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Einfühlsamer Empirismus

Von Lorenzo Ravagli

In den Jahren 2002 und 2003 hat Arthur Versluis, einer der führenden amerikanischen Esoterikforscher, in der Zeitschrift »Esoterica« einen zweiteiligen Beitrag zur Diskussion über die Methoden der Forschung veröffentlicht, der sich kritisch mit Antoine Faivre und Wouter J. Hanegraaff auseinandersetzt. Die Grundzüge seiner Argumentation werden im folgenden Essay referiert und kommentiert.

Kritik an Faivre

Faivres sechs Charakteristiken der westlichen Esoterik lassen sich laut Versluis nicht nur im Westen finden, sondern auch in nicht-westlichen Traditionen. Wenn sie auch im Mahajana- oder Vajrajana-Buddhismus und in indigenen religiösen Traditionen vorkämen, dann sei die Frage berechtigt, ob sie nicht zu allgemein seien, um eine spezifisch westliche Tradition zu begründen. Auch Hanegraaff hat diese zeitliche und geographische Begrenzung in Frage gestellt. Im Grunde lässt sich die Geschichte der Esoterik weder geographisch noch zeitlich begrenzen, weil sie ein universelles Phänomen ist. In seinen eigenen Untersuchungen zur christlichen Theosophie (siehe Literaturhinweise am Ende) hat Versluis einen von Faivre abweichenden Katalog von sechs Charakteristika der christlichen Theosophie aufgestellt, die auch nach Faivres Ansicht Teil der westlichen Esoterik ist.

Diese zeichnet sich aus durch

1. die zentrale Stellung der göttlichen Weisheit oder Sophia, den Spiegel Gottes, der in der Regel weiblich ist;

2. die Betonung einer direkten spirituellen Erfahrung oder Erkenntnis, die sowohl die göttliche Natur des Kosmos als auch eine metaphysische oder transzendente Gnosis enthält;

3. eine Ablehnung von Sektierertum und Identifikation mit der theosophischen Strömung;

4. eine Meisterfigur, die ihren spirituellen Schülerkreis durch Sendschreiben oder mündliche Anweisungen leitet;

5. Bezugnahmen auf das Werk und die Gedankenwelt Jakob Böhmes

6. und eine visionäre Schau der Natur und nicht-physischer Welten (ein Merkmal, das bereits in 2. enthalten ist).

Was Versluis im Katalog Faivres vor allem vermisst, ist die Erwähnung der Gnosis. Zwar spielt Gnosis auch in Faivres Erörterungen eine nicht unbedeutende Rolle (siehe den Artikel über Faivres Methodologie), aber sie nimmt nach der Auffassung von Versluis nicht den systematischen Rang ein, der ihr gebührt. Versluis meint, Faivre habe die Gnosis nicht als Hauptcharakteristikum in seinen Katalog aufgenommen, um die Mystik aus der westlichen Esoterik ausschließen zu können. Warum Faivre dies getan hat, darüber stellt er keine Vermutungen an. Nun ist Mystik selbst ein diffuser Begriff, der sowohl visionäre Erfahrungen als auch die via negativa umschließt, bei der Visionen gerade ausgeschlossen werden, weil sie von einer wirklichen Erkenntnis des Wesens Gottes ablenken. Deshalb schlägt Versluis vor, stattdessen von »Gnosis« zu sprechen und verschiedene Unterarten zu unterscheiden.

Zwei Unterarten von Gnosis existieren laut Versluis: 1. eine kosmologische Gnosis, die direkte Erkenntnis verborgener oder esoterischer Aspekte des Kosmos und 2. eine metaphysische Gnosis, die direkte spirituelle Einsicht in das vollkommen Transzendente, das jenseits oder außerhalb des Kosmos liegt. Die kosmologische Gnosis birgt nach seiner Auffassung immer noch einen gewissen Dualismus zwischen Subjekt und Objekt in sich. Sie enthüllt Korrespondenzen zwischen Subjekt und Objekt oder zwischen dem Menschen und der Natur und gehört der Welt der Begriffserkenntnis an. Die metaphysische Gnosis dagegen lässt jeden Dualismus hinter sich. Beispiele finden sich im Werk Boehmes oder bei der zeitgenössischen amerikanischen Autorin Bernadette Roberts. Die Unterscheidung zwischen kosmologischer und metaphysischer Gnosis ist mit der Unterscheidung des »Corpus Hermeticum« zwischen »niederer« und »höherer« Gnosis verwandt: die niedere bewegt sich auf der Ebene des philosophischen Denken, die höhere ist eine direkte Wahrnehmung des Nus, des Weltgeistes.

Den Versuch Faivres, die Mystik aus der westlichen Esoterik auszuschließen, hält Versluis für künstlich und kontraproduktiv. Für das Werk Jakob Boehmes zum Beispiel ist die spirituelle Schau oder Gnosis zentral. Es kann nicht ohne solche Begriffe wie den »Ungrund« oder das »Nichts« verstanden werden, die Ausdruck der via negativa sind, und den Kern seiner visionären Gnosis bilden. Wenn ein für die westliche Esoterik so zentraler Autor wie Boehme nicht ohne den Begriff der Gnosis verstehbar ist, wie kann man diese völlig aus dem Katalog der Charakteristika ausschließen?

Gnosis findet sich nicht nur bei Boehme, sondern auch in der Gegenwart, bei amerikanischen Autoren wie Bernadette Roberts oder Franklin Merrell-Wolff. Nach Faivres Kriterien würden diese beiden aus der westlichen Esoterik ausgeschlossen und der Mystik zugerechnet, aber ihr Werk ist ohne Zweifel esoterisch (nur einem kleinen Kreis zugänglich) und westlichen Ursprungs: Roberts bezieht sich auf Meister Eckhart und das katholische Christentum, Merrell-Wolff auf Ralph Waldo Emerson.

Würde man diese gegenwärtigen mystischen Esoteriker ausschließen, müsste man auch Dionysios Areopagita, Johannes Scotus Eriugena, Meister Eckhart, Johannes Tauler, Teile des Werkes von Jakob Boehme oder der theosophischen Schule ausschließen sowie all jene, die den mystischen Weg der via negativa gehen (die »apophatischen« Mystiker, die zu einer Erkenntnis des Wesens Gottes durch Verneinung gelangen wollen). Werden sie eingeschlossen, erweitert sich der Begriff der westlichen Esoterik erheblich.

Die sechs Charakteristiken Faivres beschreiben laut Versluis hinreichend die kosmologische Gnosis und solche Strömungen wie die praktische Alchemie, die Astrologie, die Geomantie und andere Formen der Wahrsagekunst, ebenso Strömungen wie das Rosenkreuzertum oder magische Logen und Orden. Auch große Teile der Theosophie Boehmes gehören der kosmologischen Gnosis an, so etwa die Lehre von den Signaturen und die triadische Struktur des Kosmos oder seine esoterische Sicht der Natur. Aber die Anerkennung der Bedeutung der kosmologischen Dimension sollte nicht mit der Verneinung der metaphysischen Gnosis einhergehen.

Kritik an Hanegraaff

Auch auf Hanegraaffs »empirische« Methode der Esoterikforschung und die für ihn grundlegende Unterscheidung zwischen emischer und etischer Haltung (siehe den Beitrag zu Hanegraaffs Methodologie) geht Versluis ein. Besonders Hanegraaffs Abgrenzung der empiristischen von einer »religionsnahen« (religionistischen) Perspektive stellt Versluis in Frage. Er verdeutlicht das Problem durch Beispiele. Ein alchemistischer Traktat kann geheimnisvolle Anspielungen auf Praktiken oder Erfahrungen enthalten, die nur ein praktizierender Alchemist als solche zu erkennen und zu verstehen vermag. Eine etische Herangehensweise könnte den eigentlichen Beitrag dieses Traktats zur Alchemie völlig übersehen. In einem solchen Fall wäre ein »anteilnehmender, einfühlsamer Empirismus« (»sympathetic empiricism«) die einzige Methode, um den Untersuchungsgegenstand zu verstehen.

Die Buddhismusforschung kennt ein vergleichbares Problem: kann jemand, der über keinerlei Erfahrung mit der buddhistischen Meditation verfügt, eine Tradition, für die diese Meditation von zentraler Bedeutung ist, überhaupt angemessen erfassen und verstehen? Reicht bloße Gelehrsamkeit aus, oder bedarf die Forschung nicht der unmittelbaren Erfahrung der spirituellen Praxis, mit der sie sich beschäftigt? Ein bekannter Professor für Zenbuddhismus erklärte Versluis, es sei nicht nötig, Zenmeditation zu praktizieren, um Koans zu beantworten, ja, er sei imstande, mit seinem Verstand allein alle Koans zu lösen. Diese Haltung würde wohl kaum die Zustimmung eines Zenmeisters finden, sei aber typisch für die Kluft, die viele westliche Akademiker von ihrem Forschungsgegenstand trenne. Versluis findet diese Haltung geradezu bizarr.

Deswegen schlägt er die Methode des einfühlsamen Empirismus vor, eine mittlere Position, die das Beste aus der emischen und der etischen Haltung aufgreift. Es muss ein Ausgleich gefunden werden zwischen dem Streben nach objektiven Standards und dem einfühlsamen Verstehen des Gegenstands, dem Verstehen von innen heraus. Die Ethnologen sind sich dieser Notwendigkeit seit langem bewusst: sie müssen in eine Kultur eintreten, um sie verstehen zu können und gleichzeitig Beobachter, Analytiker bleiben. Wer zu emisch ist, wird Apologet, wer zu etisch ist, vermag das, was er untersucht, nicht zu verstehen und angemessen darzustellen. Die Gefahr des Emikers ist ein Übermaß an Sympathie, die Gefahr des Etikers die Ignoranz und Feindseligkeit dem Gegenstand gegenüber, die mit dem Schein der Neutralität verbunden sein kann.

Das Problem des Reduktionismus

Wie in den Religionswissenschaften spielt die Frage des Reduktionismus auch in der Esoterikforschung eine Rolle. Hanegraaff hat laut Versluis zu Recht zwischen proesoterischen, antiesoterischen und empirisch-historischen Haltungen unterschieden. Aber bei genauerer Betrachtung lassen sich in der empirisch-historischen Methode selbst wieder unterschiedliche Herangehensweisen unterscheiden: eine »interne«, die aus der Perspektive einer Tradition über sie erzählt, eine »empirizistische«, die ihrem Gegenstand mehr oder weniger neutral gegenübersteht, und eine »reduktionistische«, die versucht, eine religiöse Tradition auf nicht-religiöse Faktoren zurückzuführen, wie zum Beispiel Machtbeziehungen oder soziale Konstrukte (nebenbei gesagt, die Haltung Helmut Zanders gegenüber der Anthroposophie).

Wenn es möglich ist, aus einer empirischen, mehr oder weniger neutralen Perspektive über historische Personen, Werke oder Ereignisse zu schreiben, dann kann man immer noch eine einfühlsame oder, wie Hanegraaff es nennt, emische Haltung einnehmen, die Haltung eines Alchemisten oder Theosophen, ohne sich selbst als Alchemist oder Theosoph zu präsentieren. Eine solche Haltung hält Versluis für unverzichtbar, weil ansonsten die Gefahr besteht, dass man seinen Gegenstand reduktionistisch behandelt. Was könnte man aus einer reduktionistischen Erklärung gewinnen, die Boehmes tiefgründige Abhandlungen über den Ungrund als sozio-politisches Konstrukt zu entlarven versuchte? Der Reduktionismus kann zu schwerwiegenden Fehldeutungen oder Entstellungen von Primärquellen führen: daher ist eine gewisse Anteilnahme (»sympathy«) für den Gegenstand, mit dem man sich beschäftigt, unabdingbar.

Man muss jedenfalls versuchen, diesem Gegenstand möglichst gerecht zu werden. Ein vergleichender Ansatz in der Religionsforschung kann leicht in die Irre führen. Ein Beispiel dafür ist der Tibetologe L. Austine Waddell, der 1895 meinte, die rituelle Kraftaufladung von Pillen im tantrischen Buddhismus gleiche der Eucharistie des Christentums, woraus er den Schluss zog, diese Praktik sei auf den Einfluss des nestorianischen Christentums zurückzuführen. Eine oberflächliche Ähnlichkeit führte Waddell dazu, über einen historischen Einfluss zu spekulieren, der gar nicht existierte. Waddell, der den Buddhismus für eine dämonische Erfindung hielt, fehlte es an Sympathie für seinen Gegenstand, sein Werk war anti-esoterisch und reduktionistisch.

Anti-Esoterik und Reduktionismus gehen oft Hand in Hand. Mit ziemlicher Sicherheit wird man von einem Akademiker, der die Alchemie grundsätzlich für einen wirren Zeitvertreib oder einen vorwissenschaftlichen Aberglauben hält, nicht viel über einen alchemistischen Traktat aus dem 17. Jahrhundert lernen können. Die Emblematik eines »Mutus Liber« oder eines »Splendor Solis« als krudes Relikt einer überwundenen Vergangenheit abzutun, ist eine Form von Anti-Esoterik, die sich nur dem Grad nach von der Anti-Esoterik fundamentalistischer evangelischer Christen unterscheidet, die Esoterik als teuflischen Okkultismus denunzieren.

 

Blätter aus dem alchymischen Werk »Splendor Solis«

Der Religionshistoriker Mircea Eliade misstraute dem Historismus, den er für eine Form des Reduktionismus hielt, noch entschiedener. In seinen Lebenserinnerungen schrieb er: »Ich würde die Haltung aller Arten von Historizisten gerne analysieren, die Haltung all jener, die glauben, man könne Kultur nur verstehen, wenn man sie auf etwas Niedrigeres reduziert (Sexualität, Ökonomie, Geschichte usw.) und zeigen, dass sie Neurotiker sind. Der Neurotiker entmystifiziert das Leben, die Kultur, die Spiritualität, er kann die tiefe Bedeutung der Dinge nicht mehr erfassen und deswegen nicht an ihre Realität glauben.«

Eliade hielt historische Gegebenheiten nicht für bedeutungslos, wogegen er sich jedoch wandte, war die Überbetonung des Historischen, die zu einer Vernachlässigung dessen führte, was ihm wesentlich schien: der Vernachlässigung der Interpretation, der Deutung (Hermeneutik) religiöser Schöpfungen.

Eliade griff nicht den Historismus oder die geschichtliche Betrachtungsweise als solche an, sondern einen historischen Reduktionismus, der nicht versucht, die religiösen Phänomene, die er untersucht, aus sich selbst heraus zu verstehen, sondern danach strebt, sie durch etwas anderes zu erklären, oder besser: wegzuerklären. Der Reduktionismus ist laut Versluis meist die Folge einer ideologischen Voreingenommenheit. Man nähert sich einem Gegenstand, zum Beispiel der Theosophie des 18. Jahrhunderts, mit einer Art ideologischem Mahlstein, und während man begrenzte Einsichten in ihre sozialen Manifestationen gewinnt, wird man ihr mit ziemlicher Sicherheit Unrecht tun, eben weil man die »Deutung dieser religiösen Schöpfung« unterwegs liegen gelassen hat.

Versluis plädiert für eine empirisch-historische Methode, die nicht in den Reduktionismus abgleitet, sondern offen für Einsichten bleibt, die nur aus einem einfühlsamen Verständnis hervorgehen können. Das führt nicht notwendigerweise zum Standpunkt eines Anhängers, in dem Sinn, dass ein Forscher seine Leser für seine Sicht der Dinge zu gewinnen sucht, aber es schließt eine gewisse Verbundenheit gegenüber den Einsichten ein, die man nur aus der Innenperspektive gewinnen kann. Wie verstand ein bestimmter Alchemist oder Theosoph die Tradition, aus der heraus er schrieb? Wenn man diese Frage nicht wirklich werkgetreu beantworten kann, besteht die ernste Gefahr, dem Gegenstand Unrecht zu tun. Eine anteilnehmende, informierte Neutralität gegenüber dem Gegenstand erlaubt es, sich wenigstens probeweise durch die Vorstellungskraft (»imagination«) auf die Weltsicht einzulassen und sie anderen getreulich darzustellen. Ideologiebefrachtete Gelehrsamkeit mag zeitweise en vogue sein, weil sie aber die Frage nach dem Selbstverständnis ihres Untersuchungsgegenstandes nicht getreulich beantworten kann, ist sie bei der grundlegenden historischen Arbeit, die die Esoterikforschung benötigt, nicht hilfreich.

Perennialismus

Der ideologiebefrachtete Reduktionismus ist das eine Extrem. Das andere ist der Perennialismus oder Traditionalismus. »Perennialismus« ist die Auffassung, alle religiösen Traditionen der Welt hätten gemeinsame Merkmale und stammten aus einem gemeinsamen Ursprung oder gingen aus spirituellen Archetypen hervor. Traditionalismus ist jene Form des Perennialismus, die von René Guénon, Ananda Coomaraswamy und Frithjof Schuon entwickelt wurde, die auf der spirituellen Bedeutung religiöser Tradition angesichts der dekadenten modernen Welt besteht.

Der Traditionalismus insistiert darauf, dass es so etwas wie eine zeitlose Wahrheit gibt und dass der Esoteriker (nicht der Esoterikforscher) Zugang zu ihr hat. Schuon schreibt: »In Wahrheit bildet die philosophia perennis, die im Westen durch Plato, Aristoteles, Plotin, die Kirchenväter und die Scholastiker erneuert wurde, ein klar umrissenes geistiges Erbe, und die große Aufgabe ist nicht, sie durch etwas besseres zu ersetzen, sondern zu den Quellen zurückzukehren, den Quellen um uns herum und in uns, und alle Gegebenheiten unseres modernen Lebens im Licht der Einen, zeitlosen Wahrheit zu sehen.«

Und Kenneth Oldmeadow: »Der Traditionalismus gründet in der Annahme, dass eine primordiale Tradition oder universelle Weisheit existiert, die auf vielerlei Art in den verschiedenen religiösen Traditionen offenbart wurde. Jede dieser Traditionen enthält einen Kern esoterischer, metaphysischer Weisheit, der immer durch dieselben Prinzipien geformt wird wie die sophia perennis.«

Der Traditionalismus beansprucht einen Zugang zur letzten Wahrheit, und dieser Anspruch ruft Widerstand in akademischen Zirkeln hervor, die solchen Ansprüchen gegenüber besonders allergisch sind. So wirft man den Traditionalisten Elitarismus und Arroganz vor, aber dieser Vorwurf berührt nicht die Frage, ob der Traditionalismus nicht doch eine Basis für das Studium der Religionen oder der Esoterik sein könnte.

Hanegraaff hält es für nötig, dass sich die Esoterikforschung klar vom Perennialismus abgrenzt. Weil dieser seine metaphysischen Grundannahmen für absolute Wahrheiten hält, schließt er die Möglichkeit der Entdeckung von etwas Neuem aus und er lässt sich auf Kritik nicht ein, nach der Logik: »Wenn du verstehen würdest, würdest du zustimmen; da du nicht zustimmst, verstehst du nicht.« Der Traditionalismus weist die Moderne als degeneriert zurück und mit ihr einen Großteil der zeitgenössischen akademischen Forschung.

Und doch , so Versluis, wirft der Traditionalismus Fragen auf, die beantwortet werden müssen, wenn man sich einem vergleichenden Studium der Religionen oder der Esoterik, nicht nur im Westen, sondern auch in anderen Teilen der Welt zuwenden will. Auf welcher Grundlage kann man Traditionen des tantrischen Buddhismus und der europäischen Alchemie miteinander vergleichen? Ist es erlaubt, eine Analogie zwischen Böhmes Lehre vom »Ungrund« und dem buddhistischen Begriff der »Leere«, »sunyata«, herzustellen? Und wenn ja, bedeutet dies, dass diese historisch völlig getrennten Traditionen auf ein und derselben Transzendenzerfahrung beruhen? Oder muss man dogmatisch festlegen, dass die westliche esoterische Tradition nur mit sich selbst verglichen werden darf und durch einen Vergleich mit Sufismus, Taoismus, Buddhismus nichts gewonnen werden kann? Wenn man diese Frage bejahend beantwortet, hat man jedem umfassenderen, vergleichenden Studium esoterischer Traditionen einen Riegel vorgeschoben.

Vergleichende Esoterik

Einen etwas weniger strengen Katalog von Kriterien für das transkulturelle, vergleichende Studium von Esoteriken hat nach Versluis Auffassung Pierre A. Riffard in seinem Buch  »L’ésoterisme« (1990) aufgestellt. (Zu Riffard vgl. den Beitrag: Über die Konstruktion esoterischer Traditionen). Neben der Aufstellung von Merkmalskatalogen, die für eine äußerliche Vergleichung nützlich sein mögen, besteht Riffard auf der Bedeutung »interner« Methoden, die dem emischen Zugang Hanegraaffs entsprechen. Riffard nennt als Beispiel A.J. Festugière, der zwar Informationen über das »Corpus Hermeticum« geboten habe, aber keinerlei Einsichten in die hermetische Tradition, was wiederum Marsilio Ficino tat, auch wenn seine äußeren Kenntnisse über das »Corpus Hermeticum« unzutreffend gewesen sein mögen. Beide Herangehensweisen sind wichtig, aber es ist falsch, historische Informationen zu schätzen und gleichzeitig die Einsicht eines Esoterikers in die Tradition selbst abzuwerten; kurz, eine emische oder interne Herangehensweise kann viel wertvoller sein und mehr Einsichten vermitteln, als eine etische oder externe.

Riffard liefert die Theorie zu etwas, was laut Versluis von Henri Corbin (1903-1978) tatsächlich praktiziert wurde. Corbin übte durch seine Studien zum persischen Sufismus, die auf einem phänomenologischen oder internen Zugang beruhten, großen Einfluss aus. Er verlor dabei nicht europäische Gestalten wie Swedenborg, Böhme, Oetinger und Baader aus den Augen. Am bekanntesten ist sein Beitrag zum Verständnis des »mundus imaginalis« (der imaginativen Welt). Dieses Konzept wurde von Dichtern wie Kathleen Raine und Robert Sardello und dem Psychologen James Hillman aufgegriffen. Corbin erforschte die spirituelle Weltsicht sufischer Visionäre, zum Beispiel jene Suhrawardis, von innen heraus: es betrachtete sie so weit als möglich aus ihrer eigenen Sicht und klammerte gleichzeitig seine eigenen Verwurzelung in der westlichen Esoterik nicht aus.

Auch wenn Corbin keine systematischen Erörterungen zur Methodologie hinterlassen hat, war er doch ein Pionier der vergleichenden Esoterik, der darauf bestand, dass der esoterische Gegenstand von innen heraus verstanden werden muss und nicht nur von außen. Ähnlich wie Eliade verachtete er die bloße Ansammlung historischer Fakten: viel wichtiger war ihm das Verständnis der esoterischen Sichtweise, über die man schreibt. Zwar kann man ihm vorwerfen, er habe die Grenzen überschritten, die der Religionsgeschichte gezogen sind, aber diesen Vorwurf hätte er als Auszeichnung betrachtet. Versluis hält Corbins Werk für einmalig: durch seine offene Aufforderung an den Leser, sich in den Kampf um die Seele der Welt einzumischen, Krieger in einem spirituellen Rittertum zu werden, die Gefangenschaft der Moderne im Historismus zu überwinden, in die visionäre Sphäre der persischen Spiritualität einzutreten, ist es eher eine Ermahnung zur Spiritualität, als ein Beispiel für nüchterne Esoterikforschung.

Wie die Traditionalisten könnte man auch Corbin eher als Primärquelle betrachten, aber für Versluis besteht kein Zweifel, dass sein Werk, ebenso wie das von Guénon oder Evola, genauer untersucht und mehr beachtet werden sollte, nicht zuletzt, weil es einen wesentlichen, eigenständigen Beitrag zur heutigen Gedankenwelt darstellt. Die Bemerkung Eliades über Guénon, sein Werk repräsentiere ein mythologisches Weltverständnis, gilt ebenso für Corbin, Evola und viele weitere Traditionalisten. Deren Werke sind zwar nicht unbedingt akademisch und sie mögen sogar der akademischen Welt ablehnend gegenüberstehen, nichtsdestotrotz gehören sie aber zu den Gegenständen akademischer Forschung, weil sie wichtige reaktionäre Denkströmungen des 20. Jahrhunderts repräsentieren.

Gnosis, ein bescheidener Vorschlag

Als Herausgeber der Zeitschrift »Esoterica« spricht sich Versluis für Methodenpluralismus aus. Allein antiesoterische oder reduktionistische Haltungen lehnt er ab, da sie ihren Gegenstand nicht in seinem Eigenrecht gelten lassen, sondern mit einem ideologischen Vorschlaghammer bearbeiten und versuchen, ihn in die Form zu bringen, die ihren vorgefertigten Thesen entspricht. (Versluis verweist hier auf Eric Voegelin und Carl Raschke, mit denen sich Hanegraaff auseinandersetzt[siehe auch: Über die Konstruktion esoterischer Traditionen] und er selbst in seinem Buch »The New Inquisition«).

Aus all diesen Gründen schlägt Versluis einen anderen Begriffsrahmen für das Verständnis der Esoterikforschung vor, einen Begriffsrahmen, der sowohl das vergleichende als auch das historische Studium der Esoterik umreißen könnte. Esoterik ist danach ein kosmologisches oder metaphysisches Wissen, das für eine kleine Gruppe von Menschen, nicht für alle Menschen bestimmt ist. Der Ausdruck »esoterisch« bezeichnet ein geheimes oder halb-geheimes spirituelles Wissen, das kosmologische und metaphysische Gnosis und ebenso mystische Phänomene einschließt. Man muss alle esoterischen Phänomene untersuchen und nicht bestimmte der Bequemlichkeit halber ausschließen.

Wenn man das Gesamtgebiet der westlichen Esoterik von der Antike bis zur Gegenwart überblickt, schält sich ein Merkmal als zentral heraus: die Gnosis. Gnosis als unmittelbare spirituelle Einsicht in die Natur des Kosmos und das eigene Selbst verstanden, die sowohl kosmologisch als auch metaphysisch ist. Es handelt sich um zwei unterschiedliche, aber miteinander verbundene Formen der Gnosis: zur kosmologischen Gnosis gehören Traditionen wie die Astrologie und alle Arten von Mantiken, ebenso wie numerische, geometrische und alphabetische Traditionen, die Korrespondenzen und analoge Interpretationen verwenden, sowie Traditionen der Naturmagie, die auf Korrespondenzen beruhen und vieles mehr. Die kosmologische Gnosis leuchtet die verborgenen Muster der Natur aus, die spirituelle oder magische Wahrheiten enthalten, sie korrespondiert mehr oder weniger mit der »via positiva« des Dionysios Areopagita. Die metaphysische Gnosis repräsentiert die unmittelbare Einsicht in das Transzendente, sie korrespondiert mit der »via negativa« und wird von Gnostikern wie Meister Eckhart oder Franklin Merrell-Wolff repräsentiert. Die beiden Begriffe schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern bilden ein Kontinuum: die visionäre Erfahrung gehört in der Regel der kosmologischen Gnosis an, kann aber ebenso metaphysische Gnosis enthalten.

Versluis definiert Esoterik vor allem als Gnosis, weil Gnosis seiner Auffassung nach »das Esoterische an der Esoterik« ist. Esoterik ist der Begriff für die historischen Phänomene, die untersucht werden müssen, Gnosis der Begriff für das Esoterische, Verborgene, Geschützte, das durch diese historischen Traditionen überliefert wird.  Ohne ein geheimes Wissen, das auf die eine oder andere Art übermittelt wird, gibt es keine Esoterik. Alchemie, Astrologie, magische Traditionen, Hermetik, Kabbala, jüdische oder christliche apophatische Gnosis, die alle unter dem Begriff westliche Esoterik zusammengefasst werden, sind vor allem durch eines verbunden: dass der Eintritt in eine dieser Arkandisziplinen vom Erwerb eines geheimen Wissens über den Kosmos und seine Transzendenz abhängig ist. Dieses geheime oder verborgene Wissen ist nicht eine reine Verstandesschöpfung, sondern Gnosis, es fließt nach Auffassung der Esoterik aus einer übernatürlichen Quelle.

Versluis hält die Dreiteilung der europäischen Geistesgeschichte in Glauben, Vernunft und Gnosis, die Quispel vorgenommen hat, für hilfreich. Und er ist der Überzeugung, dass weder die europäische, noch die amerikanische, noch sonst eine der jüngeren Formen der Esoterik erforscht werden kann, wenn man nicht wenigstens bis zu ihren Vorläufern in der Spätantike zurückgeht. Man kann die Dreiheit von Glaube, Vernunft und Gnosis nicht wirklich verstehen, ohne die gesamte europäische Geschichte zu betrachten, in der sie sich manifestiert. Noch mehr: man kann weder ein einzelnes esoterisches Gebilde noch mehrere solche Gebilde vergleichend untersuchen, ohne von Anfang an zu realisieren, dass man ein Gebiet betritt, das dem streng rationalistischen oder wissenschaftlichen Geist fremd ist, und dass man dieses Gebiet nur verstehen kann, wenn man wenigstens durch seine Vorstellungskraft (»imagination«) versucht, es auch zu betreten.

Während der konventionelle Historiker sich mit schlichten historischen Fakten begnügen kann, muss der Historiker der Esoterik eine vollkommen neue Dimension hinzufügen, die man als Gnosis bezeichnen kann. Diese Dimension kann durch die konventionelle Geschichte allein nicht erschlossen werden, aus dem einfachen Grund, weil die Gnosis eine Erkenntnis repräsentiert, die die Geschichte transzendiert. Eine visionäre Offenbarung ereignet sich in der Zeit, aber nach dem Selbstverständnis des Visionärs gehört das, was ihm offenbart wird, nicht dem Reich der Zeit an. Die Theosophin Jane Lead schrieb im 18. Jahrhundert, wer in das Reich der Visionen eintreten wolle, müsse sich von der »Küste der Zeit« verabschieden. Ebendies muss auch der Historiker der Esoterik tun, wenigstens in seiner »Imagination« (partizipatorischen Vorstellungskraft), wenn nicht der Erfahrung nach, sonst sinkt seine Geschichte zu einem bloßen Reduktionismus herab oder gar zu einer Verunglimpfung, die auf der Unfähigkeit des Verstehens beruht. Und dieses »imaginative« Eintauchen in eine esoterische Tradition ist umso schwieriger, wenn man sich mit mehr als einer Tradition vergleichend befassen will.

Aber dieses partizipative Eintauchen durch die Einbildungskraft ist unabdingbar, wenn man seinen esoterischen Gegenstand aus seinem Inneren begreifen will und nicht nur von außen. Hier können die Leistungen von Corbin, Eliade und Scholem Leitschnur sein. Nicht in philologischer Hinsicht, sondern wegen des Versuchs, in die Perspektive der Weltsicht einzutauchen, die untersucht wird. Diese Notwendigkeit macht die Esoterikforschung zu einem Abenteuer. Und sie steht erst am Anfang.

Wenn man die Esoterik verstehen will, muss man laut Versluis zwischen den beiden Extremen der vollständigen Umarmung und der vollständigen Zurückweisung eine Mitte finden. Der Forscher muss die Welt auf völlig unvertraute Art ansehen und das setzt ein anteilnehmendes Herangehen an die unterschiedlichsten Gestalten, Schriften und Kunstwerke voraus, ein Herangehen, das offen ist für das Unerwartete, und das gleichzeitig eine gewisse kritische Distanz wahrt. Westliche Esoterik ist ein weites Feld, das man auch als eine lange Reihe unterschiedlicher Untersuchungen des menschlichen Bewusstseins sehen kann. Es ist durchaus möglich, dass der Forscher in diesem Gebiet der kosmologischen oder metaphysischen Gnosis unerwartete Einsichten in die verborgenen Aspekte der Natur, des Menschen oder der Spiritualität gewinnt.

Bei diesen Einsichten geht es immer um das Verhältnis von Subjekt und Objekt. Die Sprache der Esoterik ist eine Sprache, die nicht auf der herkömmlichen Subjekt-Objekt-Beziehung beruht, sondern versucht, das Bewusstsein zu verändern, oder auf eine Veränderung des Bewusstseins hinzuweisen, eine Veränderung, die sich durch eine »hieroeidetische« Erkenntnis ereignet. Kabbala und Alchemie, Minnesang und Ritterum, die Kunst des Raimundus Lullus, Magie und Theosophie, Pansophie und esoterisches Rosenkreuzertum oder Freimaurerei, sie alle beschäftigen sich mit der Umwandlung des Bewusstseins, mit der Erweckung latenter, tiefreichender Beziehungen zwischen dem Menschen, der Natur und dem Göttlichen und der Wiederherstellung einer paradiesischen Einheit zwischen ihnen. Die hieroeidetische Erkenntnis kann  als die Erhebung in ein neues Verständnis von Sprache verstanden werden, bei dem diese nicht mehr Gegenstände beschreibt, die dem Subjekt gegenüberstehen, sondern einen Offenbarungscharakter annimmt, als eine via positiva, die zum Überschreiten des Subjekt-Objekt-Gegensatzes führt. In dieser Betonung der initiatorischen, hieroeidetischen Macht der Sprache, etwas zu offenbaren, was die Sprache übersteigt, liegt der einzigartige Beitrag der westlichen Esoterik zur Erforschung des menschlichen Bewusstseins.

Das massive Gebäude der modernen, technologischen, konsumistischen Welt wurde auf einer materialistischen, säkularistischen und objektivistischen Weltsicht aufgebaut und die partizipatorischen, transformatorischen und gnostischen Sichtweisen, die die westliche Esoterik auszeichnen, scheinen fernab dieser Welt zu liegen und mit ihr unvereinbar zu sein. Aber die Esoterikforschung, die diese Welt erstmals untersucht, könnte sehr wohl unerwartete Einsichten in die geschichtlichen Ursprünge dieser Moderne bringen.

Versluis betont den radikalen Unterschied zwischen den westlichen esoterischen Traditionen und den modernen Arten des Denkens. Der Eintritt in diese esoterische Welt könne durchaus dazu führen, dass wir unsere vertraute Welt mit neuen Augen sehen.

Die Esoterikforschung hat es nach Versluis mit einem einzigartigen Gebiet zu tun, einem Gebiet, das aus lauter Strömungen besteht, die für die Moderne neuartige Denkweisen enthalten, bei denen es um die Transzendierung des Subjekt-Objekt-Gegensatzes geht. Rein historischen Methoden kommt in dieser Forschung eine gewisse Bedeutung zu, aber die wichtigsten Werke werden nach seiner Auffassung Werke wie die von Corbin, Eliade und Scholem sein, die versuchen, die Bewusstseinsform der Esoterik zu erschließen, die der Gegenwart neue Formen des Denkens und Sehens eröffnen.

Mystik und Esoterikforschung

Im zweiten, 2003 erschienenen Teil seines Aufsatzes, arbeitet Versluis noch stärker als im ersten die Bedeutung der Erfahrungskomponente in der Esoterikforschung heraus.

Was er als »einfühlsamen Empirismus« (»sympathetic empiricism«) bezeichnet, hat er selbst in seiner Trilogie über die christliche Theosophie anzuwenden versucht (siehe die Literaturhinweise am Ende). Zwar ist Historik im herkömmlichen Sinn ein unverzichtbares Werkzeug der Esoterikforschung, aber sie allein vermag das komplexe, vieldeutige Gewebe des esoterischen Denkens, der esoterischen Traditionen und vor allem der esoterischen Erfahrungen nicht aufzuschließen. Esoterik kann nicht verstanden werden, wenn man nicht über die rein historische Information hinausgeht, ihre Erforschung und noch mehr die Erforschung der Mystik setzt wenigstens einen gewissen Grad der »imaginativen Teilhabe« an dem voraus, was man erforscht.

Um die Beziehung zwischen Esoterik und Mystik zu verdeutlichen, geht Versluis von einer funktionalen Definition der Esoterik aus: sie ist etwas Inneres, das vor Außenstehenden verborgen ist, sie nicht-öffentlich und mit geheimen oder halb-geheimen spirituellen Lehren verbunden. Mystik fällt unter diesen allgemeinen Begriff. Man könnte sogar behaupten, sie stelle die reinste Form der Esoterik dar, da mystische Erfahrung ihrem Wesen nach esoterisch ist, eine innere Dimension religiöser Erfahrung, die sich klar vom Ritual oder sonstigen religiösen Praktiken unterscheidet.

Mystik kann näher als kosmologische oder metaphysische Gnosis beschrieben werden. Zur kosmologischen Gnosis gehört die visionäre Mystik einer Hildegard von Bingen und, noch eindeutiger, die von Jane Lead. Apophatische Mystik dagegen, wie in der »Wolke des Nichtwissens« aus dem 14. Jahrhundert, gehört zur metaphysischen Gnosis. In der kosmologischen Gnosis besteht der Dualismus von Subjekt und Objekt fort – der Visionär vereinigt sich mit Christus und bleibt doch von ihm unterschieden –, in der metaphysischen schwindet dieser Dualismus im Fortgang der spirituellen Verwirklichung. Beide Formen können aber auch zusammen vorkommen. In jedem Fall ist Mystik eine unmittelbare, individuelle Erfahrungserkenntnis der spirituellen Natur des Kosmos und des Göttlichen.

Eine grundlegende Frage ist, ob die mystische Erfahrung eine Konstruktion des Mystikers ist oder – wie Mircea Eliade meinte – die irreduzible Verwirklichung eines Überbewusstseins. Stephen Katz behauptet, Mystik sei eine Funktion der Sprache, die mystische Erfahrung ein soziolinguistisches Konstrukt des Mystikers. Bei einer solchen Auffassung ist Mystik von Sprache nicht ablösbar. In den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurde diese Interpretation unter dem Einfluss des französischen Dekonstruktivismus an amerikanischen Universitäten geradezu zum Dogma. Verwegene Thesen wie die, außerhalb von Sprache existiere keine Erfahrung, Schreiben sei Erlösung, Mystik nichts als mystisches Schreiben wurden vertreten.

Versluis hält diese Behauptungen für absurd. Es handelt sich seiner Auffassung nach um einen Trugschluss: einige Mystiker schreiben, deshalb besteht Mystik in nichts anderem als Schreiben. Dadurch wird die mystische Erfahrung auf eine rein literarische Erfahrung reduziert, was den Schriften Meister Eckharts, Böhmes und anderer direkt widerspricht. Sie behaupten nicht, dadurch, dass sie etwas niedergeschrieben hätten, seien sie zur Erlösung gelangt, vielmehr versuchen sie, einen Wandlungsprozess, den sie erlebt haben, durch das Schreiben zum Ausdruck zu bringen. Wenn man Mystik als rein sprachliches Phänomen interpretiert, ignoriert man die expliziten Aussagen der Mystiker, die ihre Schriften als Erzählungen über spirituelle Erfahrungen betrachten, und im Endeffekt läuft diese Theorie auf die Leugnung jeder mystischen Erfahrung hinaus. Hinter dem Bericht des Mystikers steht eine mystische Erfahrung als genuines Phänomen. Es ist für Versluis selbstevident, dass die Rede eines Mystikers von einer solchen Erfahrung bis zum Beweis des Gegenteils als authentisches Zeugnis aufgefasst werden muss, dass es also eine wirkliche mystische Erfahrung gibt, von der der Bericht lediglich ein Zeichen ist und nicht die Sache selbst. Dasselbe gilt von alchymischen Traktaten, auch sie sind Zeichen, die auf eine transformierende Erfahrung hinweisen, nicht diese selbst.

Eine strikt historizistische Herangehensweise, die sich nur für literarische Einflüsse interessiert, könnte bei einer vollständigen Leugnung des religiösen Phänomens als solchen enden: eine solche Form von Geschichtsschreibung könnte das Werk Böhmes vollständig auf historische Vorläufer zurückführen und diese Ignoranz auch noch als Fortführung der Böhmeschen Tradition ausgeben. Noch schlimmer sind die ideologischen oder hypertheoretischen Interpretationen. Eric Voegelin etwa hat den Gemeinplatz etabliert, die Gnosis sei der Ursprung alles Übels in der Welt, besonders des Totalitarismus. Diese These stand Pate für bizarre Formen ideologischer Fehldeutungen der Mystik und Esoterik, die die Werke der Mystiker – unter dem Einfluss der linguistischen Wende – in vollkommen abstrakte Gebilde verwandelten, die letztlich nur der Konstruktion der eigenen Systeme dienen, aber mit dem Phänomen der Mystik nichts mehr zu tun haben.

Imaginative Teilhabe

Wenn man das Offensichtliche anerkennt, dass den mystischen Schriften ein mystischer Prozess oder eine mystische Erfahrung zugrunde liegt, wird die Aufgabe nicht einfacher. Die Esoterik ist ein höchst komplexes Gewebe von Gedanken und Erfahrungen, das sich nicht in gegenwärtige Denkgewohnheiten einfügt. Wie soll man mit Böhmes komplexen und häufig zirkulären Ausdrucksformen einer visionären Kosmologie umgehen, die der Alchemie und Astrologie zutiefst verpflichtet sind? Wie mit John Pordages visionären Reisen in spirituelle Welten? Man sollte vermeiden, etwas aus diesen Berichten zu machen, was sie nicht sein wollen, man sollte vielmehr versuchen, sie aus sich selbst heraus mit Hilfe der imaginativen Teilhabe zu verstehen.

Diese imaginative Teilhabe (Partizipation durch die Vorstellungskraft) ist für den Esoterikforscher unverzichtbar. Einfühlsamer Empirismus stellt nach Versluis’ Auffassung einen Mittelweg zwischen der historischen Objektivierung und der phänomenologischen Subjektivierung dar. Er bedeutet, dass man so weit wie möglich versucht, in das Phänomen einzutauchen, das man untersucht und es von innen heraus zu verstehen. Je weiter ein solches Phänomen von der Gegenwart entfernt ist, um so wertvoller wird die Geschichtsschreibung für die Rekonstruktion des Kontextes, aber ohne eine einfühlende Herangehensweise sind Missverständnisse und Reduktionismus unausweichlich.

Jede Wissenschaft ist eine Form von Übersetzung. Wenn man ein Werk übersetzt, geht es nicht bloß darum, die wörtliche Bedeutung herauszuarbeiten. Ein guter Übersetzer taucht in das Werk selbst ein, das er übersetzt. Dieser Prozess ist bis zu einem gewissen Grad rätselhaft, eine Art von gemeinsamem Bewusstsein entsteht durch die Sprache. Dieser Prozess vollzieht sich nicht nur beim literarischen Übersetzen, sondern auch bei esoterischen Werken, die geschrieben wurden, um eine bestimmte Bewusstseinsform oder einen Vorgang der inneren Erweckung zugänglich zu machen.

Von der Antike bis in die Gegenwart spielt das Motiv der Vermittlung esoterischen Wissens durch die Schrift eine große Rolle. Schreiben kann als eine Form der initiatorischen Weitergabe aufgefasst werden und hat im Westen oft diese Bedeutung. Aber das Geschriebene ist nicht mit der mystischen Erfahrung identisch, sondern ein Medium, durch das der Autor im Leser vergleichbare Erfahrungen hervorzurufen versucht.

Am Werk von Bernadette Roberts verdeutlicht Versluis diesen Sachverhalt. Sie stellt eines der klarsten Beispiele für eine kontemplative Tradition im 20. Jahrhundert in Amerika dar. Sie versucht in ihren Büchern die Erfahrung zu vermitteln, dass das Ego eine Illusion sei. Auch ihre Deutung des Christus geht aus dieser mystischen Erfahrung hervor. Durch ihr Schreiben bemüht sie sich, ihr Verständnis und ihre Erfahrung zu vermitteln. Der Wissenschaftler kann bei der Lektüre diese Erfahrungen nachvollziehen oder auch nicht, aber er sollte seinem Gegenstand Gerechtigkeit wiederfahren lassen und wenigstens versuchen, imaginativ an dem teilzuhaben, was Roberts beschreibt.

Unmittelbare Erfahrung und Esoterikforschung

Versluis geht sogar noch weiter: Wenn es das Ziel von Roberts ist, durch ihre Schriften ein gewisses Verständnis für eine Welt jenseits des Egos zu erwecken, dann muss man selbst bis zu einem gewissen Grad diese Welt erfahren haben, wenn man ihr Werk wirklich verstehen will oder man muss imaginativ an dieser Erfahrung zu partizipieren versuchen. Es ist wie beim Studium des Buddhismus: man kann eine bestimmte Bewusstseinsverfassung nicht wirklich verstehen, wenn man sie nicht selbst erfahren hat. Das Ideal ist nicht bloß, zu lesen und zu analysieren, was ein Mystiker oder Esoteriker schreibt, sondern vielmehr, die beschriebenen Erfahrungen selbst zu machen.

Hier wird es vielen Wissenschaftlern ungemütlich. Es mag ja angehen, so wird eingewendet, esoterische Texte zu untersuchen, aber selbst zu erfahren, was sie beschreiben, ist etwas völlig anderes. In der Tat: der Großteil der Esoterikforschung geht in Versluis’ Augen in eine völlig andere Richtung, er bewegt sich auf eine völlige Trennung des Textes von der gelebten Erfahrung zu, bis hin zu einer Verneinung der gelebten Erfahrung. Versluis plädiert nicht dafür, den Lesesaal in einen »Bienenkorb mystischer Experimentierkunst« zu verwandeln, auch wenn das vielleicht eine Verbesserung wäre, aber er weist darauf hin, dass bei dem Versuch, Mystik oder Esoterik wirklich zu verstehen, ab einem bestimmten Punkt die Erfahrung des Praktikers eine größere Bedeutung erlangt, als die Kenntnisse des bloßen Akademikers. Auch wenn er auf dieser gelebten Erfahrung nicht als einer conditio sine qua non bestehen will, so will er doch die Tür für eine solche Erfahrung offenhalten.

Das Studium von Mystik und Esoterik ist zu großen Teilen ein Studium von Bewusstseinsveränderungen und als solches ruft es die mit ihr beschäftigten Wissenschaftler mehr als andere Disziplinen dazu auf, ihren Geist zu öffnen und wenigstens durch imaginative Partizipation in den Gegenstand der Untersuchung einzutauchen. Historisches Bewusstsein und eine gewisse Nüchternheit, gesäuert mit einem gesunden Skeptizismus und einer Portion Humor sind wichtig, aber am allerwichtigsten ist für Versluis die Fähigkeit, mit Anteilnahme in den Menschen und die Welt einzutauchen und Formen des Denkens zu erfassen, die so vollkommen anders sind, als die des heutigen mainstreams. Die Zeit der rationalistischen Katalogisierung der »überwundenen Irrtümer des Aberglaubens« ist zwar vorbei, aber es drohen andere Gefahren: leichtgläubige Naivität auf der einen Seite und hyperintellektuelle Objektivierung auf der anderen – mit anderen Worten – luziferische Schwärmerei und ahrimanische Intellektualität.

Literatur:

Arthur Versluis, Theosophia: Hidden Dimensions of Christianity (1994)

Arthur Versluis, Wisdom's Children: A Christian Esoteric Tradition (SUNY Series in Western Esoteric Traditions, 1999)

Arthur Versluis, Wisdom's Book: The Sophia Anthology (2000)


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