenzo Ravagli

Auszug aus dem Jahrbuch für anthroposophische Kritik 2002

Der Diskurs über die Anthroposophie und ihre Gegner kann als Ausgrenzungsdiskurs oder als Einschließungsdiskurs geführt werden. Ein Diskurs ist eine geistige Auseinandersetzung über einen beliebigen Weltinhalt im Medium der Sprache. Der Mensch ist nicht nur ein denkendes, sondern auch ein sprechendes Wesen. Als sprechendes Wesen ist er soziales Wesen. Wäre er bloß mit Vernunft begabt, aber nicht mit Sprache, könnte er seine Beziehung zur Welt und sein Selbstverständnis allein durch einen in seinem Innern beschlossenen Erkenntnisprozess finden. Als sprechendes Wesen ist er aber in das Gespräch der denkenden, fühlenden und wollenden Wesen verflochten, zu denen er gehört. Seine Sprachlichkeit macht den Menschen zu einem Wesen, das nicht nur eine isolierte Einzelexistenz führt, sondern auch eine gesellschaftliche Existenz. Sprachliche Auseinandersetzung begründet stets Öffentlichkeit. Unsere Urteile über die Welt bleiben unseren Zeitgenossen solange unbekannt, als wir sie nicht aussprechen. Durch das Aussprechen unserer Urteile treten wir aus der Sphäre unserer Privatheit heraus und begründen eine Art von öffentlicher Existenz, die wir in der Gemeinschaft der Hörenden führen, die unsere Sprache vernehmen und verstehen. Unsere Sprechakte sind soziale Handlungen. Sie können verletzen oder trösten. Auf jeden Fall begründen sie Beziehungen zu unseresgleichen.

Die Öffentlichkeit ist die Summe der von Menschen geführten Teildiskurse: die Summe der sozialen Beziehungen, die durch Sprechakte begründet werden. Auch wenn die Sprache dazu dient, andere auszugrenzen, begründet sie eine soziale Beziehung, wenn auch eine negative. Die vielen Diskurse, die in einer Gesellschaft geführt werden, können nach Medium, Form und Inhalt unterschieden werden. Diskurse sind stets medial, aber die Medien sind ihrer Qualität nach verschieden. Die gesprochene Sprache ist das ursprünglichste Medium. An dieses schließen sich Printmedien, Zeitungen, Zeitschriften, aber auch Rundfunk und Fernsehen sowie die diversen Foren des Internets an. Wenn man sich vor Augen hält, daß die sozialen Geschehnisse einer Gesellschaft, der wir angehören, stets durch Sprache vermittelt sind, liegt es nahe, die menschliche Gesellschaft als eine Diskursgesellschaft zu bezeichnen.

Ihrer Form nach können Diskurse ausgrenzend oder einschließend sein. Ausgrenzende Diskurse betonen die Unterschiede, das Trennende zwischen Menschen und ihren Lebensinhalten, einschließende Diskurse das Gemeinsame, Verbindende. Ihrem Inhalt nach sind die Diskurse nicht begrenzt. Es gibt keinen Weltinhalt, über den Menschen nicht sprechen könnten. Selbst das Unsagbare wird gesagt, das Unaussprechliche wird ausgesprochen. Wir führen in unserer Gesellschaft religiöse Diskurse, die von Transzendenz und Immanenz handeln, von Ewigkeit und Zeitlichkeit, von Tod und Auferstehung, Schuld und Sühne. Wir führen wissenschaftliche Diskurse, das sind Diskurse über Wahrheit und Irrtum, über Wahrheit und Wissenschaft, Wahrheit und Methode, über Anerkennung und Gültigkeit von Aussagen über die Wirklichkeit. Wir führen wirtschaftliche Diskurse, in denen es um Verteilung und Teilhabe an Einkommen, um Produktivität und Konsum, um Leistungen für andere und Befriedigung von Bedürfnissen geht. In unseren politischen Diskursen geht es um Herrschaft und Macht und ihre Begrenzung, aber auch um Partizipation an Herrschaft und ihre Legitimation. Wir führen therapeutische Diskurse, die von Krankheit und Heilung, von Geburt und Tod handeln. Ästhetische Diskurse um das Schöne und das Häßliche, um Kreativität und Selbstverwirklichung. Moralisch-ethische Diskurse über das Gute und das Böse, über Handlungsformen, die von der Gesellschaft, der wir angehören, als akzeptabel oder verwerflich, als vorbildlich oder bestrafungswürdig betrachtet werden. Und wir führen auch anthroposophische Diskurse: Diskurse über das Wissen vom Menschen, über das Bewußtsein des eigenen Menschentums.

All diese Teildiskurse bilden in ihrer Gesamtheit die Identität, das Selbstbewußtsein einer Gesellschaft. Diese gesellschaftliche Identität ist überindividuell. Der Einzelne kann immer nur Teile des Gesamtdiskurses aktualisieren, der von einer Gesamtheit von Menschen in einer Sprache geführt wird. Wir können in diesem oder jenem Teildiskurs mitsprechen, je nach unserer Sprachbegabung, nach unserer Vertrautheit mit der Sprache, die diesen Diskurs kennzeichnet. Insofern die Identität einer Gesellschaft, die Summe der in ihr geführten Diskurse überindividuell ist, eröffnet sich durch sie der Ausblick auf geistige Lebens- oder Bewußtseinsformen, die überindividuell sind, die sich im Medium der Sprache inkorporieren, die den in der Sprache ausgedrückten Gedanken zu ihrem Wahrnehmungsfeld oder Lebensfeld haben. Diese Lebensformen kann man als Sprachgeist oder Volksgeist bezeichnen. Der Sprachgeist ist die Bewußtseinsform, in der die Sprechenden, die sich einer bestimmten Sprache bedienen, leben. Der Volksgeist ist die geistige Lebensform, die die Totalität der in einer Gesellschaft geführten Identitätsdiskurse zu ihrem Bewußtseinsinhalt hat.

Ausgrenzende und einschließende Diskurse

Was heißt es, einen Ausgrenzungs- oder einen Einschließungsdiskurs zu führen?

Ein Ausgrenzungsdiskurs beruht auf einer antithetischen, dualistischen Denk- und Lebenshaltung. Gegensätze schließen sich gegenseitig aus. Der Gegensatz trennt und entzweit. Meine Wahrheit ist das Gegenteil des Irrtums. Wahrheit und Irrtum sind durch eine unüberbrückbare Kluft voneinander getrennt. Es gibt keine Vermittlung zwischen ihnen. Aber die Wahrheit des Anderen ist für ihn ebenso wahr. Unsere verschiedenen Wahrheiten laufen nebeneinander her und in verschiedene Richtungen. Zwischen der Anthroposophie und ihren Gegnern kann es nach dieser Auffassung keine Vermittlung geben, sondern nur Unverständnis, Ablehnung und Feindschaft. Gegner verstehen sich als Eigner einer anderen Wahrheit, die alle anderen Wahrheiten ausschließt.

Ein Einschließungsdiskurs beruht auf einer polaren, monistischen Denk- und Lebenshaltung. Für diese sind Gegensätze aufeinander bezogene, sich gegenseitig bedingende Sätze. Sie sind, gerade durch ihre Gegensätzlichkeit, miteinander verbunden. Die Entfaltung ihrer Gegensätzlichkeit stellt eine Form ihrer Vermittlung dar. Ich sage einen Satz: der andere sagt einen zweiten Satz, dessen Gültigkeit die Gültigkeit meines Satzes ausschließt. Aber der zweite Satz ist auf den ersten bezogen, er verdankt ihm seine Existenz und seinen Inhalt. Gerade weil er die Gültigkeit meines Satzes verneint, ist er in der Verneinung Teil meiner Wahrheit. Er ist notwendig auf meinen Satz bezogen und allein durch ihn existent. Zwischen der Anthroposophie und ihren Gegnern besteht demnach ein notwendiger Zusammenhang. Ihre Gegner und Befürworter sind durch etwas Drittes miteinander verbunden und aufeinander bezogen: dieses Dritte ist nichts anderes als die Anthroposophie selbst.

Das In-der-Welt-Sein der Anthroposophie ist die Bedingung der Möglichkeit sowohl ihrer Bejahung als auch ihrer Verneinung. Befürworter wie Gegner der Anthroposophie sind durch ihre unterschiedliche Beziehung zur Anthroposophie mit ihr verbunden. Sowohl die Gegner wie die Befürworter rezipieren die Anthroposophie, sie nehmen sie in sich auf, sie versuchen sie zu verstehen, sie setzen sich mit ihr auseinander und kommen zu Urteilen über sie, die sie im Medium der Sprache ausdrücken. Befürworter und Gegner sind als Rezipienten auf die Anthroposophie bezogen: sie rezipieren sie nur auf jeweils unterschiedliche Art. Gegner und Befürworter der Anthroposophie konstituieren zusammen den öffentlichen Diskurs, der in unserer Gesellschaft über die Anthroposophie geführt wird. Ein Diskurs über die Anthroposophie und ihre Gegner, der nicht als Ausschließungsdiskurs geführt wird, müßte demnach die Gegner und Befürworter der Anthroposophie als eine durch die Anthroposophie selbst verbundene geistige Einheit behandeln. Eine solche geistige Einheit könnte man auch als Schicksalsgemeinschaft bezeichnen.

Was ist Anthroposophie?

Anthroposophie ist zunächst das Lebenswerk Rudolf Steiners. Dieses Lebenswerk zeugt vom unablässigen Eingreifen Steiners in die zeitgenössischen Diskurse. Und zwar beschränkt es sich nicht auf bestimmte, eng umgrenzte Diskursfelder, sondern bezieht sich auf eine Fülle der oben angedeuteten Themenbereiche: er hat sich, um nur einige zu nennen, am wissenschaftlichen, philosophischen, theologischen, lebensreformerischen, politischen, pädagogischen, therapeutischen, esoterischen Diskurs seiner Zeit beteiligt und mit den damals herrschenden Überzeugungen und Traditionen das Gespräch aufgenommen. Dieses Lebenswerk ist aber nicht im Jahr 1925, mit Steiners Tod, zum Abschluß gekommen. Zum Lebenswerk Rudolf Steiners gehört auch dessen Geschichte. Diese Geschichte reicht über den Tod Steiners hinaus. Sie ist wesentlich Wirkungsgeschichte dieses Lebenswerkes im 20. Jahrhundert. Die Wirkungsgeschichte dieses Lebenswerkes besteht aus den Resonanzen, die es in den unterschiedlichen Diskurstraditionen hervorgerufen hat, auf die Steiner sich mit seinem Sprechen bezog. Zu dieser Wirkungsgeschichte gehören wiederum sowohl die Gegner als auch die Befürworter dieses Lebenswerks. Die Wirkungsgeschichte setzt sich bis in die Gegenwart und über diese hinaus fort. Wir selbst, insofern wir uns auf das Lebenswerk Steiners beziehen, zustimmend oder ablehnend, sind Teil dieser Wirkungsgeschichte und bilden diese Wirkungsgeschichte fort.

Wir müssen aber die Anthroposophie selbst wiederum einschließend betrachten. Sie ist nicht nur die Summe dessen, was Rudolf Steiner gesagt und getan hat, sowie die Summe der Resonanzen, die sein Lebenswerk hervorgerufen hat, sie ist nicht nur die Summe von Lebenswerk und Wirkungsgeschichte. Die Gesamtheit dessen, was von der Anthroposophie durch Lebenswerk und Wirkungsgeschichte in Erscheinung getreten ist, kann man als geschichtliche Gestalt der Anthroposophie bezeichnen. Jede geschichtliche Gestalt ist aber auch eine unoffenbare, übergeschichtliche Gestalt bezogen, aus der sie hervorgegangen ist. Unsere ganzheitliche, inklusivistische Rede über Anthroposophie darf sich nicht nur auf die geschichtliche Gestalt dieser Anthroposophie beziehen, sie muß sich auch auf die übergeschichtliche, unoffenbare Gestalt derselben beziehen. Diese übergeschichtliche, unoffenbare Gestalt ist das lebendige Wesen der Anthroposophie. Der vollständige Begriff derselben schließt also Lebenswerk, Wirkungsgeschichte und lebendiges Wesen der Anthroposophie ein.

Wie bereits erwähnt, schließt die Wirkungsgeschichte der Anthroposophie unterschiedliche Formen der Rezeption des Lebenswerkes ein. Eine Rede über die Anthroposophie und ihre Gegner kann demnach als Rede über die Typologie dieser unterschiedlichen Rezeptionsformen gehalten werden.

Es gibt nur zwei Grundformen einer solchen Rezeption: eine ablehnende und eine zustimmende. Beide aber bestätigen und bekräftigen das Vorhandensein und die Wirkungsmacht der Anthroposophie in der Welt, denn beide beziehen sich auf sie als auf eine Wirklichkeit gewordene, geschichtliche Gestalt. Insofern sie Teil ihrer Wirkungsgeschichte sind, bezeugen sie das Fortdauern der Wirkungen des Lebenswerkes bis in die Gegenwart. Beide Rezeptionsformen sind affirmativ, sie affirmieren das Wesen der Anthroposophie in der Welt als Form ihrer Wirkung im individuellen Bewußtsein bzw. als Resonanz in den unterschiedlichen Diskurstraditionen. In beiden Rezeptionsformen kehren jeweils die beiden charakterisierten Diskursarten wieder: die einschließende und die ausschließende. Wir haben es demnach mit vier Kategorien von Diskursen zu tun: zwei zustimmenden und zwei ablehnenden.

Positive Rezeption der Anthroposophie

Die positive Rezeption begründet in einem Menschen das Bewußtsein der Zugehörigkeit zur Anthroposophie, zur anthroposophischen Geistesströmung und möglicherweise auch zur Anthroposophischen Gesellschaft. Wer sich in der Lage sieht, das Lebenswerk Rudolf Steiners zu bejahen, betrachtet sich als Mitglied, als Teilnehmer und Mitwirkenden der Diskurstradition, die sich bejahend an dieses Lebenswerk anschließt. Er eignet sich eine Innenperspektive an und blickt als Teilnehmer der Diskurstradition, der er sich angeschlossen hat, der Gemeinschaft positiver Rezipienten, in die Welt. Er kann als Teilnehmer dieser Diskurstradition selbst einen ausschließenden oder einen einschließenden Diskurs über die Anthroposophie führen.

Die ausgrenzende Tradition der Rede über Anthroposophie beruht auf einer identifikatorischen Aneignung des Lebenswerks, auf einer vorbehaltlosen Zustimmung zu dem, was man unter Anthroposophie versteht. Sie ist im Lebenswerk als Ganzem oder in bestimmten Teilen dieses Lebenswerkes verankert, die man als besonders zustimmungswürdig betrachtet. Das können zum Beispiel die philosophischen Werke Rudolf Steiners sein, das können aber auch bestimmte Teile seines Vortragswerks sein, insbesondere jene Teile, die den Inhalt bestimmter Berufsesoteriken bilden. Es können aber auch bestimmte mündliche Traditionen sein, die sich im Anschluß an Teile dieses Vortragswerks gebildet haben. Die identifikatorische Aneignung beruht auf einer Aktualisierung der genannten Bestandteile der Anthroposophie im Hier und Jetzt. Sie ist zeitlos, ungeschichtlich, denn ich identifiziere mich mit bestimmten geistigen Inhalten, die ich in meine eigene Persönlichkeit integriere, die zu einem Bestandteil meiner persönlichen Identität werden. In meinem Bewußtsein, in meiner Existenz werden diese Inhalte lebendig. Sie wirken gemeinschaftsbildend, insofern ich mich als Teilnehmer jener mündlichen Traditionen, jener Diskurstraditionen betrachte, die sich zu denselben Inhalten bekennen. Diese identifikatorische Aneignung ist ohne Zweifel Voraussetzung für die sogenannte Geistesschülerschaft. Denn wer sich nicht mit den geistigen Inhalten identifizieren kann, zu denen der Schulungsweg führen soll, wird diesen Schulungsweg nicht beschreiten können. Die identifikatorische Aneignung birgt aber auch gewisse Gefahren in sich, besonders die Gefahr des Hochmuts, des Dogmatismus, ja des Fanatismus. Vor dieser Gefahr schützt allein die Berücksichtigung und Verwirklichung der erkenntnismoralischen Anforderungen, die zu den unumgehbaren Bedingungen der geistigen Schulung gehören. In den Schulungsweg selbst sind diese Schutzmechanismen eingebaut. Und wer in exklusivistischen Hochmut, in dogmatische Überheblichkeit verfällt, ist beim Beschreiten dieses Weges gescheitert.

Die einschließende Tradition der Rede über Anthroposophie beruht dagegen auf einem historisch-reflexiven Bewußtsein. Ihr Schwerpunkt liegt weniger im Lebenswerk als in der Wirkungsgeschichte, im Wandlungsaspekt des Lebenswerkes. Sie stellt die Zustimmung zu Teilen dieses Werkes oder zum Werk als Ganzem unter einen Prüfungsvorbehalt. Sie verbindet die Zustimmung mit Kritik und zwar mit immanenter, aber auch historischer Kritik. Sie ist deswegen nicht weniger positiv eingestellt als die erste Tradition, aber ihre Positivität ist kritisch abgefedert. Sie neigt zur Historisierung der Anthroposophie. Sie trägt das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein in das Lebenswerk selbst hinein, indem sie dieses Lebenswerk als sukzessive Gestaltwerdung des lebendigen Wesens der Anthroposophie begreift, die durch die Bezugnahme Steiners auf unterschiedliche zeitgenössische Diskurstraditionen entstanden ist. Steiner hat sich in diese unterschiedlichen Traditionen hineingestellt und in ihnen unter Einbezug ihrer Eigentümlichkeiten Gedankenbilder des lebendigen, überzeitlichen Wesens der Anthroposophie entworfen, die nur aus der Besonderheit der jeweiligen Traditionen begriffen werden können, auf die er sich bezogen hat. Das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein, das das Lebenswerk Steiners selbst als Teil der Wirkungsgeschichte der Anthroposophie begreift, führt zur Unterscheidung zwischen Wesen und Erscheinung der Anthroposophie. Es begreift das Lebenswerk Rudolf Steiners selbst als geschichtlich gewordene Gestalt, als Teil einer Wirkungsgeschichte, die über das Leben Steiners hinausgreift, sowohl rückwärts als auch vorwärts: als geschichtliche Wirkung des Wesens Anthroposophie. Dieses historisch-reflexive Bewußtsein ist ebenso Voraussetzung der Geisteschülerschaft, denn es gewährleistet die kritische Distanz der Selbsterkenntnis, die vor dem Hochmut der Geschichtslosigkeit, dem Bewußtsein der Exklusivität bewahrt. Sie läßt die eigene Existenz als Teil einer größeren Geschichte begreifen. Sie birgt aber ihre eigenen Gefahren: die Gefahr der Zurückwerfung des Strebens, des Scheiterns am Bewußtsein der Widersprüche, der Wandlung. Wer vor lauter Wandlung das überzeitliche Wesen der Anthroposophie nicht mehr sieht, ist der Dialektik des geschichtlichen Bewußtseins erlegen.

Negative Rezeption der Anthroposophie

Die negative, ablehnende Rezeption begründet das Bewußtsein der Nichtzugehörigkeit zur Anthroposophie, zur anthroposophischen Geistesströmung und anthroposophischen Gesellschaft. Das ablehnende Bewußtsein sieht sich selbst als Außenstehenden, als Gegner, als Warner, als Angehörigen einer anderen Denktradition, der die Teilnehmer dieser Tradition vor den Gefahren, die die Anthroposophie für deren Identität angeblich in sich birgt, durch sein Zeugnis für die Ablehnung beschützen muß. Alle Unvereinbarkeitsdiskurse liegen in dem Bewußtsein begründet, die eigene Denktradition, die eigene Identität vor dem Einbruch des Fremden schützen zu müssen.

Auch ablehnende Rezipienten können ausschließende oder einschließende Diskurse führen. Der ausschließende Diskurs der Ablehnung beruht ebenso wie derjenige der Zustimmung auf einer identifikatorischen Aneignung: es ist die Verkehrung dieser Aneignung in totale Negation. Die verneinende identifikatorische Aneignung ist ebenso wie die bejahende zeitlos auf das Lebenswerk oder Teile desselben bezogen. Wer die Anthroposophie radikal ablehnt, ist mit ihr in einer Art Haßliebe verbunden. Man bekämpft sie und wird sie doch nicht los, weil sie zu einem Teil der eigenen Identität geworden ist, zu jenem Teil, durch dessen Ablehnung man seine Identität definiert. Die Anthroposophie ist das Andere, das gänzlich Verworfene, dem gegenüber man sich selbst als Lichtgestalt imaginiert, die sich und die Menschheit retten muß vor dem Ansturm des Bösen, als dessen Verkörperung einem die Anthroposophie erscheint. Der Negationist bleibt auf das, was er negiert, bezogen und kann ihm nicht entrinnen. Es ist ein notwendiger Bestandteil seiner fortwährenden Selbstvergewisserung. Die Ritter der Aufklärung werden von der fixen Idee der Anthroposophie umgetrieben, diese wird für sie zur Obsession. Sie werden zu Wanderpredigern, die durch die Lande ziehen und einen großen Teil ihrer Lebenszeit in den Dienst der Anthroposophie stellen, indem sie vor ihr warnen. Sie verdanken ihren Lebensunterhalt dem, was sie bekämpfen. Die Anthroposophie ist ihr Schicksal. Was sie bezeugen, ist der nicht endenwollende Kampf, den sie in ihrem Inneren gegen die Anthroposophie oder das führen, was sie sich darunter vorstellen. Sie verfallen den Gefahren der identifikatorischen Aneignung, dem Dogmatismus, dem Fanatismus, dem Exklusivismus. Die Verkörperung dieser Geisteshaltung sind die sogenannten Sektenbeauftragten. Sie läßt sich aber auch an Fanatikern des Rationalismus beobachten, an atheistischen und humanistischen Sektierern, für die der Atheismus zur Religion und der säkularistische Humanismus zum Glaubensbekenntnis geworden ist.

Ebenso wie in der zustimmenden Rezeption beruht auch in der ablehnenden die einschließende Rede auf einem historisierenden Bewußtsein, das seinen Schwerpunkt nicht im zeitlos gegenwärtigen Lebenswerk Steiners, sondern in dessen Wandlungsaspekt, in dessen wirkungsgeschichtlichem Aspekt findet. Die Anthroposophie als Teil der Geistesgeschichte ist für die Vertreter dieser Diskursform das Ergebnis der Geistesgeschichte. Sie ist ein eklektisches Produkt, in dem die Traditionen, die ihr vorangegangen sind, zusammenflossen. Sie ist eine - vielleicht nicht gänzlich unoriginelle - Synthese pythagoräischer, hermetischer, okkulter, romantischer oder welcher Traditionen auch immer. Sie ist aber nicht eine aus sich selbst entstandene Gestalt des Geistes, denn eine solche kann es nach den Dogmen der akademischen Geistesgeschichte nicht geben. Quellen, die nicht historisch oder dokumentarisch faßbar sind, können für solche Dogmatiker des Eklektizismus nicht fließen. Immerhin: auch ein Eklektiker kann auf seine Art originell sein. Aber akademische Historiker der Esoterik, des Okkultismus dürfen sich identifikatorische Stellungnahmen nicht erlauben. So tragen sie stets Hypothesen geistesgeschichtlicher Abstammungslinien vor und das Selbstverständnis des Geistesforschers kommt nur als Hypothese in ihren vorläufigen Rekonstruktionen der Wirkungsgeschichte vor. In verschiedenen europäischen Ländern, wie auch in Amerika haben sich Lehrstühle und akademische Forschungsgemeinschaften etabliert, deren Aufgabenstellung die Erforschung der Geschichte der Esoterik, der hermetischen Traditionen, der Theosophie ist. Die geistesgeschichtliche Rekonstruktion der Anthroposophie durch die akademische Forschung wird nicht ausbleiben.

Die Teilnehmer der vier Diskurstraditionen beteiligen sich alle am öffentlichen Gespräch über Anthroposophie, indem sie ihre Ansichten, ihre Urteile publizieren. Sie alle sind Teil der Wirkungsgeschichte der Anthroposophie. Alle veröffentlichen ihre Sicht der Dinge und konkurrieren darum, das Bild der Anthroposophie in der Öffentlichkeit zu bestimmen. Das künftige Schicksal der Anthroposophie in der Welt wird wesentlich davon abhängen, in welcher Form und welchem Ausmaß die verschiedenen Gruppierungen sich in der Öffentlichkeit Gehör zu verschaffen vermögen.

Die Gegner der Anthroposophie

Sehen wir uns abschließend die erste Gruppe der ablehnenden Rezipienten etwas näher an, die einen Ausgrenzungsdiskurs über die Anthroposophie führen. Aus ihnen rekrutiert sich das ganze Arsenal der publizistischen Entstellungen der letzten Jahre. Sie lehnen die Anthroposophie ab, weil sie bestimmten Ideensystemen oder Diskurstraditionen verpflichtet sind, die sie daran hindern, wirklich verstehend in die Anthroposophie einzudringen. Als Teilnehmer ihrer eigenen Diskurstraditionen beruht ihre Identität auf der zustimmend identifikatorischen Aneignung der Grundüberzeugungen, durch die ihre jeweiligen Traditionen begründet werden. Das ideologische Gehäuse, in dem sie sich bewegen, hindert sie daran, eine andere Wahrheit anzuerkennen als ihre eigene. Indem sie die Anthroposophie bekämpfen, verteidigen sie zugleich ihre eigene Tradition und die Gemeinschaften, die die Träger ihres exklusiven Wahrheitsanspruchs sind. Diese dogmatischen Gegner lassen sich drei Gruppen zuordnen: der konfessionellen, der politischen und der aufklärerisch-rationalistischen.

1. Konfessionelle Gegner rekrutieren sich aus der katholischen, der protestantischen, aber auch der jüdischen und künftig möglicherweise auch aus der islamischen Konfession. (Helmut Zander, Bernhard Grom, Lothar Gassmann, Jan Badewien, Micha Brumlik, Samuel Althof). Aus ihrer Mitte kommen Vorwürfe, die Anthroposophie sei unchristlich, sie huldige einem luziferischen Selbsterlösungsideal, sie sei antisemitisch, ja gar satanisch. Die Geschichte der konfessionellen Rezeption reicht bis in den Beginn des 20. Jahrhunderts zurück. 1919 wurde die Theosophie auf den Index gesetzt, kurz darauf wurde das Verdikt der Kirche von jesuitischer Seite auch auf die Anthroposophie ausgedehnt (»Stimmen aus Maria Laach«). Max Kully, ein katholischer Pfarrer aus Arlesheim gehörte schon kurz nach dem I. Weltkrieg zu den hemmungslosesten Verleumdern der Anthroposophie. Evangelische Theologen standen aber den Katholiken meist in nichts nach. Das »antichristliche«, »antisemitische« und potentiell »antiislamische« Antlitz der Anthroposophie ist Reflex der Wahrheits- und Exklusivitätsansprüche der Angehörigen der jeweiligen Konfessionen, die die entsprechenden Vorwürfe vortragen. Die Autorität der Kirche, der Konzilien, der Schrift, des Glaubens, der jeweiligen Offenbarung ist ausschließlich und beharrt auf dieser Ausschließlichkeit. Insofern die Anthroposophie ausdrücklich über die einzelnen historischen Formen dieser Glaubenssysteme hinausgreift und nach ihrer gemeinsamen Wahrheit sucht, indem sie sie aus dem Quell der fortschreitenden, unabschließbaren Offenbarung zu verstehen sucht, muß sie den Konfessionen zwangsläufig als bedrohlich erscheinen. Aber nicht die Anthroposophie ist mit den Wahrheiten der Religionen unvereinbar, sondern die Religionen sind mit der Anthroposophie unvereinbar, solange sie auf ihrer ausschließlichen Gültigkeit beharren, und gegen die anderen Religionen einen Ausgrenzungsdiskurs führen. Den Weg zu einer wirklichen Ökumene könnte die Anthroposophie als Geistesforschung eröffnen, weil sie die historische Wahrheit jedes Bekenntnisses und jeder Stufe der göttlichen Offenbarung zu würdigen vermöchte. Diese Würdigung wird aber als Relativierung verstanden. Das Problem ist jedoch nicht der anthroposophische Erkenntnisanspruch, sondern die Weigerung der Konfessionen, ihre eigene Historizität anzuerkennen.

2. Politische Gegner, rechte wie linke, rekrutieren sich aus dem Fundus der Sozialphilosophien und Machtinteressen, die sie repräsentieren. Emanzipatorische, revolutionäre stehen konservativen, bewahrenden Strömungen gegenüber. Die einen sind dem Ideal der Gleichheit verpflichtet, die anderen halten die Fahne der Differenz hoch. Die einen sehen das Satanische in Thron und Altar, die anderen im Aufstand der Barbaren aus den Tiefen der Gesellschaft. Sozialismus und Kommunismus als totalitäre Gleichheitsideologien stehen dem Totalitarismus der Verschiedenheit in Form verschiedener Faschismen gegenüber. Aber Kommunismus und Kapitalismus haben eine gemeinsame Wurzel: die Ökonomisierung des Menschen. Der globale Siegeszug des Kapitalismus ist die Totalisierung des Ökonomischen. Die ehemaligen Vertreter der Besitzenden machen heute alle Menschen gleich, die ehemaligen Vertreter der Besitzlosen betonen heute das Recht auf Verschiedenheit. Die Fronten sind vertauscht, bleiben aber ebenso unwahr wie zuvor. Auch die Geschichte der politischen Gegnerschaft reicht bis tief ins 20. Jahrhundert zurück. Konservative, völkisch-nationalistische Gegner erwuchsen Steiner bereits zu Jahrhundertbeginn aus seinem Einsatz gegen den Antisemitismus und später für die internationale Dreigliederung. Zu diesen gehörten prominente Führungspersönlichkeiten der völkisch-nationalsozialistischen Bewegung wie Adolf Bartels, Heinrich Claß, Theodor Fritsch, Guido List, Lanz von Liebenfels, Hugo Vollrath, Harald Grävell, Philipp Stauff, Dietrich Eckart, Adolf Hitler, Alfred Rosenberg und Julius Evola. Die Geschichte der sozialistischen und kommunistischen Rezeption ist noch unerforscht, aber vermutlich finden sich auch hier viele Zeugnisse der Ablehnung. Bekannt sind zumindest die Positionen Siegfried Kracauers und Ernst Blochs. Im letzten Jahrzehnt haben Jutta Ditfurth, Petrus van der Let und Peter Bierl ihre Ablehnung bekundet. Bemerkenswert ist die gegenseitige Aufhebung der jeweiligen Vorwürfe. Dem Vorwurf der Staatsfeindlichkeit steht derjenige der reaktionären Staatsauffassung gegenüber, der Volksfeindlichkeit der Vorwurf des völkischen Chauvinismus, der Rassefeindlichkeit der Vorwurf des Rassismus, der jüdischen Verseuchung der Anthroposophie der Vorwurf des Antisemitismus, dem Vorwurf des Internationalismus der Vorwurf des Nationalismus, dem Vorwurf des Bolschewismus oder Kommunismus der Vorwurf der Reaktion und des Konservativismus. Deutlich wird an diesen Widersprüchen, daß die Anwürfe die ideologischen Befangenheiten der Gegner widerspiegeln und nicht den tatsächlichen Inhalt der Anthroposophie. Die Anwälte sozialer Einseitigkeit können in der Synthese stets nur das erkennen, was sie selbst bekämpfen. Weil die Dreigliederung aristokratische und revolutionäre, freiheitliche und solidarische Aspekte vereinigt und die realen Widersprüche des gesellschaftlichen Lebens ausgleichen und nicht beseitigen will, muß sie allen Ideologen der einfachen Lösung zuwider sein.

3. Auch die militanten Rationalisten und Atheisten, die sich dem generellen Kampf gegen den Priestertrug und die Illusionen des Supranaturalismus verschrieben haben, können sich von ihren ideologischen Voraussetzungen her nur als Gegner der Anthroposophie verstehen (bekennende Atheisten wie Colin Goldner, Philipp Ariès, die Gebrüder Grandt, die französische MILS, die laizistischen Antisektenbewegungen, fanatische Freidenker, Angehörige verschiedener Wissenschaftsdisziplinen). Entsprechend spiegeln auch die von dieser Seite erhobenen Vorwürfe die ideologischen Dogmen wieder, die für die Identität der betreffenden Gruppierungen jeweils konstitutiv sind. So der Sektenvorwurf, der Vorwurf des Irrationalismus, der Unwissenschaftlichkeit, des Totalitarismus, des Guruismus, der Verblödung, Verführung, der Gehirnwäsche, der Indoktrination. All diesen Gruppierungen ist die generelle Feindschaft gegen den Geist und die Spiritualität eigen.

Ausblick

Überblickt man die Fülle der unterschiedlichen Diskurse, die über die Anthroposophie im 20. Jahrhundert geführt worden sind und bis heute geführt werden und versucht man sie als Teile der Wirkungsgeschichte der Anthroposophie zu begreifen, dann wird man die verschiedenen Formen dieser Diskurse als geistige Einheit erkennen. Die auf der Grundlage unterschiedlicher ideologischer Verortungen gegen die Anthroposophie vorgetragenen ablehnenden Positionen gehören zu ihrer Wirkungsgeschichte und sind auf sie ebenso bezogen, wie die zustimmenden Rezeptionsformen. Der Dualismus von Ablehnung und Zustimmung ist in einer höheren Ganzheit enthalten und von einem Dritten umschlossen: dem unoffenbaren Wesen der Anthroposophie, dessen weiter Horizont Zustimmung wie Ablehnung umgreift. Die Gegner gehören zum Schicksal der Befürworter und umgekehrt. Jene repräsentieren das, was die Menschheit von der Wirklichkeit der Anthroposophie trennt. Sie repräsentieren aber auch das, was deren Befürworter von der Anthroposophie trennt: Dogmatismus, Exklusivitätsansprüche, Machtinteressen und Angst vor dem Geist. Indem die Befürworter der Anthroposophie die Gegner als ihr Schicksal begreifen, lernen sie an ihnen ihre eigenen Mängel erkennen. Den Diskurs maßgeblich bestimmen können wir nur, wenn wir aktiv in ihn eingreifen. 


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