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Die Engel Avicennas

Der persische Arzt, Philosoph und Theosoph Avicenna (Ibn Sīnā, 980-1037), den die Philosophiegeschichte hauptsächlich als Schöpfer des Begriffs der Kontingenz kennt, war nicht nur einer der einflussreichsten Denker der islamischen Welt und der Verfasser eines Kanons der Medizin, der bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts das europäische Denken über Krankheit und Heilung geprägt hat. Er war auch ein Praktiker der Esoterik, dem sich in der Erfahrung des Denkens ein Kosmos geistiger Wesen eröffnete, aus dem die irdische Welt und der Mensch immerzu hervorgehen und auf den sie mit allen Fasern ihrer Existenz rückbezogen sind. Der Mensch stellt innerhalb dieses Kosmos eine zehnte Hierarchie dar, der seiner Kontingenz seine prekäre Freiheit und die Möglichkeit verdankt, sowohl zum Dämon als auch zum Engel zu werden. Um seine Möglichkeiten und seine Bestimmung auszuschöpfen, muss er das Exil dieser Welt verlassen und die Reise in den Orient, seine wahre Heimat, antreten. Von dieser Reise in den Orient handeln einige Erzählungen, die Avicenna verfasst hat. Der philosophisch-theosophische Kontext dieser esoterischen Erzählungen wurde von Henry Corbin in seinem Buch »Avicenne et le récit visionnaire« (1954) ausgeleuchtet. Es folgen einige Auszüge aus diesem Buch.

Engel, Geist und Intelligenz

Die Vorstellung einer Reise in den Orient – der Rückkehr der Seele in ihre »Heimat« unter der Leitung ihres spirituellen Führers, ihres himmlischen Selbstes – setzt eine »Pädagogik der Engel« voraus, die die Existenz der individuellen Seele und die Idee der Seele im allgemeinen mit der Welt der Engel in Zusammenhang bringt. Dieser Zusammenhang wird besonders deutlich in der visionären Erzählung Avicennas über Hayy ibn Yaqzān, in der seine Engellehre mit ihren drei Hierarchien in ihrem ganzen Umfang aufscheint: (1.) es gibt die Erzengel oder reinen Geistwesen (Intelligenzen), die Kerubim (Cherubim). (2.) Es gibt die Engel, die aus diesen hervorgehen und als Seelenwesen die Himmelssphären bewegen. (3.) Und es gibt die Menschenseelen oder »irdischen Engel«, die Menschenkörper bewegen und regieren.

Fortwährend werden wir hier an die Verwandtschaft und Wesensähnlichkeit zwischen den himmlischen und den menschlichen Seelen erinnert. Die Menschenseelen stehen zum Engel, aus dem sie hervorgehen, dem zehnten Kerub, in derselben Beziehung. wie jede einzelne Planetenseele zu dem Geistwesen (der Intelligenz), dem sie ihr Dasein verdankt. Daher kann die Menschenseele sich in Nachahmung der Planetenseele ihrer Engelhaftigkeit bewusst werden, die jedoch stets virtuell bleibt, aus dem einfachen Grund, weil sie eine irdische Seele ist. Aber im Unterschied zur Planetenseele vermag die Menschenseele sich zu irren, ihre Grenzen zu überschreiten und die in ihr liegenden dämonischen Möglichkeiten zu entfalten.

Der Begriff der Seele spielt in Avicennas Engellehre eine zentrale Rolle, denn die Engel-Intelligenz hat nicht nur eine kosmologische Funktion, sondern sie besitzt im Hinblick auf diese Seele auch eine soteriologische Bedeutung. Die letztere stellt die Vollendung der Pädagogik der Engel dar, die jedoch auch ein Problem aufwirft. Wenn nämlich unsere Seelen im selben Verhältnis zur aktiven Intelligenz (dem Heiligen Geist oder dem Erzengel Gabriel) stehen, wie jede einzelne Planetenseele zu ihrem Erzengel, und jede Intelligenz (ʿaql) mit ihrer Seele (nafs) eine dyadische Einheit, ein geschlossenes Universum, einen Himmel unter den Himmeln bildet, während die Menschenseelen eine Vielheit sind, die zu ein und derselben Intelligenz in Beziehung steht – wie hat man sich dann ihre Übereinstimmung mit den Himmelsseelen in Struktur und Verhalten vorzustellen? Die Antwort auf diese Frage ist weniger eine theoretische Lösung, als eine Vision – zum Beispiel die von Hayy ibn Yaqzān – aus der ein fundamentales Motiv der Engellehre unter einem neuen Aspekt hervortritt: das Motiv der spezifischen Individualität – d.h., der Individualität, die nicht mehr einer Spezies untergeordnet ist, sondern für sich eine eigene Spezies, einen Archetypus, darstellt.

Bei der Begründung seiner Engellehre musste sich der Avicennismus mit abweichenden Auffassungen über Engel auseinandersetzen, die einer grundlegend andersartigen Weltdeutung entsprungen waren. An erster Stelle mit der koranischen Engellehre, die eine geglückte esoterische Auslegung zu ihren philosophischen Quellen zurückzuführen vermag. Dann gibt es den weit ernsteren Konflikt mit der Engellehre des Averroes. Und es gibt das Unbehagen, das diese Engellehre im Christentum hervorgerufen hat, die es dem lateinischen Avicennismus verunmöglicht hat, in der scholastischen Orthodoxie des Mittelalters Fuß zu fassen, dessen Verbreitung uns trotzdem in die Lage versetzt, ihre Verwandtschaft und Ähnlichkeit mit so vielen anderen Sichtweisen unterschiedlicher Zeiten zu erkennen.

Die himmlische Verwandtschaft der Seele wird durch eine einfache Tatsache erwiesen, die zwei Konsequenzen hat: Wenn die Seele zum Selbstbewusstsein erwacht, indem sie das Bewusstsein ihres Selbstes erlangt, vermag die Seele den Engel und die Welt der Engel zu erkennen und wenn sie so das »Gefilde des Engels« – d.h. den Orient – betritt, verwirklicht sie zugleich ihren Auszug aus dem Kosmos, der als Okzident bezeichnet wird – mit anderen Worten, sie beweist ihre Transzendenz in bezug auf diesen Kosmos. Dies schließt eine Beziehung zwischen der denkenden Menschenseele (nafs natiqā) und dem Engel ein, die man zumindest als Wesensverwandtschaft bezeichnen kann (die in der Tat ihre Spur im zweigliedrigen Denkvermögen der Seele hinterlässt, die nach dem Vorbild der Dyade ʿaql-nafs geformt ist). Und es schließt ebenfalls eine Transzendenz gegenüber dem Kosmos ein, die dem Engel und der Seele gemeinsam ist. Indem die Seele ein Bewusstsein dieser Transzendenz erlangt, befreit sie sich vom Kosmos. Um genau zu sein: Gemeint ist das Bewusstsein der Räumlichkeit, das zur kosmischen Krypta gehört, die bis zur neunten (höchsten) Himmelssphäre reicht; die Transzendierung des sinnlichen Raums schließt nicht das Dahinschwinden in die Formlosigkeit oder die Unerkennbarkeit in sich. Reinen Formen kommt eine »Räumlichkeit« eigener Art zu.

Bereits diese Voraussetzungen waren geeignet, unsere Philosophen in Konflikt mit der islamischen Orthodoxie zu bringen. Nicht mit dem Text der koranischen Offenbarung als solchem; im Gegenteil: diese Offenbarung hat allen Spielarten der Theosophie  (jener Ibn ʿArabīs zum Beispiel) und ihrer emsigen esoterischen Auslegung unerschöpfliches Material zur Verfügung gestellt. Andererseits stellt die Engellehre den zweiten der fünf islamischen Glaubensartikel dar (Einheit Gottes, Engel, Propheten, offenbarte Bücher, Tag der Auferstehung) und von daher könnte man erwarten, dass die Lage unserer Philosophen im Islam weit weniger beschwerlich sein würde, als im Christentum. Tatsächlich hatte ihre Auffassung des Engels und der Engellehre zumindest eine Dezentralisierung des monotheistischen Universums zur Folge, aber es war unvermeidlich, dass dies sowohl im Christentum wie auch im Islam eine Reaktion der Orthodoxie hervorrief, die sich zwischen Unverständnis und erhöhter Wachsamkeit auf der einen und offener Feindschaft auf der anderen Seite bewegte. Man lotete die arabische Wortwurzel ʿaql aus, um Übersetzungen für die Begriffe Intellekt oder Intelligenz (Geist als Substanz, Nus) und Denken (Geist als Tätigkeit, noesis) zu finden. Darüberhinaus wurde die Tätigkeit des Denkens als Erzeugungsgrund des Seins und der Substanz beschrieben, von Intelligenz zu Intelligenz, bis hinunter zur zehnten, unserer aktiven Intelligenz, dem Erzeuger unserer Seelen. Die geistige Natur dieser Engelwesen verlangte außerdem nach einer Pneumatologie, welche die Immaterialität des Geistes (rūh) und seine Transzendenz gegenüber dem Kosmos bewies. Nun, diese Lehre konnte bei der offiziellen Orthodoxie keine Anerkennung finden, auch wenn sie vom Theologen al-Ghazzālī akzeptiert wurde.

Die Entsprechung zwischen dem Pleroma der Intelligenzen (ʿUqūl) und dem Pleroma der Engel (arabisch Malā’ika, persisch Fereshtagān) ist ein Bestandteil der Überzeugungen unserer Philosophen. Es würde sich lohnen, diese Entsprechung bis in die Zeit des spätgriechischen Neuplatonismus zurückzuverfolgen; dem Avicennismus kommt in dieser Geschichte zweifellos eine zentrale Bedeutung zu ...

Wie auch immer, wenn der Philosoph über den Begriff ʿaql mit der Bedeutung Engel-Intelligenz nachdenkt, versäumt er es nicht, einige überraschende Beobachtungen zu den Implikationen dieses Wortes mitzuteilen, das im Arabischen den griechischen Ausdruck Nus vertrat, für den im Lateinischen intellectus (Intellekt) oder intelligentia (Intelligenz, nicht ratio) verwendet wurde. Im Persischen verhält es sich ganz anders. Der entsprechende Ausdruck kharad ruft unmittelbar Vorstellungen hervor, die sich auf Erkenntnis und geistige Substanz beziehen (z.B. den Titel des Buches in Pahlavi Mēnokē Xrat: Himmlische Weisheit; kharad entspricht nus und sophia). Mit diesen Vorstellungen im Bewusstsein ist es gewiss leichter, unter dem arabischen Ausdruck ʿaql die Substanz des Engelwesens zu verstehen. ...

Ob das Wort ʿaql dem Bedeutungsumfang der »Intelligenzen« nun entsprechen mochte oder nicht, was gefunden werden musste und auch gefunden wurde, war die Entsprechung der Dii-Angeli (der Gott-Engel) des Proklus. Begriff und Idee der Malā’ika boten sich da von selbst an, nicht als nachträgliche Harmonisierung mit der Offenbarung des Koran; vielmehr brachte die esoterische Deutung diese Offenbarung wieder zu der vollen Wahrheit des Engels zurück, von der die koranische Sichtweise lediglich den exoterischen Aspekt darbietet.

Natürlich konnte sich die buchstabengläubige Orthodoxie mit dieser esoterischen Auslegung nicht anfreunden. Die schiitische Gnosis war damit höchst zufrieden; wenn man die Reaktion exoterischer Theologen kennenlernen will, genügt ein Blick in die voluminöse Enzyklopädie Madschlisī’s. Die Existenz von Engeln, heißt es dort, wird von allen Imāmiten, oder besser, von allen »Muselmännern« akzeptiert, mit Ausnahme derer, die sich zur Philosophie bekennen und unter die »Muselmänner« nur eingeschlichen haben, um die Grundsätze und Dogmen des Islam zu zerstören. Jeder fromme Gläubige weiß aus dem Koran (35:1), dass die Engel sublime, leuchtende Körper besitzen und entweder zwei, drei, vier oder mehr Flügel haben. Sie können die unterschiedlichsten Formen annehmen; sie sind mit vollkommener Erkenntnis begabt und besitzen eine vollkommene Herrschaft über ihre Handlungen. Ihr Leben besteht in der Verherrlichung Gottes; sie offenbaren sich den Propheten und ihren spirituellen Erben, um ihnen göttliche Botschaften zu überbringen. Aber alles, was darüber hinaus geht – z.B. die Behauptung ihrer Transzendenz oder die esoterische Rückführung ihres Begriffs auf die Intelligenzen und Seelen der Sphären, auf die Kräfte der Natur oder die menschlichen Fähigkeiten – das ist für den großen schiitischen Gelehrten Vermessenheit und führt vom rechten Weg ab. Daher zieht er es auch vor, sich bei seiner systematischen Erörterung der Engellehre an solchen Autoritäten wie Taftāzānī und Fakhraddīn Rāzī zu orientieren, statt sich direkt mit unseren Philosophen oder irgendeinem Schüler Ibn ʿArabīs auseinanderzusetzen.

Die Bedeutung dieser Erörterung liegt darin, dass sie zeigt, wie die Engellehre sich in den Augen eines orthodoxen Theologen seiner Zeit darstellte. Taftāzānīs Darstellung unterscheidet drei verschiedene Engellehren: die der islamischen Orthodoxie; jene unserer Philosophen, die zwischen reinen Intelligenzen oder Erzengel-Cherubim und Engelseelen unterscheiden, die mit der Regierung eines Körpers beschäftigt sind; schließlich die Lehre der theurgischen Weisen, die hier sowohl die Sabäer von Harrān als auch die Theosophen der Erleuchtung einschließen. Ihre Lehre besitzt die Eigentümlichkeit, dass sie keinen besonderen Wert auf den ʿaql, das Organ der Selbsterkenntnis des Engels legt, was ihnen ihre Herleitung des Kosmos aus den Engeln ermöglicht, in der die himmlische Hierarchie als eine Art Phänomenologie des Engelbewusstseins erscheint. Die theurgische Lehre legt ein größeres Gewicht auf den Rūh, statt von al-ʿAql al-awwal spricht sie von al-Rūh al-Aʿzam, dem höchsten Geist; sie anerkennt für jede Spezies, für jede Kategorie von Wesen einen regierenden und schützenden Engel. Diese Ansicht stimmt mit einer Grundvorstellung des Neo-Zoroastrismus der Ishrāqī (der Theosophen der Erleuchtung) überein und führt in letzter Konsequenz zu der Idee der Vollendeten Natur (des Menschen).

Die Darstellung Fakhraddīn Rāzīs hat den Vorteil, dass sie ein Prinzip der Systematisierung einführt. Ein jeder, so sagt auch er, stimmt der Existenz von Engeln zu, betrachtet sie als den alles überragenden Vorzug der höheren Welt und versteht sie als persönliche Wesen, die durch sich selbst existieren. Die Differenzen entstehen durch die Frage, ob diese rein geistigen Wesen einen Raum einnehmen oder nicht. Die Annahme der ersten Hypothese ermöglicht es, drei Engellehren in einer Gruppe zusammenzufassen: jene der Mehrheit der Muselmänner; jene der Astralreligion der Sabäer und jene der Mehrheit der Mazdäer und Mandäer. Den letzteren wird ein Dualismus zugeschrieben, der die Substanzen des Lichtes und der Finsternis einander als zwei Prinzipien gegenüberstellt, die zwar ewig, ihrem Wesen nach aber stofflich und daher räumlich sind. Die Substanz des Lichtes bringt unablässig Freunde – d.h. Engel hervor – nicht durch körperliche Zeugung, sondern so, wie Licht Licht erzeugt oder Weisheit Weisheit. Die Substanz der Finsternis bringt unablässig Feinde hervor – d.h. Dämonen – so, wie die Dummen Dummheit erzeugen usw.

Ebenso interessant sind die Ausführungen Fakhraddīns über jene, die die zweite Hypothese bejahen. Denn die letztere, so meint er, ist der Philosophie und gewissen christlichen »Sekten« gemeinsam. Aufgrund der später erörterten Einzelheiten kann es sich nur um gnostische Sekten handeln. Für diese Gnostiker sind die Engel Menschenseelen, die ihren Körper beim Tod in einem Zustand vollkommener Reinheit, Güte und Schönheit verlassen, während es sich bei den Dämonen um Seelen handelt, die ihre Körper hässlich und beschmutzt verlassen. Angelologie und Dämonologie sind mit dem menschlichen Leben verbunden und dieses wird im wesentlichen als Zwischenzustand aufgefasst, der die Möglichkeit des Engeldaseins, aber auch des Dämonendaseins in sich trägt. Dies stimmt sehr gut mit der Anthropologie der ismailischen Gnosis überein. Laut Rāzī sind die Engel der Gnostiker und Philosophen nicht mehr im Raum verortbar, und der Übergang zwischen dem tatsächlichen Engel und der Menschenseele, die zum Engel werden kann, ist fließend. Von den beiden Kategorien der Engel, den Intelligenzen und Seelen, stehen die ersteren, die reinen Geistwesen, zu den letzteren, den (auf Körper) wirkenden Engelseelen in derselben Beziehung, wie die letzteren zu unseren denkenden Seelen.

Aus Fakhraddīns Darlegung geht deutlich hervor, dass der Begriff des Engels und der Begriff der Menschenseele, Angelologie und Psychologie, von einer Geistlehre, einer zuvor ausgearbeiteten Pneumatologie abhängen. Ohne Zweifel war dies zu einem bestimmten Zeitpunkt ein zentrales Problem des islamischen Denkens.

Man sollte nicht vergessen, dass unter Raum hier der Raum verstanden wird, der von der kosmischen Krypta eingeschlossen ist, die bis zur neunten Sphäre reicht; die imago mundi wird nicht auf einen unendlich ausgedehnten Kosmos projiziert. Diese Einschränkung ist wichtig, damit es weiterhin möglich bleibt, den Engel vorzustellen und zugleich die Argumente für seine Überräumlichkeit anzunehmen. Die Welt der geistigen Wesen, der reinen, vom Stoff getrennten Formen, ist nicht die Welt des Formlosen oder des Unvorstellbaren, wie ein mystischer Monist vorschnell vermuten könnte, der darauf brennt, die Zersplitterung der Formenwelt zu überwinden. In der Welt der geistigen Wesen gibt es Unterschiede und Vielheit. Gewiss ist es nicht anders als durch Symbole möglich, jenen Erfahrungszustand zu beschreiben, der dem Dasein der reinen Formen entspricht, denn das heißt, »das Immaterielle jenseits des Materiellen zu erfassen, das Feuer zu empfinden, das jenseits alles Brennbaren brennt, kurz, die eigene absolute, reine Form wahrzunehmen und sie zugleich zu sein.«

Mit der Notwendigkeit dieses »Jenseits ...« begründete z.B. Suhrawardī die Überräumlichkeit des Geistes (Rūh). Die Mehrdeutigkeit des arabischen Wortes beiseite schiebend, unterscheidet der Meister der Theosophie der Lichter zwischen einem Lebensgeist (pneuma) – einem ätherischen Leib, der den physischen Körper am Leben hält – und der denkenden Seele – der »monadischen geistigen Substanz« (ʿaqlīya), dem Geist des Menschen (rūh al-insān) – , oder genauer: dem göttlichen Geist (al-Rūh al-ilāhī)im Menschen. Nun, dieser göttliche Geist, die denkende Seele im Menschen, ist weder ein Körper, noch körperlich, noch befindet er sich in der Welt der Körper; es besteht zwischen ihm und dem Engel kein Unterschied, abgesehen von seiner momentanen Pflicht, über einen Körper zu regieren. Befände er sich in der Welt – d.h., wäre er von Natur aus im Raum der kosmischen Krypta eingeschlossen – wie wäre es dann noch möglich, jene Zustände der Ekstase zu erleben, in denen sich die Seele jenseits dieser Welt wiederfindet, die ihr so fremd erscheint, in jener anderen Welt, die ihre eigentliche Heimat ist – , wo doch ein jeder weiß, dass es unmöglich ist, das reine ätherische Metall, aus dem die Himmelssphären bestehen, zu durchdringen?

Bedeutsam ist, dass sich unser Schaich auf die ekstatische Erfahrung beruft, um die Transzendenz der Seele, ihre Unabhängigkeit von der körperlichen Welt und ihre Verwandtschaft mit den Engelgeistern und Engelseelen zu bezeugen. Wegen dieser Überräumlichkeit ist die Reise in den Orient, die Hayy ibn Yaqzān unternimmt, möglich. Den Orient, das »Gefilde des Engels« zu erreichen, heißt, den Raum des Kosmos einer »Involution« zu unterwerfen. Aber dieser Orient, das Reich der Geister des Lichts, das von Hayy ibn Yaqzān in magischen Worten beschrieben wird, ist kein Abgrund reiner Negativität. Den besten beschreibenden Kommentar zu diesem Orient, zu dieser »Wohnstätte im Himmel, die über dem Sternenhimmel liegt« stellt vielleicht die Randbemerkung dar, die Avicenna einem Absatz der sogenannten Theologie des Aristoteles beifügte, der sich spezifisch auf diese Philosophie des Orients bezieht.

Die Theologie führt aus, dass jedes geistige Wesen, das im Himmel über dem Sternenhimmel residiert, »die gesamte Sphäre seines Himmels ausfüllt, aber dennoch einen besonderen Wohnort besitzt, der sich von dem seiner Gefährten unterscheidet, der aber anders beschaffen ist, als die Himmelskörper, denn diese geistigen Wesen sind keine Körper, ebensowenig wie dieser Himmel ein Körper ist.« Der entscheidende Unterschied liegt also im Wort »in«, insofern es das Enthaltensein eines Körpers in einem anderen ausdrückt. Wer den Engel und die Seele, den göttlichen Geist, zu Körpern erklärt, auch wenn es sich um einen sublimen und leuchtenden Körper handelt, wie die orthodoxen Gelehrten des Islam es tun, schließt sie auf immer im Okzident, von dem Hayy ibn Yaqzān spricht, oder in der Welt des Exils aus Suhrawardīs visionärer Erzählung ein. Trotzdem bedeutet die Tatsache, dass es sich nicht um Körper handelt, nicht, dass die Wesen aufhören, unterscheidbar zu sein; es gibt Vielheit, aber die Beziehungen des geistigen Raumes unterscheiden sich von jenen, die unterhalb des Sternenhimmels im planetarischen Raum bestehen, ebensosehr, wie die Existenzform eines Körpers in diesem Himmel sich von der Anwesenheit »in der ganzen Sphäre eines Himmels« unterscheidet. Deswegen kann man auch sagen, dass es »hinter dieser Welt einen Himmel, eine Erde, ein Meer, Tiere, Pflanzen und Menschen gibt, die alle himmlisch sind«; aber dort ist eben alles himmlisch, und die geistigen Wesen dort korrespondieren mit den menschlichen Wesen, und »es gibt keine irdischen Dinge«. Es scheint, als lese man einen Text Swedenborgs; aber Swedenborg hat ja auch die Theologie des Aristoteles gelesen. Avicenna kommentiert: »Es ist nicht wahr, wie manche behaupten, dass es dort keine Vielheit gibt. Aber diese Vielheit besteht nicht darin, dass die Wesen Teile haben; sie besteht vielmehr aus den Begleiterscheinungen der Wesen ... Die Form jenes Himmels und jener Welt und alles dessen, was sich in ihnen findet, ist also höher und edler ... Die Formen, die der Welt der Intelligenz angehören, können weder abgetrennt noch isoliert werden, obwohl sie unabhängig voneinander sind ... Trotzdem existieren alle gleichzeitig und ineinander.«

Die Glosse Avicennas lüftet für einen Augenblick den Schleier, der den Inhalt seiner orientalischen Philosophie verhüllt. Weil die Reise in den Orient eine Pädagogik der Engel voraussetzt, war es notwendig, hier einige Begriffe zu erörtern, die das Verhältnis der philosophischen Engellehre zu jener der islamischen Orthodoxie verdeutlichen. Die (dem Islam und dem Christentum gemeinsame) Idee des Engels als eines Dieners des höchsten Gottes und eines Trägers seiner Botschaften an die Propheten wird durch die neuplatonische Idee des Engels als des »Hermeneuten des göttlichen Schweigens« ersetzt – d.h. der Engel wird zum Verkünder und zur Epiphanie der undurchdringlichen und unaussprechbaren göttlichen Transzendenz. Hier entsprechen sich Angelologie und Theophanie und der ontologische Status des Engels wird zum herausragenden Status der Dii-Angeli (der Gott-Engel) erhoben. Einmal mehr werden wir zum ungelösten Problem zurückgeführt, das vom 12. Buch der Metaphysik des Aristoteles aufgeworfen wird – zum Problem der Vielheit der Ersten Beweger. Eine einzige göttliche Substanz (ousia) – gewiss – aber eine Vielheit von Dii-Angeli, von göttlichen »Wirkenszentren« (ein jedes füllt seine ganze Sphäre aus). Im Resultat haben wir es vielleicht mit einer Art Aufsplitterung des abstrakten Monotheismus zu tun; aber lässt sich das Problem auf den Gegensatz von Monotheismus und Polytheismus zuspitzen? Die Orthodoxie neigte dazu; aber die Engellehre unserer Philosophen zielt auf eine Überwindung dieses Dilemmas.

Es ist diese hermeneutische und apophatische Rolle des Engels, die es begreiflich macht, wie die Seele, die sich selbst erkennt, zugleich den Engel und die Welt der Engel erkennt – d.h. die Welt der Seelen und der aktiven Intelligenzen. In ihrem Akt der Selbsterkenntnis muss sie zugleich ein Bewusstsein des Aktes jener aktiven Intelligenz erlangen, die ihren intellectus possibilis (ihren bloß der Möglichkeit nach tätigen) in den aktiven Intellekt (den aktuell tätigen Intellekt) überführt. Diese Beziehung ist nicht bloß »intellektueller« Natur im modernen Wortsinn. Der Engel der Erkenntnis ist im eminenten Sinn ein Engel der Offenbarung in jedem einzelnen Erkenntnisakt, den er im Intellekt der Seele anregt, wenn die letztere sich bereit gemacht hat, die Erleuchtung in sich aufzunehmen, die ihr eine geistige Form bringt. Es ist unmöglich, diesen Vorgang aus der Sicht des heutigen Kritizismus umzudeuten und etwa zu behaupten der Engel sei eine Schöpfung unseres Denkens. Denn eine solche Schöpfung bedürfte einer Möglichkeitsbedingung und diese wäre eben genau der Akt des ʿAql al-faʿʿāl oder des Engels Heiliger Geist. Bereits die Baadersche Idee des »Cogitor«, des Gedachtwerdens im Denken, verwahrt uns vor dem Irrtum des »Cogito«, der Erzeugung des Gedachten durch den Denkakt. Deshalb ist die Selbsterkenntnis der Seele zugleich das Bewusstsein des Engels.

Noch genauer: In der Erkenntnis ihrer zweigliedrigen geistigen Natur wird der Seele ihre Gleichursprünglichkeit und Wesensverwandtschaft mit dem Pleroma offenbart, dessen Strukturgesetz jede Intelligenz und jede Seele, ʿAql und Nafs, zu einem Paar zusammenschließt. Genau hier, in der Zweigliedrigkeit ihrer geistigen Kräfte, vermag die Seele das Ziel und das letzte Geheimnis des kosmischen Werdens zu erfassen. Der zehnte Cherub, unsere aktive Intelligenz, hatte am Ende dieses Werdens, in dessen Verlauf die Dunkelheit immer mehr zunahm, nicht mehr die Kraft, eine Intelligenz, eine Seele und einen Himmel hervorzubringen. Diese triadische Einheit zersplitterte in die Vielheit unserer individuellen Seelen. Trotzdem muss es weiterhin eine Wesensähnlichkeit geben, wenn jede einzelne Menschenseele im selben Verhältnis zur aktiven Intelligenz steht, wie jede himmlische Planetenseele zu der Intelligenz, aus der sie hervorgeht. Daher offenbart ihr die Zweiheit ihrer Kräfte, derer sich die Menschenseele durch Selbsterkenntnis bewusst wird, jene geistige Struktur, durch die sie auf die Welt der Engel ausgerichtet ist. Ihre eigene kontemplative Kraft (ihre Fähigkeit des denkenden Anschauens) steht zur aktiven Intelligenz im selben Verhältnis, wie jede himmlische Seele zu ihrem Engel-Geist, und ihre eigene Denktätigkeit oder ihr Tun steht in derselben Beziehung zu ihrer Kraft des Anschauens, wie der einzelne Himmel zu der Seele, die seine Bewegung regiert. Indem sie ein Bewusstsein der Struktur der Engelwelt erlangt, lernt die Menschenseele, sich durch Nachahmung so zu verhalten, wie sich eine Himmelsseele verhält. Wir müssen uns daher jetzt der Prozession zu wenden, durch welche die zwiefältige Engelshierarchie in den Kosmos eintritt.

Kosmische Geistwesen: Himmlische Engel oder Seelen

Ein Beispiel für die Modifikation des dreifältigen Rhythmus mit dem das Dasein der Himmelsseelen verbunden ist, begegnet in der Abhandlung, die den lateinischen Scholastikern unter dem Namen Philosophia Algazelis bekannt war. Hier gibt es nur zwei »Dimensionen« auf jeder Stufe der kosmischen Prozession. Die Erste Intelligenz ist – für sich betrachtet – bloß möglich, in bezug auf ihren Seinsgrund betrachtet, ist sie dagegen notwendig. Insofern sie bloß möglich ist, existiert sie virtuell, insofern sie notwendig ist, existiert sie tatsächlich. Nun erkennt sie ihr eigenes Sein und ihren Seinsgrund und diese doppelte Erkenntnis erzeugt zwei weitere Wesen: einen anderen Engel und einen Himmel. Es gibt also keine Seele mehr, um eine Triade zu bilden; diese Tatsache beseitigt die Beziehung der Seele zur Erzengel-Intelligenz, aus der sie hervorgeht, die Beziehung, die der Avicennismus als Urbild der Beziehung der Menschenseele zu ihrer aktiven Intelligenz betrachtete. Der gesamte Bau der Engellehre wird dadurch untergraben und mit ihm das Fundament, auf dem die von ihr abhängige Psychologie erbaut war.

Der Averroismus sollte den härtesten Schlag gegen die Engellehre Avicennas führen. Averroes kritisiert die kosmische Engellehre Avicennas wegen ihres triadischen Aufbaus, der die Sphärenseelen zwischen die reinen Intelligenzen und die Körper der Himmelssphären stellt. Der Beweger einer Sphäre ist ein Vermögen, eine begrenzte Kraft, die dennoch aufgrund ihrer Sehnsucht nach einem Wesen, das weder ein Körper noch eine Kraft ist, die einem Körper innewohnt, sondern eine reine Intelligenz, zu einer unbegrenzten Kraft wird. Indem er diese Intelligenz erkennt, sehnt sich der Beweger der Sphäre in unendlichem Verlangen nach ihr, und aus dieser unendlichen Sehnsucht entsteht die ewige Bewegung seines Himmels. Aber wenn man diese Kraft als Seele bezeichnet, dann handelt es sich lediglich um die Übertragung eines Wortes, das der Bezeichnung von Kräften dient, die in der sublunaren Welt die Körper beleben, auf etwas anderes. Die averroistische Engellehre kann die zwiefältige Engelshierarchie des Avicenna nicht akzeptieren, die nicht nur für die Kosmologie, sondern auch für die Anthropologie von zentraler Bedeutung ist. Im Gegenteil, wer die Idee der Himmelsseelen Avicennas akzeptiert, begeht laut Averroes einen »philosophischen Anfängerfehler«.

Die averroistische Kritik untergräbt auch die Ordnung des ewigen Hervorgangs des Pleromas der Engelwelt; sie behauptet, die Anwendung des berühmten Grundsatzes »aus dem Einen geht stets Eines hervor« sei ebenso unangebracht, wie die Annahme himmlischer Engel als Beweger der Sphären. Averroes will Peripatetiker im strengsten Sinn des Wortes sein. Daher erscheint ihm die Idee einer reinen Intelligenz, die der Seinsgrund der auf sie folgenden Intelligenz ist, ebenso wenig einsehbar, als die Idee einer schöpferischen Ursache. Trotzdem bedarf der Kosmos eines Prinzip der hierarchischen Unterordnung, die aber ganz anders zu denken ist. Nach der »Metaphysik« des Aristoteles wird jede Sphäre vom Wunsch bewegt, der Intelligenz gleich zu werden, zu der sie gehört; eine jede bildet mit ihrer Intelligenz eine Art geschlossenes System. Laut Averroes sehnt sich jeder einzelne Beweger einer Himmelssphäre in gleicher Weise nach der bewegenden Intelligenz der höchsten Sphäre. Dies eröffnet die Möglichkeit, die absteigende Ordnung der Prozession Avicennas umzukehren, nach der jede Intelligenz durch ihre Selbsterkenntnis die auf sie folgende Intelligenz und die Seele ihres eigenen Himmels hervorbringt. Nun vermag die reine Intelligenz der Seinsgrund einer himmlischen »Seele« zu sein, nicht weil sie diese Seele erkennt, sondern weil sie von dieser »Seele« erkannt wird; die reine Intelligenz ist nicht länger die hervorbringende Ursache, der Seinsgrund, sondern die Zielursache, das Strebensziel, oder besser – insofern und – weil sie die Zielursache ist, ist sie zugleich der Seinsgrund. So betrachtet kann die bewegende Intelligenz der höchsten Himmelssphäre als Gegenstand der Sehnsucht die Zielursache aller himmlischen Beweger sein. Daher muss der berühmte Grundsatz »aus Einem geht nur Eines hervor« aufgegeben werden, und mit ihm auch die Ordnung der Kausalität, die er bedingte. Wenn einmal zugegeben wird, dass das, »was erkannt wird, die Ursache des Erkennenden ist«, scheint es, als ob ein und dieselbe erkennende und erkennbare Substanz gleichzeitig der Seinsgrund vieler Wesen zu sein vermag, da diese unterschiedlichen Wesen alle ein und dieselbe Substanz nach Maßgabe ihrer jeweiligen Möglichkeiten erkennen. Der Beweger des Körpers des Ersten Himmels erkennt am Ersten Beweger etwas anderes, als der Beweger (die Form oder »Seele«) der Saturnsphäre usw.

Man muss nicht ausdrücklich betonen, welche grundstürzenden Auswirkungen diese Auffassung auf die Engellehre hat. Diese Konsequenzen auszuschöpfen ist hier nicht der Ort. So viel sei jedenfalls gesagt, dass in der averroistischen Weltsicht die reinen Akte oder Intelligenzen, die die Himmelskörper bewegen, deren Seinsgründe (hervorbringende Ursachen) sind, weil sie ihnen ihre Form geben und zugleich deren Zielursachen, weil sie ihnen ihre Bewegung geben. Aber die Intelligenzen sind genau deswegen die Ursache ihrer Bewegung, weil sie die Geber ihrer Formen sind, denn »ihre Formen sind nichts anderes als die Ideen, die die Himmelskörper von ihren Bewegern haben«. Nunmehr ist es die Erkenntnis der reinen Intelligenz, ihres Beweggrundes, die eine jede Sphäre dazu veranlasst, sich in ewiger Sehnsucht auf diese zuzubewegen und aufgrund dieser Sehnsucht ist die Intelligenz ihr Beweger. Aus der Sicht des Emanatismus Avicennas stellt die Himmelsseele die Selbsterkenntnis der Intelligenz dar, insofern sie ihr eigenes Wesen als notwendig durch ihren Seinsgrund bedingt erkennt. Und ihr Himmel, der Stoff ihrer Sphäre, stellt die Erkenntnis des Nichtseins dar, das in ihrem Sein enthalten ist, der bloßen Möglichkeit ihres Wesens, wenn dieses rein für sich betrachtet wird, unabhängig von ihrem notwendigen Hervorgehen aus ihrem Seinsgrund. Im Avicennismus drückt die ewige Bewegung, die der Sphäre durch die Seele gegeben wird, nicht ein intellektuelles Verlangen aus – d.h. den gedanklichen Akt, durch den sie ihr Gutes und ihre mögliche Vollendung erkennt, um dadurch die kosmische Ordnung zu erfüllen –, sondern einen Zustand der Unvollkommenheit, eine fehlende Erfüllung, eine Sehnsucht nach dem noch nicht Verwirklichten, eine Art »romantischer Sehnsucht«, wenn man so will.

Die Unterschiede zwischen diesen beiden Engellehren färben natürlich auch auf die Ansichten über die Beziehung der Menschenseele zur aktiven Intelligenz ab. Für Avicenna ist die Wesensverwandtschaft der Himmelsseelen und der Menschenseelen von zentraler Bedeutung. Wird die Eliminierung der Himmelsseele, des himmlischen Engels, der der Ordnung der Kerubim unterstellt ist, nicht notwendigerweise die Eliminierung der Menschenseele, des »irdischen Engels« nach sich ziehen? Das gesamte Schicksal der Seele steht zur Disposition – das Schicksal der Seele, deren ontologischer Status als Mittlerin oder Engel zweiter Ordnung zugunsten des reinen Intellektes verworfen wird.

Auch die Frage nach dem menschlichen Geist wird anders beantwortet werden. Wenn der menschlichen Seele aufgrund ihrer zwei geistigen Fähigkeiten – der betrachtenden und der tätigen, die die zwiefältige Engelshierachie repräsentiert – die Möglichkeit des Engelseins zuerkannt wird, dann erscheint sie wenigstens der Möglichkeit nach – aufgrund der Beschaffenheit ihres Wesens – als dazu berufen, zur reinen Form zu werden. Wird ihre Individualität aus dieser Perspektive immer noch allein aus der Materie, dem einzigen individuierenden Prinzip resultieren, das ausschließlich der Zahl nach unterschiedliche Individuen hervorbringt, die ein und derselben Spezies angehören? Oder muss man sich nicht eine Form der Individuation dieser Seele denken, die ihrer potentiellen Engelhaftigkeit entspricht, die nicht nur nach einer zahlenmäßigen Individuation innerhalb einer Spezies verlangt, sondern nach einer Individuation, bei der jedes Individuum eine eigene Spezies bildet? Diese Frage stellt sich natürlich nicht, wenn man nicht, wie hier, von der Existenz irdischer Engel ausgeht. Die letztere Auffassung der Menschenseele gründet auf der Beobachtung, dass sie über zwei Kräfte – zwei Antlitze – verfügt, die aus ihr eine virtuelle Syzygie nach dem Vorbild des Pleromas der Engel machen. Die Syzygie setzt voraus, dass die individuelle Seele ihren eigenen intellectus possibilis besitzt. Und genau davon geht der Avicennismus aus. Averroes dagegen gesteht dem Individuum lediglich einen intellectus passivus zu, eine bloße Veranlagung zur Aufnahme des Erkennbaren, die mit dem Körper zugrunde geht. Dies ist in der Tat das große Problem des Averroismus: wie steht es mit der individuellen Unsterblichkeit?

as Problem hat das Abendland Jahrhunderte lang beschäftigt. Es in seinen Untiefen auszuloten, ist hier nicht möglich. Es ist aber nicht weiter schwierig die Differenzen hinsichtlich der Beziehung des individuellen Intellekts zur aktiven Intelligenz zu erkennen, auf der die Idee einer Pädagogik der Engel fußt, die es der Seele erlaubt, ihre Reise in den Orient anzutreten. Aus averroistischer Sicht ist die Empfänglichkeit des passiven Intellekts des irdischen Individuums für das Erkennbare nichts anderes als die aktive Intelligenz, »die sich in einer Seele vervielfältigt, wie das Licht in einem Körper«. Aber das Licht gehört nicht zu dem Körper. »Alles Ewige und Verewigbare im Individuum gehört vollständig der aktiven Intelligenz an und ist unsterblich allein aufgrund seiner Unsterblichkeit.« Auch hier müssen wir uns zu einer anderen Vorstellung von Individualität erheben, als jener, die sich aus der Annahme ergibt, die Materie sei das einzige Prinzip der Individuation. Aus Avicennas Sicht empfängt der intellectus possibilis, indem er von der aktiven Intelligenz erleuchtet wird, bereits eine Garantie seiner Unsterblichkeit. Er wird durch die aktive Intelligenz in Tätigkeit versetzt, sie ermöglicht in ihm geistige Erkenntnis, so wie die Sonne durch ihr Licht den Augen das Sehen verleiht. Die aktive Intelligenz ist mehr als Sehen und Gesehenes, sie ist das Licht, das das Sehen ermöglicht.

Dies ist deswegen der Fall, weil der menschliche Intellekt nicht nur eine bloße Veranlagung zu geistiger Erkenntnis in sich trägt; er ist der Gefährte des Engels, der »Wandergefährte«, der vom Engel geführt wird und den der Engel seinerseits benötigt, um seinen Gottesdienst zu vollbringen – der darin besteht, dass er geistige Formen ausstrahlt (offenbart) und das von ihnen Berührte zu seinem eigenen Seinsgrund erhebt. In einem gänzlich anderen Sinn als im Averroismus ist bei Avicenna die Beziehung des Menschen zum aktiven Intellekt die Garantie seiner Fortexistenz, und diese Garantie setzt den Begriff der Seele voraus, denn unsere Seele verhält sich zur aktiven Intelligenz, wie sich jede himmlische Seele (Nafs) zu ihrem Kerub (ʿAql) verhält. Daher ist es wichtig, einen Begriff davon zu entwickeln, was an sich die mittlere und vermittelnde Position dieser himmlischen Seelen notwendig macht, die Averroes für überflüssig hält. Diese Notwendigkeit für die Menschenseele wird später noch deutlicher werden, wenn wir die zwiefältige Pädagogik betrachten, die zeigt, wie sie »persönlich« in das Leben des Menschen eingreifen und sich selbst der Seele als Vorbild anbieten.

Aus jeder reinen Intelligenz geht ein Himmel hervor. Die Intelligenz ist es, die den Himmel bewegt, durch die Liebe und die Sehnsucht, deren Gegenstand sie ist; aber die unmittelbare Ursache der Bewegung dieser Himmelssphäre kann nicht eine rein geistige Kraft sein, die keiner Veränderung unterliegen darf und in keinem Fall Einzeldinge imaginiert. Die dreifältige Rhythmus der Emanation bringt es mit sich, dass aus jeder Intelligenz nicht nur eine andere Intelligenz und ein Himmel hervorgehen, sondern auch eine Seele, die zwischen dem Himmel und der Intelligenz steht und vermittelt. Die Seele bildet nicht die höhere »Ebene« der Intelligenz ab – d.h. ihre Erkenntnis des Seinsgrundes, aus dem sie stammt – sondern eine mittlere »Ebene« – d.h. die Erkenntnis der Intelligenz, von ihrem Seinsgrund notwendig bedingt zu sein. Als solche findet die Seele ihre Vollendung nicht im ersten Stadium, in dem sie ins Dasein tritt. »Daher wird sie immer von der Sehnsucht, von der Liebe getrieben, die sie dem entgegenträgt, das in ihr noch nicht verwirklicht ist, ihrem Prinzip der Vollendung nämlich. Um zu diesem Prinzip zu gelangen, wird sie ihren Körper, der von ihr abhängt, in Bewegung versetzen. Ihre Existenz in der Hierarchie der Wesen ist notwendig, um diese Bewegung zu erklären.«

Diese Disposition der Himmelsseele hat ihr Gegenstück in der Seele des Menschen in jener geistigen Kraft, die als intellectus practicus, als tätiges Denken, bezeichnet wird, die als jener der beiden »irdischen Engel« erscheint, der »auf der linken Seite steht«, dessen Aufgabe darin besteht, zu schreiben – d.h. umzusetzen und auszuführen – was vom anderen Engel, »der auf der rechten Seite steht«, diktiert wird. Himmlische Seelen und menschliche Seelen haben gemeinsam, dass sie zu Beginn ihrer Existenz nicht rein geistig sind; sie haben außerdem gemeinsam, dass sie physische Körper lenken und beherrschen. Um dies zu tun, müssen sie imaginieren. Die gesamte umfassende Welt des Imaginierbaren, das Universum der Symbole (ʿAlam al-mithāl) würde ohne die Seele nicht existieren. Aber die himmlischen Seelen sind in dieser Beziehung den Menschenseelen überlegen; schon zu Beginn ihres Seins empfangen sie von der Intelligenz, vom Erzengel, aus dem sie hervorgehen, alles, was sie für ihr Dasein und Wirken benötigen. Der Körper mit dem sie versehen werden, der das Denken desselben Erzengels »materialisiert«, besteht aus »himmlischer Stofflichkeit«, aus einer sublimen und unzerstörbaren »fünften Essenz« (quinta essentia, Äther). Aus diesem Grund, und weil sie – im Unterschied zu den menschlichen –, nicht von sinnlichen Wahrnehmungen abhängig sind, sind ihre Imaginationen stets wahr. Eine jede Seele »bewegt ihre Sphäre mit einer natürlichen, ewigen und kreisförmigen Bewegung, aber die bewegende Kraft ist der Wille der Seele und die liebende Sehnsucht, sich der vollkommen glückseligen Intelligenz anzugleichen, aus der sie hervorgeht.«

Anders als bei Averroes ist also die Seele als unmittelbare Ursache der Bewegung der Himmelssphäre notwendig. Die Intelligenz kann nicht dieser unmittelbare Beweger sein, sie kann nicht unmittelbar sein, was die Himmelssphäre sucht, denn nicht einmal ein himmlischer Körper kann das Wesen einer reinen Intelligenz in sich aufnehmen; die letztere vermag in ihr nicht zu existieren. Aber wonach die Seele zärtlich verlangt, ist genau dies: sich der Intelligenz anzugleichen, indem sie wird wie sie, so wie der Schüler wie der Meister wird, oder der Liebende wie das Geliebte; das Bild dieser Schönheit verstärkt die Glut seiner Liebe; diese Glut lässt die Seele aufblicken und ruft eine Bewegung hervor, durch die sie sich dem Gegenstand nähern kann, dem sie gleich zu werden wünscht. Die Imagination der Schönheit ruft die Glut der Liebe hervor, die Liebe entzündet das Verlangen und das Verlangen erzeugt Bewegung.

Avicennas spekulative Schau ist hier bereits vom Feuer der cognitio matutina, der Erkenntnis der aufgehenden Sonne gefärbt. Im Prolog der kurzen spirituellen Erzählung, der Suhrawardī den Titel »Geleiter der mystisch Liebenden« gab, tragen die drei Wesen, die aus der dreifältigen Selbsterkenntnis der Intelligenz hervorgehen, Namen, die weniger Abstraktionen, als Typisierungen sind, da sie mit drei Namen aus der biblisch-koranischen Hagiographie korrespondieren (Josef, Zulaykhā, Jakob). Diese drei Gestalten, die aus der Meditation des Ersten Erzengels hervorgehen, der über sein Wesen nachdenkt, sind Schönheit, Liebe und Schwermut. Die Schwermut korrespondiert dem Himmel, dessen ätherische Substanz den Gedanken des Nichtseins »materialisiert«, sie stellt die Zone des Schattens dar, die Distanz, die sich stets zwischen der Liebe und der Schönheit auftut, nach der erstere strebt – d.h. zwischen den himmlischen Engel und den Erzengel-Cherub. Gleichzeitig aber ist dieser Himmel, diese Schwermut das Werkzeug, das es der Seele ermöglicht, auf ihrer langen Pilgerfahrt diese Schönheit, das Ziel ihrer Sehnsucht zu erreichen, ebenso wie die Seele, indem sie ihren Himmel bewegt, dem Erzengel zustrebt, aus dem sie hervorgeht. Die Nostalgie, die dem Herzen des Mystikers vertraut ist, ist auch das Geheimnis der Himmelsphysik.

Diese Vision mit ihrer subtilen und zarten Symbolik ist vielleicht auch ein Zeugnis für die Unterstützung, die die Himmelsseele der menschlichen Seele angedeihen lässt – d.h., ein Zeugnis der Pädagogik, die sie durch direkte Einwirkung ausübt. Unterhalb des großen Orients der reinen cherubinischen Intelligenzen fügt die Philosophie der Erleuchtung einen mittleren Orient ein, die Welt der Symbole, das Gefilde der himmlischen Engel oder Seelen. Diese himmlischen Seelen sind es, die der Imagination, dem Organ der Metamorphosen, die symbolischen Visionen vermitteln, die sich den Propheten und theosophischen Weisen offenbaren. Die beiden Gruppen unterscheiden sich nicht sonderlich, denn auch wenn der Prophet seine Offenbarungen vom Erzengel Gabriel empfing, so ist es doch nicht weniger wahr, dass jeder mystische Weise, der sich mit der aktiven Intelligenz vereinigt (die mit dem Engel Heiliger Geist identisch ist), zum »Siegel der Prophetie« wird. Die persönliche Unterstützung, die die Himmelsseelen dem Menschen nach dem Tode zuteil werden lassen, ist lediglich die Fortsetzung dieses Beistandes auf Erden. Um sich nach dem Tod Stufe um Stufe in die Welt der reinen Intelligenzen erheben zu können, muss die Seele sich in den sublimen himmlischen Körper hüllen, der für sie durch die Imaginationen, die Symbole und Träume zubereitet wurde, die die himmlischen Seelen ihr zuteil werden ließen. Die Welt der Symbole und archetypischen Bilder ist auch die Welt der Erinnerung (ʿalam al-dhikr): die Himmelsseelen sind es, die die Spuren aller irdischen Dinge in sich bewahren. Nicht zufällig beruft sich Avicenna auf seine eigene »orientalische Weisheit«, wenn er in einer seiner Anmerkungen zur Theologie des Aristoteles auf diese schwierigen Fragen anspielt. Hier findet sich der Umriss der Themen, in denen die »orientalische« Theosophie Suhrawardīs später gipfelt.

Wenn die beiden Philosophen die aktive Intelligenz auf den Heiligen Geist oder den Erzengel Gabriel »zurückführen« oder wenn sie über die Beziehung der aktiven Intelligenz zur Menschenseele meditieren, dann dürfen wie den Gefühlston, ja sogar die Zärtlichkeit nicht übersehen, die bei beiden mit dieser Beziehung verbunden ist. Dann werden wir vielleicht auch jedes Gerede über einen Rationalismus oder Intellektualismus vermeiden können, der den Geist auf den Intellekt reduziert. »Die aktiven Intelligenzen schmücken und vollenden die Seele, die für sie wie ein Kind ist; denn die geistige Natur der Seele ist nicht mit ihrer Substanz mitgegeben, sondern wird erworben.« Diese Anmerkung steht am Rand einer Passage der Theologie des Aristoteles, in der die Seele des Menschen als Kind der aktiven Intelligenz beschrieben wird, die sich wie die Eltern auch um deren Erziehung kümmert. »Es ist die Intelligenz, die die Seele vervollkommnet, denn sie ist es, die sie geboren hat.«

Hier wird die Beziehung der Seele zur aktiven Intelligenz unzweideutig als Beziehung zwischen Kind und Eltern bezeichnet. Auch anderswo beschreibt die Theologie des Aristoteles die Vereinigung zwischen der aktiven Intelligenz des Engels und dem potentiellen Intellekt der Seele so, dass sie von einer unvergleichlichen Liebe und Freude begleitet ist. Diese Vereinigung krönt eine wechselseitige Sehnsucht, denn auch wenn die denkende Menschenseele ihre Existenz der aktiven Intelligenz verdankt und ohne diese Vereinigung nicht einmal leben kann, so bedarf doch andererseits diese aktive Intelligenz des Engels der denkenden Menschenseele als ihres empfangenden Gefäßes und herausragendsten Vermittlers, um ihre Kräfte – die Geschenke der geistigen Formen, die den stofflichen Dingen ihre Gestalt geben – auf diese Erde herabzusenden. Daher wird die Liebe zwischen der Intelligenz des Engels und der Seele nicht nur mit der Liebe zwischen Eltern und Kind, Meister und Schüler, sondern auch mit der wechselseitigen Liebe der Liebenden verglichen.

Aus der Sicht dieser Vereinigung bieten sich die himmlischen Seelen nicht mehr länger als unmittelbare Helfer an, sondern als Vorbilder, die nachgeahmt werden wollen. Die Menschenseele sollte auf das »Werde, was du bist hören« und ihm folgen. Die Seele eignet sich dadurch ihre geistige Natur (ʿaqlīya) an, während der Engel sein Kind vervollkommnet. Diese zwei komplementären Aspekte bestimmen die Reise in den Orient, oder wie es in der Erzählung von Hayy ibn Yaqzān heißt, die »Reise in Begleitung des Engels«. Wenn sie sich in dieser Begleitung befindet, steht die Seele in derselben Beziehung zur aktiven Intelligenz, wie eine jede Himmelsseele zu ihrem Erzengel-Cherub. Die Pädagogik der Engel zielt auf die Individuation der Menschenseele, auf ihre Vollendung durch die Engelwerdung ab.

Kosmische Geistwesen: Die Erzengel-Cherubim oder Intelligenzen

»Das Buch Gottes enthält vier Dinge: den gewöhnlichen Wortsinn, symbolische Andeutungen, geheime Bedeutungen, die sich auf die übersinnliche Welt beziehen und hohe spirituelle Lehren. Der gewöhnliche Wortsinn ist für die meisten Gläubigen verständlich. Die symbolischen Andeutungen einigen Auserwählten. Die geheimen Bedeutungen sind den Freunden Gottes vorbehalten und die hohen spirituellen Lehren den Propheten.«

Dschaʿfar as-Sādiq, sechster Imam

Diese Prozession entspricht der Prozedur, der sich das spekulative Denken unterzieht, wenn es von der Einheit des absolut Einen zur Vielheit des Seienden und der Mannigfaltigkeit der Wesen übergeht. Der Übergang steht unter einem ehernen Gesetz: ex uno non provenit nisi unum (aus dem Einen geht nur Eines hervor). Die exoterische Idee der Schöpfung ist von vorneherein ausgeschlossen, insoweit sie eine willkürliche Entscheidung, eine Art »Staatsstreich« voraussetzt und alle Geschöpfe gegenüber dem Schöpfer auf ein und dieselbe Ebene der Geschöpflichkeit stellt. Hier geht es um eine ewige Ordnung, die durch die Notwendigkeit des ewig notwendigen Wesens bedingt ist. Das (geschöpfliche) Wesen, das so ins Dasein tritt, ist aufgrund der Notwendigkeit des notwendigen Wesens ewig notwendig, auch wenn es durch sich selbst lediglich ein mögliches Dasein besitzt. Natürlich handelt es sich bei dieser reinen Möglichkeit lediglich um eine Perspektive der Betrachtung, da das Mögliche tatsächlich aufgrund der Notwendigkeit des ersten Wesens notwendig ist. Trotzdem: Da der Akt des Denkens selbst bereits am Sein teilhat, enthält diese Perspektive der Betrachtung des ersten geschöpflichen Wesens als möglicherweise Nicht-Seiendes bereits ein Moment der Negativität und Dunkelheit; diese Negativität, die eine Selbstbeschränkung des ersten Wesens ist, bewirkt den Übergang aus der absoluten Einheit des ursprünglich Einen in die vervielfältigte Einheit, die sich alsdann in der Vielheit der Einheiten wiederfindet. Dieser Übergang erfordert notwendig ein Medium, einen Mittler, die erste Wirkung des einen, notwendigen Wesens als Ursache. Da das Sein dieser ersten Wirkung das Notwendige und das Mögliche einschließt, ist seine Einheit keine reine Einheit mehr. Durch seine Mittlerschaft beginnt ein Prozess, der eine Vielheit reiner Substanzen (reiner Geistwesen) ins Dasein ruft, wobei ein jedes dieser Geistwesen eine eigene Art darstellt – bis hinunter in jene Region, in der die Fülle des zuerteilten Seins schließlich ausgeschöpft und in die Mannigfaltigkeit herabgesunken ist, die eine Vielzahl von Individuen konstituiert, die ein und derselben Art angehören.

Die erste Folge, das erste Verursachte (al-maʿlūl al-awwal), das ursprünglich Hervorgebrachte (al-Mubdaʿ al-awwal), ist die Erkenntnis, die der erste, alles überragende Seinsgrund von sich selbst hat, ohne dass dieser erste Seinsgrund einer ideellen Form bedürfte, die er seinem Erkennen zugrunde legt. Das erste Verursachte ist nicht anderes als der Gedanke, der ewig vom Denken gedacht wird, das sich selbst denkt. Louis Gardet bemerkt zu Recht, dass das erste Wesen Avicennas nicht das Denken ist, das nicht denkt (Plotin), sondern vielmehr das reine Denken, das sich selbst denkt und zugleich überragende Schönheit, Güte und selbstursprüngliche Liebe ist. Aber dieses Denken, diese Intelligenz (ʿAql, Nous), die Erkenntnis, in der und durch die das Erste Wesen sich selbst erkennt, ist auch ein Hinaustreten aus sich selbst; die ewige Tätigkeit dieses Denkens ist die ewige Erzeugung eines Wesens, das aus der Einheit des notwendigen Wesens heraustritt, das sich von ihm unterscheidet und das, weil es sich von ihm unterscheidet, bereits eine Dualität in sich birgt. Es ist dieses erste Verursachte, das die verschiedensten Namen erhält, durch das die Angelologie, die weit über die Ebene der Geschöpfe hinausreicht, die Bedeutung einer Epiphanie des ersten Seinsgrundes annimmt, der sich ewig für sich selbst offenbart. Das erste Verursachte ist die erste Intelligenz, al-ʿAql al-awwal, die in der Erzählung von Hayy ibn Yaqzān als erster Cherub (Karūbūn, Karūbīyūn) angesprochen wird. In der ismailischen Theosophie wird er als »der (Gott) am nächsten stehende Engel«, als »Allerheiligster Erzengel« bezeichnet. In der Theosophie der Erleuchtung Suhrawardīs erhält er den Namen Bahman (Vohū Manah), den Namen des ersten der Amahraspand nach Ohrmazd, des ersten zoroastrischen Erzengels.

Dieser Hinweis dient nicht nur der beiläufigen Erinnerung an Suhrawardīs Engellehre. Es wurde bereits bemerkt, dass es schwierig ist, in der Reihe der iranischen Philosophen eine klare Trennungslinie zwischen den Schülern Suhrawardīs und jenen Avicennas zu ziehen. Die Wiederaufnahme zoroastrischer Motive durch die Philosophie der Erleuchtung findet sich auch bei Schülern Avicennas. Zum Beispiel in den Anmerkungen Sayyed Ahmad ʿAlawīs zu Avicennas »Shifā«, die selbst ein umfangreiches Werk darstellen. Sayyed Ahmad war der Schwiegersohn des großen Mīr Dāmād (gest. 1630), des Meisters der Philosophie in Isfahan. Tatsächlich ruft die Vision des Möglichen, das aus dem Notwendigen hervorgeht, des Notwendigen, das vom Möglichen begrenzt wird – diese Vision des Möglichen als der »unüberschreitbaren Schwelle zum absoluten Nichtsein« – im Historiker die Frage hervor: »Wurde denn Ahriman nicht unterworfen?«

Es ist dies eine Frage, von der unser Philosoph der Erleuchtung aus Isfahan, ein Schüler Avicennas, bereits eine Vorahnung hatte, die aber in jedem Schüler Avicennas mit gewissen Kenntnissen der alten dualistischen Philosophie hätte entstehen können. Er beantwortet die Frage mit gewissen Analogien, die ein Beispiel der komparativen Philosophie àvant la lettre darstellen. Sayyed Ahmad hat gerade Avicennas Ausführungen über das Hervorgehen der Vielheit kommentiert; er erinnert an den pythagoräischen Grundsatz: »Wenn aus der Ursache das Eine hervorgeht, dann geht aus ihr das Nicht-Eine hervor« – um sich sogleich auf die Lehre zu beziehen, »die von Zoroaster vertreten worden sein soll, die besagt: Als aus dem ersten Wesen ein Engel namens Yazdān hervorging, ging aus seinem Schatten ein Dämon namens Ahriman hervor. – Darin liegt vielleicht«. fährt er fort, »eine Erläuterung dessen, was wir soeben sagten. Der Engel verweist auf die höheren ›Dimensionen‹, Ahriman auf ihr Gegenteil. Schatten ist eine Anspielung auf die Tatsache, dass diese Konsequenz (der Emanation Yazdāns) immanent ist, so wie der Schatten dem Beleuchteten immanent ist. Kurz, das Verhältnis des möglichen Seins zum Sein, der Selbsterkenntnis (des Engels) zur Erkenntnis seines Seinsgrundes, das Verhältnis seines Seins zu seinem notwendigen Verursachtsein durch etwas anderes, das Verhältnis dieser Negativitäten zu diesen Positivitäten, dieser Schatten zu ihren Seinsgründen – all diese Verhältnisse sind den Verhältnissen der Iblīsse [Widersacher] zu ihren Engeln analog (d.h., den Verhältnissen der dēv zu den Izad).«

Da Sayyed sehr darauf bedacht ist, nicht leichtfertig unterschiedliche Begriffe miteinander zu identifizieren, und stattdessen Analogien zwischen ihnen herstellt, ist sein Versuch einer komparativen Philosophie auch heute noch gültig. Denn der Schatten und alles, was ihn symbolisiert, steht zweifellos in derselben Beziehung zu den positiven »Dimensionen« der Intelligenzen, wie die Iblīsse, die dēv, zu den Engeln. Trotzdem kann hier der Schatten nicht einfach als Synonym für Ahriman aufgefasst werden. Denn im Weltentwurf unseres Philosophen hat der Kosmos nicht länger einen dämonischen Charakter. Der Schatten, der aus dem Ersten Engel hervorgeht, ist der himmlische Stoff der ersten Sphäre, der unendlich höher steht, als der irdische Stoff. Die Situation ähnelt jener, die aus der ismailischen Theosophie vertraut ist, denn es scheint so, als hätte sich »am Tag danach« ein großes Drama, der »Kampf im Himmel« abgespielt. Der Antagonist, Iblīs, wurde vom Engel bezwungen, der sich selbst überwunden hat, aber die Folgen dieses Kampfes müssen sich auswirken; die Missetaten der Abkömmlinge des Iblīs müssen sich auswirken. Sicher, die Kosmologie unserer Philosophen erwähnt dieses präkosmische Drama nicht; aber an dessen Stelle tritt die Kosmogonie als Ergebnis der Taten und Leiden der Engelwelt, bis zu jenem Punkt, an dem die Finsternis ebenso stark ist wie das Licht, was die Erzählung Suhrawardīs durch die beiden Flügel des Engels Gabriel (unserer aktiven Intelligenz) symbolisiert, von denen der eine aus Licht besteht, der andere aus Finsternis. Nun, aus diesem Engel gehen unsere Seelen hervor. So ist die Lage für uns, am Tag nach dem großen kosmische Drama – d.h., an dem Punkt, an dem die Finsternis aufgrund der Selbstentäußerung des Pleroma ebenso stark wie das Licht geworden ist. Dies ist das Reich der Menschenseelen, des Wohnorts der Dämonen, der Iblīsse, der dēv; mit anderen Worten: die Entscheidung obliegt der Menschenseele, ob sie den Engel oder den Dämon in sich wachsen lässt. Die Menschenseele ist es, die dem Dämon eine Wohnstatt bereitet, es sei denn, sie wählt den »Engel als Weggefährten«. Auch hier entfaltet sich ein Drama, dessen Ausgang weiterhin ungewiss ist. Seine Auflösung wird auf den Exodus, die Reise in den Orient projiziert, als Antwort auf das Drama des »Abstiegs« in den Okzident. Im Pleroma ist das Ende dieses Abstiegs der Engel, aus dem unsere Seele hervorgehen. Und in ihm, in seiner heilenden Vermittlung (seiner soteriologischen Funktion), nimmt der »Wiederaufstieg« unserer Seelen seinen Anfang.

Was nun die Prozession des Pleroma anbetrifft, so gehorcht seine Entfaltung einem dreigliedrigen Rhythmus, der die dreigliedrige Selbsterkenntnis des Ersten Geistwesens wiederholt, denn wir müssen seine »Phasen« als ewige Gleichzeitigkeit auffassen.

(a) Die erste Intelligenz oder der erste Cherub erkennt seinen eigenen Seinsgrund, dessen Selbsterkenntnis, dessen Gedanke er ist und denkt sich selbst als Gedanken des Ersten Wesens. (b) Er erkennt sein eigenes Sein als notwendiges Sein, das von der notwendigen Existenz des Ersten Wesens hervorgebracht wird. (c) Er erkennt sein eigenes Sein als nicht in sich selbst notwendig, als seine Dimension des Nichtseins, seine Schattenregion, welche die Distanz, den Abstand zwischen dem Ersten Wesen und ihm selbst, dem ersten Erzengel-Cherub, bezeichnet. –

Aus dieser dreifachen »Dimension«, die im ersten Erzengel durch seine dreigliedrige Selbsterkenntnis hervorgerufen wird, gehen hervor: (a) ein zweiter Erzengel, der ihm gleicht; (b) ein Engel, der die erste Himmelsseele ist, die erste bewegende Seele der Sphären, die eine Hierarchie bilden, die jener der Cherubim untergeordnet ist; (c) die höchste der Himmelssphären, der höchste Himmel oder die neunte, »sternenlose« Sphäre.

Auf diese Weise erzeugt jede dieser drei Wesenheiten – Erzengel, Seele und Himmel – die Selbsterkenntnis eines der drei Aspekte jenes Erzengels, der ihnen vorausgeht. Die Gesamtheit des Seins eines Erzengels wird daher durch folgende Quaternität konstituiert: sein eigenes persönliches Wesen, aus dem ein anderer Erzengel, eine Seele und ein Himmel hervorgehen. [An jedem kosmischen Geistwesen kann daher ein geistiger, seelischer und leiblicher Aspekt unterschieden werden, die jeweils Wesen sind und andere Wesen hervorbringen]. Die Seele setzt durch ihre Sehnsucht und ihr Verlangen nach dem Erzengel, aus dem sie hervorgeht, deren Gedanke sie ist, ihren Himmel in (kreisförmige) Bewegung. Dies ist das Geheimnis der Himmel und ihrer Unterschiede, deren Bewegung Ausdruck des Verlangens ihrer jeweiligen Seele ist.

Derselbe dreigliedrige Rhythmus wiederholt sich von Stufe zu Stufe. Aus den drei homologen Wesensaspekten im Sein des zweiten Erzengel-Cherubs – der seinerseits die Erkenntnis als Wesen aus sich heraussetzt, die der Erste Erzengel vom Ersten Wesen hat – entstehen ein dritter Cherub, eine zweite Engel-Seele und ein neuer Himmel, der Himmel der Fixsterne, dem die zweite Himmelsseele die Bewegung ihrer Sehnsucht mitteilt. Ebenso geht aus der dritten Erzengel-Intelligenz ein vierter Cherub, eine dritte Seele und ein dritter Himmel hervor (der siebente, von der Erde aus gezählt, der Himmel des Saturn). Und so setzt sich die Prozession fort, von Erzengel zu Erzengel, von Seele zu Seele, von Himmel zu Himmel, bis sie beim neunten Erzengel angelangt, der die zehnte Intelligenz und die Seele aus sich hervorgehen lässt, die den Himmel des Mondes bewegt. Diese zehnte Intelligenz, am äußersten Ende der kosmischen Prozession, in dem der Schatten sein größtes Ausmaß erreicht, besitzt nicht mehr die notwendige Kraft, um eine andere Intelligenz, eine Seele und einen Himmel hervorzubringen. Sein Akt der Selbsterkenntnis zersplittert in eine Vielzahl von Seelen – von Menschenseelen – und bringt als letzte stoffliche Ebene die Elementarwelt der sublunarischen Sphäre hervor. Diese zehnte Intelligenz ist die aktive Intelligenz, welche die esoterische Auslegung unserer Philosophen auf den Heiligen Geist oder den Erzengel Gabriel mit seinen beiden Schwingen aus Licht und Finsternis »zurückführt«.

Diese Theorie der Intelligenzen wird von Avicenna in einem kurzen Lehrbrief, der speziell diesem Thema gewidmet ist (Risāla fī’l-Malā’ika, Lehrbrief über die Engel) in der reinen Begrifflichkeit der Engellehre erläutert. Das Reich der Cherubim und der himmlischen Seelen, ihre Schönheit und ihr Licht, das Mysterium ihrer »Beschäftigungen«, all dies wird hier in lyrischen Worten geschildert. Der kurze Lehrbrief unterstreicht den persönlichen Charakter der Wesen des Pleroma, indem er jedem einen Eigennamen gibt. Diese werden nicht in der üblichen Weise durch Hinzufügung des Suffix -īl (entsprechend dem aramäischen -el) gebildet: vielmehr ist das unterscheidende Attribut ein anderes für die Cherubim, die aus der »höheren Schicht« des vorangehenden Cherub hervorgehen, ein anderes für die Seelen, die aus der »tieferen Schicht« desselben Cherub hervorgehen. Der Name des Cherub wird jeweils mit al-Quds, »Heiligkeit« gebildet, der Name der Seele mit al-ʿIzza, »Herrlichkeit« oder «Macht«.

Der Lehrbrief zählt folgende Namen der Cherubim auf:

Wajh al-Quds     Antlitz der Heiligkeit

Yaman al-Quds   Rechte Hand der Heiligkeit

Mulk al-Quds      Königtum der Heiligkeit

Sharaf al-Quds    Adel der Heiligkeit

Ba’s al-Quds        Stärke der Heiligkeit

Sanā al Quds       Licht der Heiligkeit

Thaqaf al-Quds    Weisheit der Heiligkeit

Rūh al-Quds        Geist der Heiligkeit

ʿAbd al-Quds        Diener der Heiligkeit 

Die Namen der Seelen lauten wie folgt:

Wajh al-ʿIzza        Antlitz der Herrlichkeit

Yaman al-ʿIzza     Rechte Hand der Herrlichkeit

Mulk al-ʿIzza        Königtum der Herrlichkeit

Sharaf al-ʿIzza     Adel der Herrlichkeit

Ba’s al-ʿIzza          Stärke der Herrlichkeit

Sanā al-ʿIzza         Licht der Herrlichkeit

Thaqaf al-ʿIzza       Weisheit der Herrlichkeit

Rūh al-ʿIzza           Geist der Herrlichkeit

Avicenna ist der erste Philosoph, der den Erzengel-Intelligenzen Namen gibt. Diese Übersicht veranlasst uns zu einer kurzen Untersuchung, der Skizze einer vergleichenden Engellehre, die eine umfassende Ausleuchtung der »Motivation« der Engellehre Avicennas eigentlich erfordert. Drei Dinge wecken unsere Aufmerksamkeit, weil sie Avicennas Engellehre mit derjenigen anderer berühmter visionärer Berichte verbinden, insbesondere mit jener Henochs. Die Intelligenzen werden als Cherubim bezeichnet; der Vater Hayy ibn Yaqzāns heißt »Yaqzān«, Vigilans, d.h. »Wächter« – und dies bezeugt die Verwandtschaft mit den »Wächtern« des Buches Henoch, in dem die Cherubim einen prominenten Platz einnehmen; schließlich wird unsere aktive Intelligenz in Avicennas Lehrbrief als ʿAbd al-Quds bezeichnet.

Das Bild des Kerub führt uns zu den ältesten biblischen Visionen zurück, und damit zur spekulativen Mystik des Judentums und Christentums. Die Cherubim des Alten Testaments treten stets in Zusammenhang mit göttlichen Epiphanien auf: sie vermitteln die Gegenwart Gottes in dieser Welt. Die Etymologie ihres Namens fördert nichts Klares zutage; jedenfalls scheinen die Exegeten, die jede abstrakte wissenschaftliche Herleitung aus irgendwelchen theriomorphen Darstellungen nichtbiblischer Mythologien ablehnen, auf festem Grund zu stehen. Auch die erkünstelten Etymologien, die jene den göttlichen Realitäten widmen, die an sie glauben, geben lediglich über die Vorstellungen der Gläubigen Auskunft. Uns kann die menschliche Erscheinung und besonders die Jugendlichkeit auffallen, die mit der Vision der Cherubim einhergeht, genauso wie mit den etymologischen Ableitungen, die versucht wurden. Mit den berühmten Visionen des Hesekiel nimmt die Form und Erscheinung der Cherubim eine größere Komplexität an, aber die schillernde Imagination des Propheten ließ der spekulativen Imagination der Mystiker immer noch großen Raum. Bei Philo und den griechischen Vätern (Didymus) legt der Kerub die Ideen der Erkenntnis und Weisheit (gnosis und sophia) oder der Macht nahe (Theodoret), ebenso bei den lateinischen Vätern (scientiae multitudo, plenitudo scientiae). In den himmlischen Hierarchien des Dionysios nehmen die Cherubim den zweiten Rang der ersten Hierarchie ein und ragen durch ihr Schauvermögen und ihre Erkenntnis hervor, während die Seraphim über ihnen von Liebe überfließen. Die Vorstellung vergleichbarer himmlischer Hierarchien mit ihren Korrespondenzen oder typischen Ausdrucksformen in den geistigen, körperlichen und hieratischen Universen wird im Islam besonders von der ismailischen Gnosis akzeptiert. Hier finden wir sieben Cherubim oder Sieben Göttliche Worte, die den Platz zwischen dem zweiten und dem zehnten Rang der Dekade einnehmen.

Von diesen mehr allgemeinen Beobachtungen im Universum der Cherubim heben sich gewisse andere ab, die in einer engeren Beziehung zu den Aussagen über Engel in der Erzählung von Hayy ibn Yaqzān und ihrem Kommentar stehen. Sie finden sich im Buch Henoch. Das dritte Buch beschreibt die Schönheit und Leuchtkraft der Kerubim und ihres Engel-Fürsten Kerubiel. Genauer gesagt, gibt es das Pleroma der acht großen Engel-Fürsten, in denen sich die Gestalt Yahwehs vervielfältigt, da sie selbst ebenfalls als Yahweh bezeichnet werden – »durch den Namen ihres Königs« – d.h., das Tetragramm geht in ihren Namen ein (z.B. »Anaphiel YHWH«). Die Traditionen über die Zahl und Funktion dieser Engel variieren (acht oder sechzehn), jedenfalls erhebt sie ihr Name, den das Tetragramm schmückt, über alle anderen (siehe Avicennas Engelsnamen, die Quds und ʿIzza enthalten). Ihre Ogdoade (Achtzahl) hat Anlass gegeben, sie mit gnostischen Vorstellungen in Beziehung zu bringen: die Sieben Protoktistes (die Ersterschaffenen) mit dem Monogene oder Prototokos, dem Antlitz des Vaters, dem »Antlitz dessen, der ohne Gestalt ist« (siehe die Namen »Antlitz der Heiligkeit« und »Antlitz der Herrlichkeit« bei Avicenna). Das dritte Buch Henoch spricht auch von den sieben Erzengeln als den Fürsten der sieben Himmel und ihrem zahllosen Gefolge. Das erste Buch Henoch bezeichnet sie als Wächter.

Varianten und Korrespondenzen eröffnen der spekulativen Imagination ein nahezu grenzenloses Feld. In Avicennas Erzählung ist Yaqzān, der »Wächter«, der Vater von Hayy, einer der Cherubim. Die Beziehung zwischen den Cherubim und den Wächtern kommt überzeugend in folgender Vision Henochs zum Ausdruck: »Und es geschah ... dass mein Geist hinweg gehoben wurde und ich in die Himmel aufstieg: Und ich sah die heiligen Söhne Gottes. Sie gingen auf Feuerflammen herum: ihre Mäntel waren weiß und auch ihre Kleider, und ihre Antlitze leuchteten wie Schnee ... Und er erhob meinen Geist in den Himmel der Himmel, und ich sah dort ein Gebäude aus Edelsteinen, und zwischen diesen Edelsteinen Zungen aus lebendigem Feuer. Und mein Geist sah den Gürtel, der dieses Haus aus Feuer zusammenhielt ... Und darum herum standen Seraphim, Cherubim und Ophannim: Und diese sind es, die nicht schlafen und den Thron seiner Herrlichkeit bewachen.« Auf der einen Seite also die sieben Erzengel, die Fürsten der sieben Himmel, auf der anderen die Kerubim, die zu den Egregoroi, zu den Wachhabenden oder Wächtern gehören, »jenen, die nicht schlafen«. Der Name Hayy ibn Yaqzān, »der Lebende, der Sohn des Wachenden« zeigt deutlich die Verwandtschaft. Man darf allerdings nicht übersehen, dass Henoch I von den Wächtern in einem doppelten Sinn oder im Sinn zweier Traditionen spricht: (1) eine Tradition fasst die Wächter als »gefallene Engel« auf (identisch mit den Söhnen Gottes in Gen 6), aber (2) die andere Tradition stellt die Wächter in die nächste Nähe Gottes, als jene, die im Himmel nicht schlafen.

Nicht weniger eindrücklich als diese Beziehung zwischen Wächtern und Cherubim, Yaqzān und Karūb, ist der Name, den der Lehrbrief Avicennas der aktiven Intelligenz gibt: ʿAbd al-Quds. Durch ihn kehrt dieser Exkurs einer vergleichenden Engellehre wieder zu seinem Ausgangspunkt zurück. Der Engel Metatron, die zentrale Gestalt im dritten Buch Henoch, trägt genau diesen Namen: Ebed (Naʿar), der Diener, puer, das Kind – und er trägt diesen Namen als Fürst der Gegenwart Gottes, als theophane Form des Heiligen Einen, der sich selbst den Menschen nicht zeigen kann; daher wird er sogar der »kleine Yahweh« genannt, der Kenner der Geheimnisse, besonders in jenen Passagen, in denen Henoch-Metatron die Vereinigung des irdischen und des himmlischen Menschen symbolisiert. Auch hier könnte man ohne weiteres tiefer in gewisse Analogien eindringen, die in den Beziehungen zwischen dem Adepten und Hayy ibn Yaqzān und Henoch-Metatron bestehen. Levi ben Gerson, der den Namen Metatron aus dem Lateinischen mater ableitet, identifiziert diesen Engel mit der aktiven Intelligenz. So schließt sich der Kreis. Die Untersuchung der Visionen der Cherubim und der Wächter bei Henoch, des Dieners oder Kindes, des Stellvertreters und der Individuation Gottes, der aktiven Intelligenz und der »Mutter« unserer Seelen führt uns zu der letzten Gestalt in Avicennas Darstellung der Prozession der Intelligenzen zurück, eine solche Konstanz scheint die Engellehre bei der Wiederkehr ihrer Gestalten und ihrer Bedeutungen zu besitzen. Sei es nun Metatron als protos anthropos und aktive Intelligenz, oder die aktive Intelligenz als Heiliger Geist und Erzengel Gabriel, oder als Heiliger Geist und Engel der Menschheit in der Philosophie der Erleuchtung, stets von neuem zeigt sich der geistigen Schau dieselbe Gestalt in dieser Engelserscheinung. Am Ende der Theorie der Erzengel-Intelligenzen finden wir sie, mit ihren Aufgaben und Epiphanien, die ihre Beziehung zu jeder einzelnen ihrer Seelen individualisieren. Wir kommen daher wieder zurück zu der Situation, auf die wir bereits am Ende des vorangehenden Kapitels einen kurzen Blick geworfen haben.

Das Erscheinen oder die geistige Visualisierung des Engels, der die aktive Intelligenz ist, markiert zugleich das Ende einer Entwicklung innerhalb der Seele, die dieses Vermögen in sich immer mehr zum Erblühen bringen musste, und einen Ausgangspunkt, den Beginn einer Pädagogik des Engels. Diese Pädagogik wird eine neue Beziehung herbeiführen – eine persönliche und bewusste, vertrauende und liebende Beziehung – zwischen dem Engel Dator formarum (dem Geber der Formen) und der Seele, deren kontemplativen Intellekt er »aktiviert«. Damit diese geistige Visualisierung möglich ist, damit sich die Seele in dieser Beziehung zum Engel sehen kann, damit sie sich als »Weggefährtin des Engels« bei ihrer Reise in den Orient begreifen kann, muss sie ein solches Bild ihrer selbst besitzen, das sie vergegenständlichen und in der Vision dieser Zweiheit realisieren kann. Dieses Bild ihrer selbst ist genau jenes, das die Struktur ihrer zwei geistigen Kräfte »in das Bild« der geistigen Wesen des Engelspleromas hineinzeichnet. Dies sind die zwei Aspekte oder die zwei Antlitze der Seele, die durch das Drama der Erzählung von Salāmān und Absāl sichtbar werden. Dieses Bild, das der Seele die Beziehung zwischen ihrem praktischen und ihrem kontemplativen Intellekt offenbart (dem Engel, der schreibt und dem Engel, der diktiert), lässt sie zugleich ihre Beziehung zu der aktiven Intelligenz erkennen, dank der strukturellen Ähnlichkeit, welche die gesamte Hierarchie der Kräfte durchdringt, sowohl diejenigen der Seele als auch diejenigen des Engelspleromas. Indem sich die Seele mit ihrem kontemplativen Intellekt identifiziert, sieht sie sich in derselben Beziehung zur aktiven Intelligenz, die sie auch zu ihrem praktischen Intellekt unterhält. Indem sie diese Analogie wahr macht, sieht sie sich in derselben Beziehung zur aktiven Intelligenz, wie die Engel-Seele sie zu ihrer Engel-Intelligenz unterhält. Die Wahrheit dieser Analogie setzt daher eine Individuation voraus, die auf der Seite der Seele nur an ihrer potentiellen Engelhaftigkeit gemessen werden kann, deren vollkommene Entfaltung ihr Ziel ist; das Prinzip, das die Individuation der Formen an den Stoff bindet, verliert hier seine Gültigkeit.

Was bleibt, ist die Verwandtschaft und Analogie der Himmelsseelen und der Menschenseelen, denn diese Analogie ist urbildlich. Daher wird jede Angelologie und Kosmologie, die den Begriff der himmlischen Seele vermeidet, sowohl die mit ihr zusammenhängende Psychologie als auch die Bedeutung dieser Psychologie gefährden. Das Ungleichgewicht in der Engellehre würde die Pädagogik zerstören, die auf ihrer Voraussetzung beruht, und deren Ziel die Exegesis der Seele ist, die zu ihrem Ursprung im Pleroma zurückgeführt werden soll. Es zeugt von der Größe und Originalität Avicennas und des Avicennismus, dass sie am Begriff der himmlischen Seelen festgehalten und diesen bekräftigt haben. Auf eben diesen Begriff richtete sich auch der Haupteinwand des Averroismus. Aber es steht ungeheuer viel auf dem Spiel. Der zwiefältige Begriff der himmlischen Engels-Seelen und der irdischen – d.h. virtuellen – Engels-Seelen begründet die Idee einer Pädagogik der Engel – wie seine Abwesenheit sie verunmöglicht – und eröffnet damit den Horizont, in dem die visionären Erzählungen Suhrawardīs und Avicennas ihren Anfang und ihr Ende nehmen. Bevor wir die Voraussetzungen und Zielsetzungen dieser Pädagogik der Engel näher untersuchen, müssen wir daher die Positionen genauer betrachten, die in der Annahme oder Zurückweisung der Idee der Himmelsseelen mitenthalten sind.

Die Pädagogik der Engel, der Heilige Geist und das menschliche Ich

Da die Menschenseele ein Kind der aktiven Intelligenz ist, nimmt die letztere persönliche Züge an, die unsere Philosophen stets in ihr wahrnahmen. Durch diese persönlichen Züge wird sie zum Heiligen Geist. Dass der Heilige Geist mit dem Erzengel Gabriel identisch ist, weiß auch der Koran, aber die Identifikation findet sich bereits in der Himmelfahrt des Jesajah (Apokryphe, 3.-4. Jh. n. Chr.). Die mit dem Erzengel Gabriel – dem Engel der Erkenntnis – identifizierte aktive Intelligenz ist zugleich der Engel der Offenbarung und daher haben der mystische Weise und der Prophet dieselbe Beziehung zum Engel.

Die Intelligenz Heiliger Geist ist in der Philosophie der Erleuchtung der Engel der Menschheit – und hier trägt sie gewisse Züge der Jungfrau des Lichtes des Manichäismus. Jedenfalls ist sie der Engel, aus dem unsere Seelen als göttliche »Worte« hervorgehen und zugleich ist sie der Engel, den Jesus im Hebräer-Evangelium als »meine Mutter, der Heilige Geist« bezeichnet.

Es ist noch nicht an der Zeit, das umfangreiche Buch zu schreiben, nach dem die Philosophie des Erzengels Heiliger Geist in diesem spirituellen Universum eigentlich verlangen würde. Hier kann lediglich seine persönliche Beziehung zur Seele, seinem »Kind«, betrachtet werden, wie sie in den Erzählungen Avicennas und Suhrawardīs dargestellt und dargelebt wird. Die Beziehung ist jener vergleichbar, die zwischen jeder ʿAql-Nafs-Dyade (kosmischen Geist-Seele-Dyade) besteht. Wie der Pilger feststellt, der den mystischen Sinai der Erzählung vom Exil im Okzident erreicht, ist seine Beziehung zum Engel jener gleich, die dieser Engel zum Engel hat, der ihm vorausgeht oder übergeordnet ist.

Aber in beiden Fällen erhebt sich ein Problem. Man hielt die Deutung für möglich, dass der Engel »die persönliche Beziehung der Seele zu Gott« symbolisiere. Könnte man jedoch die Idee dieser Individualisierung und die Notwendigkeit ihrer Symbolisierung akzeptieren, wenn man die Beziehung, die eine Vielzahl von Individuen ein und derselben Spezies, die sich nur numerisch unterscheiden, zu ein und demselben Zentrum haben, als ausreichend und befriedigend erleben würde? Im Gegenteil: Die Idee dieser Individualisierung verlangt, dass es sich jedes Mal um ein neues Zentrum und eine neueSpezies handelt. Wenn es um diese Individualisierung geht, dann genügt die Beziehung der aktiven Intelligenz zu der Vielheit der Seelen, die aus ihr hervorgegangen sind, nicht. Sie hebt die Frage lediglich auf eine andere Ebene und verlangt ihrerseits nach einer spezifischen Individuation. Frage und Antwort hängen nicht mehr allein von theoretischen Überlegungen ab. Sie müssen daher auf der Grundlage einer konkreten Situation formuliert werden, wie die genannten visionären Erzählungen sie beschreiben. Manche Philosophen – Abū’l-Barakāt zum Beispiel – haben sich mit diesem Problem beschäftigt; sie werden uns bei der Formulierung seiner theoretischen Aspekte helfen.

Ein Einwand von Fakhraddin Rāzī kann als Folge einer rein theoretischen Fassung des Problems betrachtet werden. »Entweder«, so sagt er, »ist die aktive Intelligenz eine einzige und schließt Vielheit aus, oder sie enthält Teile. Im ersten Fall muss die Seele, die sich mit ihr während einer einzelnen Erkenntnis vereinigt, notwendigerweise alles Erkennbare erkennen. Im zweiten Fall, wenn sie sich lediglich mit einem bestimmten Teil der Intelligenz vereinigt, folgt notwendig, dass es für jede einzelne Erkenntnis, zu welcher der Mensch gelangt, einen entsprechenden Teilinhalt in der aktiven Intelligenz geben muss. Aber die potentiellen Erkenntnisakte des Menschen sind unzählbar. Daher muss die aktive Intelligenz unzählbar viele Teile enthalten.« Abgesehen davon, dass der Einwand den Unterschied zwischen dem potentiell und dem aktuell Unendlichen außer Acht lässt, verfängt sich Fakhraddin Rāzī auch in einem rein theoretischen Dilemma. Und da die Situation künstlich auf ein rein theoretisches Problem reduziert wird, eröffnet sich auch kein Ausblick auf eine Lösung.

Die Sackgasse, in die Rāzīs Formulierung führt, entsteht dadurch, dass der Autor sich offenbar weigert, ontologisch zwischen einem Zustand der Vereinigung (ittisāl) und einem Zustand der Verschmelzung (ittihād) zu unterscheiden, der Wesen und Person eins werden lässt. Rāzīs Einwand betrifft die mystische Vereinigung mit der höchsten Gottheit genauso wie den vorliegenden Fall, in dem die imago mundi die Vereinigung mit dem Erzengel der aktiven Intelligenz verlangt.

Diese theoretische Schwierigkeit ist bereits teilweise gelöst, wenn wir die tatsächliche Individualisierung einer Beziehung berücksichtigen, die weder die Aufsplitterung eines der Bezugspartner in unendlich viele Teile – als wenn wir es mit einer messbaren Größe zu tun hätten –, noch die Erweiterung des anderen in eine Totalität voraussetzt, die jenseits seiner Möglichkeiten liegt. Die Überlegungen Abū’l-Barakāts zur aktiven Intelligenz und die angelologischen Erwägungen, zu denen sie ihn führen, eröffnen uns ein Feld der Einsicht, in dem das Dilemma, in dem sich Rāzī verfängt, von selbst verschwindet. Weitaus sprechender jedoch, sowohl als Tatsache wie auch als Lösung, ist die Erfahrung der konkreten Begegnung, der Begegnung von Angesicht zu Angesicht, von der die visionären Erzählungen berichten. Ein Einwand wie Rāzī ihn vorbringt, hat noch nie einen Mystiker beunruhigt oder seine Erfahrung entwertet. Der Visionär Avicennas erlebte sich in der Gegenwart Hayy ibn Yaqzāns; Suhrawardī stand selbst dem Engel des mystischen Sinai, dem purpurnen Engel, von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Die Kommentatoren weisen nachdrücklich darauf hin, dass es sich bei dem erlebten Gegenüber um die aktive Intelligenz handle; die visionären Erzählungen jedoch sprechen weder von einer Identifikation mit der Totalität des Erkennbaren, noch mit einem »Teil« der Intelligenz. Sie sprechen von der geistigen Erfahrung einer Gestalt, die klar erkennbare, individuelle Züge trägt, die zugleich diese Intelligenz ist und sich von ihr unterscheidet (der Weise aus der Erzählung Die Schwingen Gabriels spricht erst so, als wäre er selbst der Engel, dann so, als wäre er der Gesandte des Engels – so wie andere Visionäre in ihren Theophanien den »Engel des Herrn« erleben).

Es ist demnach notwendig, zu untersuchen, welcher seelische Vorgang in dieser »Vision« gipfelt. Man sollte nicht übersehen, dass das Ereignis von zweierlei berichtet: von der gleichzeitigen Individuation der Seele in der Schau (Subjekt) und der Individuation der Gestalt (Objekt), die für ihr Schauen sichtbar wird. Genau hier lassen wir die Erklärungsmöglichkeiten der Theorie der Individuation der Formen durch die Materie ein für alle mal hinter uns. Damit wir die Entfaltung des Geschehens bis dorthin verfolgen können, wo die Seele sich jenseits der Welt wiederfindet, in der sie sich als »Fremdlingin« fühlt, und wo sie gleichzeitig jenen findet, den sie als Abgesandten ihrer wahren Heimat, ihren himmlischen Führer erlebt, müssen wir unsere Aufmerksamkeit dem Bild zuwenden, das ihr von Anfang an gegenwärtig ist, jenem Bild, das sie den Aufbau der geistigen Welt, des Engels-Pleromas, erkennen lässt, und das ihr zugleich offenbart, dass sie als »Bild und Gleichnis« jener Wesen des Pleromas geschaffen und aufgrund ihrer Wesensähnlichkeit auf sie hingeordnet ist. Dank diesem Bild, das sie von sich selbst hat, das ihr die Beziehungen zeigt, in denen die himmlischen Wesen zueinander stehen und das diese Beziehungen in ihr selbst widerspiegelt, vermag sie einen gänzlich neuen Zustand zu begreifen und in sich zu realisieren, der ihrem Erlebnis des Fremdseins entspricht, einen Zustand, der genau jene Individuation darstellt, der sie außerhalb jener Spezies stellt, der sie sich entfremdet fühlt.

Von welcher Ordnung ist der Aufbau des gesamten Kosmos durchdrungen, von den Höhen des Pleromas bis herunter auf die Erde, auf der die menschliche Seele sich im Exil befindet? Im Pleroma konstituiert jede Intelligenz und jede Himmelsseele eine individuelle Wesenheit, die für sich eine eigene Spezies darstellt. (Bei Avicenna stellt – ebenso wie bei Thomas von Aquin – jede Engelsindividualität eine Spezies für sich dar). Genauso ist auch der himmlische Stoff der Sphäre, der aus der »niedrigeren« Selbsterkenntnis der Intelligenz hervorgeht und von der Seele bewegt wird, die ihrerseits von dieser Intelligenz bewegt wird, ein spezifischer Stoff; jede Sphäre besteht aus ihrer eigenen »ätherischen« Substanz. So stellt jede Triade aus Erzengel, Seele und Himmel ein vollständiges Universum dar, das von jedem anderen abgegrenzt und unterschieden ist; seine Spezifität entspricht dem Grad der kontemplativen Glückseligkeit eines jeden Erzengels und der besonderen Bewegung, die den brennenden Wunsch der jeweiligen Seele in sich trägt. »Eine jede ist in ihrer ganzen Sphäre gegenwärtig ...«. Wenn die Stufenfolge der Emanationen bei der zehnten Intelligenz angelangt ist, sind die Kräfte des Seins und des Lichtes erschöpft. Der Lichtschwinge des Erzengels steht seine Schattenschwinge gegenüber, aus der die elementarische Stofflichkeit hervorgeht, die im Vergleich mit den ätherischen, immateriellen Substanzen des Himmels weitaus unvollkommener ist. Statt einer Intelligenz und einer Seele, deren Individualität mit ihrer Spezies (entsprechend den vorangehenden Dyaden) identisch wäre, erzeugt der zehnte Erzengel, unsere aktive Intelligenz, die Vielheit der Menschenseelen, die alle zusammen die Intelligenz und die Seele bilden, die der Erzengel nicht mehr hervorzubringen vermochte. Nun, diese Vielheit der Seelen ist eine Vielheit solcher Individualitäten, die sich – im Unterschied zu den Himmelsseelen – nur noch der Zahl nach unterscheiden, aber einer einzigen Spezies angehören.

Hier liegt ein Bedeutungswandel des Begriffs der Individualität oder ein Wandel ihres Status vor, oder besser, ein solcher Sprung, dass der Begriff der Individualität zweideutig und zweifelhaft erscheint. Hier ist das Individuum eines unter anderen, die derselben Spezies angehören. Es ist der Spezies untergeordnet. Es mag vielleicht zu jenem Individuum werden, das die Spezies dominiert, – aber wie soll es jemals jenen Zustand erreichen, in dem es als Individuum seine eigene Art darstellt, das die Fülle der Möglichkeiten seines eigenen Archetyps verwirklicht? Dies würde bedeuten: den Zustand eines Engels – zumindest einer Himmelsseele – zu erreichen. Nun – wird nicht genau dies immer und immer wieder betont, dass die Möglichkeiten der Menschenseele jenen der Himmelsseelen entsprechen und dass ihr Weg zur Vollendung darin besteht, sich wie ihr Vorbild zu verhalten? Wie aber soll es ihr durch ihre Beziehung, die sie zur aktiven Intelligenz hat, möglich sein, auf der Ebene des »irdischen Engels« jene individualisierte Beziehung abzubilden, die jede einzelne Himmelseele zu ihrem Erzengel oder Cherub hat? Diese letztere Beziehung ist die eines einzigen Wesens zu einem anderen einzigen Wesen, die zusammen eine vollkommene Dyade bilden. Wie aber kann die Analogie der Beziehung aufrecht erhalten werden, wenn jener Teil, welcher der Himmelsseele entsprechen soll, nicht mehr eine einzelne Seele, sondern eine Vielheit von Seelen ist?

Gewiss, das Problem könnte durch eine Reihe theoretischer Lösungen oder Betrachtungen vermieden werden, in deren Kontext es sich gar nicht erst stellen würde. Aber ebensowenig wie diese Frage aus theoretischen Überlegungen entspringt, ebensowenig würden diese auch der konkreten Erfahrung der Vision und der Begegnung von Angesicht zu Angesicht genügen. Wenn diese Begegnung von Angesicht zu Angesicht dem allgemeinen Gesetz der Individuation entspräche, das für alle Individuen der selben Art gilt, dann müsste das Privileg dieser Begegnung jedem auf gleiche Art und Weise zuteil werden. Wenn nicht, dann verlangt der Zustand der Isolation, in dem diese Begegnung stattfindet, nach einem anderen Gesetz der Individuation, als jener, die durch den Stoff zustande kommt.

Diesem Gesetz der Individuation durch den Stoff gemäß gießt der Engel Dator formarum (der Geber der Formen), sobald ein körperliches Gefäß durch die Tätigkeit der himmlischen Sphären zubereitet ist, diesem Gefäß eine denkende Seele ein, die sich alsdann nur der Zahl nach von den anderen denkenden Seelen unterscheidet. Mit anderen Worten, die Menschenseele wird nur aufgrund ihrer Verbindung mit dem Körper individualisiert und diese Individualisierung ist der »Dienst«, den der Körper der Seele leistet.

Aber die Ansichten Avicennas führen dazu, die Frage nach der Bewahrung der menschlichen Individualität nach dem Tode zu stellen. Dass Avicenna diese Frage aufgrund seiner Erkenntnislehre positiv beantworten kann, trifft zu; aber gerade dann ist es dringend erforderlich, dass dieser Individualität, die nach dem Tode fortexistieren soll, keinerlei Zweideutigkeit anhaftet. (In Avicennas Erkenntnislehre wird der intellectus possibilis durch die aktive Intelligenz zur Tätigkeit veranlasst, und die Erkenntnis besteht nicht darin, Formen vom Stoff zu abstrahieren, sondern sie als Emanationen aus der Engelsintelligenz entgegenzunehmen und in diesen Formen, die ihm durch die aktive Intelligenz zuteil werden, die zu einem Teil seines Wesens werden, besitzt der menschliche Intellekt bereits eine Garantie seiner Unsterblichkeit). Nun, aus Avicennas Sicht hängt das künftige Schicksal der Menschenseelen als reiner (abgeschiedener) Substanzen vom Grad der Erleuchtung ab, den sie auf Erden erlangt haben, von ihrer größeren oder geringeren Fähigkeit, sich mit stärkerer Eigentätigkeit, Vollkommenheit und Ausdauer dem Engel der Erleuchtung zuzuwenden. Denn es gibt auch die Seelen der Nichtgnostiker, die sich nicht um die Welt der himmlischen Intelligenzen scheren, die lediglich eine vage, auf Hörensagen beruhende Kenntnis von ihnen besitzen und sich niemals spontan und nur mit größten Schwierigkeiten den Erleuchtungen zuwenden, die von der aktiven Intelligenz herunterströmen. Bei den Gnostikern beginnt jener spirituelle Zustand, auf den der Tod keinen Einfluss hat und den er nicht zu beeinträchtigen vermag, in der Regel erst im vierzigsten Lebensjahr, wenn die Lebenstätigkeit des Körpers bereits in Abnahme begriffen ist. Je mehr wir in dieses Forschungsgebiet eindringen, in dem die Bedingungen und die Bedeutung der individuellen Person und des persönlichen Überlebens definiert werden, um so mehr scheinen wir jene Umstände hinter uns zu lassen, aufgrund derer behauptet werden kann, die Seele verdanke ihre Individuation der Vereinigung mit dem Körper.

Mehr noch. In der Terminologie Avicennas: Ist die menschliche Seele im wesentlichen die Form (die Entelechie) des Körpers, im peripatetischen Sinn dieses Wortes? Sobald wir erkennen, wie und warum in der Anthropologie Avicennas die Seele bereits an sich eine reine Form ist, oder wenigstens dazu berufen ist, eine reine, von allem Stoff befreite Form zu werden, sehen wir die zwei Konsequenzen, die aus diesem Gedanken folgen: die erste ist, dass ihre Vereinigung mit dem Körper keine Einheit bildet, die für die menschliche Person unverzichtbar ist. Dann aber hat die berühmte Individuation durch den Stoff nurmehr eine retrospektive Bedeutung. Die zweite ist, dass eine reine Form notwendigerweise eine Spezies für sich darstellen muss; weshalb es im Hinblick auf den zukünftigen Zustand der Menschenseele notwendig ist, ein Prinzip der Individuation zu denken, das jener der Engelsformen entspricht. [Anm. d. Übers.: »Wer über das Wesen der Biographie nachdenkt, der wird gewahr, dass in geistiger Beziehung jeder Mensch eine Gattung für sich ist.« Rudolf Steiner, Theosophie 1904]. Um es deutlich zu sagen: Wir müssen hier mit Umsicht vorgehen. »Viele Prinzipien der individuellen Differenzierung abgeschiedener Seelen sind denkbar, und es kann sogar sein, dass wir ihr wahres Individuationsprinzip nicht erkennen, aber deswegen haben wir kein Recht, zu behaupten, es gebe ein solches Prinzip nicht.«

Dass die theoretischen Überlegungen der großen didaktischen Werke diese Frage weder klar stellen noch beantworten, ist nicht überraschend. Genau diesem Umstand verdanken wir die visionären Erzählungen. Die Initiation, die sie vorschlagen und die Pädagogik oder die Suche, die sie auferlegen, bilden die Grundlage für jene Arbeit, die in der Passage der Theologie des Aristoteles und der dazugehörigen Glosse Avicennas umschrieben wird, die weiter oben zitiert wurde: die aktive Intelligenz nimmt sich der Seele an, die ihr Kind ist, um sie zu ihrer Geistförmigkeit (ʿaqlīya), zu ihrem Zustand reiner Geistigkeit zu führen. Das Persische spricht von fereshtagī, malakī, »Engelhaftigkeit« (Ausdrücke, die in ismailischen Texten häufig vorkommen). Im zweifellos nicht von Avicenna verfassten, aber trotzdem seinem Geist verpflichteten Miʿrādsch-Nāmah lesen wir, »Mensch im wahren Sinne ist jener, der dem Engel folgt – d.h. jener, in dem die Verfassung des Engels vorherrscht und der sich immer weiter von der Verfassung des Dämons entfernt.«

Dieses Ideal befindet sich im Einklang mit einer Anthropologie, die lediglich ein Aspekt der Angelologie ist. Der Ausgangspunkt der Pädagogik der Engel ist die potentielle Engelhaftigkeit der Menschenseele. Ihr Ziel wäre die vollkommene Verwirklichung dieses Engelszustandes. Wenn wir also die individuelle Beschaffenheit jener Seele verstehen wollen, die diese Vollkommenheit erreicht hat, wo sollen wir die Antwort suchen, wenn nicht bei jener Idee spezifischer Individuation, die von der Engellehre selbst vorgeschlagen wird? Dann ist es nicht nur die Begegnung von Angesicht zu Angesicht der visionären Erzählungen, die ihre Beschaffenheit offenbart, die Beschaffenheit, die der Einladung des Engels entgegenkommt, der den Adepten auffordert, sein Gefährte zu werden. Vielleicht nimmt dann auch das Überleben der Individualität eine großartige und unzweifelhafte Form an. Denn dieses Überleben der gnostischen Seele kann nicht die menschliche Art als solche betreffen, die ʿAmr und Zayd gemeinsam ist, oder die Individualität der menschlichen Form, die aus der numerischen Vervielfältigung der Körper resultiert. Diese rein numerische Individualität erscheint unbedeutend, verglichen mit jener, die aus der Pädagogik der aktiven Intelligenz hervorgeht, die für die Seele, die gerade am Beginn ihres Weges steht, den Charakter einer Überindividualität annimmt. Wenn die irdische Beschaffenheit des Menschen getilgt ist und die Engelsnatur vorherrscht, dann ist es nur noch schwer vorstellbar, dass die Individualität aus der irdischen Stofflichkeit oder aus der Vereinigung mit ihr resultiert.

Wenn man diese theoretischen Erörterungen akzeptiert, muss man zugeben, dass dieser Stoff zu einem gewissen Zeitpunkt diese Rolle gespielt hat. Wie auch immer: Inwiefern ist es wahr, zu sagen, eine Präexistenz der Seele vor ihrem irdischen Leib sei absolut undenkbar? Eine solche Präexistenz legen sowohl die Erzählung vom Vogel als auch die gefeierte qasīda über die Seele nahe. Vorausgesetzt, wir setzen sie nicht zu bloßen Allegorien herab, können wir in ihnen finden, was nur durch Symbole ausdrückbar ist, weil das Symbol der einzige mögliche Ausdruck des Mysteriums ist. Zweifellos kennt die ismailische Mythengeschichte mehr Einzelheiten jener Ereignisse, die dem Zyklus unseres gegenwärtigen Menschseins vorausgegangen sind. Aber Avicenna verfasste keine Mythengeschichte; was ihm davon bekannt war, hat er lediglich einem verschlüsselten Text anvertraut. Dieser Text verschlüsselt keine Allgemeinplätze, keine Argumente, die der Diskussion unterliegen, sondern eine intime persönliche Erfahrung, die er dem plötzlichen Aufblühen geistiger Schau verdankte.

In der Zeiteinheit, in der diese Vision aufleuchtet – während sich die Seele in ihre »Heimat« zurückgezogen hat – erscheint wie in einem Blitz die Imago mundi, in dem Bild gespiegelt, das die Seele von sich selbst hat, das daher auch dieses Bild der Seele widerspiegelt. In einem solchen Augenblick bietet sich dem Adepten Hayy ibn Yaqzāns eine fundamentale Vision der Engelsordnung als zusammenhängendes Ganzes dar. Die Vision wird auf die dreifache Perspektive eines mystischen »Orients« projiziert; hier gibt es die Engel-Intelligenzen, »deren Schönheit den Betrachter vor Bewunderung erzittern lässt« (Kerubim, Angeli intellectuales); es gibt die Engels-Seelen des Himmels (Angeli coelorum); es gibt die »irdischen Engel«. Dieses Bild stammt natürlich nicht aus einer äußeren Wahrnehmung oder einem äußerlichen Vergleich. Es ist nicht so sehr Gegenstand der Wahrnehmung, als Organ der Wahrnehmung; es ist das, was der Seele den Kosmos zeigt, was sie dazu befähigt, ihn wahrzunehmen, – jenen Kosmos, in dem sie sich befindet, und wahrzunehmen, was sie selbst in diesem Kosmos ist und was sie an sich selbst ist. Was die Vision der Seele zeigt, ist jene Ordnung, die auf allen Ebenen des Pleromas und schließlich in der Seele selbst wiederkehrt, die, indem sie sich in der Seele, im Aufbau ihres Wesens abbildet, diese Seele auf das Pleroma ausrichtet.

Die gesamte Ordnung des Kosmos ist von einer Beziehung der Unterordnung durchdrungen, die der Hierarchie der Wesen von Stufe zu Stufe Zusammenhalt gibt, von den Engelwesen bis zu den Kräften der Menschenseele. Jedes Geistwesen hat zum Geistwesen, aus dem es hervorgeht, dieselbe Beziehung, wie das Geistwesen, das aus ihm hervorgeht, sie zu ihm unterhält, und diese Beziehung wiederholt sich von Stufe zu Stufe; jede Stufe hält sowohl eine vermittelte als auch eine vermittelnde Position inne und enthält eine zweifache Beziehung – zur Stufe, die ihr vorausgeht und zur Stufe, die ihr folgt. Jede Engels-Seele steht zur Engels-Intelligenz in der weiter oben beschriebenen Beziehung, die von jeder Dyade wiederholt und abgebildet wird. Jede Seele ist gleichzeitig dem Engel zugewandt und damit beschäftigt, ihren Himmel in die Bewegung ihres Verlangens hineinzuziehen. Schließlich bildet sich diese Beziehung der Himmelsseele zum Engel auch in der Seele des Menschen ab, die ihrerseits die Spuren der Intelligenz und der einzigen Seele in sich trägt, welche die zehnte Intelligenz nicht mehr hervorzubringen vermochte. Dies sind die beiden geistigen Kräfte der Seele (intellectus contemplativus und intellectus practicus, anschauendes und tätiges Denken), die von der Erzählung Hayy ibn Yaqzān als »irdische Engel« charakterisiert werden.

Wer sind diese irdischen Engel? Hayy ibn Yaqzān sagt schlicht: die eine Gruppe, jene, die erkennt und herrscht, steht auf der rechten Seite; die andere Gruppe, die handelt und gehorcht, steht auf der linken Seite. Wie die Engel aus Jakobs Vision steigen manche zum Menschen herab, während andere zum Himmel hinaufsteigen. Der Text fügt hinzu: Es heißt, zu diesen gehörten auch jene, denen die Menschen anvertraut seien und die das Heilige Buch als die »Beschützer und edlen Schreiber« bezeichnet. Der iranische Kommentator ergänzt: Die beiden Gruppen irdischer Engel sind die beiden geistigen Kräfte der Seele. Sie sind die beiden Antlitze der Seele, die auch durch die beiden Gestalten Salāmān und Absāl repräsentiert werden. Daher bilden diese zwei geistigen Kräfte der Seele auch ihre zwei Schutzengel ab: der eine, der Engel, der schaut und diktiert, steht zur Rechten; der andere, der Engel, der handelt und schreibt, steht zur Linken.

Das Bild, durch das die Seele sich selbst erkennt, spiegelt also für sie den Aufbau und die Beziehungen der Engelwelt wieder. Daher ist es richtig, zu sagen, dass die Seele, indem sie sich selbst erkennt, in die Engelwelt hineinreicht, da sie in sich selbst die Offenbarung ihres Aufbaus und ihrer Zugehörigkeit zu dieser Welt findet. Ihre beiden geistigen Kräfte (Anschauen und Tätigsein), ihre zwei »Antlitze«, stellen den Engel, der schaut und diktiert, und den Engel, der handelt und schreibt dar. Ihre Beziehung ist jener zwischen den einzelnen Engel-Intelligenzen und Engel-Seelen analog. Das ganze Wesen der Seele, insofern sie einen Körper regiert, ist eine zweigliedrige Totalität; ihr eines Antlitz ist dem zugewandt, was über ihr ist (anschauendes Denken, die Engel, die in den Himmel aufsteigen), das andere den Lebenskräften, die sie beherrscht (tätiges Denken, die Engel, die zur Erde niedersteigen). Und indem der irdische Engel, der schaut, in die Höhe steigt, sieht und erkennt er jenen Engel, der ihm vorangeht, er erblickt ihn und wird von ihm erblickt, und steht zu ihm in derselben Beziehung, wie jener andere irdische Engel, der handelt und gehorcht, zu ihm. Und dies aufgrund der universellen Hierarchie, die alle Formen und Kräfte miteinander verbindet und einander unterordnet. Daher ist es möglich, zu sagen, die beiden geistigen Kräfte der Seele stellten die beiden irdischen Engel dar, und damit das himmlische und das irdische Selbst, deren Einheit das ganze Selbst ist. Ein jeder ist so das Gegenstück des anderen.

Alles fügt sich an seine Stelle, wenn die Seele im Bild jener Dualität, die ihr eingeboren ist, das zwiefache Band erblickt, das sie mit der Engel-Intelligenz verbindet, aus der sie hervorgeht, deren irdisches Gegenstück sie wiederum darstellt, zu der sie sich verhält, wie der Engel der schreibt, zu dem Engel, der diktiert, oder wie die himmlische Seele der Sehnsucht zum Engel, den sie anschaut. Denn das anschauende Denken, das himmlische Selbst, ist zweifellos jenes der beiden Antlitze der Seele, das dem zugewandt ist, das über ihr steht; aber es gehört zu einer inkarnierten Seele, die über einen Körper regiert, und beide Antlitze zusammen bilden nur eine einzige menschliche Seele. Indem die Seele durch dieses Bild erkennt, was in ihr den Aufbau des Himmelspleromas abbildet, lernt sie, sich diesem Vorbild gemäß zu verhalten und die richtige Ordnung zwischen ihren beiden Kräften herzustellen, so dass sie tatsächlich in Nachahmung der Himmelsseele deren Gestalt annimmt, in Nachahmung jener Himmelsseele, die das Gegenstück des Erzengel-Cherub ist. Wenn sie sich dem zuwendet, was über ihr ist, dann sieht sie sein Bild, das Wesen, dessen Abbild sie ist, weil sie aus ihm hervorgeht, und das ihr sein eigenes Bild offenbart.

Die Psychologie der Mystik schildert in der Regel die einzelnen Stufen, welche die Seele durchschreitet, als Teile eines Prozesses, der in ihr zur Vollendung kommt – z.B. die Phase der Isolation, die wesenhafte »Monadisierung«. Nun haben wir hier einen Synchronismus vor uns: das Erwachen der Seele zu sich selbst (die Wendung des anschauenden Denkens auf sich selbst) und die geistige Visualisierung des himmlischen Führers.  Das bewusste Stehen vor der Gestalt der Vision ist von einem Gefühl des Einsseins begleitet. Wenn die Bedeutung des Engels die Individualisierung der Beziehung ist, dann muss diese Individualisierung notwendigerweise beide Seiten der Beziehung betreffen. Indem sie sich als Fremde fühlt, die sich nach ihrer wahren Heimat sehnt, nach jenem Wesen, dessen irdisches Gegenstück sie ist, findet sich die Seele isoliert außerhalb ihrer Spezies – vielleicht als einzige ihrer Spezies –, ebenso wie die Himmelsseelen gegenüber ihrem Engelgeist. Das verzückte Zwiegespräch, das diese Begegnung begleitet, legt eine einzigartige Beziehung zu einer einzigartigen Gestalt nahe. Die zwiefältige theophane und pädagogische Funktion des Engels vervollständigt die zwiefältige Individuation, die auf beiden Seiten stattfindet, auf der Seite der Vision (des Geschauten) und auf der Seite des Schauenden. Deswegen kann die Idee der vollständigen Individuation der Seele von der Engellehre erwartet werden, weil es eben diese Engellehre ist, die den Begriffsrahmen bietet, in dem die Individuation zugleich Spezifikation (Artbildung) ist. Es wird dann auch möglich, die Analogie zu verifizieren, die jede Himmelsseele zu ihrem Engelgeist in dasselbe Verhältnis bringt, wie die Seele des Adepten zu Hayy ibn Yaqzān (oder zum Engel der Visionen Suhrawardīs), der wiederum die Individuation des Engels Aktive Intelligenz ist – und eben dies ist das Ziel, dem die Pädagogik der Engel entgegenstrebt.

Nun ist gewiss, dass diese Verhältnisse, die einer konkreten Erfahrung abgelesen sind, ihre Auswirkungen auch auf die begrifflichen Bestimmungen haben werden. Wenn die Menschenseelen – wenigstens die Seelen der Gnostiker – sich alle in einer spezifischen Beziehung zur aktiven Intelligenz befinden, dann verlangt dies umgekehrt nach so etwas wie einer spezifizierten Engelserscheinung (Angelophanie). Dieser Idee und dieser zweifachen Forderung entspricht die Vorstellung der vollendeten Natur (al-Tibāʿ al-tāmm), die Suhrawardī entwickelt hat und vor ihm Abū’l-Barakāt, der die Fähigkeit besessen zu haben scheint, die Interessen einer pluralistischen und monadistischen Philosophie in einer Umwelt zu vertreten, die stark zum Monismus hingezogen wurde. Die Fragen, die sich Abū’l-Barakāt stellt, beruhen auf Voraussetzungen, die jenen der vorliegenden Untersuchung gleichen. Es scheint, dass sie von selber auftreten, sobald man in ernsthafter Weise über die Beziehung der aktiven Intelligenz zur Seele bzw. den vielen Seelen nachdenkt. Was diesen Fragen die Richtung gibt, ist die Tatsache, dass die Beziehung, um als wirkliches Geschehnis erlebt zu werden, eine Individuation auf beiden Seiten voraussetzt. Die Erlebnistatsache – z.B. die Begegnung mit Hayy ibn Yaqzān – muss den Ausgangspunkt bilden. Ansonsten führt die theoretische Überlegung nicht weiter; wir haben gesehen, in welche Sackgasse sie Rāzī brachte.

Abū’l-Barakāt fasst die Probleme wie folgt zusammen: Müssen wir annehmen, dass die Menschenseelen der Art und der Wesensbestimmung nach eine sind und sich nur durch akzidentelle Zustände voneinander unterscheiden? Müssen wir annehmen, dass jede Seele sich von der anderen ihrem Wesen und ihrer Art nach individuell unterscheidet? Müssen wir annehmen, dass die Seelen in geistigen Familien gruppiert sind, die eine bestimmte Anzahl von Arten innerhalb einer Gattung bilden?

Die Einheit der Art (Spezies) wird von der Mehrheit der Philosophen unterstützt. Die spezifische Individualität jeder Einzelseele scheint kaum von jemandem vertreten worden zu sein. Die dritte Hypothese scheint Abū’l-Barakāts vollkommene Zustimmung zu finden, der sich der tiefsitzenden Unterschiede zwischen den Menschenseelen, die in ihrem Wesen, ihren Grundsätzen, ihrer Art des Seins und Verhaltens zum Ausdruck kommen, deutlich bewusst ist. Daher fürchtet er sich nicht vor dem Widerspruch zur Mehrheitsmeinung der Philosophen, wenn er sich weigert, zuzugeben, dass die aktive Intelligenz der einzige Grund für die Vielheit der Seelen sei; die Unterschiede zwischen diesen sind zu gewichtig, als dass sie auf eine einzige Ursache zurückgeführt werden könnten. Um diese Vielheit zu erklären, was auf die Annahme einer Mehrzahl von Seelenarten hinausläuft, muss man lediglich annehmen, dass alle Himmelsseelen beteiligt sind, deren Anlagen und Bewegungsformen die nötigen Faktoren beisteuern, um diese Vielfalt menschlicher Seelenarten zu ermöglichen. Nur jene, die sich weigern, die Verschiedenheit der Seelen zu sehen, nehmen an, die aktive Intelligenz sei ihre alleinige Ursache.

Der Pluralismus unseres Philosophen ist mit dieser ersten Richtigstellung aber noch nicht zufrieden. Um die spezifische Pluralität der Seelen zu sichern, hält er es darüberhinaus für nötig, zwischen ihrem Entstehungsgrund und ihrem Vollendungsgrund zu unterscheiden, so wie der Vater nicht derselbe ist, wie der Lehrer. Um es deutlich zu sagen: Die Unterschiede der Seelen hinsichtlich ihrer Substanz, ihrer Art und grundlegenden Natur verlangen nach einer Vielheit ihrer Prinzipien und ihrer Entstehungsgründe. Aber zusätzlich, eben wegen dieser Verschiedenheit, kann die geistige Pädagogik, welche die Seele in ihr eigenes Wesen einweiht, nicht auf eine einzelne geistige Form oder die aktive Intelligenz allein beschränkt sein. Und so lernen manche Seelen nur von menschlichen Meistern; andere hatten menschliche und übermenschliche Führer; wieder andere haben alles von unsichtbaren Führern gelernt, die allein sie selbst kennen.

Aus diesem Grund lehrten die alten Weisen, die über die Gnosis der unmittelbaren Schau verfügten, und in Dinge eingeweiht waren, welche die Sinne nicht wahrzunehmen vermögen, dass es für jede individuelle Seele, oder vielleicht für eine gewisse Anzahl von Seelen mit derselben Natur und Neigung, ein Wesen der geistigen Welt gibt, das durch ihre ganze Existenz hindurch eine besondere Sorge und Zärtlichkeit gegenüber dieser Seele oder Seelengruppe entwickelt. Dieses Wesen führt sie zur Erkenntnis, schützt, leitet, verteidigt, tröstet sie und bringt sie zu ihrem endgültigen Sieg. Und dieses Wesen ist es, das die alten Weisen als die vollendete Natur bezeichneten. Und es ist dieser Freund, Verteidiger und Beschützer, den die religiöse Sprache als Engel bezeichnet. Die so etablierte Bedeutungsgleichheit gibt dem Begriff des Engels die ganze Kraft, die bei den alten Weisen mit dem Begriff der »vollendeten Natur« verbunden war, jener himmlischen Wesenheit, die für die irdische Seele verantwortlich ist. Die vollendete Natur nimmt die Rolle der aktiven Intelligenz an und individualisiert diese.

Notwendigerweise führt auch die Existenz dieses himmlischen Führers und Freundes, des Vollendungsgrundes der Seele, zu denselben Fragen, die schon ihr Entstehungsgrund aufwarf. Es kann nicht nur einer für alle Seelen sein, aus demselben Grund, der auch die aktive Intelligenz daran hindert, die alleinige Ursache zu sein. Heißt das aber, dass jede Seele ihren eigenen Engel hat? Gibt es einen Engel für eine ganze Seelenfamilie? Oder gibt es, im Gegenteil, etwa mehrere Engel für eine einzige Seele? Diese Frage kann nicht die Gelehrsamkeit entscheiden. Für sein Teil neigt Abū’l-Barakāt dazu, wie im vorhergehenden Fall zuzugestehen, dass die Verwandtschaft, der vergleichbare Entwicklungsgrad viele Seelen zu einer Art zusammenfasst, die unter dem Schutz eines einzelnen Engels steht.

Weiter oben wurde aufgrund ebendieser Voraussetzungen die Frage aufgeworfen, ob es wirklich kein anderes Prinzip der Individuation für die Menschenseele gibt, als ihre Vereinigung mit dem Körper, und ob sich die einzelnen Seelen nur der Zahl nach voneinander unterscheiden, da sie derselben Art angehören. Auf diese Fragen gibt das bemerkenswert pluralistische und monadistische Empfinden Abū’l-Barakāt bereits eine Antwort, die von einem vollendeten Bewusstsein der wesentlichen Differenzen zeugt, welche die Menschenseelen in eine Vielheit von Arten gliedern. Die Bedingungen der Angelologie, die der Seele den Status eines irdischen Engels verleiht, befreien sie aus der Jurisdiktion einer reinen Anthropologie, und sie hätten unseren Philosophen zur Idee einer Seele führen können, die für sich eine Art ist, so wie der Engel, der seine gesamte Spezies, seinen eigenen Archetyp, darstellt. Die Idee der vollendeten Natur hätte dies zugelassen. Aber Abū’l-Barakāt bemerkt bescheiden, die Gelehrsamkeit führe nur zur Idee eines himmlischen Meisters im allgemeinen.

Sich für die Vorstellung einer Individualität der Seele auszusprechen, die in jedem einzelnen Fall einem himmlischen Archetyp entspricht, mit dem die Seele zusammen eine zweigliedrige Einheit bildet, war zweifellos allein aufgrund logischer Beweise nicht möglich – dazu bedurfte es der Erfahrung und der konkreten Schau. Eine solche Schau würde in die Nähe der gnostischen Angelologie führen, die von Engeln spricht, »deren Teile wir sind«, die der Seele einen gefallenen Engel, ein höheres Selbst, einen Engel, der im Himmel geblieben ist, an die Seite stellt, mit dem sie nach dem Tode das Mysterium der Syzygie im Pleroma teilen wird. Ebenso nahe stehen diesen Vorstellungen die Visionen des Hermes in der Mystik Suhrawardīs. Ein geheimnisvolles Licht offenbart sich Hermes; es gießt ihm die Gnosis ein und antwortet auf seine Frage: »Ich bin die vollendete Natur.« Diese fleht Hermes um Beistand an, wenn er durch die Gefahren verängstigt ist, auf die er in der Dramaturgie der Ekstase einen Blick erhaschte. An sie richtet wiederum Suhrawardī einen seiner bewegendsten Psalmen. Ihm (oder ihr) werden die Namen Sonne, Engel der Philosophen, Initiator der Weisheit, Lenker und Inspirator gegeben. Er ist der Führer, ebenso wie der Engel in der Erzählung vom Exil im Okzident, oder der weibliche Engel Daēnā, welcher der Seele nach dem Tode in der individuellen Eschatologie des Mazdaismus und Manichäismus erscheint. Durch diese aufeinanderfolgenden Aspekte ein und der selben Gestalt werden wir in der Tat zur mazdäischen Vision der Fravarti, der himmlischen Person, dem archetypischen »Ich«, dem ursprünglichen Selbst, dem Schutzengel der Seele zurückgeführt, deren himmlisches Gegenstück er ist. Das kosmische Drama kann dem Fravarti den Abstieg auf die Erde abverlangen; die Dyade geht nicht verloren, sondern es ist dann die Gestalt der Daēnā, die diese Rolle übernimmt, als »die himmlische Seele auf dem Weg« (welche die Menschenseele nach dem Tode auf der Činvatbrücke begleitet).

Die Situation des Fremden, der in den Tiefen der kosmischen Krypta gefangen ist, zu dem die himmlische Seele als der Engel, der ihn aus dieser Hölle herausführen wird, gehört, ist eindeutig auch die Ausgangssituation der Erzählungen Avicennas und Suhrawardīs. Sich dieser Situation bewusst zu werden, heißt für die Seele, zum reinen Spiegel zu werden, in dem das Bild erscheint, dessen Umrisse sie wiedererkennt, und dann in Begleitung des Engels oder des Boten des Königs weiter zu wandern, wie die Erzählungen sagen. Darin besteht die Pädagogik der Engel, welche die Seele in ihren »Orient« zurückführt und deswegen stellt auch die Erzählung von Tobias und dem Engel ein sprechendes Beispiel für dasselbe Thema dar. Um sie so zu sehen, müssen wir sie allerdings auf eine Ebene »gnostischer« Wahrheit erheben, mit der die gegenwärtige Exegese kaum etwas zu tun hat. ...

Wir können über das Prinzip der Individuation, das jene Erfahrung von Angesicht zu Angesicht individualisiert, weiter nachdenken und über es meditieren; aber kein theoretisches Schema wird die ausreichende Motivation für ein Ereignis liefern, das tatsächlich eingetreten ist, ebensowenig, wie es diese Erfahrung zu entkräften vermag. Es geht nicht um Gegenstände und Beziehungen zwischen Gegenständen. Was eine Seele wirklich sieht, ist allein für sie sichtbar; und die einzelnen Seelen unterscheiden sich gerade durch ihre Art der Wahrnehmung und ihre Fähigkeit des Wahrnehmens voneinander. Ein sprechendes Beispiel dafür wird in den Akten des Petrus wiedergegeben. Hier erinnert der Apostel Petrus an das Ereignis der Verklärung. Über dieses Ereignis, das nur für einige wenige sichtbar war, und nicht für ihre körperlichen Augen, kann er nur sagen: Talem eum vidi qualem capere potui (»So habe ich es gesehen, wie ich es vermochte«). Dann wird seine Rede dringlich: »Seht mit eurem Geist, was ihr nicht mit Augen sehen könnt.« Während die Gemeinde im Gebet versinkt, erscheint ein strahlendes Licht, nicht wie das Tageslicht, sondern unbeschreiblich, unsichtbar, unaussprechlich. Und das Licht dringt in die Augen der blinden Witwen, die gerade zu glauben begonnen haben, und dieses Licht, welches das Sehen ermöglicht, macht sie sehend. Ein jeder wird gefragt, was er gesehen hat: Manche sahen einen Knaben, andere einen Jugendlichen, wieder andere einen alten Mann. Ein jeder kann seinerseits sagen: Talem eum vidi qualem capere potui. Ebenso sah Tobias Raphael, den Erzengel, »wie er vor ihm stand«; so sah Suhrawardī den Engel des mystischen Sinai; so Avicenna Hayy ibn Yaqzān, »den Lebenden, den Sohn des Wachenden«. Von schlichter geistiger Vision bis zur Entrückung der Ekstase gibt es viele Grade. Jedes Mal hat die Seele ihre Individuation erreicht oder ist auf dem Wege, sie zu vollenden. Es reicht, hier den persischen Kommentator von Hayy ibn Yaqzān zu zitieren: »Wer immer diese Erfahrung gemacht hat, wird verstehen, was ich meine.«

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