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Esoterik als Diskursfeld

Kocku von Stuckrads Beitrag zur Methodologie der Esoterikforschung

von Lorenzo Ravagli

Der Religionswissenschaftler Kocku von Stuckrad, der zwischen 2003 und 2009 Assistenzprofessor am Lehrstuhl Wouter Hanegraaffs in Amsterdam war und danach als Professor für Religionswissenschaft an die Reichsuniversität Groningen berufen wurde, veröffentlichte 2004 ein Buch über die Geschichte der abendländischen Esoterik.

In seinen methodischen Vorüberlegungen weist Stuckrad darauf hin, dass die wissenschaftliche Esoterikforschung der letzten 20 Jahre noch keine Einigkeit darüber erzielt habe, was genau unter Esoterik zu verstehen sei und welche Methoden sich am besten eignen, sie zu erforschen. Einig ist man sich unter Esoterikforschern aber darin, dass es sich bei ihr um eine bestimmte Form der Welterklärung handelt, die sich »in naturphilosophischen, religiösen und literarischen Traditionen herauskristallisierte«.

Die neuere Forschung ist weit davon entfernt, Esoterik als etwas »Marginales oder Obskures« zu betrachten, vielmehr sucht sie ihren Gegenstand »als ein Strukturelement der Religions- und Kulturgeschichte darzustellen, das bei der Entstehung dessen, was man gewöhnlich die ›Moderne‹ nennt, nicht unwesentlich beteiligt war.«

Durch die gemeinsame Arbeit der führenden Esoterikforscher ist eine Denkweise sichtbar geworden, die »die europäische Religion und Philosophie spätestens seit der Renaissance mitgestaltet hat und damit als eine feste Komponente neuzeitlicher Geistesgeschichte zu betrachten ist. Anstatt das Esoterische antithetisch der Aufklärung und Wissenschaft gegenüber zu stellen, erkennt die jüngere historische Forschung«, so Stuckrad, »zunehmend die inneren Zusammenhänge zwischen Esoterik, Wissenschaft und Aufklärung.«

Stuckrad legt seiner Darstellung der Geschichte der Esoterik ein Modell der europäischen Religionsgeschichte zugrunde, das von der Existenz eines religiösen Pluralismus ausgeht, von der Auffassung, dass die drei großen monotheistischen Religionen, aber auch diverse Polytheismen, immer schon feste Bestandteile der europäischen Kultur waren.

Bei der Betrachtung kultureller Entwicklungen sollte man sich seiner Auffassung nach nicht so sehr an der Ereignisgeschichte, als an der Gedächtnisgeschichte orientieren. Die Geschichte der Kultur ist nicht eine lineare Abfolge von Ereignissen, sondern ein komplexes Gefüge von Erinnerungen, in dem spätere frühere überlagern, ohne sie je ganz auszulöschen. Das erscheint plausibel, da Kultur zu einem großen Teil Tradition ist, und das Neue oft genug nur durch die Neuinterpretation des Alten entsteht. Die Frage ist daher, warum und wie zu verschiedenen Zeiten alte Traditionen uminterpretiert werden. Diese Frage lässt sich nach Stuckrad nur beantworten, wenn man die sozialen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Umfelder berücksichtigt, in denen manche »esoterischen Traditionsbestände« ihre neuen Deutungen erhielten.

Dieser Gedanke, so einleuchtend er auf den ersten Blick erscheinen mag, lässt allerdings außer Acht, dass die jeweiligen Umfelder, von denen Stuckrad spricht, zu dem merkwürdiger Weise auch das »kulturelle« Umfeld gehört, selbst Bestandteile der Kultur und Produkte der Kultur sind. Die Veränderungen von Kultur aus dem »kulturellen Umfeld« zu erklären ist bestenfalls eine Tautologie, aber auch die sozialen, politischen und selbst die wirtschaftlichen Umfelder sind wesentlich von der Kultur bestimmt. Es mag manchem überflüssig erscheinen, auf dieser Tatsache zu bestehen, aber wenn man Kulturgeschichte als Geistesgeschichte versteht, die sich in unterschiedlichen zeitlichen und geographischen Regionen entfaltet, dann muss man diesem Geist der Geschichte auch die Potenz zuschreiben, das Bild, das er von sich hat, selbst zu definieren. Das Primat liegt also auf Seiten des Geistes, der Traditionsbestände deutet und neu deutet und dadurch die Wirklichkeiten bestimmt, in denen er sich historisch und geographisch bewegt.

»Diskurse« greifen laut Stuckrad stets auf Traditionen zurück, da sie ja eines Inhaltes bedürfen. Die Traditionen der monotheistischen Religionen verfügen über einen Kern von »Traditionsstücken«, der aus Literaturen und Rezeptionen besteht (zum Beispiel die Genesis, die apokalyptischen Schriften, die Evangelien usw.). Aber dieser Kern der Traditionen ist eher klein und häufig ist es so, dass an die Traditionsstücke neue Fragen gestellt werden, durch welche die Tradition selbst verändert wird. Diese Fragen werden durch Diskurse aufgeworfen. Diskurse und Traditionen sind nicht identisch, die religiösen Diskurse können verschiedene Traditionen übergreifen: es können zu bestimmten Zeiten an verschiedene religiöse Traditionen dieselben neuen Fragen gestellt werden. Diskurse sind, so Stuckrad, »die gesellschaftliche Organisation von Tradition, von Meinungen und Wissensbeständen«. So haben etwa Schiiten im Mittelalter die Großen Konjunktionen ganz anders gedeutet als Christen oder Juden später: die Muslime als Ankündigung der Wiederkehr des verborgenen Imam, die Christen als Hinweis auf ein Zeitalter der bevorstehenden Versöhnung zwischen den verfeindeten Konfessionen und die Juden als Ankündigung der baldigen Ankunft des Messias. Die Große Konjunktion ist hier der esoterische »Wissensbestand«, der in unterschiedlichen religiösen Kontexten durch den Diskurs unterschiedliche Deutungen erfährt. Statt von Diskurs kann man auch von »Diskursfeld« sprechen. Damit ist gemeint, dass die Diskurse nicht im luftleeren Raum stattfinden, sondern stets in bestimmte soziale und politische Sphären eingebettet sind. Diskursfelder sind ebensowenig wie Diskurse auf bestimmte Traditionen beschränkt, vielmehr überwölben auch diese die Traditionen, ja sie verändern sogar die Traditionen und mit den Traditionen auch die Identitäten der Menschen, die ihnen angehören. So gab es in allen monotheistischen Religionen Platoniker und Aristoteliker, Anhänger eines wörtlichen Schriftsinns und mystisch-allegorische Interpreten, die oft über die Grenzen ihrer Tradition hinweg Allianzen schmiedeten und sich gegenseitig beeinflussten.

Von daher ergibt sich laut Stuckrad ein neuer Blick auf religiöse Identitäten. Religiöse Patchwork-Identitäten sind nicht erst ein Kennzeichen der Moderne, es gab sie schon immer, auch im Mittelalter oder im Altertum. Sie entstanden nicht durch Identifikation mit klar definierten Traditionen, sondern aus Diskursfeldern, biographischen Erzählungen und aus einer Spannung von Eigen- und Fremdwahrnehmung. Religiöse Identitäten entstehen aus Diskursen, aus kommunikativen Prozessen. Alternativen, die Begegnung mit dem Anderen, spielen dabei eine entscheidende Rolle.

Seit der Antike gab es in Europa religiösen Pluralismus. Zumindest als Kontrastfolien für die Herausarbeitung der eigenen religiösen Identität spielten die anderen Religionen immer eine Rolle. Die Existenz vieler verschiedener Religionen kann man als »Pluralität« bezeichnen, »die gesellschaftliche Organisation« dieser Verschiedenheit als »Pluralismus«. Die anderen Religionen werden nicht nur wahrgenommen, sondern auch als »das Andere« konstruiert. Daher bilden beide Seiten, das Eigene und das Andere, eine »diskursive Einheit«.

Für Stuckrad ist Pluralismus ein Strukturelement der europäischen Religionsgeschichte, denn die Identitätsdiskurse haben sich stets auch auf das Andere bezogen, von dem man sich abgrenzte. Das galt nicht nur für die fremden Religionen, sondern auch für das Fremde in der eigenen Religion, die »Ketzer«. Aber gerade die Geschichte der Esoterik zeigt, dass die jüdische und muslimische Philosophie und Esoterik von den Christen nicht nur benutzt wurde, weil sie sich als Kontrastfolien eignete, sondern auch, weil sie in dieser einer »alternative Lesart des Kosmos« begegneten, die für sie höchst anregend war. Allerdings sollte man hier hinzufügen, dass es auch die gegenläufige Tendenz gab: die der Uniformierung und des Ausschlusses von Pluralität. Während jene von herrschenden Institutionen immer angestrebt, aber nie erreicht wurde, war diese eine Tatsache, die stets von neuem das Bedürfnis nach Uniformität gebar.

Die religiösen Systeme waren nicht nur untereinander verflochten, sondern auch mit politischen und wissenschaftlichen Systemen. Die Auseinandersetzung der Religionen mit den Wissenschaftskulturen ist nach Stuckrad ein Kennzeichen der europäischen Religionsgeschichte. Die Philosophie oder Philologie haben das Verständnis von Religion seit dem Anbruch der Neuzeit erheblich beeinflusst, nicht immer zugunsten der Religion. Dennoch: aus der Sicht der Kulturwissenschaft lässt sich die Esoterik nicht als Tradition darstellen, die von Christentum, empirischer Naturwissenschaft oder Aufklärung isoliert war, sondern nur als geschichtliche Größe, die sich in steter Auseinandersetzung mit ihnen befand, einer Auseinandersetzung, die nicht selten zu gegenseitiger Befruchtung führte.

Versucht man nun Esoterik im Kontext der dynamischen Identitätsbildung, der Transfers zwischen unterschiedlichen Traditionen und Wissensformen zu erfassen, scheint es Stuckrad sinnvoll, nicht von »Esoterik« als einem festen Gegenstand zu sprechen, sondern statt dessen vom »Esoterischen«. Dasselbe könnte man auch vom »Christentum« oder vom »Islam« sagen: auch diese gibt es nicht als »zusammenhängende Lehre« oder als »festen Traditionsbestand«. Alles ist ständig im Fluss. Dennoch lassen sich »Motivketten« identifizieren, die durch die Geschichte vagabundieren. Aber diese machen nach Stuckrads Ansicht nicht die Esoterik aus. Letztere ist vielmehr ein »Diskurselement« und dieses Diskurselement ist definiert durch ein einziges Merkmal, nämlich durch »Erkenntnisansprüche«, die auf das »eigentliche, absolute Wissen« abzielen, und auf die Methoden, durch die dieses Wissen erlangt werden kann. Stuckrads Definition von Esoterik fasst diese also als Erkenntnismethode, die auf ein absolut gewisses Wissen abzielt. (Nebenbei gesagt, wäre nach dieser Definition die Fichtesche »Wissenschaftslehre« mit ihrem Anspruch auf »absolut gewisses Wissen« genuine Esoterik und in der Tat wird Struckrad in Bezug auf Hegels »absolutes Wissen« später genau diesen Schluss ziehen). Die esoterischen Erkenntnisformen reichen laut Stuckrad vom individuellen Erkenntnisaufstieg über ein ritualisiertes Initiationsgeschehen bis hin zur direkten Kommunikation mit geistigen Wesen.

Solche Formen des Wissenserwerbs waren aber auch »in wissenschaftlichen Kontexten zu finden«, sie sind also nicht spezifisch esoterisch. Wenn es diese Erkenntnisansprüche und Methoden des Wissenserwerbs auch in »wissenschaftlichen Kontexten« gab, sind sie aber keine spezifische Differenz, durch die »das Esoterische« definiert werden kann, sondern vielmehr das, was beide gemeinsam haben. Stuckrad fällt dies wohl selbst auf, wenn er frägt, was durch ein solches Konzept von Esoterik denn gewonnen sei. Aber er meint, es ermögliche, die Komplexität der europäischen Kulturgeschichte abzubilden, »ohne Religion gegen Wissenschaft, Christentum gegen Paganismus oder Vernunft gegen Aberglauben auszuspielen«. Denn in Wirklichkeit seien diese »untrennbar aufeinander bezogen«. Ob sich diese Überzeugung bewahrheitet, kann nur der Durchgang durch die Geschichtserzählung Stuckrads erweisen.

Antike

Gemäß der Tradition der Esoterikforschung setzt auch Stuckrads Geschichtserzählung in der Antike ein. Die meisten Esoterikforscher beziehen sich in ihren Darstellungen auf denselben Traditionsbestand. Das ist nicht verwunderlich, denn trotz aller gegenteiligen Behauptungen – auch von Stuckrad – gibt es so etwas wie eine esoterische Tradition, die die Geschichte durchzieht: es ist, wie man mit Versluis sagen könnte, die Tradition der Gnosis, der unmittelbaren Erkenntnis einer Welt, die jenseits der sinnlich-sichtbaren liegt. Im Grunde blickt auch Stuckrad auf diese Tradition, wenn er als unspezifisches Merkmal »des Esoterischen« ihren »Erkenntnisanspruch« hervorhebt. Nicht der vorausgesetzte Traditionsbestand ist es, der die einzelnen Esoterikforscher voneinander unterscheidet, sondern die Art, wie sie diesen interpretieren und welche Akzente sie in ihren Deutungen setzen.

Die Esoterik der Neuzeit ist laut Stuckrad in zweierlei Hinsicht von der Antike abhängig: in ihr entstanden »zentrale Motive« und die grundlegenden »Texte« (Hermetika, chaldäische Orakel, astrologische, alchemistische, neuplatonische Weltdeutungen). Die Esoterik bewegte sich also stets zwischen Philosophie und Religion. Gewisse esoterische Anschauungen über den Menschen, die Wirklichkeit und den Aufbau des Kosmos finden sich auch in bestimmten philosophischen Strömungen und wenn die Esoterik Natur und Selbst »sakralisiert«, dem Menschen die Fähigkeit zuspricht, das Göttliche zu erkennen oder transzendente Quellen des Wissens erschließt, zeigt sich ihre Verwandtschaft mit dem »Religiösen«.

Kann man Philosophie und Religion auf diese Weise voneinander abgrenzen? Etwas abgemildert wird die Dichotomie dadurch, dass Stuckrad dem Kapitel die Überschrift »philosophische Religion, religiöse Philosophie« gibt – aber gerade die antike Philosophie ist im hier angedeuteten Sinn »religiös« – und insofern ist die Frage, ob Philosophie nicht immer »religiös« sein muss, wenn sie nicht bloß »kritisch« sein will. Jedenfalls findet sich bei Plato das »sakrale Selbst«, die Fähigkeit des Menschen, das Göttliche zu erkennen und die Idee transzendenter Erkenntnisquellen (Schau der Ideen) – in abgeschwächter Form auch bei Aristoteles. Das zeigt sich auch, wenn Stuckrad kurz darauf bemerkt, die esoterische Anthropologie und Ontologie seien ohne die platonische Philosophie »schlechterdings unmöglich«.

Die esoterischen Motive, die Stuckrad anhand der antiken Philosophie entwickelt, sind mit den sieben Motiven Antoine Faivres verwandt (Denken in Entsprechungen, Idee der lebendigen Natur, Imagination, Mediation, Transmutation, Praxis der Konkordanz, Transmission oder Initiation). Stuckrad konkretisiert manche dieser Motive und fügt gewisse Erweiterungen hinzu.

»Die holistische Idee«, dass Makrokosmos und Mikrokosmos sich ineinander spiegeln, sei in vielen Kulturen vorhanden, keine könne »die Erfindung des Entsprechungsgedankens für sich reklamieren«. Schon die babylonische Kulttheologie des dritten Jahrtausends vor Christus weise die auf, sie sei ein »Grundmerkmal vorderasiatischer Tempeltraditionen«. Die einzelnen Kontexte, in denen diese Idee auftaucht, sind, um Stuckrad hier zu ergänzen, auch nicht inhaltlich voneinander abhängig – man findet die Idee der Entsprechung auch in Ozeanien, Amerika und Afrika. Allerdings kommt dem hellenistischen Ägypten bei der systematischen Ausgestaltung dieser Idee aus der Sicht der Esoterikforschung insofern eine erhebliche Bedeutung zu, als sie eine abendländische Denktradition begründete.

Die philosophischen Grundlagen der Esoterik findet Stuckrad vor allem bei Plato. In seinem »Timaios« spricht er von den Fixsternen als »lebenden Wesen göttlicher Art«, und setzt die Planeten zur Zeit und zum Wandel in Beziehung. Der Kosmos als Lebewesen ist eine platonische Idee. Von nicht minder großem Einfluss war Platos Seelenlehre. Dass der Mensch eine unsterbliche Seele besitze, könne als »entscheidende psychologische Wende in der europäischen Religionsgeschichte« betrachtet werden. Die Seele sei für Plato der wahre Kern des Menschen. Noch von Homer werde die Person mit ihrem Körper identifiziert. Allerdings blendet Stuckrad hier die Anschauungen der Ägypter oder Babylonier aus. Kannten sie keine unsterbliche Seele? Ist der Verstorbene, der zu Osiris wird, etwa nicht unsterblich?

Bei Plato jedenfalls wird laut Stuckrad der Leib zum »Grab« der Seele. Im Neuplatonismus und frühen Christentum werde der Körper als ihr Exil betrachtet, ihre Erlösung könne sie erlangen, indem sie sich schon während der Inkarnation der göttlichen Lichtwelt zuwende. Diese Vorstellungen deuten nach Stuckrad auf die Entstehung der Idee eines »inneren Menschen«, der sich von der äußeren Welt abwenden müsse, um sein Heil zu finden. Aber man kann diesen Gedanken auch anders wenden: Die Seele des Menschen stammt im Platonismus aus einer geistigen Welt, von der sie sich abgewandt hat, um sich der sinnlichen zuzuwenden. Sie hat sich also der sinnlichen Welt, der Inkarnation aus freien Stücken zugewandt. Dass die Existenz im Leib eine Strafe oder die Folge eines früheren Falls sein könnte, diese Idee ist Plato und dem klassischen Griechentum fremd. Die Seele des Menschen trägt ihren himmlischen Ursprung immer noch in sich und wird aufgrund dieser himmlischen Abkunft zur Mittlerin zwischen der irdischen und der himmlischen Welt.

Plato war laut Stuckrad »nicht der erste«, der sich »Gedanken über die Seele machte«, er konnte auf »Spekulationen« der Pythagoräer zurückgreifen. Allerdings ist die Frage, ob es sich bei der Seelenlehre Platos und der Pythagoräer bloß um »Gedanken« handelt, die sie sich »machten« und um »Spekulationen«. Plato selbst jedenfalls sieht in seinen Darstellungen, mögen sie sich auch der mythischen Form bedienen, mehr als bloße Spekulationen. Das geht auch daraus hervor, dass er sie besonderen Persönlichkeiten in den Mund legt, wie ägyptischen Priestern oder Menschen, die durch Nahtodeserfahrungen hindurchgegangen sind. Stuckrad meint, Pythagoras habe nicht nur durch seine Seelenlehre, sondern auch durch seine Kosmologie die »esoterischen Diskurse« beeinflusst. Der Kosmos ist für Pythagoras mathematisch verfasst, Proportionen sind Abbilder himmlischer Beziehungen (Sphärenharmonien). Schließlich erwähnt Stuckrad noch die Mysterienreligion der Orphiker, die eine »individuelle Initiation« propagierten.

In Platonismus, Pythagoräismus und Orphik entstanden laut Stuckrad »bestimmte Konzepte«, die zu »wichtigen Bausteinen« der antiken Esoterik geworden seien. Die Stoa habe diese verschiedenen Traditionsströme zusammengefasst und weitere Bausteine hinzugefügt. Wie man aus den Formulierungen Stuckrads erkennen kann, nimmt er gegenüber all den »Konzepten«, die in die esoterischen Diskurse eingegangen sind, eine durchweg nominalistische Haltung ein. Es handelt sich um »Gedanken«, »Modelle«, »Theorien«, nicht um den Niederschlag von Erfahrungen. Damit steht Stuckrad aber im Widerspruch zum Selbstverständnis all der Quellen, auf die er sich bezieht. Denn in allen werden die entsprechenden »Konzepte« auf Erfahrungserkenntnisse, eben auf esoterische Erkenntnisse zurückgeführt. Gilt von Stuckrad, was Moshe Idel über die Dekonstruktivisten sagt: dass sie Gott oder die transzendente Bedeutung des Textes erst töten müssen, um den Text vergöttlichen zu können? Wenn von den anfangs akzentuierten »absoluten Erkenntnisansprüchen« der Esoterik nichts übrig bleibt, als »Diskurselemente« und »Diskursformationen«, »Konzepte« und »Spekulationen«, dann hat man »der Esoterik« erst »das Esoterische« ausgetrieben, um am Ende »ein Esoterisches« in der Hand zu halten, dem jede Esoterik fehlt.

Doch sehen wir weiter. Die Stoa fügte laut Stuckrad zu dem bisherigen die »wichtige Vorstellung« hinzu, das Weltgeschehen vollziehe sich nach einer Gesetzmäßigkeit, die den ganzen Kosmos durchdringe und letztlich göttlicher Natur sei. Diese »Heimarmene« sei ein dynamisches System von Kräften, das sich wie ein lebendes Wesen entwickle. Auch der Mensch sei dieser Heimarmene weitgehend unterworfen, auch wenn er in seinem seelischen Leben von ihr frei sei. Mit dieser Idee eines den Kosmos umspannenden Netzes von Gesetzen stehe die Idee der »Sympathie« im Zusammenhang: die Gesetze durchdrängen alle Teile des Kosmos auf die gleiche Weise, dadurch seien die unterschiedlichen Bereiche, in denen die gleichen Gesetze wirkten, miteinander verwandt. Was in der Planetenwelt geschehe, habe seine Entsprechung im Menschen und auf der Erde. Plotin verbinde solche »Gedanken« mit hermetischen und astralmystischen Ideen und »stifte auf diese Weise«, so Stuckrad, »ein Modell« – auch hier also wieder eine intellektuelle Spielerei – von allerdings erstaunlicher Wirkungsmacht.

Nun wird in der Hermetik laut Stuckrad eine weitere Tradition »gestiftet«. »Die Vorstellung« der Vermittlung (Meditation) eines transzendenten Wissens durch Götter, himmlische Boten oder Eingeweihte finde sich nämlich kaum bei den Griechen oder Römern. Dieses »wichtige Diskurselement der Esoterik« gehe auf die jüdische und christliche Tradition zurück. Seit dem dritten vorchristlichen Jahrhundert »entwickelte sich« in jüdischen Kreisen »die Vorstellung«, Wissen könne ausgewählten Menschen durch Engel zuteil werden. Der »wichtigste Offenbarungsengel« sei Henoch gewesen (genauer betrachtet, handelt es sich gar nicht um einen »Engel«, sondern um eine von Gott auserwählte Menschenseele), der nach einem langen Leben von 365 Jahren entrückt wurde. Da er nicht gestorben war, konnte er seither als Mittler zwischen Gott und den Menschen tätig sein. Gleichzeitig »entwickelte« das Judentum im Anschluss an die Thronwagenschau des Propheten Ezechiel »die Idee«, einzelne Menschen seien in der Lage, die Himmelsreise anzutreten und die göttlichen Geheimnisse zu schauen.

Hier, wo nicht bloß von mathematischen Proportionen oder Entsprechungen die Rede ist, fällt der Stuckradsche Nominalismus besonders deutlich in die Augen. Es »entwickelte« sich »die Vorstellung« oder »die Idee« von Engeln »als Mittlern zwischen Gott und Mensch«: wie genau »entwickelten« sich eigentlich diese Vorstellungen? So wie sich die Arten im Tierreich entwickeln, durch Mutation und Selektion? Oder liegt die Selektion hier im Auge des Betrachters, der das, was die Quellen sagen, nicht beim Wort nimmt? Denn alle Quellen sprechen von Erfahrungen, von Begegnungen zwischen Menschen und Engeln oder von mystischen Erfahrungen der Schau, der Entrückung.

Die eigentlichen esoterischen Erzählungen, die von Wirklichkeiten berichten, werden von Stuckrad konsequent auf die Ebene von Texten reduziert, in denen sich auf geheimnisvollen Wegen gewisse Vorstellungen und Ideen koagulieren, die den Inhalt von Diskursen bilden.

Aber schließlich kommt noch eine weitere Figur ins Spiel: Hermes Trismegistos. Auch Hermes Trismegistos ist für Stuckrad eine Epiphanie, die sich gewissermaßen aus Buchstaben erhebt. In der hellenistischen Zeit nämlich »verbanden sich« ägyptische »Traditionsbestände« mit solchen aus der griechischen Mythologie und Religion. Wie verbanden sie sich? Von selbst? Eine Verbindung »lag« besonders »nahe«, nämlich die zwischen Hermes und Thoth, die beide mit der Kunst des Schreibens und der Offenbarung okkulter Wahrheiten zu tun hatten.

Hermes-Thot »machte auch unter einem anderen Namen von sich reden«: er wurde als »Hermes Trismegistos«, als dreimalgroßer Hermes bezeichnet. Wo machte er von sich reden? Natürlich in Texten: in den sogenannten »Hermetika« und im »Corpus Hermeticum«.

Die Hermetika bilden das gesamte naturphilosophische Wissen des hellenistischen Ägypten ab. Dazu gehören astrologische Schriften mit Themen wie der Lehre von den Herrschern über bestimmte Zeitepochen, über das bevorstehende Ende des Äons oder das Geburtshoroskop der Welt und medizinisch-astrologische Werke. All diesen Texten ist die Idee der Entsprechung zwischen Mikro- und Makrokosmos gemeinsam. Schließlich tritt noch die Vorstellung vom Aufstieg des Adepten durch die Planetensphären hinzu.

Das »Corpus Hermeticum« besteht aus einer Sammlung von 17 griechischen Abhandlungen, die im zehnten Jahrhundert in Byzanz zusammengestellt wurde. Nach heute gängiger Auffassung sind diese Texte im dritten Jahrhundert nach Christus entstanden. Die ursprünglichen Autoren sind unbekannt. Die Traktate beschäftigen sich weniger mit praktischer Esoterik, also mit Astrologie, Magie oder Alchemie, als mit philosophischen Fragen nach der Erkenntnisfähigkeit des Menschen, dem Ursprung der Welt und moralischen Problemstellungen.

Von zentraler Bedeutung für die Hermetik ist nach Stuckrad das Erkennen, dem eine befreiende, erlösende Kraft zugeschrieben wird. Im »Poimandres« heißt es: »Heilig ist der Gott, der erkannt werden will und von den Seinen erkannt wird.« Die Seele des Menschen ist durch die Planetensphären auf die Erde herabgestiegen, und unterliegt hier der Macht der Archonten (der Planetenregenten), trägt aber einen göttlichen Funken in sich, der sie durch Gnosis in ihre himmlische Heimat zurückzutragen vermag. Die Befreiung der Seele aus den Fesseln der Archonten geht mit ihrer moralischen Selbsterziehung einher. Poimandres berichtet über den (nachtodlichen) Aufstieg: »Wenn du deinen Körper ablegst, gibst du ihn den Kräften der Umwandlung preis. Deine einstige Gestalt löst sich auf, deine Gewohnheiten übergibst du dem Schutzengel, dass er sie zerstreue, die Sinne deines Leibes kehren zu ihren Quellen zurück und vereinigen sich wieder mit den Urkräften, während deine Empfindungen und Triebe eingehen in die vernunftlosen Elemente.

Dann eilst du weiter aufwärts durch die Planetensphären. Dem Mond übergibst du die Kraft des Zunehmens und Abnehmens, dem Merkur die Ränke des Bösen, der Venus die begierdevolle Täuschung, der Sonne Wichtigtuerei und Herrschsucht, dem Mars den unheiligen Mut und die voreilige Dreistigkeit , dem Jupiter den bösen, unersättlichen Antrieb zum Reichtum und dem Saturn die hinterhältige Lüge.

Und dann, frei geworden von den Wirkungen der Planetenregenten, gelangst du in die achte Welt. Nichts besitzt du mehr, als dein ureigenstes Wesen, und du preist mit den wahrhaft Seienden den himmlischen Vater in Hymnen. Mit dir freuen sich alle, die dort wohnen, über deine Ankunft. Und ähnlich geworden den Geistgeeinten lauschst auch du den himmlischen Mächten, die über der achten Welt thronen und mit süßer Stimme Gott preisen. Dann zieht ihr in Reihen zum Vater hinauf und vereinigt euch mit den himmlischen Mächten und werdet selbst Mächte, dann seid ihr in Gott. Das ist die wahre Vollendung für die, die die heilende Erkenntnis besitzen: sie werden Gott. Was willst du mehr? Doch wohl nur, dass du ein Führer werdest für die Würdigen, damit Gott durch dich das Menschengeschlecht errette.«

Das »Corpus Hermeticum« spricht dem Menschen uneingeschränkt die Fähigkeit zu, sich aus eigenen Kräften erkennend zu den himmlischen Sphären aufzuschwingen, aus denen er ursprünglich stammt. Der Mensch bedarf keines von außen hinzutretenden Erlösers oder Vermittlers. Er erlöst sich selbst durch die Erkenntnis. Und mit dieser Erlösung oder Befreiung geht seine Gottwerdung einher. Von einer solchen »Theosis« als dem Ziel der Gnosis haben in den ersten Jahrhunderten nach Christus auch die alexandrinischen Kirchenväter Clemens und Origenes gesprochen.

Die Überzeugung, es gebe keinen prinzipiellen, sondern nur einen graduellen Unterschied zwischen menschlicher und göttlicher Existenzform war Gemeingut der Antike. Erst die Verbreitung des Sündenbewusstseins und die »Hypostasierung« der jüdischen messianischen Erlösergestalt im Kirchenchristentum machte dieser Durchlässigkeit der Wesen und Welten ein Ende.

Der Überblick über die Antike wäre nicht vollständig, ohne eine Diskussion der Gnosis.

»Gnosis«, so Stuckrad, »ist ein Kampfbegriff seitens der sich staatlich etablierenden Kirche«. Man müsse sich davor hüten, in der wissenschaftlichen Forschung die Rhetorik kirchlicher Apolegeten zu übernehmen. Die als »Häresien« ausgeschiedenen christlichen Gemeinschaften erweitern jedenfalls auch noch heute den Horizont. Die (christlichen) Gnostiker bezeichneten sich in der Regel gar nicht als »Gnostiker«, sondern als Christen. Zu Gnostikern wurden sie erst durch die Abgrenzungsbemühungen der »Orthodoxen«, der Rechtgläubigen. Aber worin der rechte Glaube bestand, das war gerade der Streitpunkt zwischen den vielen Christentümern. Wie fließend die Grenzen waren, zeigt die Tatsache, dass der »Erzgnostiker« Valentinian beinahe zum Bischof von Rom gewählt wurde und dass führende kirchliche Apolegeten wie Origenes, Tertullian und Hippolyt später zu Ketzern erklärt wurden. Der Forschung bleibt also nichts anderes übrig, als die verschiedenen Gruppierungen anzusehen und ihre jeweiligen Deutungen des Christentums zur Kenntnis zu nehmen.

Durch die Funde von Nag Hammadi im Jahr 1945 ist die Quellenbasis für eine Beschäftigung mit der Gnosis erheblich erweitert worden. Stuckrad schildert aber die Anschauungen der Gnostiker nicht, indem er diese Quellen heranzieht, sondern indem er eine Zusammenfassung von Christoph Markschies referiert, das der Gnosis acht Kerngedanken zuschreibt: 1. die Idee eines vollkommenen, jenseitigen Gottes, 2. die Einführung von himmlischen Mittlerwesen, 3. Welt und Materie als böse Schöpfung und die Fremdheit des Gnostikers in dieser Welt, 4. die Einführung eines Demiurgen, auf den die Schöpfung der Welt zurückgeht, 5. die Verbindung dieser Kosmologie mit einer entsprechenden Seelenlehre, die den Ursprung der Seele in die Welt jenseits des Demiurgen verlegt und ihr ein latentes Wissen von ihrem Ursprung zuschreibt, 6. die Erkenntnis dieses Sachverhalts, die durch eine Erlösergestalt vermittelt wird, 7. die Erlösung durch diese Erkenntnis, 8. einen mehr oder weniger stark ausgeprägten Dualismus.

Inwieweit durch diese acht Kernmotive antignostische Polemiken fortgeschrieben werden, wird von Stuckrad nicht erörtert. (Vgl. zur Gnosis den Beitrag über Arthur Versluis). Für ihn ist der Gedanke wesentlich, dass die Gnosis dem Menschen die Möglichkeit der Selbsterkenntnis und der Erlösung durch diese Erkenntnis zuschreibt. Er sieht eine große Nähe zwischen der gnostischen Kosmologie und Erlösungslehre und den philosophischen Diskussionen über »Heimarmene« und Astrologie. Die Spannung zwischen kosmischen Mächten und menschlicher Freiheit sei für die Gnosis zentral. Die Macht der Gestirngötter könne aber durch die Erkenntnis gebrochen werden. Gnosis kann daher laut Stuckrad als »Religion der Selbstbefreiung« oder der »Selbstermächtigung des erkennenden Subjekts« bezeichnet werden. Nur setzt diese Interpretation eine entweder natürliche oder übernatürliche Begrenzung der menschlichen Erkenntnisfähigkeit voraus. Man könnte umgekehrt auch die Gegner der Gnosis als Vertreter einer »Selbstentmächtigung des menschlichen Erkennens« bezeichnen und die gnostische Betonung der Grenzenlosigkeit als natürlichen Ausdruck des menschlichen Selbstbewusstseins.

Das Kapitel über die Antike endet mit einem Ausblick auf den Manichäismus. Dass der Übergang des Christentums in den Status einer Staatsreligion, von der verfolgten zur verfolgenden Kirche, mit enormen Kollateralschäden verbunden war, zeigt der Kampf gegen den Manichäismus, die »Religion des Lichtes«, die im 3. Jahrhundert eine der am weitesten verbreiteten Religionen überhaupt war und die Existenz der Orthodoxie ernsthaft gefährdete. Die »wahre Kirche« Christi wurde von der anderen »wahren Kirche« vollständig ausgerottet und hielt sich nur in Ostasien, in manchen abgelegenen Gemeinden bis ins 17. Jahrhundert. Die Bedeutung des Manichäismus für die Esoterik erläutert Stuckrad an dessen astrologischen Anschauungen. Wie in anderen gnostischen oder philosophischen Systemen bilden die Planeten das Reich der Archonten. Durch die Religion des Lichtes, das manichäische Christentum, geht diese Herrschaft der Archonten ihrem Ende entgegen. Eine Sonderstellung nehmen Sonne und Mond ein, denn sie sind die beiden Schiffe, auf denen die Seele in die Lichtwelt segelt, oder die Tore, durch die sie hindurch schreiten muss, deren strenge Torhüter »die Spreu vom Weizen« trennen.

Jüdische Esoterik – Kabbalah

Die geistige Vorgeschichte der Kabbalah schildert Stuckrad wie folgt. Manche Kabbalisten würden vielleicht sagen, sie sei älter als die Torah. Für den wahrhaft Gläubigen jedenfalls enthält die Bibel alles, was er benötigt, um die Welt zu verstehen und sich in ihr zurecht zu finden. Das Problem ist nur, dass sie nicht Aussagen über alles enthält. Deswegen muss sie interpretiert werden, um die im wörtlichen Schriftsinn verborgenen Aussagen zu finden. Außerdem zwingen widersprüchliche Aussagen zu einer »Harmonisierung durch Interpretation«, die mitunter nur möglich ist, indem ihnen ein allegorischer oder symbolischer Sinn zugesprochen wird. Philo von Alexandrien betrieb diese allegorische Bibelinterpretation im ersten Jahrhundert nach Christus. Bei ihm wurden die geschichtlichen Erzählungen der Bibel zu Schilderungen mystischer Wege der Seele. Griechische Philosophen, besonders Aufklärer, waren ihm mit der allegorischen Deutung von Mythen vorangegangen. Die allegorische oder symbolische Deutung entfaltete sich – neben weiteren, nicht-wörtlichen Interpretationen – in der Mischnah, dem Talmud und den Midraschim ins Uferlose.

Die Eigentümlichkeiten der hebräischen Schrift boten für solche Deutungen einen besonderen Nährboden, da jeder Buchstabe auch einen Zahlenwert besitzt und die Vokale ursprünglich nicht aufgezeichnet wurden, sondern nur die Konsonanten. Man denke sich, die Präambel des Grundgesetzes lautete: »DWRD DSMNSCHN STNNTSTBR ...«

Die ersten Konsonanten der Bibel: BRSCHT können sowohl »Bereschit« als auch »Bäräschät« gelesen werden. Ersteres bedeutet »am Anfang«, letzteres »mit dem Kopf«, »mit Vernunft« – also nicht: »Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde«, sondern »mit Vernunft schuf er sie«. Die Vernunft ist aber chokhmah, die zweite Sefirah der Kabbalah. Ähnlich verhält es sich mit »Gott«: hier findet man bekanntlich im Original die Elohim, eine Mehrzahl geistiger Wesen, von denen manche behaupten, sie seien bloß ein pluralis maiestatis. Man könnte also auch übersetzen: »Zusammen mit der Chokhmah – der weiblichen Gestalt der Gottheit – schufen die Elohim Himmel und Erde ... «

Durch die Zahlenwerte der Konsonanten des hebräischen Alphabets ergeben sich völlig neue Bedeutungsebenen: unterschiedliche Konsonantenverbindungen können denselben Zahlenwert ergeben, was geheime Identitäten des scheinbar Verschiedenen offenbart, Quersummen können gezogen werden, die wieder auf andere Fährten führen.

»Esoterische Spekulationen« finden sich laut Stuckrad bereits in der Bibel, etwa die Geschichte Henochs oder die Visionen Ezechiels, aber die jüdische Mystik habe sich erst in rabbinischer Zeit entwickelt. Das literarische »Genre« (wir lesen richtig) der »Apokalypsen« und »Testamente« befasste sich mit den Himmelsreisen solcher und anderer Gestalten – viele dieser Texte wurden später als Apokryphen und Pseudepigraphen bezeichnet. Die Hekhalot-Mystik entwickelte sich »als breite literarische Gattung«.

Hier wird allmählich deutlich, was es heißt, wenn Stuckrad religiöse Traditionen als »Literaturen und Rezeptionen« auffasst: Der visionäre Aufstieg in den Himmel wird zum »Topos« eines literarischen Genres, die Paläste der himmlischen Heerscharen zu »Motiven« in einem »devianten« Diskurs. Dem Leser mag es müßig erscheinen, ständig auf diese devianten Stuckradschen Lesarten hingewiesen zu werden. Wir werden daher von nun an die Stuckradsche Erzählung in die esoterische Sprache der Unmittelbarkeit zurückübersetzen, und nur noch zu Beginn der jeweiligen Epochenabschnitte auf seine spezifischen Interpretationen zurückkommen.

Die Hekhalot sind die Hallen der himmlischen Paläste, in denen sich der Mystiker ergeht. Entsprechend der Zahl der Planeten sind es sieben. In der siebenten Halle steht der Thronwagen Gottes, die Merkabah. Der Hekhalot-Mystiker begibt sich als Abgesandter des Volkes Israel in die himmlische Welt, um mit den Engeln zu kommunizieren und die Anliegen seines Volkes vor Gott zu vertreten. Die Geheimnisse der himmlischen Paläste und des Thronwagens gehörten zu den geheimsten aller Traditionen. In einer Mischna heißt es, man solle über Unzuchtfälle nicht vor dreien auslegen, über das Schöpfungswerk (»maase bereschit«) nicht vor zweien und über die »maase merkabah« nicht vor einem, es sei denn, er wäre weise und verstehe von selbst. Die Hekalothmystik besaß eine magisch-theurgische Dimension. Wer sich auf den Weg machte, musste die Gefahren kennen, die ihn erwarteten, die Beschwörungen und Losungsworte, durch die er an den Torwächtern der einzelnen Hallen vorbeigelangen konnte.

Im späten siebten Jahrhundert wurde die erste Zusammenfassung all dieser Erfahrungen niedergeschrieben, das »Sefer Jezirah«, das »Buch der Schöpfung«. Es handelt nach der Darstellung von Gershom Scholem von den Elementen der Welt, den zehn Urzahlen, die als Sefiroth bezeichnet werden und den 22 Konsonanten des hebräischen Alphabets. Es schildert die großen Korrespondenzen zwischen Makro- und Mikrokosmos und unterteilt die hebräischen Konsonanten in drei Gruppen, die drei Mütter, die sieben Doppelten und die zwölf Einfachen. Die sieben Doppelten stehen in Beziehung zu den sieben Planeten, Wochentagen und bestimmten Körperteilen, die zwölf Einfachen zu den Tierkreiszeichen und Monaten.

In den zehn Urzahlen und 22 Konsonanten leben die geheimen Kräfte, durch deren Zusammentreten die Schöpfung in ihrer ganzen Fülle entsteht. Sie bilden die 32 »geheimen Wege der Weisheit«. Über die Sefiroth finden sich geheimnisvolle Andeutungen: »Ihr Ende ist in ihrem Anfang und ihr Anfang in ihrem Ende, so wie die Flamme zur Kohle gehört – schließe deinen Mund, dass er nicht spreche und dein Herz, dass es nicht urteile.« Sie werden zu den lebendigen Wesen, die Gottes Thron tragen, in Beziehung gesetzt und der Autor sagt über sie: »Ihre Erscheinung ist wie ein Blitz, und ihr Ziel ist ohne Ende; Sein Wort lebt in ihnen, wenn sie von ihm kommen und wenn sie zurückkehren; auf seinen Befehl hin eilen sie wie ein Wirbelwind und werfen sich vor Seinen Thron anbetend nieder.« Die Deutungen der Spezialisten gehen weit auseinander, was das genaue Verständnis dieser Sefiroth anbetrifft. Die einen behaupten, der Autor lehre die Emanation der Sefiroth auseinander, andere bestreiten dies, manche meinen, er identifiziere die Sefiroth mit den Elementen der Schöpfung, andere sprechen nur von Zuordnungen. Möglicherweise hat der Autor ja nicht alles, was er dachte oder wusste, der Schrift anvertraut und das, was mündlich gelehrt wurde, ging weit über das Niedergeschriebene hinaus.

Die klassische Kabbalah (»Tradition, Überlieferung«) beginnt im 12. Jahrhundert in Südfrankreich und Nordspanien greifbar zu werden, derselben Gegend, in der damals auch das Katharertum blühte, einer Gegend regen Kulturaustausches zwischen christlichen, muslimischen und jüdischen Traditionen, vergleichbar dem hellenistischen Alexandria. Die kabbalistischen Anschauungen und Lehren existierten sicherlich seit Jahrhunderten in mündlicher Form, ehe sie um 1180 dem »Sefer ha-Bahir«, dem »Buch der Erleuchtung«, anvertraut wurden, das Scholem als »höchst sonderbares und schwieriges Buch« bezeichnet. Um den Lesern einen Eindruck zu verschaffen, hier ein Auszug: »Die Hände haben zehn Finger, was auf die zehn Sephirot hindeutet, mit denen Himmel und Erde gesiegelt wurden. Diese entsprechen den zehn Geboten. In diesen zehn sind die 613 Gebote enthalten. Wenn du die Buchstaben in den zehn Geboten zusammenzählst, erhältst du 613 Buchstaben. Sie enthalten alle 22 Buchstaben, außer Teth, der nicht vorkommt. Warum nicht? Weil Teth der Bauch ist und nicht in den Sephiroth enthalten ist.

Warum werden sie Sephiroth genannt? Weil geschrieben steht ›Die Himmel bezeugen (me-Saprim) die Herrlichkeit Gottes‹. Und was sind sie? Es sind ihrer drei. Unter ihnen sind drei Heere und drei Königreiche. Das erste Königreich ist das Licht. Licht ist das Wasser des Lebens. Das zweite Königreich enthält die Chaioth Ha-Qadesh, die Ophanim, die Räder des Wagens und alle Heere des Gesegneten Geheiligten Einen. Sie segnen, erheben, rühmen, preisen und heiligen den mächtigen König mit der Kedushah (der Gebetsformel ›Heilig, Heilig, Heilig ist der Herr der Heerscharen...‹). Verborgen in der großen Kedushah ist der furchterregende und schreckliche König. Und sie krönen ihn mit dem dreimal Heilig.« Im weiteren Verlauf werden die Namen und symbolischen Bedeutungen der zehn Sephirot als Erklärungen zu den zehn Geboten aus unzähligen Schriftzitaten entwickelt.

Josef ben Abraham Gikatilla aus Segovia verfasste zwischen 1274 und 1293 mehrere Werke über die Sefiroth mit klingenden Namen wie »Nussgarten«, »Pforten der Gerechtigkeit« und »Pforten des Lichtes«. Die Sefiroth erscheinen hier als Wirkungsweisen, Attribute, Modi der Gottheit, als Stufen ihrer Emanation, die als Strahlen, Lichter oder Kronen bezeichnet werden. Sie entfalten sich zwischen dem En Sof, dem unfassbar Einen, dem Endlosen und Unsagbaren, und der Welt der geistigen und körperlichen Schöpfung. Sie beschreiben das innergöttliche Leben in seiner innergöttlichen Manifestation. Ihr Baum ist der Baum des Lebens mit seinen drei Ästen, dem mittleren, linken und rechten, zu je drei Sefiroth, die in der zehnten am Ende des mittleren Astes zusammenfließen. Der Baum stiftet zwischen den einzelnen Sefiroth und Sefirothgruppen die vielfältigsten Beziehungen und enthält sowohl eine räumliche als auch eine zeitliche Struktur, natürlich in einem »symbolischen« Sinn, da es in Gott weder Raum noch Zeit gibt.

Die ideelle Struktur des Lebensbaumes stellt nicht nur die innergöttlichen Lebensprozesse dar, sie spiegelt sich auch in der jüdischen Heilsgeschichte. Aufgabe der Gemeinde Israels ist es, durch seine Torahfrömmigkeit für das harmonische Zusammenwirken aller göttlichen Kräfte zu sorgen. Geschieht dies nicht, kommen Kosmos und Geschichte in Unordnung. Kabbalisten, die die magisch-theurgische Seite der Kabbala pflegen, können durch Gebete, Meditationen und Rituale einzelne Sefiroth beeinflussen und die verloren gegangene Harmonie wieder herstellen. Der bekannteste Vertreter dieser Strömung im Mittelalter ist Abraham Abulafia, der Lehrer Gikatillas. Für beide ist die Kabbala ein Mittel, um auf dem Weg der Ekstase zu unmittelbaren Einsichten in das Wirken göttlicher oder gottähnlicher Mächte zu gelangen.

Geradezu kanonische Form nahm die Kabbalah im Werk Mose de Léons an (gest. 1305), das von Abulafia und Gikatilla beeinflusst ist und an dem möglicherweise weitere Autoren mitschrieben: dem »Sefer ha-Sohar«, dem »Buch des Glanzes«. Der Sohar selbst gibt sich als ein Werk aus, das im 2. Jahrhundert nach Christus von Simon bar Jochai verfasst worden sei. Scholem widmet diesem Werk in seinem Buch »Die jüdische Mystik« hundert Seiten, Stuckrad zwei Absätze. Der Sohar besteht aus fünf Bänden, die in modernen Ausgaben 2400 eng bedruckte Seiten einnehmen. Während bei Abulafia die Technik der Meditation im Zentrum steht, durch die die mystische Versenkung in Gott erlangt wird, breitet der Sohar das durch diese Meditation gewonnene Wissen auf verschlungenen Wegen aus.

Zur Charakterisierung des Sohar ein kurzer Auszug: »Alles ist mit allem verbunden bis zum untersten Ende aller Ringe der Kette, und das wahre Wesen Gottes ist gleichermaßen oben wie unten, in den Himmeln und auf Erden, und nichts existiert außer ihm. Und das meinen die Weisen, wenn sie sagen: ›Als Gott Israel die Torah gab, öffnete er ihnen die sieben Himmel, und sie sahen, dass dort in Wirklichkeit nichts war als seine Glorie; er öffnete ihnen die sieben Erden, und sie sahen, dass dort nichts war als seine Glorie; er öffnete ihnen die sieben Abgründe, und sie sahen, dass dort nichts war, als seine Glorie.‹ Meditiere über diesen Sachverhalt, und du wirst verstehen, dass Gottes wahres Dasein mit allen Welten verbunden und verkette ist und alle Wesenheiten miteinander verbunden und verflochten sind, aber aus seinem wahren Dasein ausgehen.«

Die Sefiroth begegnen uns im Sohar als die mystischen Kronen des »heiligen Königs«, als »Gesichter« dieses Königs, als das mystische Antlitz Gottes, als Gewänder und Lichter der Gottheit. Sie sind der Makro-Anthropos und die mystischen Urtage der Schöpfung, aus denen die Zeit der realen Schöpfung hervorquillt. Für den Sohar ist der Lebensprozess der Sefiroth Theogonie und Kosmogonie zugleich, beide sind nur zwei Aspekte ein und desselben Vorgangs. An dieser Stelle dürfen wir einen Hinweis auf die »Geheimwissenschaft im Umriß« Steiners einfügen, in der diese Identität von Theogonie und Kosmogonie ebenfalls erkennbar ist: auch hier entfaltet sich der Makroanthropos im Werden des Kosmos, in dem sich zugleich das innergöttliche Leben abbildet – beides ist aufgehoben im Bewusstseinsprozess des Sehers bzw. des Lesers, der dieses Geschehen schauend-denkend mitvollzieht.

Eine besondere Bedeutung kommt im Sohar der Schekhina zu, die im antiken Judentum die Gegenwart Gottes im Tempel während des Kultus bezeichnete. Sie ist mit der zehnten Sefirah, Malkuth, verbunden und wird mit dem Volk Israel, der Braut Gottes identifiziert, dessen besondere heilsgeschichtliche Rolle dadurch unterstrichen wird.

Diese Schekhinah und die heilsgeschichtliche Rolle des Volkes Israel sollte im Werk Isaak Lurias eine noch größere Bedeutung annehmen. Luria gehört der Zeit nach der Vertreibung Israels aus Spanien an (1492), jenem Ereignis, das oft mit der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 verglichen wird. Nicht nur im Judentum traten im 16. Jahrhundert apokalyptische und eschatologische Motive in den Vordergrund, auch im Christentum setzte die Glaubensspaltung eine ähnliche Bewegung in Gang. Die Reformation kann von ihrer bewusstseinsgeschichtlichen Wirkung her mit der Exilierung der sefardischen Juden verglichen werden. Die Exilierung führte zu einer messianischen Wende innerhalb der Kabbalah. Luria selbst verfasste jedoch keine Bücher, sondern gründete in Safed in Galiläa ein kabbalistisches Zentrum, in dem er als Mystiker wirkte, von dem eine bedeutende Bewegung innerhalb des Judentums ausging. Seine Anschauungen wurden von drei Autoren aufgezeichnet: von Mose ben Jakob Cordovero, Chajim Vital und Josef ibn Tabul – die beiden letzteren waren seine direkten Schüler. Erst durch den Ende des 16. Jahrhunderts in Italien lebenden Kabbalisten Israel Sarug wurden sie auch im nichtjüdischen Europa bekannt.

Drei Ideen stehen im Mittelpunkt der lurianischen Kabbalah: das »Zimzum«, der »Bruch der Gefäße« und die Wiederherstellung der Welt durch den »Tikkun«. Um die Schöpfung zu ermöglichen, musste Gott in sich einen Raum freigeben, aus dem er sich zurückzog, eine Art mystischen Urraum, in den er durch Schöpfung und Offenbarung heraustreten konnte. Erst nach diesem Akt der Selbstexilierung tritt er aus sich hervor und beginnt sich als Licht zu manifestieren. In aufeinanderfolgenden Akten der Kontraktion und Expansion, des Einatmens und Ausatmens entfaltet sich die Selbstmanifestation des letzten verborgenen Grundes in den Sefiroth. Für die Aufnahme der einzelnen Lichtmanifestationen wurden Gefäße geschaffen. Die für die Aufnahme der drei höchsten Sefiroth geschaffenen Gefäße nahmen das Licht auf, aber die sechs unteren zerbrachen an seiner Überfülle. Dieser Bruch der Gefäße ist der entscheidende Vorgang im Weltgeschehen, alle Dinge tragen seither diesen Bruch in sich, allem Geschaffenen haftet ein metaphysischer Mangel an. Aus den Scherben der zerbrochenen Gefäße entstanden die dämonischen Mächte. Dem Menschen wächst die Aufgabe zu, das ursprüngliche Ganze wiederherzustellen. Der »Tikkun«, der Weg zum Ende aller Dinge, ist zugleich der Weg zum Anfang. Scholem schreibt dazu: »Die Lehre von den Geheimnissen der Schöpfung, vom Hervorgang aller Dinge aus Gott, wird in umgekehrter Richtung zur Lehre von der Erlösung als der Rückkehr aller Dinge zu ... Gott.« Der Mensch soll bei all seinen Handlungen seine Absicht darauf richten, die ursprüngliche Einheit wiederherzustellen, die durch den Urmakel des Bruchs der Gefäße zerstört wurde und den Namen Gottes wieder zu einigen. Der Tikkun ist die Wiederherstellung des göttlichen Namens, eine wesentliche Rolle spielt bei dieser Wiederherstellung das Gebet. Das Gebet ist ein mystischer Prozess, durch den die gesamte Kosmogonie rekapituliert und der Bruch der Gefäße wieder rückgängig gemacht wird. Bei diesem Prozess der Restitution spielt auch die Seelenwanderung oder Reinkarnation, der »Gilgul«, eine wichtige Rolle. Adam enthielt die Seele der ganzen Menschheit, die sich seit dem Sündenfall in unendlich vielen Verzweigungen auf die Menschheit verteilt hat. Die Wanderungen der Seelen sind die Wanderungen der einen Urseele, die auf diese Weise ihren Abfall vom Schöpfer durch das Exil sühnen muss. Jede individuelle Seele besitzt nur solange ein individuelles Dasein, als sie ihre geistige Wiederherstellung noch nicht vollzogen hat. Die Seelen, die die göttlichen Gebote erfüllt haben, sind vom Gesetz der Wanderung befreit und warten an einem seligen Ort auf ihre Wiedervereinigung mit der Urseele Adams. Die Wanderung ist nicht bloße Strafe oder Vergeltung, sondern Gelegenheit, die Gebote, die früher nicht erfüllt wurden, jetzt zu beachten, und weiter an der Wiederherstellung der ursprünglichen Ganzheit zu arbeiten. Ganze Seelenfamilien gibt es, die miteinander zusammenhängen und auf ihren Wegen gemeinsam voranschreiten. Sie können Seelenfunken aus ihrer Familie, die in den Abgrund gefallen sind, durch fromme Taten wieder erheben und ihnen den Wiederaufstieg ermöglichen. »Die wahre Weltgeschichte«, bemerkt Scholem, »wäre die, die die Geschichte der Wanderungen und der Zusammenhänge der Seelen und Seelenfamilien zu schreiben vermöchte.« Chajim Vital, einer der Schüler Lurias, hat dies in seinem Buch »Sefer ha-Gilgulim« versucht. Die Seelenwanderung ist also ein Bestandteil des Tikkun. Aufgrund des Bösen im Menschen zieht sich dieser Prozess endlos in die Länge, er kann aber durch geeignete Handlungen, zu denen Riten, Gebete und Bußübungen gehören, abgekürzt werden. Jeder Mensch trägt in den Zeichnungen auf seiner Stirn und seinen Händen die geheimen Spuren der Wanderungen seiner Seele an sich, ebenso in seiner Aura – und wer diese Zeichen lesen kann, vermag in das Schicksal dieser Seele einzugreifen. Die Verwandtschaft all dieser Anschauungen mit der später in Theosophie und Anthroposophie zutage getretenen Reinkarnationslehre ist augenscheinlich. Man könnte Steiners »Karmavorträge« als ein anthroposophisches »Sefer ha-Gilgulim« bezeichnen.

Es konnte nicht ausbleiben, dass der Gedanke, der Mensch habe einen wesentlichen Anteil an der Wiederherstellung der ursprünglichen Ordnung der Welt, am messianischen Erlösungswerk, zum Auftreten von Messiasgestalten führte. Sabbatai Zwi gewann im 17. Jahrhundert unzählige Anhänger, nachdem er von Nathan von Gaza zum Messias ausgerufen worden war. Aber Sabbatai Zwi wurde von den Osmanen festgenommen, um Unruhen zu verhindern und trat angesichts der angedrohten Todesstrafe zum Islam über. Dieser Übertritt zum Islam war für manche das Ende ihres Glaubens an den Messias, für andere jedoch eine Bestätigung seiner Messianität. In einem komplizierten geistigen Prozess entwickelte sich der »Sabbatianismus« als Verarbeitung dieses scheinbaren Abfalls, indem er der Antinomie, dem Abfall vom Gesetz, eine sakrale Bedeutung verlieh. Denn wenn der Messias erscheint, dann hebt er das Gesetz auf, das nur solange gilt, als das Volk Gottes sich im Exil befindet. Der Abfall vom Gesetz, die Antinomie, und der Abfall vom Glauben, die Apostasie, wird für Teile der sabbatianischen Bewegung zum Beweis der Messianität Sabbatai Zwis. Der Verrat des Messias ist die Erfüllung des schwersten Teils seiner Mission. Er muss, um sie zu erfüllen, nach jüdischen Begriffen verworfen sein, sich so verhalten, dass seine eigenen Taten ihn zu richten scheinen. Er muss in das Reich des Bösen und Unreinen hinabsteigen, um die göttlichen Funken von innen her aus ihrem Gefängnis zu befreien. Wenn Sabbatai Zwi der Messias war, dann mussten ihm alle frommen Juden auf seinem Weg in den Abgrund nachfolgen, um das Erlösungswerk zu vollenden. Wenn das Böse nur durch sich selbst überwunden werden kann, dann muss man das Heilige in der Sünde entdecken.

Diese Konsequenzen zog Jakob Frank im 18. Jahrhundert, der die Formel »Gepriesen seist Du, Gott, der das Verbotene erlaubt«, zu seinem Leitgedanken erhob. Aus seiner Sicht ist es verdienstlich, zu sündigen, indem man in den Abgrund stürzt, um das Böse von innen her zu überwinden. Für den, der schon aus der Wirklichkeit des Tikkun heraus lebt, ist es unmöglich, zu sündigen, weil das Böse seinen Sinn verloren hat. Im radikalen Sabbatianismus kam es auch, wie sich leicht denken lässt, zu einer Neubewertung der Sexualität. Da die Gesetze der Torah durch die Ankunft des Messias aufgehoben sind, gelten auch die von ihr verbotenen sexuellen Beziehungen als erlaubt. Scholem bezeichnet Franks Evangelium als eine Form der libertinistischen Gnosis, die alles in den Schatten stelle, was man aus der Geschichte kenne. Nach einer Untersuchung von Martha Schuchard soll Frank sowohl Emanuel Swedenborg als auch den Grafen Cagliostro in sabbatianischer Kabbala unterrichtet haben.

Esoterik in der Renaissance

Wie das Kapitel über die jüdische Esoterik zeitlich vorgegriffen hat, greift das folgende über die »Neuerfindung der Antike« (in der Renaissance) zuerst ins Mittelalter zurück.

Aufklärer, der er ist, räumt Stuckrad erst einmal mit einer Reihe von Vorurteilen auf: die Renaissance war keine Epochenschwelle, wie im 19. Jahrhundert durch Jules Michelet oder Jakob Burckhardt behauptet wurde. Was sich verändert hat, waren laut Stuckrad »Eckpunkte des Diskurses« (was immer das auch heißen mag). Angestoßen wurde diese Veränderung der »Eckpunkte« durch die Wiederentdeckung des »Corpus Hermeticum«, durch die Erfindung des Buchdrucks und die religiösen Reformationen.

Aber auch mit zwei Vorurteilen über das Mittelalter muss aufgeräumt werden: es war kein bloßer Übergang in ein höher zu bewertendes Zeitalter, keine dunkle Epoche, in der Europa von magisch-mystischem Denken gefangen war, aus dem es sich in der Renaissance befreite, um schließlich in der Aufklärung dem Höhepunkt der Modernität in Form der wissenschaftlichen Welterklärung zuzustreben. Wenn man genauer hinsieht, kann man im Mittelalter auch eine Kontinuität des Interesses an den Wissenschaften und – besonders in Klöstern – die Pflege klassischer Philosophie entdecken. Und zweitens muss laut Stuckrad mit der Annahme aufgeräumt werden, das Abendland sei »christlich«. Bis heute hindere diese These die Europäer daran, den Pluralismus wahrzunehmen, der schon immer zum europäischen Wesen gehört habe (Stuckrad spricht natürlich nicht vom Wesen, sondern von der geographischen Region »Europa«). Die Wahrnehmung der kulturellen Überlegenheit der muslimischen Welt innerhalb Europas (in Spanien) führte ab dem 10. Jahrhundert sogar zu einem steigenden Interesse an Naturwissenschaften und Philosophie. Auch das Mittelalter ist also ein gemeinsamer Kulturraum, in dem die unterschiedlichen Religionen einander bekämpften und befruchteten. In dieser Epoche gab es auch eine Kontinuität »esoterischer Motive«, deren »Rezeption« im islamischen »Kontext« sogar intensiver verlief, als im christlichen. Gefördert hat diese Rezeption laut Stuckrad die frühzeitige Spaltung des Islam in unterschiedliche Strömungen, die es esoterischen oder mystischen Gruppierungen ermöglichte, sich jeweils dort anzusiedeln, wo man sie leben ließ. Dasselbe gilt für die arabische Philosophie: neben der Anfang des 11. Jahrhunderts entstandenen Schule der Aristoteles-Interpretation des Avicenna existierten auch neuplatonische Schulen, die einen großen Einfluss auf schiitische Gruppierungen, den Sufismus und die islamische Mystik ausübten.

Der esoterische Diskurs zeigt sich voll ausgebildet im Werk des iranischen Mystikers und Philosophen Shihab al-Din Suhrawardi. Suhrawardi wurde 1191 im Alter von 37 Jahren in Aleppo, Syrien, hingerichtet. Seine Theosophie war im Osten so einflussreich, wie die Philosophie des Avicenna im Westen. Suhrawardi übertrug die platonische Ideenwelt in einen spezifisch islamisch-iranischen Kontext. Er sah sich selbst in der Tradition einer sakralen Philosophie, die er auf Hermes und Plato zurückführte. Von Hermes sprach er als dem »Vater der Philosophie«, von Plato als »erleuchtetem Meister« und »spirituellem Führer«. Er betrachtete seine Philosophie der Schau oder Erleuchtung (des Illuminismus) als Alternative zum aristotelischen Rationalismus und sah in der Intuition einen Weg zur mystischen Erkenntnis. Mohammed dagegen spielt für Suhrawardi als Vermittler göttlicher Offenbarung keine Rolle. Von ihm ging eine einflussreiche theosophische Strömung der Schia aus, zu der im 13. Jahrhundert auch al-Shirazi gehörte. Im 15. und 16. Jahrhundert blühte in der Tradition Suhrawardis die Schule von Isfahan.

In der muslimischen Welt spielten hermetische Schriften, die sich mit Alchemie, Astrologie und Magie befassten, stets eine bedeutende Rolle. Zu ihnen gehörte auch die »Tabula Smaragdina«, die der Legende zufolge Hermes Trismegistos selbst geschrieben hatte. In Europa wurde die »Smaragdene Tafel« im 12. Jahrhundert bekannt.

Zwischen dem 10. und 16. Jahrhundert gab es laut Stuckrad bedeutende Kontinuitäten in der europäischen Rezeption der Esoterik, was die Rede von einer Wiedergeburt relativiert. Sowohl in der Astrologie als auch in der Magie kam nichts wesentlich Neues hinzu. Die christliche Dämonologie sorgte ebenso für Kontinuität wie die rituelle Magie, die mancherorts von Mönchen zelebriert wurde (einmal abgesehen davon, dass die von Priestern vollzogenen Rituale selbst einen magischen Charakter besaßen). Der Benediktinermönch Johann von Morigny etwa fasste Anfang des 14. Jahrhunderts zahlreiche antike und mittelalterliche Traditionen in seinem »Liber Visionum« zusammen, das 1323 in Paris verbrannt wurde (eine deutsche Übersetzung des Liber Visionum findet sich hier). In diesem Werk schilderte er eine Reihe von Visionen, die er durch bestimmte magische Techniken erlangt hatte. Er griff auf die »ars notoria« zurück, ein Werk, in dem beschrieben wird, wie durch Fasten, Beten und Meditation Verbindung mit dem Engel und dem Heiligen Geist aufgenommen werden kann, um durch sie Kenntnisse von der himmlischen Welt zu erlangen (PDF einer englischen Übersetzung der ars notoria, Download). Albertus Magnus bediente sich bei der Abfassung seines »Speculum Astronomiae« ebenfalls der ars notoria. Schließlich war auch der »Picatrix« von großer Bedeutung, ein magisches Werk, das im 11. Jahrhundert von Muslimen zusammengestellt wurde, das behauptete 244 Bücher der »alten Weisen« zu verarbeiten, jener Weisen, die in der Renaissance als Vertreter der »prisca theologia« betrachtet wurden.

Neben diesen Kontinuitäten gab es aber auch Veränderungen, von denen Stuckrad drei erwähnt: eine Wendung von Aristoteles zu Plato und zum Neuplatonismus, die Vermehrung religionsgeschichtlicher Quellenkenntnis – hierzu gehört auch die Wiederentdeckung des »Corpus Hermeticum« – und die Entwicklung des Buchdrucks. Die Hinwendung zur platonischen und neuplatonischen Philosophie brachte die Welt in Bewegung, da das neuplatonische Emanationsdenken die starre Zweiteilung irdischer und himmlischer Welt der aristotelischen Kosmologie durchbrach und Mensch und Kosmos in engere Verbindung brachte. Diese Dynamisierung war für die Geschichte der Esoterik, der Hermetik und der Wissenschaften von entscheidender Bedeutung. Die Wiederentdeckung des Corpus Hermeticum befeuerte die Suche nach einer ursprünglichen religiösen Offenbarung, einer Uroffenbarung, von der alle späteren lediglich schattenhafte Abbilder waren. Am vollkommensten schien sich diese Uroffenbarung in den Werken des Hermes zu spiegeln. Die »mediengeschichtliche Revolution« des Buchdrucks schließlich erweiterte das Publikum für das esoterische Wissen beträchtlich.

Nun spricht aber Stuckrad im Hinblick auf den beginnenden Aufstieg Italiens zur führenden Kulturnation im 15. und 16. Jahrhundert zu guter Letzt doch noch von der »Geburt der neuzeitlichen Esoterik«. Bei dieser Geburt erwiesen sich die Osmanen als bedeutende Hebammen. Denn hätten sie 1453 nicht Konstantinopel erobert, wären all jene byzantinischen Gelehrten nicht nach Italien geflüchtet, denen zu wesentlichen Teilen die Renaissance der Antike im westlichen Abendland zu verdanken ist. In gewisser Weise wurde durch diese Fluchtbewegung das alte kirchliche Schisma auf dem Gebiet der Philosophie überwunden und der Platonismus eroberte für einige Jahrhunderte Europa zurück. Das ging nicht ohne erhebliche Turbulenzen von statten, was sich an der über ein Jahrhundert dauernden Debatte über das Verhältnis von Plato und Aristoteles zeigt, deren Anfang und Ende zwei Werke markieren: die Abhandlung Gemistos Plethons über den »Unterschied zwischen Platon und Aristoteles« von 1439 und Jacopo Mazzonis »Vergleich zwischen Plato und Aristoteles« von 1597. Nach der Aufwertung, die die Philosophie durch die Scholastik erfahren hatte, wurden philosophische Streitfragen zu einer »Projektionsfläche« für theologische Auseinandersetzungen. Der Streit, der eigentlich religiöser Natur war, kreiste um vier Themenfelder: um die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele, nach dem Verhältnis von Schicksal und Freiheit, nach der wissenschaftlichen Erkennbarkeit des Kosmos und nach dem Gottesbegriff.

Auf der einen Seite verneinte Aristoteles die Unsterblichkeit der Seele, auf der anderen bot Plato die Idee der Wiederverkörperung an. Beides war mit christlichen Dogmen nicht vereinbar. Außerdem näherte Plato die menschliche Seele der göttlichen Welt an, indem er ihre Verwandtschaft mit der Weltseele betonte, was die Rolle der Kirche als Verwalterin der Offenbarung und des Heils in Frage stellte. Mit Aristoteles konnte man für die unüberbrückbare Kluft zwischen Gott und Mensch argumentieren, mit Plato für die Aufhebung dieser Kluft und für einen kontinuierlichen Übergang vom einen zum anderen. Die Stoa hatte mit der »Heimarmene« den Begriff einer universell gültigen Gesetzlichkeit formuliert, die die Freiheit des Menschen wie jene Gottes in Frage stellte. Setzte sich eine einheitliche Welterklärung durch, die sowohl spiritualistisch als auch materialistisch interpretiert werde konnte – oder behielt der Dualismus die Oberhand, der die Freiheit Gottes und des Menschen von der allgemeinen Gesetzlichkeit ausnahm und diese auf die sichtbare Welt begrenzte? Während das frühe Mittelalter die Natur lediglich als symbolische Offenbarung Gottes betrachtete, und daher kein Interesse an der Erforschung von Kausalzusammenhängen entwickelte, begann der Nominalismus zwischen der essentiellen Welt des Seins zu unterscheiden, für die die Theologie zuständig sei und der nominalen Welt des Werdens, in der nach seiner Auffassung die empirisch erforschbaren Kausalzusammenhänge herrschten. Diese Herrschaftsteilung des Wissens stellte der Renaissanceplatonismus in Frage, indem er erklärte, das natürliche Licht des Menschen vermöge auch in die tieferen Geheimnisse des göttlichen Lebens und Wirkens in der Schöpfung einzudringen. Die Magie hob diese Zweiteilung sogar auf der Ebene des Handelns auf, indem sie dem Menschen die Fähigkeit zusprach, auf die himmlische Welt und die Schöpfung einzuwirken. Schließlich brach die platonische Philosophie auch den Dualismus der Gottesvorstellung auf, der die unüberbrückbare Kluft zwischen dem Schöpfer und der gefallenen, geschöpflichen Welt allein durch den Erlöser und die seine Heilsgüter verwaltende Kirche vermittelt sah. Die platonische Philosophie und die Hermetik verbanden die göttliche und die irdische Welt, den Kosmos und den Menschen wieder miteinander, aus ihrer Sicht war alles von der unerschöpflichen Flut des belebenden Geistes durchdrungen. Dadurch erübrigte sich letztlich auch die Heilsvermittlung durch die Kirche. Der gegen diese Philosophie seither erhobene Pantheismusvorwurf ist stets auch vor dem Hintergrund des drohenden Machtverlusts der Kirche zu sehen.

Stuckrad meint, im Neuplatonismus der Renaissance sei dem etablierten Christentum ein machtvoller Gegner entgegengetreten, der mit seinem esoterischen Diskurs Gott letztlich dem autonomen Erkenntnis- und Verfügungswillen des Menschen unterworfen habe. Diese Bemerkung ist insofern bedeutsam, als sie der Esoterik zuschreibt, was normalerweise von der wissenschaftlichen Aufklärung behauptet wird.

Wer diese historische Tatsache anerkennt, vermag die Berechtigung der Stuckradschen Verheißung zu erkennen, die Diskurstheorie sei imstande, die Komplexität der europäischen Kulturgeschichte abzubilden, »ohne Religion gegen Wissenschaft, Christentum gegen Paganismus oder Vernunft gegen Aberglauben auszuspielen«. Allerdings haben die Einsicht von der konstitutiven Bedeutung der Esoterik für die Entstehung der modernen Wissenschaften andere Esoterikforscher auch ohne Hilfe einer Theorie, die sämtliche esoterischen und philosophischen Diskurse in ein Gewebe von autorenlosen Texten uminterpretiert.

Über Georgios Gemisthos, der sich seit seiner Teilnahme am Konzil von Ferrara/Florenz 1439 mit dem Beinamen Plethon schmückte, verbreitete einer seiner Gegner, der Patriarch Konstantinopels, das Gerücht, er sei in seiner Jugend von einem häretischen Juden beeinflusst worden, der eigentlich ein hellenischer Heide gewesen sei. So suchte man zu erklären, warum Plethon in seinen Werken die Welt im Gewande eines philosophischen Polytheismus neu erfand. Plethon wurde als so gefährlich betrachtet, dass zwei Drittel seines Werkes der Vernichtung anheimfielen. Georg von Trapezunt, der mit ihm auf dem Konzil einen heftigen Streit austrug, berichtete später, er habe ihn gefragt, ob das Christentum oder der Islam den Sieg im Streit der Religionen davontragen werde. Plethon habe geantwortet, weder noch, sondern eine andere Religion, die sich vom Heidentum kaum unterscheide.

All diese Streitigkeiten hielten jedoch Cosimo de Medici nicht davon ab, Marsilio Ficino das »Corpus Hermeticum«, die Werke Platos und Plotins und eine Reihe weiterer Neuplatoniker übersetzen zu lassen. Hermes Trismegistos hatte das ganze Mittelalter hindurch als Vater der Philosophie und als Stammvater der okkulten Wissenschaften gegolten, im Osten wie im Westen. Er fasste nach damaligem Verständnis in einer ägyptischen Synthese all jene Wissensformen und Künste zusammen, die später auseinandergefallen waren. Und er stand als ältester aller Propheten der Uroffenbarung am nächsten, näher als Moses, Plato, Jesus oder Mohammed. Im »Corpus Hermeticum« entdeckte die Renaissance die »philosophia perennis«, die ewige Philosophie oder die »prisca theologia«, die ursprüngliche Theologie, den Wahrheitskern, der allen späteren Offenbarungen zugrundelag, einen Wahrheitskern, der die Potenz besaß, diese endlichen Manifestationen des Unendlichen in die Schranken zu weisen und untereinander auszusöhnen.

An der Wertschätzung der Hermetischen Schriften konnte auch der 1614 erbrachte Nachweis Isaac Casaubons nichts ändern, dass sie vermutlich im ersten Jahrhundert nach Christus entstanden seien. Die bedeutendsten Autoren der Naturphilosophie und Esoterik nahmen weiterhin auf Hermes Bezug, denn ein rechter Hermetiker ließ sich von der Philologie nicht aus der Bahn werfen. Mochten die Texte erst im 1. Jahrhundert niedergeschrieben worden sein: Wie alt war wohl die mündliche Tradition, die ihnen voranging? Und unterlagen die darin zum Ausdruck kommenden Wahrheiten etwa dem zeitlichen Wandel? Und so bezogen sich Ludovico Lazzarelli, Symphorien Champier, Nikolaus Kopernikus, Agrippa von Nettesheim, John Dee, Giordano Bruno, Robert Fludd, Ralph Cudworth, Athanasius Kircher, Pico della Mirandola, Johannes Reuchlin, Guillaume Postel und Christian Knorr von Rosenroth weiterhin auf das »Corpus Hermeticum«.

Die Vervielfältigung der Kenntnisse religiöser und esoterischer Quellen führte laut Stuckrad zu einem weiteren Konflikt, einem über die Genealogie des Wissens. Auf der einen Seite standen die Vertreter des »Unilinearismus«, die eine einzige Quelle und eine ununterbrochene Kette von Weisheitsträgern annahmen, die in der Regel zu ihnen selbst als den letzten Vertretern dieser Kette hinführte. Auf der anderen Seite die Vertreter des »Multilinearismus«, die der Auffassung waren, die göttliche Weisheit könne zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlichen Formen in Erscheinung treten. Die letzteren stellten natürlich den Alleingeltungsanspruch der monotheistischen Religionen in Frage, gleichgültig, ob sie Juden, Muslime oder Christen waren. Aus diesem Multilinearismus entwickelte sich später jener esoterische Versöhnungsversuch, der den Wahrheitskern in allen Religionen anerkannte und nach einer Erkenntnis dieses Wahrheitskerns jenseits exklusiver Absolutheitsansprüche suchte. Da die verschiedenen Religionen mit ihren Absolutheitsansprüchen gegeneinander konkurrierten, war klar, dass diese Ansprüche nicht die Absolutheit des Wissens garantierten. Es schien also nötig, dieses absolute Wissen, das über den Religionen oder jenseits von ihnen liegen musste, auf anderen Wegen zu suchen. Genauer betrachtet, war der Anspruch, den die Esoterik auf absolutes Wissen erhob – den Stuckrad zu ihrem Hauptkennzeichen erhebt – ein emanzipatorisches Modell von hoher politischer Brisanz, das erst im späten 20. Jahrhundert von angeblichen Kindern der Aufklärung als elitär verkannt werden konnte.

Diesen Erkenntnisanspruch erhob Gemistos Plethon, der in seiner Textausgabe der »Chaldäischen Orakel« diese Orakel Zoroaster zuschrieb, der fünftausend Jahre vor dem Trojanischen Krieg gelebt habe, was ihn weit vor Moses, Hermes und alle anderen Offenbarungsquellen zurück versetzte. Und die in den »Chaldäischen Orakeln« enthaltene persische Magierweisheit begründete laut Plethon einen eigenständigen Offenbarungsstrom, der jenseits des christlichen verlief. Auch Marsilio Ficino setzte Zoroaster an die erste Stelle, und ließ Hermes Trismegistos, Orpheus, Aglaophamos, Pythagoras und Plato auf ihn folgen. All diese Weisen vermochten aus eigener Kraft zur göttlichen Wahrheit aufzusteigen und wer es ihnen in der Gegenwart nachtat, vermochte dies auch. Die Bibel war nicht mehr der einzige Quell der göttlichen Wahrheit, die prisca theologia fand sich auch bei den Heiden.

Stuckrad fasst seine Ausführungen über diese Entwicklung wie folgt zusammen: »Dass esoterische Autoren der Renaissance anfingen, Genealogien des Wissens jenseits des Christentums zu formulieren, hatte einen nicht unerheblichen Einfluss auf die wissenschaftliche Entwicklung der Folgezeit, denn mit Rekurs auf die prisca theologia emanzipierte sich die wissenschaftliche Forschung zunehmend von christlichen Offenbarungsweisheiten.« Jüdische Autoren, vor allem Kabbalisten, standen dieser Entwicklung ablehnend gegenüber. Sie hielten an der Überzeugung fest, dass Plato und alle anderen Propheten Schüler des Moses gewesen seien.

Wohl am radikalsten tritt der Renaissanceindividualismus, der sich gegen die Entmächtigung des erkennenden Subjektes wendet, in Pico della Mirandola zutage. In seiner »Rede über die Würde des Menschen« wird dieser in guter platonischer Tradition als großes Wunder und Vermittler zwischen den Welten dargestellt: »Ich habe dich in die Mitte der Welt gestellt, damit du dich von dort bequemer umsehen kannst, was es auf der Welt gibt. Weder haben wir dich himmlisch noch irdisch, weder sterblich noch unsterblich geschaffen, damit du wie dein eigener, in Ehre frei entscheidender, schöpferischer Bildhauer dich selbst zu der Gestalt ausformst, die du bevorzugst. Du kannst zum Niedrigeren, zum Tierischen entarten: du kannst aber auch zum Höheren, zum Göttlichen wiedergeboren werden, wenn deine Seele es beschließt.« »Bürger zweier Welten, der Sinnen- und der Gedankenwelt, die eine von unten an ihn herandringend, die andere von oben leuchtend, bemächtigt sich der Mensch der Wissenschaft, durch die er beide in eine ungetrennte Einheit verbindet«, heißt es in den »Grundlinien einer Erkenntnistheorie ...« Steiners. »Von der einen Seite winkt uns die äußere Form, von der andern das innere Wesen; wir müssen beide vereinigen.« Und in seiner »Theosophie«: »So ist der Mensch Bürger dreier Welten. Durch seinen Leib gehört er der Welt an, die er auch mit seinem Leibe wahrnimmt; durch seine Seele baut er sich seine eigene Welt auf; durch seinen Geist offenbart sich ihm eine Welt, die über die beiden anderen erhaben ist.«

Pico schreibt aber in seiner »Oratio« auch: »Damit wir verstehen: da wir unter der Bedingung geboren worden sind, dass wir das sind, was wir sein wollen, müssen wir am ehesten dafür sorgen, dass man nicht von uns sagt, als wir in Ansehen standen, hätten wir nicht erkannt, dass wir dem vernunftlosen Vieh ähnlich geworden seien. Sondern vielmehr das Wort des Propheten Asaph: ›Ihr seid alle Götter und Söhne des Höchsten‹, damit wir uns die freie Wahl, die uns Gottvater gegeben hat, nicht durch Missbrauch seiner gütigen Großzügigkeit von etwas Heilsamem zu etwas Schädlichem machen. Ein heiliger Ehrgeiz durchdringe unsere Seele, dass wir, nicht zufrieden mit dem Mittelmäßigen, nach dem Höchsten verlangen und uns mit ganzer Kraft bemühen, es zu erreichen – denn wir können es, wenn wir wollen. Lasst uns das Irdische verschmähen, das Himmlische verachten, und indem wir alles zur Welt Gehörige schließlich hinter uns lassen, dem außerweltlichen Hof zueilen, der der erhabenen Gottheit am nächsten ist. Dort haben, wie die heiligen Mysterien überliefern, die Seraphim, die Cherubim und die Throne den ersten Rang inne. Ihrer Würde und ihrem Ruhm wollen wir nacheifern, unnachgiebig und ohne den zweiten Rang zu ertragen. Wir werden um nichts unter ihnen stehen, wenn wir nur wollen.

Aber auf welche Weise? Und was müssen wir schließlich tun? Wir wollen sehen, was sie tun, welches Leben sie leben. Wenn auch wir dieses Leben führen (wir können es nämlich), haben wir ihr Glück schon erreicht. Der Seraph glüht vom Feuer der Liebe, der Cherub leuchtet vom Glanz des Geistes, der Thron steht durch die Festigkeit des Urteils. Wenn wir uns also dem tätigen Leben verschrieben und darin die Sorge für die geringeren Dinge mit rechter Prüfung auf uns genommen haben, werden wir durch die unerschütterliche Beständigkeit der Throne gefestigt werden. Wenn wir, befreit von den Tätigkeiten, über den Schöpfer in der Schöpfung, die Schöpfung im Schöpfer nachsinnen und so mit der Muße des Schauens beschäftigt sind, werden wir durch das Licht der Cherubim nach allen Seiten erstrahlen. Wenn wir in Liebe brennen werden allein zum Schöpfer selbst, so werden wir durch sein Feuer, das verzehrend ist, schlagartig zum Bild der Seraphim entflammt werden. Über dem Thron, das heißt dem gerechten Richter, sitzt Gott als Richter der Zeiten. Über dem Cherub, das heißt dem Betrachter, schwebt er und wärmt ihn gleichsam unter seinen Fittichen. Denn der Geist Gottes schwebt über den Wassern, ich meine über denen, die über den Himmeln sind und die bei Hiob den Herrn loben mit Hymnen vor Tagesanbruch. Wer Seraph, das heißt ein Liebender ist, der ist in Gott und Gott in ihm, ja vielmehr sind Gott und er eins. Groß ist die Macht der Throne, die wir durch Richten, am höchsten die Erhabenheit der Seraphim, die wir durch Lieben erreichen.«

Es wäre also gewiss unrichtig, Pico so zu interpretieren, dass es ihm darum gegangen wäre, das menschliche Subjekt an die Stelle der himmlischen Welt zu setzen: vielmehr sollte sich dieses – ohne Vermittlung religiöser Institutionen – direkt mit der himmlischen Welt verbinden können, wie es dies stets und vor allem außerhalb der Welt verwalteter Religiosität getan hatte.

Esoterik im Zeitalter der Glaubensspaltung

Wenden wir uns dem umfangreichsten Kapitel in Stuckrads Erzählung zu: der Esoterik im konfessionellen Zeitalter. Angefangen mit John Wiclyf und Jan Hus stellten die Reformationen einen Pluralisierungsprozess innerhalb des Christentums dar, dem auf der anderen Seite die »Entwicklung alternativer Deutungsmodelle« in der Renaissance entgegenkam. Es ging im Grunde immer um Wissensansprüche. Daneben differenzierte sich das Feld der Naturerkenntnis in reduktionistische und ganzheitliche esoterische »Erklärungsmodelle«. Wenn diese Differenzierung als Kampf zwischen Magie und Wissenschaft oder Aufklärung und Esoterik beschrieben wird, macht man es sich zu einfach: »Magie und Irrationalismus sind nicht die Rückseite von Wissenschaft und Aufklärung, die wir erfolgreich von uns fern zu halten vermochten, vielmehr sind sie mit unserer Kultur unauflösbar verflochten«, so Stuckrad.

In diesem Kapitel spannt Stuckrad einen weiten Bogen von der Magie über die Kabbalah und die Alchemie bis zur »wissenschaftlichen Revolution«, der hier nicht zeitlich zu verstehen ist. Wenn den Kosmos eine geistige Essenz erfüllt, die die Esoterik erkennt, dann versucht die Magie auf diese geistige Essenz einzuwirken. Obwohl auch die Kirche die Existenz widergöttlicher Mächte anerkannte, lehnte sie doch die Magie ab: sie »schrieb sie im Modus der Verdammung fort«. Dabei blendete sie die magische Dimension der priesterlichen Handlungen aus und definierte, um nicht in Verlegenheit zu geraten, die Magie Jesu zu »Wundern« um.

Um der Verurteilung durch die Kirche zu entgehen, prägten Renaissancemagier den Begriff der »magia naturalis«, die ausdrücklich nicht beanspruchte, in die übernatürliche Heilsordnung einzugreifen, sondern lediglich die Kräfte der Natur verwenden und auf diese einwirken sollte. Worum es dabei ging, zeigt ein Blick auf Marsilio Ficino. Im »Asclepius« wird ausführlich über die Belebung und Beseelung von Statuen berichtet. Durch magische Rituale werden göttliche Kräfte in sie herabgezogen, die durch sie prophezeien oder Heilwirkungen hervorrufen können. Diese Astralmagie beruht auf dem Korrespondenz- und dem Sympathieprinzip, nach dem sich die himmlische Welt in der irdischen abbildet und durch ihre Abbilder zur Wirksamkeit aufgerufen werden kann. In seinem Werk »De vita coelitus comparanda« beschreibt Ficino solche Rituale, legt aber Wert darauf, dass es sich nur um natürliche Wirkungen handle. Plotin aber, den er kommentiert, spricht von der Belebung von Statuen durch göttliche oder dämonische Wesen. Indem Ficino diesen Kontext verschleierte, versuchte er sich dem Häresieverdacht zu entziehen.

Anders als Ficino verfuhr Ludovico Lazarelli, der die hermetischen Schriften zu einer christlichen Offenbarung umdeutete. Lazarelli war Anhänger Giovanni Mercurio da Correggios, der sich für eine Reinkarnation Christi hielt. Am Palmsonntag 1484 ritt Correggio wie Christus gekleidet mit einer Dornenkrone auf einem weißen Esel durch die Straßen Roms. Correggio war überzeugt, der Pimander des »Corpus Hermeticum« sei eine Epiphanie des Christus gewesen, bevor er sich in Jesus von Nazareth und dann in ihm inkarniert habe. Da Pimander Christus war, konnten die Lehren Pimanders als christliche Offenbarung verstanden werden. In seinem »Krug des Hermes« (Crater Hermetis) trat Lazarelli selbst als hermetisch-christlicher Weisheitslehrer auf, der seine Schüler Ferdinand I. von Aragon und dessen Minister Giovanni Pontano über den Weg zur wahren Glückseligkeit belehrte, die nur durch Gnosis zu erlangen sei. Auch er identifizierte Pimander mit Christus. Sein eigentliches Anliegen war jedoch, das absolute Mysterium zu enthüllen, das in der Erschaffung von Seelen bestand. Die Ägypter, die noch in einem Zustand des Irrtums lebten, vermochten lediglich Statuen mit bereits existierenden Seelen und Dämonen zu beleben. Selbst Hermes Trismegistos habe die wahre Bedeutung des Pimander noch nicht verstehen können. Erst nach der Inkarnation des Pimander in Jesus, dem Erscheinen Christi auf Erden, habe sich für die Menschheit der Weg zur wahren Gnosis eröffnet, jener Gnosis nämlich, die Giovanni da Correggio verkündete. Durch den Weg, den Correggio gewiesen habe, seien die Christen imstande, sich mit Gott zu vereinigen und wie er Leben zu erschaffen. Der Pimander lehre nicht astrale Magie, sondern eine mystische Erkenntnis, durch die der Mensch an der Schöpfungskraft Gottes teilhaben könne. Durch diesen ganzen Gedankengang wurden die hermetischen Schriften zu einem Teil der christlichen Offenbarung, die zwar nur gebrochen, aber doch erkennbar in ihnen zur Erscheinung kam. Befreite man diese Schriften von den ägyptischen Missverständnissen, zeigte sich erst ihre wahre Bedeutung und es wurde klar, dass die Hermetik keine andere Wahrheit enthielt als die christliche Offenbarung.

Um das Verhältnis von Magie und Wissenschaft geht es bei Agrippa von Nettesheim. Er ist wie Paracelsus ein Beispiel dafür, wie eng Hermetik, Naturphilosophie und Wissenschaft in der frühen Neuzeit miteinander verbunden waren. Seine »Okkulte Philosophie in drei Büchern«, die er im Alter von 24 Jahren verfasste, trug ihm den Ruf eines schwarzen Magiers ein. In seiner magischen Enzyklopädie ist der Kosmos trinitarisch gegliedert: der Dreiheit von elementarischer, planetarischer und himmlischer Welt entspricht die Dreiheit von Körper, Seele und Geist. Neben den vier Elementen kennt er auch ein fünftes, die »quinta essentia«, ein geistiges Formprinzip, das in der Mineralwelt als Gestalt erscheint, in der Pflanzenwelt als Leben, im Tier als Trieb und Empfindung und im Menschen als Vernunft. Die Magie dient dem Menschen dazu, die obere und die untere Welt zu verbinden und sich Gott anzunähern. Sie ist ebenfalls dreigegliedert in eine natürlich, siderische und göttliche. Sie ist der Inbegriff aller Wissenschaften und umschließt die Naturerkenntnis, die Himmelserkenntnis (Astronomie, Astrologie) und die Theologie. Die drei Bücher der »okkulten Philosophie« setzen sich mit den drei genannten Formen der Magie auseinander, wobei sich das dritte mit der Kabbalah, der Trinität, der Hierarchienlehre und den Sefiroth beschäftigt.

Aber Agrippa verfasste nicht nur eine Enzyklopädie der magischen Wissenschaften, sondern auch eine Abhandlung »Über die Ungewissheit und Eitelkeit der Wissenschaften und Künste und über die Vortrefflichkeit des Wortes Gottes«. In ihr erscheint er als Skeptiker gegenüber den Ansprüchen einer Wissenschaft, die behauptet, sie könne den Menschen Gott annähern, wo doch allein der gute Wille den Menschen mit Gott vereinige. In dieser Abhandlung geht auch auf die Magie ein, die er im Stil der Zeit als höchste Form natürlicher Wissenschaft betrachtet, die durch natürliche Wirkungen Wundertaten vollbringt. Stuckrad betrachtet die Abhandlung als Versuch, das rationale und mystische Wissen klar voneinander abzugrenzen. Wie schon bei Ficino bewege sich auch hier die Magie in einem Gebiet, in dem Religion und Wissenschaft sich überschnitten.

Paracelsus wird von Stuckrad als einer der größten Naturphilosophen und Mediziner der Renaissance gewürdigt. Auch seine Weltsicht ist trinitarisch: der gestaltlose Urstoff differenziert sich nach den drei Prinzipien Sal, Sulfur und Mercur. Die »quinta essentia« des Agrippa erscheint bei ihm als »Archaeus«, als organisierende und gestaltbildende Kraft, die in allen Naturreichen wirkt. Die Himmelskräfte wirken auf den Menschen über seinen Astralleib ein, der aus der Sternenwelt stammt. Oder genauer gesagt: er ist die Sternenwelt im Menschen: »Im Menschen sind Sonne und Mond und alle Planeten, desgleichen sind auch in ihm alle Sterne und das ganze Chaos.« Was für die Krankheiten gilt, die Ausdruck bestimmter astraler Konstellationen im irdischen Menschen sind, gilt auch für die Arznei und Heilkunst: die Signaturen des Himmels prägen sich in den Heilmitteln aus und diese wirken oder wirken nicht, je nach den himmlischen Konstellationen.

Nicht nur der Mensch trägt also den Kosmos in sich, auch die irdische Natur ist sein Abbild. Die Natur ist von der lebendigen Wirksamkeit des Geistes durchdrungen, die Magie ist natürlich, weil die Natur magisch ist, Gott ist in allen Dingen und alle Dinge sind in Gott. Die Lebendigkeit der Natur zeigt sich auch in den Sylphen, Gnomen, Salamandern und Undinen, die zu den vier Elementen in Beziehung stehen. Der Mensch besitzt neben dem natürlichen Licht das Licht der Gnade, und damit zwei Erkenntnisorgane, die sich gegenseitig stützen. Nach dem Tode bleibt ein astraler Rest zurück, der sich in Spukphänomenen manifestieren kann.

Den Kosmos sieht Paracelsus aus einer Differenzierung der Urgottheit, des »Mysterium Magnum« hervorgehen, das sich in die Urstofflichkeit, die drei Prinzipien und die vier Elemente aufgliedert. Durch den Fall Luzifers und seiner Engel kamen Krankheit und Tod in die Welt, aber durch einen alchymischen Prozeß der Heilung kann der ursprüngliche Zustand wiederhergestellt werden, wie im kabbalistischen Tikkun. Christus ist das wahre »Alkahest«, das Allheilmittel, der Stein der Weisen, das Elixier des Lebens. Paracelsus übte eine gewaltige Wirkung aus, um 1700 wurden seine Schriften sogar ins Arabische übersetzt. Bis heute greifen die Homöopathie und die Spagyrik auf seine Ideen einer ganzheitlichen Medizin zurück.

Nicht weniger breit waren die Wirkungen der Kabbalah. »Alle Vertreter der frühneuzeitlichen Esoterik« waren laut Stuckrad mehr oder weniger von ihr beeinflusst. Bereits mit Pico della Mirandola begann die »Verchristlichung« der jüdischen Esoterik, die aus jüdischer Sicht meist als Enteignung und Entstellung erschien. Pico hielt seinerseits die Kabbalah für göttlich inspiriert, aber er meinte, die Juden hätten diese Inspiration missverstanden und verfälscht. Die Christianisierung der Kabbalah war ein Versuch, durch die jüdische Esoterik die christlichen Wahrheiten zu bestätigen und gleichzeitig die jüdischen Wahrheiten zu entkräften. Eine der Thesen Picos behauptet, jeder jüdische Kabbalist sei nach den Prinzipien der Kabbalah verpflichtet, die Wahrheit des Trinitätsgedankens anzuerkennen. Pico nahm bei einem jüdischen Konvertiten Unterricht in Hebräisch und ließ eine ganze Reihe kabbalistischer Traktake ins Lateinische übersetzen. Er versuchte sich in einer kabbalistischen Interpretation des Namens Jesu (Jod Schin Waw), über den er schrieb: »Durch den Buchstaben Schin, der in der Mitte des Namens Jesu steht, wird uns kabbalistisch angedeutet, dass die Welt vollkommen in ihrer Perfektion ruht, wenn Jod und Waw kombiniert werden, was durch Christus geschah, der der wahre Sohn Gottes und der Menschen war.« In voller Überzeugung konnte er das Fazit ziehen: »So wie uns die wahre Astrologie lehrt, im Buch Gottes zu lesen, so lehrt uns die Kabbalah, im Buch des Gesetzes zu lesen.« Auch wenn Pico den Juden vorwarf, sie hätten die tiefere Weisheit der Kabbalah missverstanden, wurde er doch durch sie in erheblichem Ausmaß beeinflusst, was für Stuckrad ein Beispiel für einen »diskursiven Transfer« ist, durch den sich eine komplexe religiöse Identität herausbildete, die mit der Idealvorstellung christlicher Orthodoxie nicht mehr viel zu tun hatte.

Ein ähnlicher Prozess lässt sich laut Stuckrad auch bei Johannes Reuchlin beobachten, dem eigentlichen Schöpfer der christlichen Kabbalah. Seine Verdienste für deren Verständnis wurden auch von jüdischer Seite gewürdigt, etwa von Gershom Scholem. Reuchlin verfasste nicht nur die erste hebräische Grammatik (1506), sondern stellte die christliche Kabbalah auch in zwei Büchern dar: dem »Wundertätigen Wort« (De verbo mirifico, 1494) und der »Kunst der Kabbalah« (De arte cabbalistica, 1517). Im »Wundertätigen Wort« griff er Picos Herleitung des Namens Jesu auf und erweiterte diese. Wenn man dem Namen JHWH in der Mitte ein Schin einfügt, kommt JHSchWH heraus, was dasselbe wie JHeSUH (Jesus) ist.

Während sein erstes Buch noch von lückenhaften Kenntnissen zeugt, stellt »De Arte cabbalistica« »die erste vollständige Darstellung eines kabbalistischen Systems durch einen Nichtjuden« dar. Das Buch ist ein Dialog zwischen einem jüdischen Kabbalisten, einem beschnittenen und getauften Muslim und einem »pythagoräischen« Christen. Die Kabbalah wird als Vorstufe des Pythagoräismus aufgefaßt, als eine »Urform philosophischer Weisheitslehre«, deren Sinn darin besteht, die Seele zu Gott erheben.

Der Weg zur Vergöttlichung verläuft bei Reuchlin über die Sprache bzw. das Denken, das von den Worten der göttlichen Sprache geleitet ist. Die kabbalistische Kontemplation der Torah führt von den Wirkungen zu den Ursachen und von der höheren Welt zur höchsten, zum Messias, dem höchsten Ziel des Denkens. Ein richtiges Verständnis des Namens des Messias führt zu diesem und durch ihn zum unerkennbaren Gott.

Reuchlin wurde zu seiner Zeit heftig angegriffen, ironischerweise von einem konvertierten Juden, Johannes Pfefferkorn, der eine antisemitische Bewegung anführte. 1510 bat Pfefferkorn Reuchlin um ein Gutachten für Kaiser Maximilian gegen die Juden. Aber Reuchlin setzte sich mit bewundernswerter Freimütigkeit für die Freiheit der Andersdenkenden ein: zwar sei die Religion der Juden falsch, weil sie den Messias leugneten, aber sie hätten doch dieselben Rechte wie Christen. Niemand dürfe sie enteignen. Und statt ihre Bücher zu verbrennen, sollte man sie besser studieren. Die Christen sollten die Juden nicht verfolgen, sondern versuchen, sie zu überzeugen. Der unzufriedene Pfefferkorn trat daraufhin eine Kampagne gegen Reuchlin los, die damit endete, dass letzterer 1520 nach einem siebenjährigen Prozess der Inquisition vom Papst verurteilt wurde. Reuchlin starb 1522. In seinen letzten Lebensjahren setzten sich einige kritische Humanisten anonym mit den sogenannten »Dunkelmännerbriefen« für ihn ein, in denen sie die christliche Judenfeindschaft bloßstellten.

Die Auseinandersetzung über die christliche Kabbalah war bereits vom Krieg der Konfessionen überschattet. Das zweite Buch Reuchlins erschien im selben Jahr wie Luthers Thesen (1517). Kabbalisten und Magier, die damals die Überzeugung vertraten, das Wort könne auf natürliche Substanzen einwirken und diese verändern, unterschieden sich nicht sehr von den Positionen der katholischen Kirche, die dem priesterlichen Wort eine solche Wandlungskraft bei der Messe zuschrieben. Damit stellten sie sich in Gegensatz zu den protestantischen Auffassungen, die den Worten der Wandlung lediglich eine symbolische Bedeutung zusprachen. Sie stellten sich aber auch in Gegensatz zur katholischen Position, denn diese gestand eine solche Macht nur den geweihten Priestern und dem Messritual zu, und nicht irgendwelchen selbsternannten Magiern. Die Vertreter der natürlichen Magie saßen also zwischen allen Stühlen.

Zwei weitere Beispiele für die Verschmelzung von Kabbalah, Magie und Wissenschaft sind der Benediktinerabt Johannes Trithemius von Sponheim, der Mentor Agrippa von Nettesheims, der diesen zu seiner »Okkulten Philosophie« anregte und Giordano Bruno. Trithemius wurde in seinem 37. Lebensjahr als Praktiker der okkulten Künste enttarnt, als ein Brief von ihm über die Kunst, geheime Botschaften an Engel zu verfassen und sie durch diese über weite Entfernungen transportieren zu lassen (was an die »Mahatmabriefe« Blavatskys erinnert), an die Öffentlichkeit gelangte. Giordano Bruno wurde in seinem 43. Lebensjahr von der Inquisition verhaftet. Trithemius wurde von Reuchlin angeregt, sich mit der Kabbalah zu befassen und glaubte an die Vereinbarkeit der weißen Magie und des Christentums. Er wandte sich nur gegen die schwarze Magie. Behelligt wurde er von den Verfolgungsbehörden nicht. Anders erging es Giordano Bruno, der dank seiner Verurteilung und seinem Tod auf dem Scheiterhaufen seit dem 19. Jahrhundert zum Vorverkünder und Märtyrer der Moderne und der wissenschaftlichen Weltauffassung stilisiert wurde. Das Werk Frances Yates »Giordano Bruno and the Hermetic Tradition« zeigt aber einen völlig anderen Bruno. Zwar verteidigte er 1583 in Oxford das heliozentrische Weltbild und wandte sich in Paris gegen die Aristoteliker. Aber er verfasste auch drei Werke über Magie und skizzierte eine Monadenlehre, die später von Franciscus Mercurius von Helmont und Leibniz aufgegriffen wurde. Die Inquisition stieß sich im übrigen nicht an seinem angeblichen Rationalismus oder seinem tatsächlichen Heliozentrismus, sondern an seiner Ablehnung der Transsubstantiation, seiner Befürwortung der Seelenwanderung, der Unendlichkeit und Ewigkeit (Ungeschaffenheit) des Kosmos und seiner Ansicht, Moses und Christus seien Magier gewesen und es hätte schon vor Adam Menschen gegeben. Stuckrad möchte in ihm weniger einen Hermetiker sehen, als einen Vertreter der »magia naturalis«, einer »philosophia occulta«, der den Kosmos als Ganzes betrachtete und dem Menschen die Fähigkeit zusprach, in das Wirken der kosmischen Kräfte einzugreifen.

Ein interessantes Kapitel widmet Stuckrad dem Kabbalisten Christian Knorr von Rosenroth, der am Hof des Pfalzgrafen von Sulzbach, eines hochgradig an den okkulten Wissenschaften interessierten Adligen, als Kanzler wirkte. Der Pfalzgraf versammelte in den sechziger Jahren des 17. Jahrhunderts auf Empfehlung seines Freundes Mercurius van Helmont eine ganze Reihe von Wissenschaftlern und Esoterikern. Ähnlich wie später Goethe gab sich Rosenroth nicht nur seiner Verwaltungstätigkeit hin, sondern allen möglichen anderen Interessen. Er verfasste zahlreiche Bücher und übersetzte die drei wichtigsten Texte der naturmagischen Tradition: Gianbaptista della Portas »Magia naturalis«, Thomas Brownes »Pseudodoxia epidemica« und Johann Baptist van Helmonts »Ortus medicinae«. Vor allem aber fertigte er unter Mithilfe jüdischer Fachleute eine lateinische Übersetzung maßgeblicher Quellen der jüdischen Kabbalah an, die 1677 unter dem Titel »Kabbala Denudata« (»Entschleierte Kabbalah«) erschien, ein Titel, der an die »Entschleierte Isis« von Helena Petrowna Blavatsky erinnert. Erst durch dieses Werk wurde die jüdische Kabbalah der christlichen Welt richtig zugänglich. Es blieb bis ins 20. Jahrhundert hinein ein Referenztext für alle, die zwar nicht des Hebräischen, dafür wenigstens des Lateinischen mächtig waren.

Rosenroth und alle Autoren, die er übersetzte und mit denen er zusammenwirkte, sahen die Natur als lebendiges Wesen, dessen Geheimnisse der Mensch zu entschlüsseln vermag. Die Kabbalah lehrte sie – genauso wie auch das Johannes-Evangelium – , dass der Kosmos aus dem göttlichen Wort hervorgegangen war. Aber die Kabbalah bot eine elaborierte Technik, um dieses Wort zu entschlüsseln. Die heiligen Sprachen standen jener Ursprache Gottes, in der er seine Schöpfung ausbuchstabiert hatte, am nächsten. Den Tikkun deuteten die christlichen Kabbalisten um Rosenroth als Wiederherstellung der prisca theologia, die für sie der unmittelbarste Ausdruck der schöpferischen Weisheit des Wortes war.

Die Kabbalah begann im 18. Jahrhundert die Philosophie zu beeinflussen, während sich das Judentum, das sich der Aufklärung zuwandte, alles mied, was es an die sabbatianischen Verirrungen erinnerte. Schelling griff das »Zimzum« auf, Herder deutete das »En Sof« und sogar Hegel war im Grunde ein hermetischer Denker, wenn auch aus einem anderen Grund, als Stuckrad meint. Denn, so meint er, was die Philosophie zur Esoterik mache, sei der Anspruch auf absolutes Wissen. Wenn Hegel erkläre, das Absolute – also das Transzendente – sei dem Menschen durch sein Denken zugänglich, dann betrete er ein esoterisches Diskursfeld und »verabschiede« sich von der Philosophie. Dieser Auffassung muss energisch widersprochen werden: denn erstens ist für Hegel das Absolute nicht transzendent. Die Vorstellung eines außerhalb des Denkens liegenden Absoluten ist für ihn eine bloße Verstandeskategorie, die mit der absoluten Natur des Denkens nicht vereinbar oder besser: eine vorübergehende Manifestation seines Inhalts ist. Solche Dualismen schlagen im Grunde genommen dem ganzen Programm einer Versöhnung von Wissenschaft und Esoterik ins Gesicht, das Stuckrad verfolgt.

Nach diesem Vorblick auf das 19. Jahrhundert wendet sich Stuckrad wieder dem 16. zu, um zwei herausragende Figuren der Esoterikgeschichte zu porträtieren: John Dee, den Astrologen von Queen Elizabeth und den Jesuiten, Visionär und Kabbalisten Guillaume Postel. Der 1608 verstorbene John Dee kann als Naturwissenschaftler, Mathematiker, Magier, Astrologe, Kabbalist, Philosoph und Theologe beschrieben werden, was nicht nur von seinen universalen Interessen und Begabungen zeugt, sondern auch davon, dass Wissenschaft und Esoterik sich im 16. Jahrhundert nichts weniger als ausschlossen. In Cambridge ausgebildet, bereiste er ganz Europa, um sich in den okkulten Wissenschaften, in Mathematik und Navigation fortzubilden. In den Niederlanden veröffentlichte er 1564 seine »Monas Hieroglyphica«, ein schwer zu deutendes Werk, das den Versuch unternimmt, die Summe der hermetischen und alchymischen Weisheit in ein einziges Symbol – eben die »monas hieroglyphica« – zu verdichten. 1570 verfasste er ein Vorwort zu den Elementen des Euklid, das seinen Ruhm als Mathematiker festigte, aber auch deutlich machte, dass er die Mathematik als eine hermetische Kunst betrachtete, deren Aufgabe es ist, zwischen der himmlischen und irdischen Welt zu vermitteln. 1583 hielt er sich am Hof Kaiser Karls II. in Prag auf, wo er einen »Zauberspiegel« vorführte, mit dessen Hilfe er Kontakt mit Engeln aufnahm. Seine zwischen 1583 und 1589 erschienenen »Bücher der Mysterien« begründeten seinen Ruf als Renaissancemagier. Diese Bücher sind ein Niederschlag von Gesprächen mit Engeln, die Dee zwischen 1581 und 1586 mit Hilfe eines Kristalls und eines Mediums führte. Damit begründete Dee eine Tradition, die bis in die Gegenwart hinein von Bedeutung ist. Nicht zufällig bediente er sich eines Kristalls, da nach hermetischer Auffassung die Kristalle in besonderer Beziehung zu den Planetenengeln stehen, als deren Augen sie aufgefasst wurden. Die von Dee verfassten Engeltagebücher, in denen er seine Gespräche festhielt, befassen sich mit Fragen der Naturphilosophie und der bevorstehenden Apokalypse. Aus seinen okkulten Forschungen bezog Dee aber auch Inspirationen für die politischen und strategischen Ideen, die er als Berater Queen Elizabeth nahebrachte, Inspirationen, die sich auf den Aufstieg des British Empire und seine Rolle bei der Herbeiführung eines neuen spirituellen Zeitalters bezogen (vgl. Frances Yates, »Astraea. The Imperial Theme in the Sixteenth Century«). Schließlich entdeckte Dee nebenbei jene »himmlische Ursprache«, die allen Offenbarungssprachen voranging, die Sprache der Engel bzw. Henochs, die in den folgenden Jahrhunderten in magischen Zirkeln eine große Rolle spielen sollte.

Guillaume Postel war bereits als Kind von genialischer Sprachbegabung und brachte sich nahezu selbständig Griechisch, Spanisch, Portugiesisch, Hebräisch und Arabisch bei. 1529 wurde er von Ignatius von Loyola in seinem Collège in Paris entdeckt und schloss sich dessen Reform- und Missionsprojekt an. Er reiste in die Türkei, in der er Türkisch lernte, und in Berührung mit der Kabbalah und dem Koran kam, den er später teilweise übersetzte. In Paris in Ungnade gefallen, schloss er sich in Rom dem Jesuitenorden an, wenn auch nicht lange, da er die Autorität des Papstes nicht anerkannte. Dafür schrieb er dem französischen König eine bedeutende Rolle bei der Herstellung einer reformierten Weltordnung zu. Zehn Jahre durchwanderte Postel daraufhin Europa. In Venedig lernte er eine Mystikerin kennen, die dort ein Krankenhaus gegründet hatte. Diese »Mutter Johanna« wurde für ihn zu einer mystischen Seelenführerin. Sie erstaunte ihn durch ihre Fähigkeit, Passagen des Sohar zu erklären, die ihm selbst rätselhaft waren. Postel sah in Johanna immer mehr eine Art Weltenmutter und begann sie mit der Schekhinah zu identifizieren, der weiblichen Gestalt der Gottheit. Auf einer zweiten Orientreise, die ihn nach Jerusalem führte, beschäftigte er sich mit den Lehren der Samariter, Maroniten und Drusen, deren esoterische Überlieferungen er später vermutlich in seine Werke einfließen ließ. Nach seiner Rückkehr brachte eine tiefe mystische Erfahrung eine weitere Wende in seinem Leben: der Geistleib der inzwischen verstorbenen Mutter Johanna ergriff von ihm Besitz, wandelte seine Seele um und machte ihn zum Propheten eines neuen Zeitalters der Wiederherstellung, zu dessen Messias er sich nun berufen fühlte. Als Prophet des Untergangs der alten Welt und des Aufgangs einer neuen, entfaltete er ab 1551 eine große Wirkung, musste aber vor Nachstellungen flüchten, zuerst nach Basel, später nach Wien und Venedig, wo er sich auf eigenen Wunsch vor der Inquisition verteidigte. Da er nur einen Teil seiner Lehren widerrufen wollte, wurde er für verrückt erklärt. Schließlich sperrte ihn die Inquisition doch vier Jahre in den Kerker und einige Jahre später in einem Kloster in Frankreich zu internieren.

Stuckrad zählt Postel neben Pico della Mirandola und Knorr von Rosenroth zu den »wichtigsten Vermittlern« jüdischer Mystik an das Christentum. Er übersetzte nicht nur den Sohar, sondern übertrug auch die spirituellen Geschichtsinterpretationen der Kabbalisten in den Kontext des christlichen Messianismus und der Eschatologie. Durch seine Bemühungen, Juden und Muslime zu missionieren, seine Arbeit an arabischen Quellen und seine Koranübersetzung wurde er zu einem »wichtigen Wegbereiter der Islamwissenschaft«. An Postel zeigt sich laut Stuckrad exemplarisch, dass Juden, Christen und Muslime an konfessionsübergreifenden Fragestellungen interessiert waren, die alle monotheistischen Religionen betrafen: Fragen der Zeitdeutung, der Epiphanie, des Verständnisses von Schrift und Wort. Gleichgültig, welcher Religion sie angehörten, alle bedienten sich außerdem der esoterischen Wissenschaft der Astrologie, um diese Fragen zu beantworten.

In einem weiteren Abschnitt wendet sich Stuckrad den Heroen der »wissenschaftlichen Revolution« zu, deren Deutung sich inzwischen beträchtlich gewandelt hat. Mit Kopernikus, Kepler, Galilei und Newton verbanden Programmatiker des wissenschaftlichen Positivismus im 19. und 20. Jahrhundert den Mythos von der wissenschaftlichen Revolution, vom Anbruch der Moderne und dem Durchbruch zur objektiven Wissenschaft. Die wissenschaftsgeschichtliche Forschung hat im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts den mythischen Charakter dieser Selbststilisierung entlarvt. Nahezu alle wissenschaftlichen Innovationen, die man der Revolution des 16. Jahrhunderts zuschrieb, wurden von muslimischen Forschern des Mittelalters bereits vorgeformt.

Die »kopernikanische Wende« war laut Stuckrad in Wahrheit eine »metaphysische Transformation«, bei der die Deutungshoheit über das Weltbild von der Theologie auf die Naturwissenschaften überging. Die Änderungen betrafen vor allem die Frage, was von der Mehrheit fortan »als objektiv und wissenschaftlich haltbar betrachtet wurde und die Verfahren, mit denen man wissenschaftliche Erkenntnis zu gewinnen suchte«. »Eine Revolution war das nicht, eher die Etablierung einer Methode als kulturelle Leitdisziplin«, so Stuckrad.

Kopernikus und Kepler waren Hermetiker und Platoniker, und ebenso wie Galilei Astrologen, die von der Richtigkeit dieser okkulten Wissenschaft überzeugt waren. Kopernikus ging vom Gedanken aus, Gott habe ein einfaches und elegantes System des Kosmos geschaffen und nicht jenes komplizierte Gewirr, das erforderlich war, um die Planetenbewegungen geozentrisch zu erklären. Die philosophische Theorie von der Einfachheit der Welt führte ihn zum Postulat des Heliozentrismus. Er schrieb der Erde drei Bewegungen zu: die Drehung um die eigene Achse, die Drehung um die Sonne und eine Pendelbewegung ihrer Achse um den Pol der Ekliptik, um die Präzession zu erklären. Christen sahen in der Verlegung des Zentrums von der Erde in die Sonne eine Entthronung des Menschen, Esoteriker hatten damit kaum ein Problem. Kepler wollte »die neuplatonische Auffassung von der universellen Weltharmonie mit den geometrischen Gesetzmäßigkeiten in Einklang bringen und die rationale Struktur« der gottgeschaffenen Ordnung in ihrer einfachen Schönheit beschreiben. Er entdeckte, dass die Abstände der fünf Planeten zur Sonne den fünf regulären platonischen Körpern entsprachen, was ihn in seiner pythagoräischen Grundauffassung von der mathematischen Ordnung der Welt bestätigte. Es konnte nicht mehr als fünf Planeten geben, da es nur fünf reguläre platonische Körper gab. Er entdeckte die geometrische Gesetzmäßigkeit der Planetenbahnen, die Ellipsenform, was erneut bewies, dass Gott ein Mathematiker war. Newton, Leibniz und andere haben diesen ursprünglich pythagoräischen Gedanken später zur Idee einer nach mathematischen Gesetzen funktionierenden kosmischen Maschine weiter entwickelt, indem sie die metaphysischen Implikationen der Keplerschen Weltidee eliminierten. Für Kepler war der gestirnte Himmel stets ein Symbol für die göttliche Weisheit, mit der der Kosmos erfüllt ist. In seinem Hauptwerk deutete er an, die heiligen Gefäße der Ägypter entwendet zu haben, um seinem Gott fernab von Misraim eine Hütte zu bauen. Das Erscheinen der Nova im Oktober 1604 nahm Kepler zum Anlass, sich über den Stern von Betlehem Gedanken zu machen, der die Geburt des Messias angekündigt hatte. Seine mathematischen Berechnungen führten in das Jahr 5 vor Christus, in dem ebenfalls, wie zu seiner Zeit, dem Erscheinen einer Nova eine große Konjunktion von Jupiter und Saturn vorausgegangen war. Die Sternkonstellationen und Erscheinungen am Himmel waren für Kepler Ausdruck einer spirituellen Heilsordnung, Mechanik und Geometrie Manifestationen der göttlichen Vorsehung. Die Astronomie war keine reine Wissenschaft, sondern Bestandteil einer umfassenderen Suche nach einer spirituellen Weltdeutung.

Erst mit Galilei begann sich eine neue Himmelsmechanik und Physik durchzusetzen, die auf »okkulte Qualitäten« verzichtete und stattdessen allein das Messbare und Wägbare zur Erklärung von Bewegungen heranzog. Allerdings hinderten auch Galilei seine Forschungen zu den Fallgesetzen und zur Parabelbahn von Geschossen nicht daran, weiter an der Astrologie festzuhalten. Selbst Newton, der paradigmatische Schöpfer einer Weltmechanik, war gleichzeitig Hermetiker, Alchemist und Astrologe und verfasste einen Kommentar zur »Tabula Smaragdina« des Hermes Trismegistos. Andererseits nahm er eine scharfe Position gegen den Klerus ein, und betrachtete die Beseelung der Gestirne als Korrumpierung eines reineren pythagoräischen Wissens. In seiner Optik bezeichnete er den absoluten Raum und die absolute Zeit als Sensorium (Sinnesorganisation) Gottes, durch das er das Universum wahrnehme, während er es bewege.

Aber die Programmatik der Forschung ging in eine eindeutige Richtung, die natürlich auch im Zusammenhang mit den sonstigen Entwicklungen im Bereich der Politik gesehen werden muss. Die Zurückdrängung des Sakralen aus dem natürlichen und gesellschaftlichen Lebensraum war die Voraussetzung für die prometheische Eroberung und Ausbeutung der Natur und der menschlichen Arbeitskraft, einer direkten Folge der Mechanisierung des Weltbildes. Doch sowenig das Ziel, eine universell gültige mathematische Formel für die Erklärung aller Naturerscheinungen zu finden, sich verwirklichen ließ, sowenig ließ sich das Projekt der vollständigen Rationalisierung der Gesellschaft realisieren. Grundlegende Naturkonstanten wie die Gravitation oder der Magnetismus oder das Bewusstsein harren heute noch immer der Erklärung und die entscheidendsten Vorgänge im Menschenleben sind immer noch dem Zugriff der wissenschaftlichen Rationalität entzogen und werden es wohl für immer bleiben.

Was das 17. Jahrhundert anbetrifft, bestand Wissenschaft nicht nur aus Physik und Mathematik, sondern auch aus Alchemie und Medizin. Die Alchemie bemühte sich auch darum, den Ursprung des Lebens zu entschlüsseln. Die Jahrhundertkatastrophe des dreißigjährigen Religionskrieges mit seinen verheerenden Folgen beeinflusste das geistige Milieu dieses Jahrhunderts erheblich und ließ Fragen nach den letzten Dingen aufkommen, auf die die Alchemie und die Astrologie eine Antwort zu geben versprachen.

Als der Protestantismus in einer neuen Orthodoxie zu erstarren begann, führte dies innerhalb des Protestantismus zu einer neuen Suche nach dem wahren Christentum, in der die Hermetik, die Alchemie und die »prisca theologia« eine herausragende Rolle spielten. Paracelsus und das Rosenkreuzertum sind ebenso Teil dieser Suche, wie der Pietismus und die christliche Theosophie. Johann Arndt schuf in seinen »Vier Büchern vom wahren Christentum« eine Synthese aus esoterisch-hermetischer Tradition und Protestantismus, die Generationen beeinflusste. Alchemisten wie Michael Maier und Heinrich Khunrath gaben mit ihren Werken eine ikonografische Antwort auf Fragen, die den Zusammenhang von Natur und Geschichte betrafen, der Stein der Weisen wurde zum Sinnbild einer Transmutation der wandelbaren stofflichen Welt durch die Auferstehungskraft Christi.

Die Theosophie entwickelte sich durch vier Phasen (hier folgt Stuckrad Antoine Faivre). Die »klassische« Theosophie ging im 16. Jahrhundert von Jakob Böhme aus und schloss Valentin Weigel, Johann Heinrich Khunrath, Johann Arndt, Caspar von Schwenckfeldt, Johann Georg Gichtel, John Pordage und Jeane Leade ein. Im 18. Jahrhundert begann eine weniger visionäre Strömung mit Friedrich Christoph Oetinger und William Law, Dionysios Anton Freher, Georg von Welling und Sincerus Renatus. In der Romantik schwenkte diese Geistesströmung wieder in das Gebiet der Vision und Prophetie mit Louis-Claude de Saint-Martin, Franz von Baader, Martines de Pasqually, Karl von Eckarthausen, Heinrich Jung-Stilling, Novalis, Heinrich von Schubert, Carl Gustav Carus und Emanuel Swedenborg. Auch im 19. und 20. Jahrhundert versiegte sie nicht, sondern brachte einige der bedeutendsten Religionsphilosophen hervor, zu denen laut Stuckrad Soloview, Bulgakow, Berdjajev, Rudolf Steiner, Leopold Ziegler und Valentin Tomberg zu rechnen sind.

Böhme, der im Alter von 25 Jahren von einer mystischen Vision erweckt wurde, die er mit einer Auferstehung von den Toten verglich, wies auf die Notwendigkeit der Wiedergeburt Gottes im Menschen hin und entwickelte eine mythische Kosmogonie, in der der Widerstreit von Gottes Zorn und Gottes Liebe eine grundlegende Rolle spielte. Der Mensch ist aufgerufen, Luzifer in sich zu bezwingen, um seine dem Tod geweihte Existenzform in eine aus dem Sohn geborene überzuführen. Der Weg zu Gott verläuft über die innere Erfahrung, das persönliche Erleben und die geistige Schau – eine wirkliche Erneuerung des Christentums und der Christenheit ist durch äußerliche Institutionen nicht zu erreichen.

Esoterik und Wissenschaft im Zeitalter der Aufklärung

Verhältnismäßig schmal ist das Kapitel über den Streit der Aufklärung mit der Esoterik, etwas dürftig auch die philosophische Ausgangsbasis, denn hier kehrt jener schlichte Dualismus wieder, den wir schon weiter oben bemängelten. »Esoterik und Wissenschaft«, schreibt Stuckrad nämlich, »berühren sich in vielfältiger Weise und schließen sich keineswegs gegenseitig aus.« So weit, so gut. Aber nun fährt er fort: »Das esoterische Element innerhalb eines wissenschaftlichen Diskurses besteht darin, dass manche Forscher sich nicht mit der Ergründung von Prozessen der Natur begnügten, sondern ein absolutes Wissen anstrebten.« Umgekehrt besteht »das wissenschaftliche Element in esoterischen Diskursen in der Anerkennung empirischer Methoden.«

Was aber haben denn die verschiedensten Esoteriker in der über zweitausendjährigen Geschichte ihrer Disziplinen getan, als stets zu betonen, es gebe eine innere Erfahrung, eine innere Empirie, durch die Wissen erlangt werden könne, von natürlichen und göttlichen Dingen? Ein großer Teil ihrer Mitteilungen besteht in nichts anderem in Berichten von diesen Erfahrungen, veröffentlicht nicht zuletzt zur Kontrolle durch andere. Die Mystiker und Theosophen haben stets von der Erfahrbarkeit des Göttlichen gesprochen, ebenso die Gnostiker. Der Esoterik von vorneherein das Erfahrungsprinzip abzusprechen, widerspricht allem, was ihre Geschichte lehrt. Wenn Stuckrad dies, nachdem er inzwischen im 18. Jahrhundert angelangt ist, immer noch nicht verstanden hat, zeigt dies, dass er trotz seiner gegenteiligen Beteuerungen den eigentlichen Kern des Missverständnisses, der dem postulierten Dualismus von Wissenschaft und Esoterik zugrunde liegt, nicht wirklich erfasst hat.

Andererseits, wenn das absolute Wissen oder die absolute Gewissheit von der Wissenschaft prinzipiell ausgeschlossen sein soll, dann sind große Teile dieser Wissenschaft eben esoterisch. Wenn es als absolut gewiss gelten kann, dass zweimal Zwei Vier ist und dass Drei durch keine gerade Zahl teilbar ist, dann ist dies ein esoterischer Satz der Mathematik und deren gibt es viele, man denke nur an die Axiome Euklids. Ebensowenig wie die Wissenschaft ohne das absolute Wissen auskommt, kommt die Esoterik ohne Empirie aus. Das heißt, die Grundunterscheidung Stuckrads ist nicht haltbar.

Setzen wir das Esoterische dagegen in jene Beschaffenheit des Wissens, durch die es von Natur aus nur jenen zugänglich ist, die sich die dafür nötigen Voraussetzungen erwerben, zeigt sich erst recht der esoterische Charakter eines großen Teils der heutigen Wissenschaften. Wer kann denn heute in den Diskursen der theoretischen Physik über die Stringtheorie oder die einheitliche Feldtheorie mitsprechen, ohne sich die notwendigen Voraussetzungen durch Denken und Erfahrung erworben zu haben? Genau dasselbe gilt für die esoterischen Diskurse über die Welt der Engel und die innere Erfahrung der Auferstehung. Wer nicht über die nötige Erfahrung und die entsprechende Begrifflichkeit verfügt, sollte über diese Dinge schweigen.

Was die Esoterik ihres Erfahrungscharakters und damit vermeintlich ihrer Wissenschaftlichkeit beraubte, war nicht der Mangel an tatsächlichen Erfahrungen, sondern eine willkürliche Umdefinition der Erfahrung, durch die eine andere Ontologie etabliert wurde, die aus ihrem Begriff der Wirklichkeit alles eliminierte, was sich nicht auf irgendeine Weise durch die physischen Sinne beobachten, messen und zählen ließ. Wie aber lässt sich eine solche willkürliche Reduktion der Wirklichkeit auf bestimmte Aspekte von ihr theoretisch begründen? Wenn es in der Wissenschaft keine absolute Gewissheit gibt, dann kann es auch für diese Reduktion der Wirklichkeit keine absolute Begründung geben, das heißt, andere Wirklichkeiten sind möglich.

Die Esoterik wurde aus der Wirklichkeit des wissenschaftlichen Diskurses ausgeschlossen, nicht weil sie auf einmal nicht mehr wirklich war, sondern weil sich die Wissenschaftler dazu entschlossen, nur noch jene Schrumpfform der Wirklichkeit als wirklich gelten zu lassen, die sich ihren Idealen der Exaktheit und Objektivität fügte.

Damit hat sich aber die wissenschaftliche Rationalität in die Unwirklichkeit manövriert und nicht die Esoterik. Denn die Esoterik hat mit ihrem »holistischen« Verständnis von Wirklichkeit stets darauf bestanden, dass auch das zu ihr gehört, was nicht zählbar oder wägbar ist, was sich der imponderablen inneren Erfahrung erschließt, die prinzipiell jedem Menschen zugänglich ist. Daher erscheint auch die Formulierung verquer, die Esoterik habe stets behauptet, es gebe neben der sichtbaren Welt auch eine unsichtbare, jenseitige. Vielmehr war es die Wissenschaft, die auf einmal behauptete, die Wirklichkeit, zu der die unsichtbare immer dazu gehörte, sei nicht die Gesamtheit der erfahrbaren Tatsachen, sondern nur die Gesamtheit der sinnlich wahrnehmbaren Tatsachen. Und den Beweis für diese Behauptung ist der wissenschaftliche Rationalismus bis heute schuldig geblieben und wird ihn auf ewig schuldig bleiben, denn die Wirklichkeit besteht zum weitaus größten Teil aus Imponderabilien.

Wie stark und in welcher Form sich die Wissensansprüche des reduktionistischen Bewusstseins inzwischen geltend machten, zeigen die großen Auseinandersetzungen des 18. Jahrhunderts. Eine davon ist die Kontroverse um Emanuel Swedenborg, an der sich Immanuel Kant beteiligte.

Swedenborg, Sohn eines lutherischen Bischofs, studierte Philologie, Mathematik und Naturwissenschaften in Schweden und England und machte sich bald durch seine Arbeiten zur Mineralogie und Biologe im Stil des damaligen Empirismus einen Namen. Bevor er 25 Jahre alt war, hatte er bereits mit Isaac Newton und Edmund Halley zusammengearbeitet. Er veröffentlichte bahnbrechende Arbeiten zur Astronomie, zur Physik, zum Ingenieurswesen, zur Chemie, Geologie, Anatomie, Physiologie und Psychologie und wurde bald zum Mitglied der königlichen Akademie der Wissenschaften ernannt. Besonders interessierte ihn das Zusammenspiel zwischen Seele und Körper – nach der Trennung von res cogitans und res extensa durch Descartes eine der großen Rätselfragen, die Descartes selbst dadurch zu lösen versuchte, dass er die Zirbeldrüse zum Organ der Seele erklärte. Bis zu seinem fünfzigsten Lebensjahr schien Swedenborg an Religion nicht interessiert, dafür partizipierte und profitierte er um so mehr am und vom wissenschaftlichen Leben seiner Zeit.

1743 geriet Swedenborg in eine spirituelle Krise, während der er ein Traumtagebuch verfasste. Im Jahr 1744 erlebte er eine Christusvision, ein Jahr später in London eine Vision, die ihn dazu aufforderte, die Geheimnisse des Himmels zu erforschen. Zwischen 1749 und 1756 veröffentlichte er sein Hauptwerk, die »Geheimnisse des Himmels« (»Arcana Coelestia«), in denen er mit Linnéscher Präzision den Aufbau und die Struktur der spirituellen Welten vermaß. Ähnlich wie bei Hildegard von Bingen sind die Quellen für Swedenborgs Darstellungen Visionen, die wie bei jedem Visionär in die Begrifflichkeit und Sprache ihrer Zeit gekleidet werden. Für Swedenborg bestehen zwischen der irdischen und der himmlischen Welt durchgehende Korrespondenzen. Interessant ist sein Gedanke, dass der Mensch während seines Erdenleben mit seinem Wachbewusstsein in der sinnlichen Welt lebt, mit seinem Unbewussten jedoch in der himmlischen – der Himmel ist also immer schon in der Seele des Menschen oder die Seele im Himmel, sie weiß nur nichts davon. Nur wenn ihre imaginative Kraft im Traum oder der Vision sich regt, tritt dieser unbewusste Himmel ins Bewusstsein. Dieser Gedanke findet sich später auch bei Rudolf Steiner, für den das unbewusste Seelenleben und die dem Bewusstsein entzogenen Vorgänge in der Lebens- und physischen Organisation die ganze Hierarchienwelt einschließen.

Die Menschen schließen sich laut Swedenborg auf der Erde aufgrund ihrer religiösen und sonstigen Interessen zu Seelenfamilien zusammen, die auch nach dem Tode bestehen bleiben. Jeder Mensch wird von dem angezogen, was er bereits während seines Lebens am meisten liebt. Himmel und Hölle sind keine vom menschlichen Bewusstsein unabhängigen Realitäten, sondern nachtodliche Wirklichkeiten, die durch die Beschaffenheit der Seelen konstituiert werden. Die Hölle ist die Vergemeinschaftung egoistischer Seelen, die schon während ihres Lebens gegen Gott aufbegehrt haben, der Himmel wird aus Seelen gebildet, die Gott und ihre Mitmenschen schon auf Erden geliebt haben. Nach dem Tode hört die Entwicklung der Menschenseele nicht auf, der Mensch vermag sich zu einem Engel weiter zu entwickeln, eine Einsicht, die sich bekanntlich schon bei Origenes findet.

Immanuel Kant polemisierte 1766 in einer langen Rezension, »Träume eines Geistersehers«, gegen Swedenborg. Hier formuliert er zwei aufklärerische Einwände gegen die Erkenntnis des Übersinnlichen, die die Geschichte der Esoterik seither begleitet haben: dass alle übersinnlichen Erfahrungen nichts als »hypochondrische Dünste« seien und Projektionen innerseelischer Erlebnisse in eine vom Menschen unabhängige geistige Außenwelt. Kants Kritik reflektiert einen Bewusstseinszustand, in dem sich der Verstand völlig in der diesseitigen Welt eingekapselt hat und alle früheren Formen spiritueller Erfahrung als Erfindungen interpretieren muss. Dabei lässt Kant außer Acht, dass dieser auf die Sinneserfahrung begrenzte Verstand selbst das Produkt einer historischen Entwicklung ist, die ihn aus einer umfassenderen Wirklichkeit ausgesondert hat, in der er nur ein untergeordnetes Moment war. Hier ist der geschichtliche Augenblick erreicht, wo man den Begriff der »Selbstermächtigung« des erkennenden Subjekts tatsächlich anwenden kann, aber er gilt nicht für die Esoterik, sondern für ein rationales Bewusstsein, das von sich behauptet, der alleinige Richter über den gesamten Weltinhalt zu sein, oder wie Kant es in seiner »Kritik der reinen Vernunft« formuliert: »Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muss. Religion, durch ihre Heiligkeit, und Gesetzgebung, durch ihre Majestät, wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdann erregen sie gerechten Verdacht wider sich, und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können.« Deutlicher und entschiedener kann man den Herrschaftsanspruch, den Absolutheitsanspruch des kritischen Verstandes kaum mehr formulieren: alles muss sich der Kritik unterwerfen – aber wer ermächtigt die Kritik dazu, sich zum alleinigen Maßstab der Wirklichkeit zu erheben?

Betrachten wir noch Stuckrads Ausführungen über die Naturforschung im 19. Jahrhundert, bevor wir uns dem letzten Kapitel des Buches »Esoterik und Moderne« zuwenden. Die strikte Trennung zwischen exakter Naturwissenschaft und Naturphilosophie wurde, so Stuckrad, erst im 19. Jahrhundert vollzogen. Davor durchdrangen sich »Religion« und Naturerkenntnis noch mehr oder weniger stark, besonders dort, wo die Natur nicht als eine Welt toter Objekte, als mechanisches Gebilde, sondern als lebendiges Ganzes betrachtet wurde. Insbesondere habe die deutsche Naturphilosophie mit ihrer »Sakralisierung der Natur und des Selbstes« die Esoterik des 20. Jahrhunderts stark beeinflusst. Nun muss man hier wiederum anmerken, dass die Natur oder das Selbst des Menschen immer schon sakrale Dimensionen besaßen, um so mehr, je weiter wir uns von der Gegenwart entfernen. In Wahrheit verlief die Entwicklung umgekehrt: von einer durch und durch sakralen Welt, in die die Natur und das menschliche Selbst eingeschlossen waren, in eine desakralisierte, »entzauberte« Diesseitigkeit, aus deren Perspektive allein die zurückgelassenen Erfahrungsformen als »primitiv« und »abergläubisch« erschienen. Deswegen kann man bei genauerem Hinsehen auch nicht von einer »Sakralisierung« oder »Wiederverzauberung« sprechen, sondern nur davon, dass die Sakralität und Zauberhaftigkeit der Welt von manchen Wissenstraditionen nicht vergessen worden ist. Und zu diesen gehört ohne Zweifel die deutsche Naturphilosophie und die Romantik. Auch hier muss der Leser die Formulierungen Stuckrads stets korrigieren, etwa wenn er schreibt, die Romantik habe die Natur »ontologisiert« und »spiritualisiert«: in Wahrheit hat die Romantik der Spiritualität der Natur lediglich eine neue Sprache verliehen. Wenn Stuckrad über Schelling schreibt, angesichts »globaler ökologischer Krisen« werde dessen Konzept einer lebendigen Natur, die dem erkennenden menschlichen Subjekt nicht dichotomisch gegenüberstehe, heute mit großem Interesse aufgegriffen, unter anderem, weil er dem mechanistischen Naturkonzept ein organizistisches gegenübergestellt habe, weil er, im Gegensatz zu Kant, nicht der Auffassung war, das beobachtende Subjekt sei die einzige Autorität, die die Natur beurteilen könne, sondern diese sei eine selbst-organisierte Einheit, die vom Menschen durch eine empathische und offene Geisteshaltung erkannt werden müsse, dann legt er unpräzise den Finger in die schwärende Wunde. Denn jene »globalen ökologischen Krisen« sind ja gerade das Ergebnis jener Entsakralisierung und Objektivierung der Natur, durch die sich das Subjekt der Kritik im Zeitalter der Aufklärung selbst ermächtigte, die Natur ohne Rücksicht auf ihren Eigensinn, auf ihre Fähigkeit zur Selbstorganisation, auf ihre fühlende und atmende Weisheit zu zerstören und durch Zerstörung auszubeuten.

Der prometheische Selbstermächtiger der Neuzeit, der alle organizistischen und animistischen Auffassungen der Natur und des Selbstes auf seinem kritischen Richterstuhl sezierte und anschließend zum Tode verurteilte, ist es, der heute die Früchte des Zorns erntet, und zerknirscht wieder die Heiligkeit und Majestät der Natur eingestehen muss.

Wir haben heute allen Grund, uns auf jenes Verständnis der Natur und des menschlichen Selbstes zurückzubesinnen, das immer schon Inhalt der esoterischen Diskurse war, einfach, weil unser Überleben als Menschheit auf diesem Planeten von dieser Rückbesinnung abhängt.

Zu den Grundeinsichten, die Schelling – als Esoteriker in einer langen Tradition stehend – formulierte, gehören, dass der Kosmos ein großes Lebewesen ist, das sich in jedem Einzellebewesen als Ganzes im Kleinen abbildet, dass das Unlebendige aus dem Lebendigen hervorgeht, dass das Gewordene nur aus dem Werden zu verstehen ist, die »natura naturata« nur aus der »natura naturans«, also aus den lebendigen Bildekräften, die weisheitsvoll das Sinnlich-Sichtbare gestalten und organisieren. Und zu Schelling gehört nicht nur seine Naturphilosophie, sondern auch seine Geistphilosophie, die sich schließlich zu einer Theosophie, einer Philosophie der Mythologie und Offenbarung weiter entwickelt. Novalis, für den die Sterne zu Menschen und die Menschen zu Sternen wurden, steht ebenso in dieser Tradition des symbolisch-imaginativen Denkens wie Gotthilf Heinrich Schubert, für den die Natur eine »verkörperte Traumwelt« ist, eine »prophetische Sprache in lebendigen Hieroglyphen«, wie Carl Gustav Carus, der die Naturphilosophie als die »Wissenschaft von Gottes ewiger Metamorphose in die Welt« bezeichnete.

Esoterik und Moderne

Überspringen wir hier das Kapitel über die »institutionalisierte Esoterik« der Geheimgesellschaften, das sich mit den Rosenkreuzern, den Freimaurern und dem Hermetic Order of the Golden Dawn beschäftigt und das Kapitel über die Theosophische Gesellschaft als »Wegbereiterin der modernen Esoterik«, in dem die Formulierung zu korrigieren ist, Steiner habe von »Christusimpulsen« (in der Mehrzahl) gesprochen (vgl. S. 200, 210). Sehen wir uns das letzte Kapitel des Buches, »Esoterik und Moderne« an.

Im Anschluss an Max Weber spricht Stuckrad vom Prozess der Modernisierung als einer zunehmenden Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Subsysteme, einem Zuwachs an Eigenverantwortung auf Seiten des einzelnen Individuums für die Bildung seiner (religiösen und sonstigen) Identitäten und einer immer stärkeren Durchrationalisierung des Lebens. All dies gehe mit einer Entzauberung der Welt, mit einer Säkularisierung einher. Gleichzeitig spricht Stuckrad aber in einer Anmerkung davon, dass der Begriff der »Säkularisierung« inzwischen ad acta gelegt sei, denn die Menschen im Westen seien nicht weniger religiös, als sie es vor zweihundert Jahren waren. Wie dem auch sei: die gefühlte Entzauberung der Welt führte zu einem wachsenden Bedürfnis nach ihrer »Wiederverzauberung«. Die moderne Esoterik – also die des späten 19. und 20. Jahrhunderts – kann vor diesem Hintergrund als Beispiel für die Dialektik von Entsakralisierung und Resakralisierung gesehen werden. Zur Resakralisierung gehören laut Stuckrad im 20. Jahrhundert der »Ausstieg aus der Geschichte«, die »Sakralisierung der Psyche« und die »Entdeckung der Seele als Landschaft«.

Für den »Ausstieg aus der Geschichte« steht Mircea Eliade, in dessen Werken es um die Suche nach einem zeitlosen Kern in den sich ständig verändernden geschichtlichen Erscheinungsformen des religiösen Lebens geht. Die Religion versucht, den vernichtenden Malstrom der Geschichte zu transzendieren, um sich in einer Sphäre urbildlicher, ewiger Wahrheiten mit dem Heiligen zu verbinden. Eliade deutet so den Mythos als Bild der ewigen Wahrheit, als Gegenwart des Heiligen, das durch Erzählung und Ritual stets von neuem bezeugt wird, und den Menschen, der an seiner Reinszenierung teilhat, aus den Klauen der Vergänglichkeit befreit. Hier wäre zu ergänzen, dass dieser Ausstieg aus der Geschichte nicht nur von Eliade thematisiert wird, sondern von einer ganzen Reihe weiterer Autoren, die dem Traditionalismus oder Perennialismus des 20. Jahrhunderts zuzurechnen sind. Auf andere Weise geht es auch in der komplexen Psychologie C.G. Jungs um einen Ausstieg aus der Geschichte, indem die Seele sich in die Welt der universellen Archetypen erhebt, an deren Ganzheit und Zeitlosigkeit sie um so mehr Anteil erlangt, als sie diese in ihr Bewusstsein integriert. Für C.G. Jung wird die Seele zur letzten Wirklichkeit, aus der die äußere Welt, sei sie materiell oder geistig, emaniert. Jung hebt dadurch auch eine Entwicklung auf, die bis in die Antike zurückreicht: die Trennung von Subjekt und Objekt, von Körper und Seele, Innenwelt und Außenwelt. Der »cultural turn« in der Psychologie scheint Jung insofern recht zu geben, als durch ihn die Einsicht gewachsen ist, »dass sich wissenschaftliche Positionen keineswegs einer wie auch immer gearteten Wirklichkeit verdanken, sondern einer gesellschaftlichen Verständigung darüber, was als grundsätzliches Charakteristikum von ›Wirklichkeit‹ und damit auch von transhistorisch gültigen Wahrheiten betrachtet wird.« (Stuckrad) Gerade diese Position ist es, die ein anderer führender Esoterikforscher, Nicholas Goodrick-Clarke, einer starken Kritik unterzieht. (Vgl. Nicholas Goodrick-Clarke über die Geschichte der westlichen Esoterik). Allerdings hätte wohl auch Jung diese Reduktion wissenschaftlicher Erkenntnis auf gesellschaftliche Konventionen weit von sich gewiesen, war er doch der Überzeugung, die eigentliche Wirklichkeit entdeckt und beschrieben zu haben. Indem Jung das Selbst des Menschen als »spirituelle Sonne« interpretierte, »lieferte er die Grundlage für eine Sakralisierung der menschlichen Seele« – wir sollten besser anders formulieren: Jung sakralisierte nicht die menschliche Seele, sondern deckte ihre ursprüngliche, unhintergehbare Sakralität wieder auf und führte dadurch die verwissenschaftliche Psychologie des 20. Jahrhunderts, die die Seele des Menschen genauso objektiviert hatte, wie der Empirismus die Natur, wieder zu ihrem wahren Gegenstand und ihrer eigentlichen Aufgabe zurück.

Auf ein schönes Motiv, das im 20. Jahrhundert eine Rolle spielt, weist Stuckrad mit der »Seele als Landschaft«. Die »Reise ins Innere der Seele als Erkundungsfahrt in die verborgenen Regionen der Welt« ist schon in Platos Erzählung von der Weltseele angelegt, die in den Einzelmenschen hineinragt, der dadurch mit dem Kosmos und der gesamten Natur zusammengeschlossen ist. Im 20. Jahrhundert taucht dieses Motiv im Werk Hesses (im »Steppenwolf«) und insbesondere in der Science-Fiction-Literatur auf, in der die Reisen in den »outer space« unversehens zu metaphorischen Beschreibungen von Reisen in den »inner space« werden. In den »Aliens« begegnen wir letztlich unserem eigenen Fremden, das wir von uns abgespalten haben. Aus dieser Sicht kann Stuckrad die »Star-Wars«-Filme von George Lucas als neognostischen Mythos interpretieren – was auch insofern nicht abwegig ist, als Lucas in erheblichem Umfang von Joseph Campbell angeregt wurde.

Aus dem begrifflich diffusen Gebiet des »New Age« greift Stuckrad schließlich drei Aspekte heraus, deren Zusammenhang mit esoterischen Traditionen er andeutet: das »Channeling« ist eine neue Erscheinungsform uralter medialer Techniken, die »Tiefenökologie« greift auf den Kosmos als Lebewesen und den sympathetischen Zusammenhang alles Lebendigen zurück und die »transpersonale Psychologie« letztlich auf den Emanationsgedanken bzw. die hierarchische Sicht der Gesamtwirklichkeit.

Alles in allem sind diese drei neuesten Diskursfelder eine »Fortsetzung des esoterischen Programms mit anderen Mitteln.«

Stuckrads Buch endet mit dem Satz: »Man kann davon ausgehen, dass die Suche nach vollkommenem Wissen auch in Zukunft weitergehen wird.«

Webseite Kocku von Stuckrads


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