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Über die Konstruktion esoterischer Traditionen

Von Lorenzo Ravagli

1998 erschien in der Reihe »Gnostica« ein Band mit dem Titel »Western Esotericism and the Science of Religion«, mit einem Beitrag Wouter J. Hanegraaffs über die »Konstruktion esoterischer Traditionen«, der für das Selbstverständnis dieses führenden Esoterikforschers und für die Methodendiskussion dieser jungen Disziplin von herausragender Bedeutung ist. Hier werden die wesentlichen Grundgedanken des Beitrags referiert und soweit Anlass besteht, kritisch kommentiert.

Hanegraaff setzt sich in seiner Untersuchung mit drei möglichen Haltungen zum Gegenstand auseinander: einer »proesoterischen«, einer »antiesoterischen« und einer »neutralen«, empirisch-historischen, die er nachdrücklich empfiehlt.

Zunächst muss man sich laut Hanegraaff klar sein, dass es sich bei der »westlichen Esoterik« um ein wissenschaftliches Konstrukt handelt. Die Anerkennung dieser Tatsache ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass die Esoterikforschung über die bloße Beschreibung von historischen Phänomenen hinausgehen kann.

»Emic« und »Etic«, Innensicht und Aussensicht

Von grundlegender Bedeutung ist die Unterscheidung zwischen einer emischen und einer etischen Herangehensweise an den Gegenstand (diese Unterscheidung hat Kenneth Pike 1967 eingeführt). Das damit Gemeinte ist allerdings nicht neu: emisch (»emic«) ist die Binnensicht der Angehörigen einer bestimmten religiösen oder esoterischen Tradition, etisch (»etic«, ohne h) die Außensicht des Forschers, der sich um eine Interpretation dieser Tradition bemüht, ohne selbst Angehöriger zu sein (was allerdings nicht ausgeschlossen ist, da die Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit nicht über die Möglichkeit der beiden geistigen Haltungen entscheidet, die durch diese perspektivischen Begriffe bezeichnet werden.) Was Angehörige einer bestimmten Tradition, vom Standpunkt des Gläubigen oder Überzeugten, über sie selbst zu sagen haben, ist Ausgangspunkt jeder wissenschaftlichen Forschung. Es ist unabdingbar, die Selbstaussagen de Angehörigen einer Tradition vollkommen Ernst zu nehmen und keine Mühe zu scheuen, ihre Ansichten so richtig und zutreffend wie möglich wiederzugeben. Das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit, die aber oft genug nicht erfüllt ist. Die Gründe dafür hängen mit den Motiven der Forscher zusammen und werden noch erörtert. Der Forscher (Hermeneut) muss sich auf eine für ihn fremde Welt einlassen, seine eigenen Vorurteile einklammern und die Eigenheiten dieser Welt so vollständig und gewissenhaft als möglich darstellen. Jede Religionsforschung, die ihren Gegenstand Ernst nimmt, kommt um diese Arbeit nicht herum.

Nähme der Forscher allein diese Haltung ein, bliebe er jedoch bei der Deskription, der bloßen Beschreibung stehen. Über diese führt die Interpretation hinaus, mit der das Feld des »etischen« betreten wird. Die Interpretation kann aus jeder denkbaren Begriffsperspektive erfolgen, mit der sich den Befunden der emischen Untersuchung Sinn abgewinnen lässt. Natürlich wird mit einer solchen Interpretation ein Begriffsrahmen an den Gegenstand herangeführt, der nicht unbedingt aus dem Gegenstand selbst genommen wird. Das muss kein Problem darstellen, solange die Leser imstande sind, zwischen beiden Ebenen zu unterscheiden und durch einen Vergleich die Angemessenheit der Interpretation zu beurteilen. Wesentlich für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung ist, dass der Forscher stets offen für Kritik bleibt, die seine Interpretationen in Frage stellen könnte. Ein Wissenschaftler, der sich vor Kritik verschließt, begibt sich auf das schlüpfrige Gebiet der Ideologie, er bemüht sich nicht mehr um das Verständnis des Fremden, sondern darum, sein eigenes Verständnis, das er für das richtige hält, im Gewande der Wissenschaftlichkeit zu propagieren.

Das fortdauernde dialektische Wechselspiel zwischen emischem Forschungsmaterial und etischer Interpretation zeichnet nach Hanegraaff die empirische Esoterikforschung aus, die nicht bei der bloßen Beschreibung stehen bleiben will. Das Verstehen, auf das die empirische Forschung abzielt, ist ein unabschließbarer Prozess, in dem keine bestimmte Interpretation den Anspruch erheben kann, die letzte, einzig richtige zu sein.

Dazu eine kritische Bemerkung: Die Unterscheidung zwischen emisch und etisch, zwischen Forschungsgegenstand und Interpretation wirft eine Frage auf. Was, wenn die Angehörigen einer Tradition den Anspruch erheben, sich selbst zu interpretieren und jede Interpretation, die nicht aus ihrem Selbstverständnis gewonnen wird, als unangemessen, als Verfälschung oder Verzerrung zurückweisen? Ein Esoteriker (ebenso wie der Angehörige einer religiösen Gemeinschaft) könnte argumentieren, ein Wissenschaftler, der versuche, seine Weltsicht oder Religion mit Hilfe von Begriffen zu interpretieren, die nicht aus dieser Weltsicht selbst stammen, könne diese nicht verstehen und müsse notgedrungen ein verzerrtes Bild von ihr erzeugen, ja jede Art von Interpretation, die nicht Selbstauslegung sei, könne nur Verzerrung sein. In einem noch viel umfassenderen Sinn als Hanegraaff dies tut, zielt diese Frage auf die Motive, die zur Forschung treiben. Warum glaubt ein Wissenschaftler, er könne etwas Wesentliches zum Verständnis einer Religion oder Esoterik beitragen, das nicht aus diesen selbst gewonnen werden könnte? Wäre es nicht sinnvoller, wenn man etwas Essentielles über eine Tradition erfahren will, sich in sie hineinzubegeben, Teil von ihr zu werden, sie authentisch zu erfahren? Wozu benötigen wir eine Wissenschaft des Schwimmens, wenn wir ins Wasser springen und das Schwimmen selbst erfahren können? Ist jemand Ernst zu nehmen, der alles über das Schwimmen weiß, der die unterschiedlichsten Theorien des Schwimmens kennt und zu entwickeln vermag, ohne jedoch selbst jemals geschwommen zu sein? Dieser Frage soll an dieser Stelle nicht weiter nachgegangen werden. Kehren wir zu Hanegraaff zurück. In seinem Aufsatz taucht die Frage in anderer Form wieder auf, dort nämlich, wo er sich mit »proesoterischen« Konstruktionen von Esoterik auseinandersetzt.

Esoterik als Konstrukt

Esoterik ist zunächst »ein Konstrukt«. Sie wird nicht »vorgefunden«, sondern »erfunden«. Die Wissenschaftler konstruieren sie und in die Konstruktion geht natürlich etwas von ihrer Persönlichkeit, ihren Fragestellungen und Interessen ein. Vollständige Objektivität in den Geisteswissenschaften liefe nach Hanegraaff auf bloße Deskription hinaus. Das wäre aber noch nicht Wissenschaft, sondern bloße Vorbereitung auf sie. Schon die wissenschaftliche Rekonstruktion emischer Meinungen (was glauben die eigentlich?) ist Interpretation, in die sich das Subjekt des Forschers einmischt, erst recht jedoch die Interpretation. Auf der – unverzichtbaren – Ebene der emischen »Feldforschung« ist die möglichst vorurteilsfreie Präsentation der Sichtweise der »Gläubigen« oder Angehörigen einer Tradition das Forschungsziel, sie birgt aber auch die Gefahr in sich, dass sie die Forschung lähmt, weil vollkommene Objektivität ohnehin nie erreichbar ist. Das sollte allerdings kein Vorwand sein, auf Objektivität zugunsten von Beliebigkeit zu verzichten. Erst recht gilt dies für jede Interpretation, in der der subjektive Anteil naturgemäß um so größer wird, je origineller die Deutung ist. Diesem Problem kann nur prinzipielle Offenheit gegenüber Kritik vorbeugen, Kritik in einem philosophischen Sinn verstanden. Diese Kritik (Selbstkritik eingeschlossen) ist nicht destruktiv, sondern konstruktiv, sie ist von der positiven Überzeugung geleitet, dass der Versuch, das Fremde zu verstehen, Vorrang vor Lieblingsmeinungen haben sollte.

Die Kritik an Konstruktionen von Esoterik sollte, so Hanegraaff, mit einer Kritik der Motive beginnen, die Wissenschaftler dazu bewegen, Esoterikforschung zu betreiben. Welchen Interessen wird durch die Konstruktion einer esoterischen Tradition gedient? – Auch hier wieder frägt Hanegraaff nicht nach dem Motiv von wissenschaftlicher Forschung überhaupt, sondern nur nach den unterschiedlichen Motiven einzelner Wissenschaftler. –

Hanegraaff charakterisiert in seiner Typologie der Esoterikforscher drei solche Motive:

1. Unzufriedenheit mit der geistigen Lage der westlichen Gesellschaften und Suche nach befriedigenderen Alternativen, 2. das Bedürfnis, vor der »Gefahr« der Esoterik zu warnen, 3. Sinn für historische Objektivität, der zur Einsicht führt, dass die Standarderzählungen über die Geschichte der Neuzeit einseitig und ergänzungsbedürftig sind.

1. Zu betonen, dass es wichtige, aber vernachlässigte esoterische Traditionen im Westen gegeben hat, die Werte und Erkenntnisse besaßen, die vergessen oder verdrängt worden sind, ist eine mögliche Methode, um die westliche Gesellschaft zu kritisieren. Die »Erfindung von Tradition« dient hier einem persönlichen spirituellen Bedürfnis. Manche Wissenschaftler sind von der Wahrheit der Esoterik überzeugt, sie sind gleichzeitig Teilnehmer und Interpreten der Tradition. (Hier kommt Hanegraaff selbst auf die Möglichkeit zu sprechen, dass der Teilnehmer einer Tradition sie selbst im wissenschaftlichen Diskurs auslegt. Wie wir sehen werden, lehnt er die Möglichkeit einer solchen Selbstauslegung aber ab.) Andere stehen der Esoterik positiv gegenüber und hoffen, ihr Einbezug in den universitären Kanon könnte einen gesunden Ausgleich zu den Einseitigkeiten der nicht-esoterischen Lebenshaltungen mit sich bringen, die die westliche Welt beherrschen. Esoterik soll in beiden Fällen einen bestehenden Mangel ausgleichen.

2. Manche Wissenschaftler assoziieren Esoterik generell mit Irrationalismus, Aberglauben oder religiösem Irrtum. Sie sind Anhänger einer säkularistischen Weltsicht und sehen in Esoterik eine gefährliche Versuchung. Sie glauben, die Moderne habe sich zwar von einer dunklen Vergangenheit befreit, sei aber stets bedroht vom erneuten Einfall des Irrationalen. Manche dieser Wissenschaftler erfinden ihrerseits eine Tradition, nämlich eine gefährliche, subversive, esoterische Gegentradition, und sehen ihre Aufgabe darin, das denkende Publikum vor diesem scheinbar unbezwingbaren Feind zu warnen, andere verneinen die Existenz jeder esoterischen Tradition und sehen in ihr bloß eine wiederkehrende Geisteskrankheit. Nicht alle, die diesem Typus angehören, präsentieren sich als Gegner der Esoterik, alle hängen jedoch einer Weltsicht an, die mit ihr nicht verträglich ist, und die sie stets als rational darstellen.

3. Die strikten Historiker, zu denen Hanegraaff selbst sich rechnet, erkennen, dass die »Standarderzählungen« der neuzeitlichen Geschichte gravierende Defizite aufweisen. Ihr Sinn für historische Objektivität fühlt sich durch die Tatsache herausgefordert, dass bestimmte historische Idee, Personen oder Bewegungen, die einen bedeutenden Einfluss auf ihre Zeit hatten, von heutigen Historikern vernachlässigt werden, weil sie sie für marginal halten. Diese Historiker werfen ihren Kollegen vor, Geschichte habe zu beschreiben, was war, und nicht nach Gutdünken zu selektieren. Esoterische Bewegungen verdienten allein deshalb Interesse, weil sie Teil der Geschichte seien. Außerdem seien die esoterischen Bewegungen keineswegs so marginal, wie behauptet, Esoteriker hätten vielmehr bedeutende Beiträge zur Entwicklung der Moderne geleistet. Aus ihrer Sicht hat die Standardgeschichtserzählung auf Kosten der historischen Wahrheit ihrerseits eine Tradition erfunden.

Universalistische, proesoterische Erzählungen

Eine erste Variante sieht Gnosis oder Esoterik als ein universelles und daher transhistorisches Phänomen, das einen hohen positiven Wert besitzt. Ihr Wesen ist überall dasselbe, auch wenn es sich in unterschiedlichen Kulturen verschieden manifestieren kann. Als einen Vertreter dieser Auffassung führt Hanegraaff den Gnosisforscher Gilles Quispel an. Dieser hat drei Elemente in der europäischen Geschichte unterschieden: Glaube, Vernunft und Gnosis. Letztere trat zuerst in Alexandria hervor. Gnosis beruht nach Quispel auf innerer Erfahrung und drückt sich nicht diskursiv, sondern in Bildern aus. Zu dieser Strömung zählt Quispel den antiken Gnostizismus, die alexandrinische Hermetik, den Manichäismus, die Katharer, die Renaissancehermetik, Jakob Böhme, J.W. v. Goethe, G.W.F. Hegel, William Blake, Rudolf Steiner und C.G. Jung.

Quispels Sicht der Gnosis ist nach Hanegraaff von einer ungelösten Spannung zwischen einer universalistischen und einer historischen Perspektive durchdrungen. Die Gnosis entstand in Alexandria und ist ein spezifisch westliches Phänomen. In seinem Werk »Gnosis als Weltreligion« hat er diese als ein religiöses Phänomen dargestellt, das vom Atlantik bis zum Pazifik verbreitet war. Hier erscheint die Gnosis als historisches Gebilde. Aber Quispel versteht das Wesen der Gnosis gleichzeitig als mythischen Ausdruck der Selbsterfahrung, als Erfahrung einer heilenden Erkenntnis, in der sich der Mensch seines göttlichen Ursprungs erinnert und seiner inneren Göttlichkeit bewusst wird. Als solche ist Gnosis eine Grundstruktur jeder religiösen Weltwahrnehmung, die immer wieder zu unterschiedlichen Zeiten hervortritt. Keine historische Erscheinungsform schöpft diese Möglichkeit der religiösen Erfahrung völlig aus. Die Unterscheidung zwischen den Erwählten und dem Rest der Menschheit, der nicht versteht, ist laut Quispel auf den ewigen Konflikt zwischen dem intuitiven Menschen und der Gesellschaft zurückzuführen. Solche intuitiven Menschen sehen Dinge, die andere nicht sehen. Der Gnostiker trägt ein Organ für die Schwingungen in sich, die den Kosmos durchdringen und in einer jenseitigen Welt ihren Ursprung haben. Dieses Organ bezeichnet der Gnostiker als Nus (Geist, Verstand). Quispel setzt diesen Nus mit Überbewusstsein, höherem Bewusstsein, Hellsicht und Intuition gleich. Der Nus ist ein Organ zur Wahrnehmung dessen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Die Gnosis ist sonach ein geheimes Wissen vom verborgenen Sinnzusammenhang des Kosmos, von einer esoterischen Tradition einer primordialen Weisheit, die dem Menschen von den Göttern offenbart wurde, sie enthüllt das tiefste Wesen des Menschen, klärt ihn über die Bedeutung seines Daseins in der Welt auf und besteht in einem Schauen von Bildern.

Hanegraaff weist darauf hin, dass Quispel in seiner Gnosisdeutung stark von C.G.Jung beeinflusst und dass für ihn, ebenso wie für Jung, die Entdeckung des Selbstes das Ziel jeder wirklichen Religion war. Da Intuitive nicht nur im Abendland vorkommen und die Entdeckung des Selbstes eine universale Konstante ist, kann aber Gnosis als Ausdruck der Selbsterfahrung nicht auf den Westen und auch nicht auf die Zeit seit der Antike beschränkt sein.

Die Spannung zwischen universalem und historischem Gesichtspunkt könnte aufgelöst werden, wenn man zwischen Wesen und Erscheinung unterscheidet. Danach wäre die Gnosis ihrem Wesen nach universal und manifestierte sich stets in bestimmten geschichtlichen Formen. Ihr Beginn in Alexandria wäre dann nur der Beginn einer spezifischen Erscheinungsform von Gnosis. Aber Gnosis würde nach Quispels Verständnis zu einem universalen Begriff, unter den alles subsumiert werden müsste, was als Beispiel für den Jungschen Individuationsprozess betrachtet werden könnte, im Westen würde sie jede Bewegung oder Person einschließen, die den Vorrang der persönlichen Erfahrung betont und sich einer Mythen- oder Bildersprache bedient.

Ein anderes Beispiel für proesoterischen Universalismus stellt laut Hanegraaff Pierre A. Riffard dar. Statt von Gnosis spricht er von Esoterik. Seine Sicht ist jedoch nicht weniger inklusiv. Riffard verzichtet zunächst auf eine Definition von Esoterik und versucht deren Begriff mit Hilfe eines Durchgangs durch eine Fülle historischer Bewegungen zu entwickeln. (L’ésoterisme, Paris 1990)

Keine einzige Erscheinung der Religionsgeschichte wird von Riffard ausgeschlossen. Esoterik kann man im Westen und Osten finden, in der Vorgeschichte ebenso wie heute, denn sie hat mit dem Geheimnis des Menschseins schlechthin zu tun. Laut Riffard gibt es keinen Menschen, der nicht wenigstens einmal »gesehen« hat. »Zu irgendeinem Zeitpunkt hat jeder einmal mehr oder weniger deutlich die dunkle Sprache vernommen, die in den Dingen vor sich hin murmelt, die geheime Schrift gelesen, die in den Sternen ausgebreitet ist und mit seinem Finger das Feuer berührt, das in unserer tiefsten Dunkelheit glimmt. Diese Art der Meditation tritt häufig beim Kind auf, im Poeten, Propheten, Weisen oder in Grenzsituationen wie Ertrinken oder Trance. Es gibt keine Gesellschaft, in denen keine Männer oder Frauen leben, die auf diese Art wissen. Man nennt sie Seher, Schamanen, Magier, Orakel, Astrologen, Theosophen, Initiaten.«

Für Riffard ist Esoterik eine anthropologische Grundkonstante, wie die Gnosis für Quispel. Historikern wie Scholem wirft er vor, sie blieben an der Außenseite ihres Gegenstandes stehen, sie wüssten zwar alles über Esoterik, verstünden aber manchmal nichts von der Esoterik dieser Esoterik. Selbst wenn man alles weiß, kann es doch sein, dass man das Wesentliche nicht sieht. Das Wesen der Esoterik ist selbst esoterisch. Und man kann es nur wahrnehmen, wenn man die nötige Sensibilität besitzt. Daher ist für Riffard die zentrale Frage: »Kann man Esoterikforscher sein, ohne Esoteriker zu sein?« Riffard antwortet mit einem klaren »Nein«. Nur esoterische Esoterikforscher verbinden ihm zufolge wirkliches Verständnis mit dem nötigen wissenschaftlichen Sinn für Dokumentation und Analyse und jeder, der glaubt, nicht Esoteriker sein zu müssen, und Esoterik dennoch erforschen zu können, bleibt blind für seinen Gegenstand.

Eine Erforschung historischer Formen der Esoterik ist offenbar nur möglich, wenn man sich mit ihnen aus einer esoterischen Perspektive befasst. Wie man sieht, sind wir bei jener Frage angelangt, von der wir weiter oben sagten, sie werde uns wieder begegnen.

Hanegraaff hält diesen Ansatz jedoch für universalistisch, religionsförmig (»religionistic«) und transhistorisch.

Was versteht nun Riffard unter (echter) Esoterik? Eine Weltsicht, die auf Korrespondenzen beruht. Solche Korrespondenzen finden sich bei Kindern, Dichtern und »Primitiven«, aber die Esoterik versucht sie zu systematisieren. Sie ist Beispiel einer bestimmten Denkstruktur, für das Vorhandensein allgemeiner Gesetze geistiger Organisation, vielleicht könnte man auch sagen, für eine bestimmte Bewusstseinsform. Was die verschiedenen Esoteriken verbindet, ist diese Denkstruktur. Ein gleichbleibendes Merkmal (eine »Invariante«) ist die Arkandisziplin, der Kult des Geheimnisses. Acht weitere sind: die Anonymität der Autoren (1), der Gegensatz von Esoterik und Exoterik (2), der Begriff des Subtilen, das zwischen Geist und Materie vermittelt (3), Analogien und Korrespondenzen (4), die Bedeutung von Zahlen (5), die okkulten Wissenschaften (6) und Künste (7) und schließlich Initiation (8).

Ein ziemliches Sammelsurium, das zum Teil wie ein Katalog aussieht, der sich selbst enthält – etwa, wenn zu den Invarianten der Esoterik das Okkulte in Form von okkulten Wissenschaften und Künsten gezählt wird.

Riffard wendet seinen Katalog auf zwei historische Beispiele an, die Tabula Smaragdina und den Spiritismus des 19. Jahrhunderts und kommt zum Schluss, die erstere gehöre zur Esoterik, der letztere jedoch nicht. Ja, selbst der moderne Okkultismus gehört für Riffard nicht zur Esoterik. Obwohl also Riffard einen denkbar weiten Begriff des Esoterischen zugrundelegt, führt die Anwendung seiner Kriterien am Ende paradoxerweise dazu, Phänomene, die sogar nach eigenem Selbstverständnis esoterisch sind, als nichtesoterisch zu deklarieren. Er hält es sogar für möglich, dass eine Exoterik aufgrund seiner Kriterien eigentlich der Esoterik zugerechnet werden muss.

Wie Quispel, der Wert darauf legt, echte von »vulgärer Pseudo-Gnosis« (der New Age Bewegung) zu unterscheiden, versucht auch Riffard echte von falscher Esoterik zu trennen. Hanegraaff sieht darin ein fundamentales Dilemma der Esoterikforschung, das auch ihre Mutterdisziplin, die Religionswissenschaft, heimsucht. Nach seiner Auffassung ist die Wahrheit keine historische Kategorie, und dennoch versuchen viele Wissenschaftler, inspiriert von dem, was sie für die Wahrheit halten, ihre Geschichte zu schreiben. Sie sind Vertreter einer begriffsrealistischen Haltung, die davon ausgeht, dass es so etwas wie Esoterik tatsächlich gibt, deswegen glauben sie auch, »echte« von »falscher« Esoterik unterscheiden zu können. Das bedeutet aber laut Hanegraaff nichts anderes, als dass sie behaupten, der Widerspruch von emischem Material und etischer Interpretation – die Existenz eines Fremdartigen, das durch Hermeneutik erschlossen werden muss, und die Annahme, dass der Forscher keinen Zugang zu einer höheren Einsicht hat, die es ihm erlaubt, Wahrheit von Irrtum zu scheiden – in einem höheren Standpunkt aufgehoben werden kann. Die Perspektive des Teilnehmers einer Tradition kann von diesem höheren Standpunkt außer Kraft gesetzt werden, der nicht mehr bloß eine mögliche Interpretation ist, sondern die Wahrheit. Diese Annahme liegt, so Hanegraaff allen religionsförmigen Konstruktionen von Esoterik zugrunde. Von diesem Zugang zur Esoterik grenzt Hanegraaff sich als Vertreter einer empirisch-historischen Methode ab.

Leider lässt sich Hanegraaff nicht weiter über die Kategorie der Wahrheit aus. Wenn sie keine historische Kategorie ist, was ist sie dann? Eine überhistorische Kategorie? (Das wäre zum Beispiel der Fall, wenn man in ihr eine logische Kategorie sehen würde, und annähme, es gebe überzeitlich gültige Gesetze der Logik). Oder ist die Wahrheit für Hanegraaff überhaupt keine sinnvolle Kategorie? Existiert sie ebenso wenig wie das, was er als »Esoterik« bezeichnet, dessen Inhalt aber zuerst konstruiert werden muss? (»Die Esoterik ist ein reines Konstrukt, sie ist eine Hirngeburt von Wissenschaftlern.« [S. 16]) Ist die Wahrheit deswegen keine historische Kategorie, weil sie in der Historie nicht vorkommt, oder weil die Historie keine Wahrheit besitzt? Ersteres wäre unsinnig, da eine Geschichte der Esoterik oder auch der Wissenschaften zu wesentlichen Teilen als eine Geschichte der Suche nach der Wahrheit geschrieben werden muss. Wissenschaftsgeschichte ist eine Geschichte einander ablösender Wahrheitseinsichten und Wahrheitsansprüche. Auch Esoterik als Wissensform ist von dieser Geschichte nicht ausgeschlossen. Ein Esoteriker, der behaupten würde, das, wozu seine Esoterik führe, sei nicht die Wahrheit, würde von anderen Esoterikern kaum Ernst genommen. Die Wahrheit kommt also wohl in der Geschichte vor. Sie ist Gegenstand der Geschichtsschreibung. Sie ist aber auch ein heuristisches Prinzip. Hanegraaff selbst fordert ja vom Esoterikforscher unbedingte Treue gegenüber den emischen Sachverhalten, also Wahrhaftigkeit gegenüber dem erforschten Gegenstand. Ein Esoterikforscher, der sich nicht um die Wahrheit seiner Deskriptionen kümmerte, wäre auch nach Hanegraaff nicht Ernst zu nehmen, er bewegte sich auf dem »schlüpfrigen Pfad« der Ideologie (wie zum Beispiel Apologeten, denen es weniger um Wahrheit bei der Darstellung der Sachverhalte geht, als darum, diese möglichst abstoßend erscheinen zu lassen), oder er verfiele dem postmodernen Beliebigkeitstaumel.

Was soll also heißt: »Wahrheit ist keine historische Kategorie«? Hanegraaffs Abgrenzung vom Perennialismus führt uns möglicherweise weiter. Der Perennialismus zeichnet sich nach ihm durch sein offensives, radikales und kompromissloses Bekenntnis zum Dogmatismus aus. Die Perennialisten oder Traditionalisten wollen nichts mit dem historischen Bewusstsein zu tun haben. Sie weisen die Moderne in all ihren Manifestationen (Empirismus, Relativismus, Nominalismus, Historismus) zurück und sind insofern konsequenter als Quispel oder Riffard, die Kompromisse mit dem historischen Bewusstsein eingehen, obwohl sie in der Esoterik (Gnosis) eigentlich eine überzeitliche Wahrheit sehen. Mit doktrinärer Radikalität hat sich der Traditionalismus von der akademischen Welt abgegrenzt und diese sich deswegen auch von ihm. Insofern würde sich eine Auseinandersetzung mit ihm erübrigen, besäße er nicht ein eigenes Konzept von Esoterik, das die gegenwärtige Esoterikforschung erheblich beeinflusst, was einigermaßen erstaunlich ist, wo er sich laut Hanegraaff doch von der akademischen Welt radikal abgewandt hat. Man versteht seine Ausführungen nur, wenn man Informationen aus anderen Aufsätzen hinzuzieht, in denen er sich deutlicher ausspricht: zu den Vertretern des Traditionalismus zählt er Autoren wie Mircea Eliade und Joseph Campbell (und zu einem gewissen Grad auch Faivre), die in der Tat die Religionswissenschaft und Mythenforschung des 20. Jahrhunderts maßgeblich beeinflusst haben.

Die verbreitete Annahme, der Perennialismus sei in der Esoterikforschung brauchbar, hält Hanegraaff für ein Missverständnis. Für den Traditionalismus ist »Esoterik« ein metaphysisches Konzept, das auf eine transzendente Einheit verweist, die allen religiösen Traditionen zugrunde liegt (die »ewige Wahrheit« der Blavatsky-Theosophie). Traditionalismus ist also eine Form vergleichender Religionsforschung. Die traditionalistische Esoterik verweist auf die transzendente Einheit exoterischer Religionen und nicht auf eine bestimmte historische Religion oder religiöse Tradition. Die Perennialisten haben »Esoterik« nie als ein etisches Merkmal verstanden, das auf bestimmte historische Traditionen angewendet werden könnte. Und wenn historische Traditionen als exoterische Gefäße esoterischer Wahrheiten genannt werden, dann werden Religionen wie der Hinduismus (René Guénon) oder der Islam (Frithjof Schuon) bevorzugt. Historische Strömungen, die in der Regel als Beispiele für westliche esoterische Traditionen betrachtet werden, wie die hermetische Alchemie oder die christliche Theosophie, werden von den Perennialisten nicht sonderlich beachtet. »Esoterik« im Sinne des Perennialismus will keine Konstruktion einer esoterischen Tradition in irgendeinem tatsächlich historischen Sinn sein. Sie ist ein Vorschlag für die Interpretation, nicht der Esoterik, sondern der Religion. Aus diesem Grund muss sich die akademische Esoterikforschung laut Hanegraaff in erster Linie vom Perennialismus abgrenzen.

Der Perennialismus und die Esoterikforschung haben nicht nur unterschiedliche Gegenstände und Ziele, ersterer kann seinem Selbstverständnis nach auch gar nicht als wissenschaftliche Methode gelten, denn er betrachtet seine metaphysischen Grundannahmen über das Wesen der Religion als absolute Wahrheit. Daher lässt er die Entdeckung von etwas Neuem gar nicht zu. Wer im Besitz der Wahrheit über die Religion ist, degradiert wissenschaftliche Forschung zu bloßer Illustration. Jeder Versuch, traditionalistische Überzeugungen zu kritisieren, muss scheitern, da er argumentiert: »Würdest du verstehen, würdest du zustimmen; wenn du nicht zustimmst, verstehst du nicht.« Auch der Hinweis auf vom Traditionalismus vernachlässigte Differenzen geht in die Leere, da er behauptet, die Wahrnehmung von Differenzen sei Ausdruck eines unentwickelten Bewusstseins, das nicht imstande ist, die tiefere Einheit der Religionen zu erkennen.

Der Perennialismus fördert die Tendenzen zutage, die auch den Werken von Quispel und Riffard innewohnen: sie neigen dazu, die Erforschung der Esoterik mit der Verkündigung esoterischer Wahrheit zu verwechseln.

Offensichtlich ist Hanegraaffs Argument, die Wahrheit sei keine historische Kategorie, ein Argument gegen den Traditionalismus. Das beantwortet aber nicht die Frage, was sie stattdessen ist und welche Rolle sie in der Esoterikforschung spielt. Auch die empirische Forschung kann nicht auf Wahrheit als heuristische Kategorie verzichten. Natürlich kann sie die Entscheidung über Wahrheitsansprüche einklammern. Solange sie sich auf der deskriptiven emischen Ebene bewegt, muss sie das sogar tun, sonst könnte sie kein getreues Bild ihres Untersuchungsgegenstandes zeichnen. Sobald sie sich aber darüber erhebt und ihren Gegenstand etisch zu interpretieren beginnt, kommt sie um die Frage nach den Wahrheitsansprüchen nicht mehr herum. Nach Hanegraaff ist ja jeder Interpretationsversuch ein Versuch, im Untersuchungsgegenstand einen »Sinn« zu entdecken, den er nicht unbedingt von selbst preisgibt. Im Grunde verlagert Hanegraaff das Problem, das die Ausklammerung der Wahrheitsfrage beinhaltet, nur in ein anderes Gebiet, er schiebt es auf »die Leser« oder die »scientific community« ab, wenn er sagt, diese müssten imstande sein, die »Angemessenheit« einer Interpretation zu beurteilen. Wie aber können sie dies, ohne die Wahrheitsfrage aufzuwerfen, ohne zu fragen, ob eine bestimmte Interpretation einen tieferen Sinn entbirgt, als der Gegenstand selbst? Im Grunde ist die Frage nach der Wahrheit die Frage nach dem Sinn von Esoterikforschung: Wozu benötigt Esoterik eigentlich eine wissenschaftliche Begleitforschung, vorausgesetzt, sie ist imstande, sich selbst auszulegen? Und ist Esoterik denn etwas anderes, als sinnenthüllende Selbstauslegung, Weltauslegung?

Anti-Esoterizismen: Eric Voegelin, Carl Raschke, Marcello Truzzi

Doch wenden wir uns dem zweiten Typus von Esoterikforschern zu, jenen, die einem säkularistischen, aufklärerischen Projekt verpflichtet sind. Wir können uns hier kürzer fassen, da Hanegraaff sich mit Autoren auseinandersetzt, deren Argumentationslinien auch Arthur Versluis in seinem Buch »Die neue Inquisition ...« analysiert, das an anderer Stelle bereits ausführlich behandelt wurde. Die allgemeinen Überlegungen Hanegraaffs zur Antiesoterik sind aber ob ihrer analytischen Prägnanz aller Aufmerksamkeit wert.

Die Idee einer »verborgenen Tradition« kann die unterschiedlichsten Reaktionen hervorrufen. Die romantische Vorstellung einer »geheimen Lehre« oder ewigen Weisheit, die von erleuchteten Geistern um des Wohles der Menschheit willen durch die Zeiten getragen wird, findet ihr exaktes Gegenbild in der (nicht weniger) romantischen Vorstellung einer geheimen Verschwörung dunkler und menschheitsfeindlicher Mächte. Die emotionalen Konnotationen und die »Furcht vor dem Okkulten« speisen sich zu großen Teilen aus diesem verbreiteten kulturellen Mythos. Die »Christliche Wissenschaft« von Mary Baker Eddy zum Beispiel, wurde Ende des 19. Jahrhunderts von Autoren, die ihre Popularität beunruhigte, als »okkult« bezeichnet, so wie zuvor die Mormonen oder die Spiritisten mit diesem polemischen Prädikat belegt wurden. Dadurch sollte die Verbundenheit dieser Bewegungen mit gesunden demokratischen und christlichen Grundsätzen in Zweifel gezogen werden. Gegner der »Christlichen Wissenschaft« versuchten die Kirche Eddys mit einer antichristlichen Tradition zu verknüpfen, die sie bis zum Mesmerismus und der Verschwörung der Illuminaten zurückverfolgten, bis zur Renaissancemagie des Paracelsus und den Schülern des Hermes Trismegistos in der Renaissance, ja bis zu den Gnostikern und Neuplatonikern der ersten christlichen Jahrhunderte.

Solche Konstrukte stellen in der akademischen Esoterikforschung laut Hanegraaff gewichtige Wettbewerber der proesoterischen Konstruktionen dar. Manchmal ist diese Verschwörungstheorie nicht leicht von einem anderen Typus antiesoterischer Theorie zu unterscheiden, der das Okkulte nicht historisch als »Gegentradition« interpretiert, sondern ahistorisch als wiederkehrende »Geisteskrankheit«.

Herausragendes und äußerst einflussreiches Beispiel einer solchen antiesoterischen Konstruktion von Esoterik (genauer gesagt Gnosis) ist der besonders in amerikanischen konservativen Kreisen zur Kultfigur gewordene Politologe Eric Voegelin. In seinem Werk »Politische Religionen« interpretierte er 1939 moderne politische Massenbewegungen wie den Marxismus und den Nationalsozialismus als religiöse Bewegungen. 1952 wandte er in seinem Buch »Die neue Wissenschaft der Politik« auf sie den Begriff Gnosis an. Ausgehend vom Puritanismus des 17. Jahrhunderts definierte er das Wesen der politischen Gnosis als »pathologischen Versuch, ein Königreich transzendenter Vollkommenheit durch immanente historische Mittel zu verwirklichen.« Hanegraaff merkt an, dass diese Definition auf einer fundamentalen Verwechslung von Gnosis und milleniaristischen, apokalyptischen Bewegungen beruht, und dass sie – zu Unrecht – Gnosis mit Geisteskrankheit gleichsetzt.

Eine Geisteskrankheit ist sie laut Voegelin deswegen, weil sie etwas versuche, was von Natur aus unmöglich sei: die immanente Verwirklichung eines transzendenten Reiches. Die Natur, meint Voegelin, lässt sich nicht ändern, gerade das aber will der »gnostische Politiker«. Das politische Ziel, etwas Unmögliches zu verwirklichen, ist irreal, wer erklärt, eben dies zu beabsichtigen, kann nur geisteskrank sein. Gnostische Politik ist daher eine Geisteskrankheit. Da die Gnosis ihrem Wesen nach eine Geisteskrankheit ist, sind die Vertreter der »klassischen und christlichen Tradition« nicht verpflichtet, sie Ernst zu nehmen. Sie ist keine ernsthafte religiöse oder intellektuelle Option, sondern ein morbider Tumor, ein »krankhaftes Gewächs« innerhalb der westlichen Zivilisation, das nur mit medizinischen Mitteln bekämpft werden kann (die Sprache erinnert fatal an die nationalsozialistische [!] Argumentation gegen das Judentum). Die Krankheit muss geheilt werden, notfalls indem das Geschwür mit Gewalt aus dem Gesellschaftskörper herausgeschnitten wird. Voegelins Blick auf die Gnosis entspricht auch völlig, wie Versluis und andere gezeigt haben, dem Blick der mittelalterlichen Inquisition auf die Hexerei. Hier wie dort werden Ängste auf einen imaginären dämonischen Feind projiziert und die bereits vorhandene Paranoia verstärkt.

Später scheint Voegelin zwar eingesehen zu haben, dass der von ihm zugrunde gelegte Begriff der Gnosis abwegig war, und er scheint es 1959 in »Wissenschaft, Politik und Gnosis« mit einem anderen versucht zu haben. Nun definierte er Gnosis als eine »Erfahrung der Welt als fremden Ort, in den der Mensch verstoßen wurde, aus dem er seinen Weg zurück in eine andere Welt, seine wahre Heimat finden muss«. Nun ist Gnosis also nicht mehr der Versuch, eine transzendente Welt im Hier und Jetzt zu verwirklichen, sondern die Flucht aus der Immanenz in die Transzendenz. Allerdings zeigt eine nähere Betrachtung, dass der Schein trügt, denn das der Gnosis zugeschriebene Ziel lautet: »Zerstörung der alten Welt und Übergang in eine neue«. Aber in Wirklichkeit will der Gnostiker nach seinem Selbstverständnis nicht – wie der Milleniarist oder Apokalyptiker - in eine neue Welt, sondern er will in die alte zurück. Voegelin spricht auch weiterhin davon, der Gnostiker wolle die Seinsordnung zerstören, die von ihm als unvollständig und ungerecht erlebt werde, um sie mit einer vollkommenen und gerechten Ordnung zu ersetzen. »Spekulative Gnostiker« wie Hegel, Marx und Nietzsche sind in seinen Augen nichts als »intellektuelle Schwindler« mit »kranken Ideen«. Aber ihre Krankheit ist nun der prometheische »Aufstand gegen Gott«. Während die gnostische Geisteskrankheit früher im Versuch bestand, eine transzendente Weltordnung immanent zu machen, besteht sie nun schlicht in Größenwahn.

In einem Aufsatz über »Ersatzreligionen« weitet Voegelin 1960 den Begriff der Gnosis schließlich so weit aus, dass darunter die Überzeugung zu verstehen ist, die Welt sei nicht so, wie sie sein sollte und die Menschen könnten sie im Lauf der Geschichte verändern, indem sie aus der richtigen Erkenntnis handeln. Dieser Begriff lässt sich auf eine Vielzahl progressistischer moderner Projekte anwenden, und darum geht es auch: Voegelin redet in Wahrheit gar nicht von der Gnosis, mit deren historischen Erscheinungsformen seine Definition kaum etwas zu tun hat, sondern von aufklärerischen und postaufklärerischen Projekten, denen er ablehnend gegenüber steht.

Voegelins einflussreiche Theorie der »Gnosis« ist nach Hanegraaffs Auffassung lediglich eine verklausulierte, modernisierte Inkarnation traditioneller sektenkundlicher Begrifflichkeiten. Obwohl er sich nie zum Katholizismus bekannte, beruhen Voegelins Theorien auf der Vorstellung einer »großen, katholisch-christlichen Tradition«, der durch die Jahrhunderte ihre diabolischen Feinde gegenüberstanden. Begriffe wie das »Diabolische«, »Satanismus«, »Magie« und »Hexerei« durchziehen das gesamte Werk Voegelins, und er blieb sein Leben lang, teilweise bis zur Paranoia, von der melodramatischen Idee einer Verschwörung diabolischer Feinde gegen die große Wahrheitstradition besessen. Voegelins Sicht auf die »Gnosis« ist auf befremdliche Weise mit der des Perennialismus verwandt, der ebenso antimodernistisch und »traditionalistisch« eingestellt ist. Hanegraaff ist geradezu erschüttert vom Dogmatismus, mit dem Voegelin und seine Anhänger von der metaphysischen »Wahrheit« und dem »Irrtum«, von »Perversion« und »Krankheit« sprechen, und die Existenz einer selbstevidenten metaphysischen Wahrheit voraussetzen. Einer seiner führenden Interpreten, Gregor Sebba, kann als Illustration dienen. Er erklärt, warum alle Versuche, Voegelins Definition der Gnosis zu kritisieren, zum Scheitern verurteilt sind:

»Der Historiker kann von außen auf alte und neue Formen der Gnosis blicken, aber nur der, der teilhat an der Suche nach der Wirklichkeit als Ganzer, wird erkennen, was wirklich ein Gnostiker ist. Das ist Voegelins letztes, möglicherweise endgültiges Verständnis der Beziehung zwischen Modernismus, Gnostizismus und Geschichte.«

Das ist das perennialistische Argument: »Würdest du verstehen, würdest du zustimmen; wenn du nicht zustimmst, verstehst du offensichtlich nicht.« Der Historiker, der die Wahrheit, die Voegelin und seine Anhänger kennen, nicht akzeptiert, tut dies nicht, weil er sie nicht sieht, sondern, weil er sich weigert, sie zu sehen. Dadurch rückt er selbst gefährlich in die Nähe des angeblichen Satanismus der Gnostiker.

Besonders in der Soziologie ist Voegelins These bis heute von großem Einfluss. Das hängt nach Hanegraaff möglicherweise mit der starken propagandistischen Wirkung des Gnosisbegriffs zusammen. Denn Gnosis war von Anbeginn des Christentums der erklärte Feind der Wahrheit und die antihäretische Propaganda wurde durch die Aufklärung nicht wesentlich geschwächt, sondern wirkt weiter fort, bis in die gegenwärtigen säkularistischen Theorien der Esoterik hinein. Sowohl die Konspirationstheorie der Esoterik als auch ihre Interpretation als Geisteskrankheit, die in zeitgenössischen säkularistischen Konstruktionen von Esoterik eine zentrale Rolle spielen, sind letztlich auf theologische Ängste vor dem Erzfeind des wahren Glaubens zurückzuführen. (Hanegraaff hat diese These in seinem Essay über das »große polemische Narrativ« und in seinem Buch »Esoterik und Wissenschaft« weiter ausgeführt).

Nicht viel anders liegt der Fall beim Religionshistoriker Carl Raschke. In seinem 1980 erschienenen Werk »The Interruption of Eternity: Modern Gnosticism and the Origins of the New Religious Consciousness« führt er dieses neue religiöse Bewusstsein bis auf die antike Gnosis zurück, konzentriert sich aber besonders auf Entwicklungen seit dem 18. Jahrhundert, auf den Sturm und Drang, den deutschen Idealismus und die Romantik, den amerikanischen Transzendentalismus, den New Thought und den Nationalsozialismus. Er behandelt Gestalten wie Carlyle, Schopenhauer, Nietzsche, Yeats, Steiner, Gurdjieff, Ouspensky, Bergson, Jung und Hesse. All diese Bewegungen und Figuren sind seiner Ansicht nach in ihrem Wesen identisch. Die heutigen neuen Religionen sind lediglich Erscheinungsformen von Kräften, die seit 200 Jahren auf den Westen eingewirkt haben, deren Samen aber von der antiken Gnosis ausgestreut wurden. Die moderne Gnosis schließt nicht nur die verschiedenen Untergrundreligionen ein, sondern auch bestimmte Schlüsselhaltungen Intellektueller gegenüber dem Menschen, der Gesellschaft und Geschichte. Diese »Gnostiker der Letzten Tage« agieren durch die Hintertür gegen den »Fortschritt« der modernen, industriellen Welt. Sie revoltieren gegen den Verlauf der modernen Geschichte und suchen nach einer Erlösung in einer Sphäre der Überzeitlichkeit. Ihre Leidenschaft gilt nicht einem Leben im Hier und Jetzt mit all seinen Unwägbarkeiten und Kontingenzen, sondern der Erlösung in einem Jenseits der Überzeitlichkeit, in der Ewigkeit.

Raschkes Werk liegt die Auffassung von Gnosis als Revolte gegen Zeit und Geschichte zugrunde. Die Anwendbarkeit dieser Deutung auf die antike Gnosis ist mehr als zweifelhaft, aber von Interesse ist der neuerliche Versuch, Gnosis zu definieren, und aufgrund dieser Definition eine Tradition zu konstruieren. Raschke sieht diese Gnosis äußerst negativ, erkennt in der New Age Bewegung vor allem radikalen Individualismus und Narzissmus und meint, der vollständige Verlust eines sozialen Gewissens bei der »jüngsten gnostischen Brut« sei ein Zeichen des Untergangs der Mittelklasse mit ihren Werten, die von den Kräften der Moderne zermalmt worden sei. Die moderne Gnosis sei nicht etwa der Beginn eines neuen Lebens, sondern nur die Verlängerung der Wüste, die der zermalmende Fortschritt hinterlassen habe. Die Gnosis erblühe überall dort, wo der Sinn für die Gemeinschaft absterbe, Furcht vor der Zukunft wuchere, und jeder sich in einem seelischen Krieg um Anerkennung gegen alle anderen abhetze. Der Gnostiker strecke sich nicht zu neuen Ufern, sondern verschließe sich wie eine Molluske vor den zermalmenden Wogen der Geschichte. Er finde sein Glück im flackernden Leuchten seines eigenen Bewusstseins, das jedoch nichts anderes sein könnte, als eine Widerspiegelung der Flammen, die das Haus verschlingen, in dem er sitzt.

Während diesem Werk Raschkes noch akademische Seriosität attestiert werden kann, auch wenn es sich nicht mit Äußerungen von Antipathie zurückhält, lässt sich desgleichen nicht von einem anderen Buch Raschkes sagen, das 1990 unter dem Titel »Painted Black« erschienen ist (Auch auf diese Publikation geht Arthur Versluis ausführlich ein). »Painted Black« ist ein Beitrag zur Debatte über den Satanismus, die in den 1990er Jahren in den USA hysterische Züge angenommen hat. Während Gnosis im früheren Werk eine milde Form einer immer wiederkehrenden Geisteskrankheit ist, wird sie in »Painted Black« zu einer dämonischen Verschwörung der Mächte der Finsternis. Raschke kümmert sich nicht um klare Begriffsbestimmungen, Satanismus und Okkultismus verwendet er synonym. Er verknüpft den modernen Satanismus mit dem gnostischen und manichäischen »Dualismus«, der Vorstellung von der angeblichen Gleichwertigkeit (Gleichewigkeit) von Licht und Finsternis, Gut und Böse. Die Gnostiker, Katharer, Tempelritter, die Illuminaten Weishaupts gehören einer einzigen großen Verschwörung an. Durch die gesamte Geschichte des Abendlandes war sie am Werk, und alles, was mit dem Okkulten verknüpft ist, darf verdächtigt werden, Teil dieser Verschwörung zu sein. Der Kult des Geheimen wird als weiterer Beweis dafür angeführt, dass all diese Bewegungen finstere Geheimnisse besaßen, die sie vor dem Licht des Tages verbergen wollten.

Sowohl Voegelin und Raschke, als auch alle anderen Verschwörungstheoretiker, von denen hier eine ganze Reihe, auch deutsche Autoren, aufgezählt werden könnten, behaupten, sie deckten eine geschichtliche Tradition auf, aber ihre Beweisführung ist eher ideologisch als historisch. Der Grundgedanke ist der, dass alles, was durch ausreichende Abstraktion als ähnlich erwiesen werden kann, deswegen auch historisch miteinander verknüpft sein muss. Auf diese Art lässt sich eine Tradition konstruieren, deren Existenz nicht vom Nachweis tatsächlicher geschichtlicher Einflüsse oder der Übernahme bestimmter Ideen abhängt, sondern allein von der behaupteten angeblichen Universalität bestimmter Denkmuster. Hanegraaff wendet ein, dass Differenzen zwischen Denkern oft ebenso wichtig sind, als Ähnlichkeiten und dass die Behauptung von Beziehungen oder Abhängigkeiten, die sich allein auf Ähnlichkeiten stützt, leicht in die Irre führt. An dieser Stelle formuliert er eine Maxime, die für jede Art von Ideengeschichte Gültigkeit beanspruchen kann: »Wo immer historische Entwicklungen durch Einfluss und (Re)-Interpretation stattfinden, erlangen die in Rede stehenden Ideen konkrete Gestalt allein durch die persönlichen Beiträge der Person oder Gruppe, die jeweils in Betracht kommen.«

Demgegenüber missachten Verschwörungstheoretiker Differenzen und übergehen leichtfertig die Frage tatsächlicher historischer Beziehungen. Oft genügt ein Hinweis darauf, dass bestimmte Ideen in der Luft lagen, um den scheinbaren Nachweis zu führen, dass eine Person durch diese Ideen beeinflusst wurde. Was die betreffende Person mit diesen Ideen tat, interessiert nicht weiter, vorgeblich, weil solche Fragen die Einfachheit und Allgemeingültigkeit des Bildes beeinträchtigen. Die Bedeutung historischer Veränderungen wird zugunsten universeller Tendenzen des menschlichen Geistes abgewertet. Die antiesoterischen Autoren gleichen in dieser Hinsicht den proesoterischen. Auch sie gehen von begriffsrealistischen Vorannahmen aus.

Hanegraaff dagegen befürwortet ein empirisches Vorgehen: der Wissenschaftler hat keine Möglichkeit, das Echte vom Unechten, die Wahrheit vom Irrtum zu unterscheiden, aber er kann die Stufen historischer Veränderungen oder Verwandlungen der Gegenstände möglichst präzise beschreiben und sich eines Urteiles über das Wesen des Untersuchten enthalten.

Ebenso ahistorisch und antiesoterisch ist die »Soziologie des Okkulten«, für die exemplarisch Marcello Truzzi steht. Für Truzzi ist Okkultismus oder das Okkulte ein Restbegriff, ein »Papierkorb« für Wissensansprüche, die in irgendeiner Form abweichen, die sich nicht in die etablierten Wissensformen von Religion und Wissenschaft einfügen. Wenn solche Wissensansprüche vom Establishment akzeptiert werden, verlieren sie ihren Status okkult zu sein. Ein gemeinsames Merkmal all dieser Wissensformen ist, dass sie sich mit Dingen beschäftigt haben, die sich in das »allgemein anerkannte kulturelle Lagerhaus von Wahrheiten« nicht einordnen lassen. Es sind Wissensformen, die dem Common Sense oder dem institutionalisierten religiösen und wissenschaftlichen Wissen widersprechen. Dieser Widerspruch zu akzeptierten Überzeugungen lässt das Okkulte fremdartig, mysteriös und unerklärlich erscheinen. Es ist das Wesen des Okkulten, dass es mit nicht einfügbaren oder widerständigen Wissensansprüchen zu tun hat.

Hanegraaff hält dieses Verständnis von Esoterik nicht nur für völlig ahistorisch, es verhindert auch grundsätzlich jeden Versuch, Esoterik historisch zu erforschen. Denn es ignoriert die in Überfülle vorhandenen Beweise dafür, dass der Okkultismus nicht eine Reaktion auf die Moderne war, sondern vielmehr die moderne Fortführung von Traditionen, die der Formulierung einer modernistischen Weltsicht historisch weit vorausgingen. Indem diese Auffassung eine künstliche Trennung zwischen »Wissenschaft« und »dem Irrationalen« errichtet, ist sie gezwungen, den komplizierten Prozess zu ignorieren, in dem die Hermetik tatsächlich historisch die Formulierung der modernen Weltsicht beeinflusst hat. Sich dem Okkultismus nur negativ und indirekt zu nähern (als einem Gegensatz zu »der« wissenschaftlichen und rationalen Weltsicht) schließt jede Möglichkeit aus, ihn aus sich selbst und seinen eigenen Voraussetzungen zu verstehen. Es setzt außerdem voraus, dass ein solcher Versuch vergeblich sein würde. Okkultismus als irrational und unwissenschaftlich zu definieren, bedeutet, ihn zu Unsinn zu erklären. Warum soll man Ansichten erforschen, die sich ohne Zweifel als ungesund und verrückt, als bedeutungslos erweisen werden?

Ein soziologisches Studium des Okkultismus, das auf den Voraussetzungen Truzzis beruht, das sich weder für die Ansichten noch die Geschichte des Okkultismus interessiert, ist in Wahrheit überhaupt kein Studium des Okkultismus. Tatsächlich interessieren sich die meisten Soziologen für den Okkultismus auch nur als geläufiges Anschauungsmaterial, das sie für ihre reduktionistischen Theorien der Abweichung (Devianz), für eine Soziologie des Irrtums heranziehen können. Der Begriff der »Devianz« stellt einen Begriffsrahmen zur Verfügung, der es ermöglicht, okkultistische Gruppen lediglich als persönliches oder soziales Problem zu betrachten. Der gesamte Okkultismus wird zu einem Ausdruck der Entfremdung, Gesetzlosigkeit, Entbehrung oder der Flucht ins Irrationale.

Soziologie ist nicht gänzlich zu verwerfen, sie sollte aber kompatibel mit einer historischen Perspektive sein.

In summa wird deutlich, dass sowohl die proesoterische als auch die antiesoterische Konstruktion der Esoterik nach Hanegraaffs Auffassung hochgradig ideologiebelastet ist. Die religionsförmige Interpretation verwechsle Esoterikforschung mit Verkündigung von Esoterik, die antiesoterische mit der Verkündigung nicht-esoterischer Glaubensüberzeugungen.

Historische Konstrukte: Antoine Faivre, Gershom Scholem, Joseph Dan und Dan Merkur

Hanegraaff wendet sich nun Beispielen einer Esoterikforschung zu, die er selbst für vorbildlich hält.

Faivre hat, wie wir wissen (siehe den Beitrag »Esoterik als Denkform«), die Esoterik als Denkform interpretiert, die durch sechs Merkmale gekennzeichnet ist. Sie wird in der Renaissancezeit historisch greifbar, obwohl ihre einzelnen Komponenten weit älter sind. Nach Faivre kann man die Esoterik als einen Ideenkomplex betrachten, als ein Gewebe miteinander verknüpfter Ideen, die durch Familienähnlichkeit verbunden sind. Eine esoterische Tradition ist demgemäß ein historisches Gebilde, das aus Menschen besteht, die in ihrem Leben oder Denken von bestimmten esoterischen Ideen beeinflusst sind. Eine diachrone Untersuchung dieser esoterischen Traditionen, die die Unumkehrbarkeit der historischen Zeit berücksichtigt, muss genetisch sein, sie muss die Filiationen dieser Ideen durch die Zeit verfolgen, weder mit der Absicht, ihre trans- oder metahistorische Einheit zu beweisen, noch mit der Intention, historische Vorläufer von Lieblingsideen zu finden. Sie soll vielmehr die komplexen Wege klären, auf denen Menschen die ihnen zugänglichen Ideen einer vergangenen Zeit aufgreifen, übernehmen, (wieder-)interpretieren und (wieder-)konstruieren. Eine solche genetische Untersuchung schließt die Entdeckung relativ konstanter Faktoren nicht aus.

Faivre ist zu seinen Generalisierungen auf induktivem Wege gelangt: durch die Untersuchung historischer Traditionen und ihrer schriftlichen Überlieferungen. Man kann die Frage aufwerfen, was seine ursprüngliche Entscheidung bestimmte, sich gerade mit diesen Traditionen zu beschäftigen und nicht mit anderen. Die Antwort ist, dass bereits ein »intuitives Vorverständnis«, ein »allgemeiner Konsens« über die Existenz einer Familienähnlichkeit bestimmter historischer Phänomene, Texte und Bewegungen bestand. Insofern hat Faivre lediglich einen bestimmten Zusammenhang explizit herausgearbeitet, der schon lange implizit vorausgesetzt wurde.

Hier wäre der Ort, auf eine weitere Frage zu kommen, die Hanegraaffs Betonung des konstruktivistischen Charakters von Esoterik unweigerlich aufwirft: ist diese Familienähnlichkeit, die schon immer implizit vorausgesetzt wurde, nicht vielmehr Ausdruck für die Existenz eines ideellen Gebildes, das man als »Esoterik« bezeichnen könnte? Handelt es sich nicht doch um ein »Wesen«, das sich in all diesen Familienähnlichkeiten ausdrückt, das in den unterschiedlichen historischen Erscheinungsformen immer schon gesehen wurde, dessen Existenz man voraussetzen muss, wenn man überhaupt von Familienähnlichkeit sprechen will? Ist dieses implizite Wissen um die Familienähnlichkeit nicht einfach die Folge einer begriffsrealistischen Tatsache, die man leugnet, um nicht dem Vorwurf des Essentialismus ausgesetzt zu sein, den man seinerseits dem Traditionalismus zum Vorwurf macht? Ist die Beschwörung der Empirie nicht lediglich ein Ritual, das verschleiern soll, dass man in Wirklichkeit einer anderen Agenda folgt, einer esoterischen Agenda, die vielleicht für einen selbst esoterisch ist? Letztlich ist das eine Frage, die nur Hanegraaff selbst beantworten kann. Gerade hier drängt sich jedoch der Verdacht auf, dass der ganze konstruktivistische Überbau lediglich eine Alibiveranstaltung ist, ein soziales Ritual, um einer bestimmten Diskursgemeinschaft Reverenz zu erweisen, von der man nicht ausgeschlossen oder in die man eingeschlossen werden möchte. Wie dem auch sei – sehen wir zu, wie Hanegraaffs weiterer Argumentationsgang verläuft, der sich im Folgenden mit einem ähnlichen Problem der Religionswissenschaft beschäftigt, um daran das methodische Vorgehen Faivres zu erläutern.

Denn auch bei der Definition von »Religion« tritt das Problem auf, dass eine »präreflektive Intuition«, die weit verbreitete Annahme, »dass so etwas wie Religion existiert«, in eine wissenschaftliche Sprache übersetzt werden muss. In beiden Fällen gibt es zwei Möglichkeiten: 1. Man kann versuchen, das »Wesen« von Religion zu bestimmen. Das würde erlauben, zwischen wahrer Religion und Phänomenen zu unterscheiden, die der wahren Religion nur ähnlich sind. 2. Oder man kann die Existenz eines Wesens der Religion verneinen und behaupten, ein solches lasse sich empirisch nicht erfassen. Nach allgemeiner Auffassung »der Religionswissenschaftler« gibt es keinen überzeugenden Grund für die Annahme, es existiere »so etwas wie Religion« im Singular. Vielmehr existieren lediglich Religionen im Plural und diese können als Mitglieder einer gemeinsamen Klasse betrachtet werden, nicht weil sie ihrem Wesen nach ähnlich sind, sondern weil sie bestimmte empirische Ähnlichkeiten besitzen. Jede »essentialistische« Definition von Religion ist danach unweigerlich Ausdruck der persönlichen, religiösen oder ideologischen Überzeugungen des Definierenden – und insofern unwissenschaftlich. Dasselbe gilt für essentialistische Definitionen von Esoterik.

Die Frage ist nur, wie man »empirisch« Familienähnlichkeiten erkennt. Deren Vorhandensein oder Kenntnis wird von Hanegraaf und den »empirischen« Religionswissenschaftlern einfach vorausgesetzt. Setzt diese Erkenntnis nicht einen Begriff der Ähnlichkeit voraus, den man nicht selbst wieder aus der Erfahrung schöpfen kann, weil man sonst in einen unendlichen Regress verfällt? Empirische Religions- oder Esoterikforschung fällt demnach der Aporie des Empirismus zum Opfer, der nicht-empirisch voraussetzt, was er empirisch begründen will.

Der nominalistische Weg hat außerdem den Nachteil, dass man Religion nur operational als »das« definieren kann, »was als Religion betrachtet wird« oder sich selbst als solche bezeichnet. Man geht von der Beobachtung aus, dass trotz der extremen Verschiedenartigkeit der Religionen eine Art Familienähnlichkeit zwischen allen besteht. Die religiösen Phänomene, die zu dieser Familie zu gehören scheinen, werden untersucht, aufgrund dieser induktiven Untersuchung werden Generalisierungen vorgeschlagen, die die empirischen Ähnlichkeiten auf den Begriff bringen sollen. Diese Verbegrifflichungen bleiben jedoch stets kritisierbar. Ebendies ist auch die Methode, nach der Faivre laut Hanegraaff verfährt. Wenn man die inhärente Begrenzung der empirischen Methode berücksichtigt, dass sie nicht imstande ist, Wahrheit von Irrtum oder Schein zu unterscheiden, dann hält er ein solches Vorgehen bei der Abgrenzung eines Gegenstandsfeldes für legitim. Die interpretativen (etischen) Beimischungen werden explizit gemacht und sind somit kritisierbar. Faivres Generalisierungen der sechs Merkmale von westlicher Esoterik seit Beginn der Neuzeit sind keine abschließende Definition des Wesens von Esoterik, sondern lediglich vorläufige Zwischenergebnisse eines offenen Diskussionsprozesses.

Obwohl der Ausgangspunkt von Faivres Definition historisch-geographisch klar umgrenzt war, schließen seine Komponenten laut Hanegraaff nicht aus, dass sie auch auf andere historische Epochen oder geographische Gebiete ausgeweitet werden. Faivre selbst spricht davon, dass die Komponenten der Esoterik bereits vor der Renaissance bestanden. Daraus ergibt sich die Frage, wann eigentlich der Beginn der Esoterik als »Denkform« anzusetzen ist und ob sie auf den Westen beschränkt werden kann. Wie der Begriff der Renaissance schon sagt, ist sie eine Wiedergeburt. Die Rede von der »neoalexandrinischen Hermetik« setzt die Existenz einer solchen Hermetik in Alexandria voraus. Aber wo kommt diese her? Ebenso in der Religionswissenschaft: wo liegt der Ursprung »der« Religion bzw. der einzelnen Religionen?

Noch drängender wird die Frage nach dem Ursprung in der Esoterikforschung, wenn man die vielfältigen Interaktionen zwischen christlichen, jüdischen und islamischen Elementen in jenen Traditionen berücksichtigt, die in der Renaissance zu einer neuen Einheit verschmolzen worden sind. Faivres Generalisierungen sind auf die christlichen Traditionen seit der Renaissance zugeschnitten und es ist offen, inwieweit sie auf jüdische und islamische esoterische Bewegungen angewendet werden können. Eine umfassendere Definition, die auch die jüdischen und islamischen Traditionen einschließt, ist ein Desiderat.

Die wissenschaftliche Erforschung der jüdischen Mystik scheint für eine solche Ausweitung der Faivreschen Definition ein Modell zu liefern. Hanegraaff hält die von Gershom Scholem praktizierte historisch-empirische Methode für vorbildlich.

Scholem hat eine ganze wissenschaftliche Disziplin praktisch aus dem Nichts geschaffen. Sein Projekt einer mystischen Gegen-Geschichte geht auf ein ganzes Bündel von persönlichen und objektiven Motivlagen zurück. Die Idee einer Gegengeschichte beruht laut David Biale auf der Vorstellung, die »wahre Geschichte« liege in einer unterirdischen Tradition, die erst ans Licht gebracht werden muss. Gegengeschichte ist eine Art von revisionistischer Geschichtsschreibung, aber während der Revisionist eine neue Deutung oder neue Fakten vorlegt, deutet der Gegenhistoriker die alten um. Er bestreitet nicht die Richtigkeit der Deutungen seiner Vorläufer, aber er bezweifelt deren Vollständigkeit. Er behauptet, es gebe eine Standardgeschichte, aber die wirkenden Kräfte lägen in einer verborgenen, ignorierten Tradition. Eine solche Gegengeschichte zu den offiziellen Geschichtserzählungen hat Hanegraaff selbst in seinem Aufsatz über den polamischen Diskurs vorgelegt, den er 2011 zum Buch »Esoterik und Wissenschaft« ausgearbeitet hat.

Abgesehen von der Behauptung, die »wahre« Geschichte und »die« wirkenden Kräfte aufzudecken, ist dies laut Hanegraaff eine gültige Definition dessen, was unter historischer Motivation für die Konstruktion von Esoterik zu verstehen ist. Scholems Zugang zur jüdischen Mystik kann als empirische Alternative zum proesoterischen »Religionismus« und zum antiesoterischen »Reduktionismus« betrachtet werden. Die antiesoterische Haltung zur jüdischen Geschichte stand Scholem im bedeutendsten jüdischen Historiker des 19. Jahrhunderts, in Heinrich Graetz vor Augen, für den die jüdische Mystik lediglich ein »Abfallprodukt« des wahren Judentums war, ein stets von neuem aufflammendes Feuer des »Irrationalismus«, das sich ohne historischen Zusammenhang durch die Jahrhunderte zog. Die Kabbala war für ihn nur die Schale einer Schale, ein »parasitischer Auswuchs« ohne jeden organischen Zusammenhang mit dem Wesen des Judentums. Für Graetz war die jüdische Mystik eine Krankheit des Geistes, ebenso wie für Raschke oder Truzzi die Esoterik.

Gegen Graetz stellte Martin Buber eine proesoterische, religionsförmige Haltung. Er war da überzeugt, dass die Mystik auf realen inneren Erfahrungen und Erlebnissen beruht. Diese Erlebnisse sind laut Buber intuitive Erfahrungen der Einheit mit der Welt und das höchste dieser Erlebnisse ist die Erfahrung der Einheit mit Gott. Scholem setzte sich sowohl von Graetz als auch von Buber ab. Buber schien ihm moderne Begriffe auf historisches Material zu projizieren. Der »mystischer Expressionismus« Bubers widerstrebte seinem historischen Sinn, der in jeder Erscheinungsform von Mystik etwas Singuläres sah. Buber glaubte an die Existenz einer Mystik als eigenständige Realität, an eine überrationale Erfahrung, die allen Formen der Mystik und allen ursprünglichen Religionen gemeinsam ist. Da dieses mystische Erlebnis nicht durch Worte ausgedrückt werden konnte, überstieg es jede historische Tradition. Im Endergebnis ähnelte Bubers Sicht auf die jüdische Mystik auf ironische Art jener von Graetz.

Laut Biale war Offenbarung für Buber eine außerhistorische Tatsache. Geschichte und Zeit sind Schöpfungen des Menschen. Aus Gottes Sicht ist die Offenbarung immer gegenwärtig, aus der Sicht des Menschen ereignet sie sich in der Geschichte. Wer offen für die Offenbarung ist, der überschreitet nach Buber die Sphäre der Geschichte und eignet sich den Blick Gottes auf die ewige Gegenwart an. Aber solche mystischen Erfahrungen können nicht in einer Geschichte mystischer Tradition erfasst werden. So war seine Gegengeschichte auch keine wirkliche Geschichte, sondern eine Wiedererzählung vergangener mystischer Erlebnisse, die darauf abzielte, die Leser zu erbauen oder zu inspirieren. Das wahre Judentum konnte keine Geschichte haben, da Bubers Theologie die Möglichkeit einer solchen Geschichte untergrub. Wie Graetz glaubte er nicht an eine Geschichte der Mystik, aber er zog daraus eine entgegengesetzte Konsequenz: der Mangel an Geschichtlichkeit ist das Merkmal jener höheren mystischen Erfahrungen, die letztlich nicht mitgeteilt werden können.

Hanegraaff erkennt hier eine allgemeine Tendenz des religionistischen Zugangs, der weniger um die Erforschung des Unbekannten bemüht sei, als darum, die Leser zu erbauen, oder wie der Perennialismus lediglich historische Illustrationen metaphysischer Wahrheiten auszubreiten. Obwohl Scholem die Geschichte empirisch erforschen wollte, sei er deswegen aber nicht an der mystischen Dimension uninteressiert gewesen. Diesen Umgang Scholems mit Empirie, das ein Interesse für mystische Dimensionen nicht per se ausschließt, hält Hanegraaff für verallgemeinerbar.

Wenn Scholem für Hanegraaff Vorbild ist, dann gelten Scholems Äußerungen in einem Brief an Zalman Schocken aus dem Jahr 1937 auch für Hanegraaff: Scholem meint, Geschichte scheine eine grundlegende Illusion zu sein, in der zeitlichen Welt sei ein Einblick in das Wesen der Dinge ohne Geschichte aber nicht möglich. Für den heutigen Menschen werde die mystische Totalität der Wahrheit, die verschwinde, wenn man sie in die historische Zeit projiziere, nur sichtbar in der strengen Disziplin des Kommentars und im Spiegel der philologischen Kritik. Sein Werk, so Scholem, lebe von diesem Paradoxon: in der Hoffnung auf eine Mitteilung der Wahrheit von der Höhe des Berges (eine Anspielung auf Moses), auf jenen unscheinbaren Bruch der Geschichte, der die Wahrheit dazu veranlasse, durch die Illusion der Entwicklung hindurchzuleuchten.

Obwohl Scholem von spirituellen Motiven bewegt war, ist sein Werk für Hanegraaff ein Vorbild empirischer Forschung. Umso mehr erhebt sich die Frage, warum er selbst sich zu seinen spirituellen Motiven nicht bekennt.

Scholems Zugang zur jüdischen Mystik ist nach Biale von einem positiven Verständnis der Sprache als eines Instruments der Vermittlung von Tradition geprägt. Buber glaubte, die schwer fassbare Natur ihrer Erfahrung habe die Mystiker zu einer poetischen Sprache gedrängt. Scholem dagegen hielt nicht die Mystiker für verwirrt, sondern die heutigen Leser für unverständig. Sie seien nicht imstande, das präzise, technische Vokabular der Mystiker zu verstehen. Die mystischen Texte verlangten nicht nach einer poetischen Übersetzung, sondern nach exakter Philologie. Während Buber und andere nach den universellen Grundzügen der religiösen Erfahrung suchten, hielt Scholem jede Art von Mystik für historisch einzigartig. Er meinte, die jüdische Mystik scheue davor zurück, die höchste Erfahrung sprachlich zum Ausdruck zu bringen, und betrachte dennoch die Sprache als Gottes ureigenstes Mittel der Offenbarung. Die Kabbalisten seien weniger daran interessiert gewesen, ihre eigenen Erfahrungen zum Ausdruck zu bringen, als die Texte anderer mystisch zu deuten. In ihren Kommentaren griffen sie zur Symbolik, um Gott indirekt zu beschreiben. Für die Mystiker, so Scholem, sind die Symbole nicht zufällig oder subjektiv, sie haben eine innere Wesensbeziehung zu dem, was sie symbolisieren. Sie sind der Niederschlag der göttlichen Namen in der menschlichen Sprache. Der Glaube der Kabbalisten an die Sprache war Ausdruck ihrer Überzeugung, die Symbole bildeten eine Brücke zwischen der göttlichen und der menschlichen Sprache. In der modernen technologischen Welt, in der die Phantasien des Menschen in eine private Sphäre zurückgedrängt worden sind, ist das Fehlen öffentlicher Symbolik ein Zeichen für eine Krise der Sprache. Die Skepsis Bubers gegenüber der Sprache war insofern Ausdruck seines eigenen Säkularismus, da er nicht mehr glauben konnte, die Sprache sei fähig, das Unaussprechbare zu symbolisieren

Wenn diese Deutung zutrifft, dann, so Hanegraaff, ist es nicht der religionsnahe Universalist, der als der beste Freund des Esoterikers in einer skeptischen Welt betrachtet werden darf, sondern ein empirischer Historiker wie Scholem, der sich um die Rekonstruktion einer fremdartigen Weltsicht bemüht.

Scholems Überzeugung von der technischen Präzision der mystischen Sprache jedenfalls erlaubt es nach Biale, die Mystik als eine »zusammenhängende Tradition des Kommentierens« zu betrachten, statt in ihr eine unzusammenhängende Ansammlung mystischer Erfahrungen zu sehen. Die Kabbala war ein theosophisches System von Spekulationen über Gott und seine Beziehung zum Kosmos. Da sie eine spekulative, theoretische Bewegung war, konnte sie derselben philologischen Behandlung unterzogen werden, wie die Philosophie. Ihre Begriffe konnten präzise definiert und die Geschichte ihres Gebrauchs philologisch erforscht werden. Scholem konnte die jüdische Mystik wie ein philosophisches System behandeln, da der gnostische Mythos, der ihr seiner Ansicht nach zugrunde lag, philosophische Fragestellungen aufgriff und eine philosophische Sprache verwendete. Die jüdische Mystik war nach Scholem gleichzeitig eine Philosophie, die sich mythischer Bilder bediente und ein Mythos, der in einer philosophischen Sprache geschrieben wurde.

Der Nachfolger Scholems an der hebräischen Universität von Jerusalem, Joseph Dan, hat nun versucht, eine allgemeine Theorie der Esoterik für die drei großen Schrifttraditionen zu formulieren. Seine Methode, die er als »Methode der Kontingenz« bezeichnet, ist empirisch. Sie geht von einzelnen Fällen aus und versucht aus ihrem Vergleich allgemeine Begriffe zu entwickeln.

In Abgrenzung zu religionistischen Forschern plädiert er dafür, als erstes darauf zu verzichten, den Begriff »Mystik« auf reale mystische Phänomene anzuwenden. Nach ihm unterscheiden sich die mystischen und nichtmystischen Anhänger einer Religion vor allem durch ihr Verhältnis zur Sprache. Mystik könne man daher als eine bestimmte Auffassung der Sprache definieren. Er selbst hält seine Herangehensweise für nominalistisch. Es gehe nicht darum, den Wahrheitsgehalt der Mystik zu untersuchen, dem Historiker ohnehin nicht, da es für ihn eine Mystik im Singular nicht gebe. Er untersuche das Detail, die besondere Erscheinung. Er versuche zu zeigen, wie sich der eine vom anderen Mystiker unterscheide oder sogar, wie sich ein einzelner Mystiker im Lauf seines Lebens wandle. Historische Forschung ist laut Dan die Beschäftigung mit dem Individuellen. (»Individualisierung« als historische Methode im Gegensatz zur »Generalisierung« der Naturwissenschaften, ist allerdings keine neue Idee).

Hanegraaff sieht in diesem Hinweis das Wesen der empirisch-historischen Methode. Auch Faivre gehe genau diesen Weg. Für ihn gebe es kein »Ding« namens Esoterik, sondern nur eine Vielzahl von Esoterikern und Esoteriken. Dan definiere Mystik nicht als ein zeitloses Wesen, sondern befasse sich mit Einzelfällen, was der Auffassung aller Mystiker in den drei Schriftreligionen entspreche, da die Mystik den Wahrheitsgehalt der kommunikativen Sprache verneine und stattdessen an eine nichtkommunizierbare Wahrheit glaube, die auf symbolische Art in der geoffenbarten Sprache verborgen sei.

Dieser Ansatz ist nach Hanegraaff mit dem Scholems vergleichbar, für den die Mystik eher eine zusammenhängende »Tradition der Kommentierung« ist, als die Ansammlung einer Vielzahl einzelner mystischer Erfahrungen. Daher konzentriert sich die Untersuchung bei Scholem auf all die Einzelnen und Gruppen, die Schrift auf symbolische Art deuten und die Deutungen der anderen deuten, da nach ihrer Auffassung die letzte Wahrheit die bloß diskursive Sprache übersteigt.

Für Dan ist die Frage der Anfänge von zentraler Bedeutung. Jeder Beginn einer mystischen Strömung in einer bestimmten Tradition muss im Zusammenhang einer besonderen Gruppe von Menschen gesucht werden, die neue Arten von Erfahrungen entwickelten, neue Arten von Abhandlungen schrieben, neue Begriffe und Symbole verwendeten und eine neue Beziehung zur herrschenden religiösen Kultur ihrer Zeit entwickelten. Diese Suche nach den Anfängen steht im Widerspruch zu der Auffassung promystischer, religionsnaher Forscher, deren Annahme von der Zentralität der mystischen Vereinigungserfahrung davon ausgeht, dass die mystische Wahrheit zu allen Zeiten dieselbe ist, jenseits der Zeit und jenseits der Geschichte liegt. Die kontingente, historische und empirische Methode dagegen sucht nach den schöpferischen und individuellen Aspekten, im Gegensatz zu der Ewigkeit der absoluten, unveränderlichen Wahrheit, die jede Möglichkeit von Kreativität verneint und die Rolle des einzelnen Mystikers als eines Individuums mit seinem einzigartigen Beitrag zur Geschichte der menschlichen Spiritualität ignoriert.

Dieser Gedanke bringt nach Hanegraaff das Wesen der empirischen Methode zum Ausdruck. Um die Integrität des einzelnen Mystikers zu verteidigen, muss diese Methode ironischerweise den mystischen Universalismus verneinen und die Kontingenz betonen. »Mystik« ist ein »Gattungsname« für die Gemeinschaft der Mystiker, genauso ist »Esoterik« ein »Gattungsname« für die Gemeinschaft der Esoteriker. Soweit es den Historiker angeht, sind Mystiker nicht deshalb Mystiker, weil sie irgendeinem »Wesen der Mystik« entsprechen, das bestimmte Wissenschaftler als solches definiert haben.

Dan Merkur: die Bedeutung mystischer Techniken, Schulungswege

Scholem und Dan konstruieren Mystik oder Esoterik als eine zusammenhängende Tradition des Kommentierens und nicht als eine Reihe einzelner mystischer Erfahrungen. Das verneint nicht die Möglichkeit solcher mystischer Erfahrungen oder ihre Bedeutung für die Ideen der Mystiker und Esoteriker. Es bedeutet nur, dass eine Tradition im historischen Sinn des Wortes auf Erfahrung allein nicht begründet werden kann. Der Ansatz von Scholem und Dan vernachlässigt den Erfahrungsaspekt, aus dem einfachen Grund, weil Texte wesentlich leichter zugänglich sind als Erfahrungen. Dan Merkurs Buch »Gnosis: An Esoteric Tradition of Mystical Visions and Unions« (1993) weist auf diesen Punkt hin. Schon der Titel stellt eine Kritik an manchen künstlichen Abgrenzungen zwischen Gnosis, Esoterik und Mystik dar. Für Merkur ist die Gnosis allen drei Schriftreligionen gemeinsam. Auch er bemüht sich um historische und empirische Forschung.

Merkur kritisiert die Vorstellung, es gebe so etwas wie »die« mystische Erfahrung, die zu allen Zeiten und Orten dieselbe sei. Die empirische Untersuchung zeigt vielmehr, dass die sogenannten Mystiker von einer Vielzahl unterschiedlichster visionärer und unitiver Erfahrungen berichten. »Das« mystische Erlebnis Bubers findet sich im empirischen Material nicht wieder. Daher versucht Merkur die Mystik von ihrer sozialen Rolle her zu definieren.

Was aus seiner Sicht Mystiker von anderen religiösen Ekstatikern unterscheidet, ist ihre gesellschaftliche Position. Schamanen, Propheten und Medien üben eine gesellschaftliche Funktion aus, sie nehmen für ihre Gemeinschaft Kontakt mit den Göttern oder Geistern auf. Die Mystiker dagegen genießen keine gesellschaftliche Autorität. Die meisten Mystiker gehören Schriftreligionen an, die den Schriften und ihren Interpreten die Autorität zuweisen. Manchmal gibt es auch Mystiker in mündlichen Religionen, in denen die Autorität fest im Ritual verankert ist. Überall wo Mystiker vorkommen, gestehen die Religionen den Mystikern keine gesellschaftliche Autorität zu. Diese Tatsache wirkt sich auf die Erfahrungen aus. Um Konflikte mit den Autoritäten ihrer Religion zu vermeiden, sehen die Mystiker sich gezwungen, Erfahrungen rein privater Natur zu suchen. Solche Erfahrungen können auf allen möglichen Wegen erreicht werden. Die mystische Vereinigung ist nur einer von vielen. Überall aber geht der Weg nach innen, da die Öffentlichkeit das Feld der Autoritäten ist.

Aber Merkur geht es in erster Linie um die mystische Erfahrung. Diese mystische Erfahrung bezeichnet der Begriff »Gnosis«, die nach ihm eine esoterische Tradition mystischer Visionen und Verschmelzungen ist im Gegensatz zu Traditionen des Kommentierens und Interpretierens. Merkur will eine Geschichte visionärer Praktiken im Abendland schreiben. Ein solches Vorhaben, die Praxis, die spirituellen Techniken zu untersuchen, wird von Hanegraaff begrüßt. Herkömmliche Forschungen haben Ideen und Glaubensinhalte meist bevorzugt und Praktiken und Techniken vernachlässigt. Man könnte leicht den Eindruck haben, Glaubensinhalte seien alles gewesen, was die Gläubigen interessiert hätte, während es wohl eher die Theologen und Philologen waren, die sich für diesen Aspekt der Religion vorrangig interessierten. Moderne Historiker sollten sich von dieser Einseitigkeit befreien und ein größeres Augenmerk auf die religiösen Praktiken lenken.

Aber Hanegraaff zweifelt daran, ob es überhaupt möglich ist, eine »Geschichte« der visionären Praktiken zu schreiben. Wenn es nur eine einzige Form mystischer Erfahrung gäbe, wäre das natürlich widersinnig. Da es aber eine Vielzahl solcher Erfahrungen gibt, und sich alle voneinander unterscheiden, hält Merkur dies für möglich. Ebenso, wie komplexe mystische Lehren gelernt werden müssen, um übermittelt werden zu können, müssen auch Techniken zur Herbeiführung und Kontrolle mystischer Erfahrungen gelernt werden. Die gewählte Technik beeinflusst den Inhalt der Erfahrung und trägt so zur spezifischen Ausformung der mystischen Lehren bei. Hier ist also von Schulungswegen oder Einweihungswegen die Rede.

Merkur versucht zunächst die Vielzahl mystischer Erfahrungen in eine begrenzte Anzahl psychischer Zustände zusammenzufassen. Er unterscheidet Ekstasen mit und ohne Trance. Letztere bezeichnet er als Tagträume. Erstere lassen sich nach ihrer Intensität und ihrem Inhalt unterscheiden. Was den Inhalt anbetrifft, so spricht Merkur von narrativen Ekstasen (Visionen), Vereinigungsekstasen (introspektiven, extrospektiven oder Kommunion) und der Erfahrung der Leere. Merkur greift auf Texte zurück, deren Erfahrungsberichte er diesem oder jenem psychischen Zustand zuordnet. Er nimmt an, dass diese verschiedenen Erfahrungsarten jeweils mit bestimmten Techniken zusammenhängen. Allerdings wird dieser Gedanke nach Hanegraaffs Meinung zu wenig durchgeführt. Merkur beschäftigt sich ausführlich mit der aktiven Imagination C.G. Jungs, deren Technik jedoch ebenfalls vage bleibt. Es gibt bei Merkur erstaunlicherweise keine systematische Untersuchung der Beziehung zwischen bestimmten Techniken und bestimmten Erfahrungsarten. Diese wäre aber nach Hanegraaff erforderlich, um die Geschichte der westlichen Gnosis nach Hinweisen auf die unterschiedlichen psychischen Zustände abzusuchen und diese zu bestimmten Techniken in Beziehung zu setzen. Schließlich müsste eine solche Untersuchung sich mit der äußerst schwierigen Frage befassen, welche Beziehung genau zwischen der Erfahrung und den kulturell vermittelten Inhalten der jeweiligen Erfahrung besteht. Merkurs Diskussion dieser Frage ist unvollständig. Nach Zehner spiegeln Unterschiede in der Lehre Unterschiede in der Phänomenologie der Erfahrungen wieder, nach Owen beeinflussen der Glaube, die Praktiken und die Erwartungen des Mystikers seine Erfahrungen, Arbman behauptet sogar, Ekstasen verwandelten religiöse Ideen in religiöse Erfahrungen und mehr nicht. Entweder folgen also Interpretationen den Erfahrungen oder die Erfahrungen sind Folge ihnen vorausgehender Bedingungen oder Erfahrung und Interpretation stellen zwei unterschiedliche Ebenen dar. Merkur spricht von einem Konsens, dass persönliche, kulturelle und universelle Faktoren miteinander verflochten seien. Hanegraaff meint jedoch, dieser Konsens sei nicht mehr als das Zugeständnis, dass die Wissenschaft in dieser Frage keine wirklichen Erkenntnisse besitze.

Dieses Zugeständnis ist ernüchternd. Womit, kann man fragen, hat sich eigentlich die Religionswissenschaft in den letzten hundert Jahren beschäftigt, wenn sie nach Auffassung von Hanegraaff bis heute keinerlei Einsicht in die zentrale Frage gewonnen hat, welche Erfahrungen der Existenz von Religion zugrunde liegen? Auch für das Verständnis von Esoterik ist diese Frage von zentraler Bedeutung, spielen doch laut Faivre die Konstanten der Imagination, Meditation und Transmutation in jeder Esoterik eine herausragende Rolle. Dabei handelt es sich aber um Erfahrungen: Erkenntniserfahrungen und Wandlungserfahrungen, ohne die die Existenz von Esoterik gar nicht denkbar wäre. Gibt es eine Erfahrungsgrundlage für die esoterischen Ideensysteme oder sind diese lediglich Spekulationen, die aus Kommentaren zu Kommentaren gewonnen werden? Wenn für Gnosis ebenso wie für Esoterik (und Mystik) der Gedanke zentral ist, dass sie auf einer Art von innerer Erfahrung beruhen, zu der bestimmte Wege – Schulungswege – hinführen, müsste dann nicht das vordringlichste Interesse der Esoterikforschung sein, eben diese Erfahrungswege systematisch zu untersuchen? Kann aber der Zusammenhang zwischen bestimmten psychischen Techniken und den Erfahrungen, zu denen sie führen, bloß theoretisch untersucht werden? Wäre es nicht erforderlich, auf Beobachtungen statt auf Interpretationen, auf konkrete Erfahrungen, statt auf bloße Spekulationen zu rekurrieren? Muss aber, wenn dies der Fall ist, der Esoterikforscher nicht notgedrungen zum Esoteriker werden, der Theoretiker zum Praktiker, wenn er aus wirklicher Empirie und nicht bloß aus Pseudoempirie (der Untersuchung von Texten und Dokumenten) über Esoterik sprechen will? Es sei hier an die Unterscheidung Steiners zwischen dem Yogaweg, dem christlich-gnostischen und dem rosenkreuzerischen Schulungsweg erinnert, die auf eine ebensolche Typologie spiritueller Erfahrung abzielt und an seine verschiedensten Ausführungen über die Methodologie mystischer (esoterischer) Erkenntnis. Führen alle Techniken zu denselben Ergebnissen oder bestimmen die Techniken nicht vielmehr den möglichen Inhalt der Erfahrung? Man könnte in der Tat eine Typologie der Esoteriken und auch eine Geschichte derselben auf einer Untersuchung der spirituellen Techniken aufbauen und das Vorhandensein oder Fehlen solcher Techniken zu einem Kriterium erklären, das es ermöglicht, wirkliche Esoterik von bloßer Spekulation zu unterscheiden.

Hanegraaff jedenfalls findet die Typologie psychischer Zustände, die Merkur entwickelt überzeugend. Aus einer Typologie der mystischen Erfahrungsformen allein lässt sich aber seiner Auffassung nach noch keine Tradition entwickeln. Eine Tradition, die auf der Weitergabe von Techniken beruht, wäre denkbar, aber Merkur versäumt es laut Hanegraaff, den Nachweis einer solchen zu führen. Das hängt laut Hanegraaff einerseits mit einem Mangel an Dokumentation zusammen, aber auch mit der Tatsache, dass es keine gründlichen Untersuchungen zu spirituellen Techniken gibt.

Eine künftige Theorie der mystischen Erfahrungen müsste nach Hanegraaff die Beziehung zwischen Erfahrungsarten und den Inhalten dieser Erfahrungen klären und sie müsste die Frage beantworten, in welchem Verhältnis eine »Tradition der Praxis« zu einer »Tradition des Kommentierens« steht. Hanegraaff weist damit selbst auf den entscheidenden Punkt hin: ist Esoterik vor allem eine Erfahrung (sind unterschiedliche Esoteriken unterschiedliche Erfahrungsformen) oder ist Esoterik vor allem Spekulation, eine Tradition der Interpretation, die auf Spekulationen anderer zurückgreift? Wenn ja, wo liegen die Ursprünge dieser Tradition? Es muss in der Geschichte einen Punkt geben, wo der erste Text entstanden ist, der kein Kommentar sein kann, da er keinen vorausgehenden Text interpretiert, der vielmehr aus einer ursprünglichen Erfahrung hervorgegangen ist. Wenn es aber eine solche ursprüngliche Erfahrung gibt, dann ist nicht auszuschließen, dass sich diese Erfahrung wiederholt. Es könnte also jeder Kommentar aus dieser oder einer vergleichbaren Erfahrung hervorgegangen sein, und all die Kommentare wären in Wahrheit gar keine Kommentare, sondern Erfahrungsberichte. Was man für Kommentar hält, wäre dann lediglich die Übersetzung von Erfahrungen in eine bereits vorhandene Terminologie, die sicherstellt, dass die Erfahrungen, von denen die Rede ist, auch verstanden werden.

Hanegraaff weist darauf hin, dass eine Esoterikforschung, die ihr Augenmerk den Praktiken zuwendet, auf jeden Fall auch die Erfahrungsinhalte berücksichtigen müsste, denn wenn es lediglich auf die Erfahrungsformen ankäme, stünde man vor der bizarren Situation, über esoterische Traditionen zu diskutieren, ohne Bezug auf irgendwelche esoterischen Ideen zu nehmen. Aber selbst wenn eines Tages eine vollständige Theorie zustande käme, die es erlauben würde, Texte als Ausdruck spezifischer Erfahrungen zu identifizieren, und diese Erfahrungen zu spezifischen Techniken in Beziehung zu setzen, wäre dies noch nicht ausreichend, um eine »Geschichte« der Gnosis – im Sinne von Erkenntnis - zu konstruieren. Denn im Gegensatz zu Ideen und Techniken können Erfahrungen nicht historisch vermittelt werden.

Das ist richtig. Man kann sogar noch radikaler formulieren: Erfahrungen können überhaupt nicht vermittelt, sondern nur erfahren werden. Ebenso wenig wie Erfahrungen vermittelt werden können, kann aber auch deren Existenz bestritten werden. Um das Vorhandensein einer Erfahrung überprüfen zu können, müsste man selbst einen Erfahrungszugang zu der vorgeblichen Erfahrung haben, um auf dem Erfahrungsweg überprüfen zu können, ob die betreffende Erfahrung überhaupt vorliegt oder nicht. Man ist also wieder auf die Berichte über Erfahrungen angewiesen. Dass man selbst die betreffenden Erfahrungen nicht hat, ist kein hinreichender Grund anzunehmen, andere könnten sie auch nicht haben. Zuletzt ist man auf die Mystiker und Esoteriker selbst und ihre Auslegungen angewiesen, die Auskunft über die Art ihrer Erfahrung geben und wie sie zu ihr gekommen sind. Und selbst wenn eine solche Auskunft nicht vorliegt, bedeutet dies nicht, dass keine solchen Techniken existierten, denn besonders die spirituellen Techniken waren Bestandteil des esoterischen Arkanums.

Eben diese Schlüsse zieht auch Hanegraaff. Wenn ein Kriterium, um von Esoterik sprechen zu können, die Tatsache der heimlichen Weitergabe spiritueller Techniken ist, dann wären weitere Kriterien nur aus Ideen zu gewinnen, die von diesen Esoterikern zum Ausdruck gebracht wurden. Und dies würde wieder zur Tradition des Kommentierens zurückführen, diesmal jedoch mit dem Unterschied, dass explizit anerkannt werden müsste, dass Kommentare und Reinterpretationen keine bloß literarische Aktivität sind, sondern persönliche Erfahrungen widerspiegeln und zugleich den Inhalt neuer Erfahrungen bedingen könnten.


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