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Die neue Inquisition

Ketzerjagd und die geistigen Ursprünge des modernen Totalitarismus

von Lorenzo Ravagli

Im Jahr 2006 hat einer der führenden amerikanischen Esoterikforscher, Arthur Versluis*, eine Studie über die geistige Vorgeschichte des modernen Totalitarismus veröffentlicht, an der niemand vorbeigehen kann, der die Barbarei des 20. Jahrhunderts verstehen will. Er verfolgt deren Spuren bis zu ihren Anfängen im antiken und mittelalterlichen Christentum zurück.

Der Ursprung des Totalitarismus liegt in der Idee der Orthodoxie, der Vorstellung, es gebe eine einzig richtige, allgemein verbindliche Wahrheit, und die Abweichung von dieser Wahrheit, die Häresie, sei ein gefährliches Übel, das von der Kirche, der Hüterin der Orthodoxie verfolgt und bestraft werden müsse. Ihren schärfsten Ausdruck fand diese Idee in der katholischen Inquisition. Die Organisation und die Verfahrensweisen der Inquisition legten das Fundament für den Totalitarismus des 20. Jahrhunderts.

Im 19. Jahrhundert, so Versluis, etablierten »säkularistische« Denker eine Tradition der Verteidigung der Inquisition und im 20. trat das Phänomen der Ketzerverfolgung in den totalitären Systemen des Kommunismus und Nationalsozialismus wieder auf. Die Methoden, die von der katholischen Inquisition angewendet wurden, erlebten ihre Auferstehung. Von Joseph de Maistre bis Lenin, von Carl Schmitt und Theodor Adorno bis zur Satanismus-Panik in den gegenwärtigen USA verfolgt Versluis die Spur der Ketzerjäger. In den heutigen Rechtfertigungen des US-Ausnahmezustands angesichts islamistischer Bedrohung sieht er ebenfalls die Züge eines antihäresiologischen Diskurses.

Für Versluis besteht kein Zweifel, dass die beiden Hauptformen des Totalitarismus, der Kommunismus und der Faschismus, dem Wesen nach identisch sind: totalisierte, zentralisierte Staatsmacht verbunden mit der Auslöschung der individuellen Menschenrechte. Aber auch ihr modus operandi zeigt kaum Unterschiede: Geheimpolizei, geheime Verhaftungen, Folter, Schauprozesse, Zwang zu öffentlichen Schuldbekenntnissen, öffentliche Hinrichtungen, Konzentrations- und Arbeitslager. Der Totalitarismus ist das »Antlitz des Bösen«, dessen archetypische Form im Kampf der katholischen Kirche gegen den sogenannten Gnostizismus in der abendländischen Geschichte erstmals in Erscheinung trat.

Dem ursprünglichen Wortsinn nach ist der Häretiker jemand, der wählt (griechisch »hairein«), jemand, der die Freiheit der individuellen Entscheidung für sich in Anspruch nimmt, und zumindest einige der Dogmen der Kirche nicht akzeptiert. Der Häretiker bekennt sich zu etwas, aber aus der Sicht der Kirche verneint er etwas. In dem Augenblick, in dem eine historische Glaubensgemeinschaft ein verbindliches Bekenntnis festsetzt, begründet sie die Möglichkeit der Häresie. In den ersten Jahrhunderten des Christentums vertraten die Gnostiker einen individuellen, inneren Zugang zu den religiösen Wahrheiten, was Pluralismus und Meinungsvielfalt einschloss. Hätte sich das pluralistische Modell der Gnosis durchgesetzt, hätte es keine Ketzer, sondern nur Andersdenkende gegeben. Die Verfestigung der Kirche als Institution mit einer dogmatisch verbindlichen Lehre schuf erst die Häretiker. Mit Irenaeus, Tertullian und Epiphanius begann die Denunziation der Andersdenkenden in der Kirche. Hätten sich die Gnostiker Clemens von Alexandria, Origenes und Dionysios Areopagita gegen die Dogmatiker durchgesetzt, hätte ihre Suche nach der Transzendierung des Subjekts-Objekt-Gegensatzes, auf dem die Ketzerjagd beruht, die Entstehung eines verfolgenden Christentums verhindert. Aber Tertullian, der die Verfolgung der Christen durch den römischen Staat geisselte, übernahm die Denkformen des verfolgenden Staates in seinem Kampf gegen die Gnostiker und leitete den historischen Übergang vom verfolgten Christentum zur verfolgenden Kirche ein. Anti-Gnosis, Historisierung und Rationalisierung gingen dabei in eins.

Im Mittelalter verfestigte sich die Überzeugung, die Häresie sei eine Erfindung des Teufels. Sie machte die Folterung und Ermordung von Häretikern möglich, da diese nunmehr den Erzfeind Gottes repräsentierten. In der Inquisition war der Ankläger zugleich Richter. In ihr verband sich die kirchliche mit der staatlichen Macht. Sie definierte abweichendes Denken als Verbrechen. Ketzerverfolger aller Couleur versuchten seither die Einheitlichkeit des Denkens zu erzwingen: im Denkzwang zeigt sich die spezifische Natur des totalitären Bösen. Dissidenz ist deswegen ein krimineller Akt, weil totalitäre Systeme »Ideokratien«, Ideenherrschaften sind. Ideokratien sind monistisch und totalistisch, sie bestehen auf der Anwendung der Ideologie auf jeden Bereich des Lebens, Pluralismus ist für sie Anathema. Der totalitäre Staat ist ein Versuch, den Säkularismus auf alle Bereiche des Lebens auszudehnen und die einzige Möglichkeit, dies zu erreichen, ist die Durchsetzung einer totalitären Ideologie, die keinen einzigen Abweichler duldet. In einer Ideokratie ist das größte denkbare Verbrechen das Andersdenken. Der Andersdenkende beweist allein schon durch seine Existenz, dass das totalitäre Konstrukt, das der Gesellschaft aufgezwungen wird, eine Lüge ist.

Totalitärer Diskurs im 20. Jahrhundert

Zwei Beispiele des totalitären Diskurses aus dem 20. Jahrhundert, die Versluis näher untersucht, seien hier aufgegriffen: die antignostische Polemik Eric Voegelins und die antiesoterische Polemik Theodor W. Adornos. Die antignostische Obsession konservativer Kreise in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geht auf Eric Voegelin zurück, für den Modernität eine Bedrohung der sozialen Ordnung ist. Im Anschluss an Voegelin tauchen Interpretationen der Gnosis als politische Religion der Sowjetunion, des Kommunismus, Hitlers oder Stalins auf. Aber was in diesen Publikationen als Gnosis bezeichnet wird, hat nichts mit der wirklichen Gnosis zu tun. In Wahrheit ist das Gnosisbild Voegelins und seiner Nachahmer identisch mit dem protototalitären, antihäretischen Phantasma, das Tertullian und andere durch ihre Polemik erzeugt haben. Vor der Entdeckung der Nag Hammadi Bibliothek 1945 war es noch möglich, jene Karikatur der Gnosis zu verteidigen, die im Wesentlichen auf Hans Jonas zurückgeht. Aber am Ende des 20. Jahrhunderts ist dessen simplizistische Charakterisierung der Gnosis als dualistisch, akosmisch und pessimistisch in der akademischen Forschung weitgehend diskreditiert. Die Gnosis für den modernen Totalitarismus verantwortlich zu machen, wie Voegelin dies tut, erscheint angesichts des heutigen Kenntnisstandes als bizarr.

Die antignostische Polemik Voegelins

In seinem Aufsatz »Wissenschaft, Politik und Gnostizismus« hat Voegelin 1958 behauptet, das Ziel des Gnostikers sei stets die Zerstörung der alten Welt und der Übergang in eine neue. Der Gnostiker wolle mit Hilfe der Erkenntnis dieser Welt entfliehen. Selbsterlösung durch Erkenntnis, so Voegelin, besitze ihre eigene Magie, und diese Magie sei keineswegs harmlos. Die Ordnung der Welt ändere sich nicht, nur weil man sie schlecht finde und versuche, ihr zu entfliehen. Der Versuch, die Welt zu zerstören, zerstöre nicht die Welt, sondern vermehre die Unordnung in der Gesellschaft. Voegelin sieht in der Gnosis eine Form von Erkenntnis, die sich nicht substantiell von anderen unterscheidet. In Wirklichkeit ist Gnosis Erkenntnis Gottes oder die Überschreitung des Subjekt-Objekt-Gegensatzes. Sie strebt nach der Vereinigung des erkennenden Subjektes und des göttlichen Offenbarungsinhaltes. Offenbarung setzt einen Offenbarer voraus, was der Unterstellung der Selbsterlösung den Boden entzieht. Gnostiker reden ständig von der Notwendigkeit göttlicher Offenbarung und des Zusammenwirkens des menschlichen Willens mit der himmlischen Gnade. Besonders abwegig erscheint der Vorwurf Voegelins, der Gnostiker strebe danach, die Welt zu zerstören. Es gibt keinen einzigen Beweis in den historischen Texten der Gnostiker, dass sie eine solche Zerstörung der Welt angestrebt hätten. Stattdessen geht es im Nag Hammadi Corpus stets um die innere spirituelle Erfahrung und ihren Gegensatz zu weltlicher oder politischer Macht.

Völlig abenteuerlich sind die Assoziationen, die Voegelin zwischen der Gnosis und Nietzsche herstellt. In der »Grausamkeit des intellektuellen Gewissens«, von der Nietzsche spricht, sieht Voegelin ein gnostisches Motiv. In der Gnosis bleibe der Mensch vom Transzendenten ausgeschlossen. Der gnostische Wille zur Macht stoße sich an der Mauer des Seins, das zu einem Gefängnis geworden sei. Ohne Bezugnahme auf jedwede Form authentischer Gnosis schreibt Voegelin hier Nietzsche eine Gnosis zu, die vom Transzendenten ausgeschlossen sei. Der Gnostiker strebe nach Herrschaft, durch Herrschaft werde man Gott, um Gott zu werden, nehme der Gnostiker die Qualen der Täuschung und Selbstverstümmelung auf sich. Auch Hegel wird von Voegelin zum Gnostiker ernannt. Die Begründung: Der Gnostiker strebe nach Herrschaft über das Sein, um diese Herrschaft zu erlangen, konstruiere er sein System, die Bildung von Systemen sei eine spezifisch gnostische Denkform. Der Syllogismus, der Hegel zu einem Gnostiker macht, lautet: Die Gnostiker hatten Systeme, Hegel hatte ein System, also ist Hegel ein Gnostiker, – ja, alle Systembildner sind Gnostiker. Es ist schleierhaft, wie Voegelin zur Auffassung kam, der Gnostiker strebe nach Herrschaft über die Welt, wo er doch gleichzeitig behauptete, er versuche, ihr zu entfliehen. Mit der wirklichen Gnosis, die nach innerer Erleuchtung und Vereinigung mit dem Göttlichen strebte, haben Voegelins Syllogismen rein gar nichts zu tun.

Voegelin geht es gar nicht um eine Erkenntnis der historischen Gnosis. Er verfolgt eine andere Agenda. Welche, wird deutlich, wenn man sein Werk »Die neue Wissenschaft der Politik« heranzieht. Im Kapitel über die »Gnostische Revolution, der Fall des Puritanismus« behauptet er, die gesamte Reformation, die Moderne insgesamt, müsse als erfolgreiche Unterwanderung westlicher Institutionen durch gnostische Bewegungen interpretiert werden. Der Puritanismus sei schlichtweg Gnosis. Angesichts der Feindschaft Calvins und des Calvinismus gegen die Mystik oder jede gnostische Idee, muss man annehmen, Voegelin habe geglaubt, Calvin und der Calvinismus seien bei all ihrer Feindchaft gegen den Gnostizismus gnostisch – das ist genau jene Form von rhetorischer Verdrehung, die Voegelin ansonsten den Gnostikern vorwirft.

Unter dem Titel »Ersatz-Religion« weitet Voegelin den Vorwurf des Gnostizismus auf die gesamte moderne Welt aus. Nun ist alles Schlechte »gnostisch«. »Unter gnostischen Bewegungen verstehen wir solche Bewegungen wie den Fortschrittsglauben, den Positivismus, den Marxismus, die Psychoanalyse, den Kommunismus, den Faschismus und den Nationalsozialismus«, so Voegelin. Die Allgegenwart des Gnostizismus ist eine logische Konsequenz, wenn man wie Voegelin unterstellt, die Gnosis sei am Projekt der Abschaffung der Ordnung des Seins beteiligt, jener Ordnung die im transzendenten Göttlichen verankert sei, und sie strebe danach, diese durch eine weltimmanente Seinsordnung zu ersetzen, deren Vollendung im Reich des menschlichen Handelns liege. Wenn der Begriff der Gnosis so weit ausgedehnt wird, lässt er sich am Ende auf jeden Versuch einer sozialen Reform beziehen.

Voegelins geheime Agenda: die Verteidigung des Katholizismus, in dem er die Essenz des Christentums sieht, wird in seinem Briefwechsel mit Alfred Schutz deutlich. 1953 schreibt Voegelin an Schutz, für ihn sei das wahre Christentum der Katholizismus. Protestantismus und Moderne sind seiner Auffassung nach gnostisch, der Katholizismus nicht. 

Einer der Grundirrtümer Voegelins ist die Verwechslung von gnostischen mit endzeitlichen Bewegungen, die den Anbruch des tausendjährigen Reichs oder die Verwirklichung des Paradieses auf Erden, in der historischen Zeit, in der Geschichte erwarteten. Diese Verwechslung ist umso bemerkenswerter, als der Gnostizismus sich gerade gegen eine Verzeitlichung des Christentums zur Wehr setzte. Grundlegend für die Gnosis ist die Unterscheidung zwischen den Gläubigen, die in der äußeren Kirche die endgültige Verwirklichung des Christentums in der Geschichte sahen, und den Wissenden, die von ihrer Verwirklichung und Gegenwart im Herzen jedes Einzelnen überzeugt waren.

Warum schrieb Voegelin der Gnosis jene Ziele zu, von denen sie sich in Wahrheit am stärksten distanzierte? Wo hat die Tradition der geschichtlichen Endzeiterwartung stattdessen ihren Ursprung? Im Katholizismus. Joachim von Fiore schuf im Hochmittelalter die Vision einer Geschichte, die sich über die drei Zeitalter des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes entfaltet. Er sah die nahe Ankunft eines Dritten Reiches voraus, und diese Erwartung eines tausendjährigen Reiches ist dem gesamten Christentum eigen. Es ließe sich mit größerem Recht behaupten, diese Hoffnung auf ein tausendjähriges Reich sei eine Folge des Verlustes der Gnosis (der vertikalen Perspektive einer direkten spirituellen Erleuchtung für jeden Einzelnen). In der Entstehung einer hierarchischen sozialen Körperschaft mit ihrer Betonung des historischen Glaubens und der alleinigen Mittlerschaft der Kirche liegt der Ursprung der geschichtlichen Endzeiterwartung. Die Gnostiker betonten die Notwendigkeit der individuellen spirituellen Erfahrung, sie hatten keine weltlichen oder historischen Ziele. Dort, wo dieses gnostische Uranliegen verschwindet, tritt die historisch-endzeitliche, hierarchische Kirche in Erscheinung, die die Gnostiker bekämpft, verfolgt und tötet. 

Wenn man realisiert, dass Voegelin den Gnostikern vorwirft, was in Wahrheit dem Katholizismus zur Last gelegt werden muss, begreift man erst das ganze Ausmaß der rhethorischen Inversion, die seinem Antignostizismus zugrunde liegt. Sie dient der Verschleierung der wirklichen Ursprünge des Totalitarismus. Die Gnostiker waren in der Geschichte die Dissidenten, die Verfolgten, – und nicht etwa die Inhaber der kirchlichen Amtsgewalt, von denen sie verfolgt wurden. Der moderne Totalitarismus hat seinen Ursprung in den historischen Endzeiterwartungen des totalistischen Kirchenchristentums, das jede abweichende religiöse Auffassung erbarmungslos verfolgte. Der marxistische und faschistische Glaube an den Staat, an eine klassenlose Gesellschaft oder ein tausendjähriges Reich, die praktisch jedes Mittel zu ihrer Verwirklichung rechtfertigen, selbst den Massenmord, wurzeln in der christlichen Endzeiterwartung. Die historische Entwicklungslinie verläuft nicht von den Gnostikern zu den totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts. Sie verläuft von den apokalyptischen Erwartungen eines tausendjährigen Reiches innerhalb des Christentums über den Hegelschen Evolutionismus zu dem Glauben von Marx, die Verwirklichung einer utopischen Gesellschaft stehe in naher Zukunft bevor. Und von Marx war es nicht weit zu Lenin und Stalin, zu Hitler und der Ausrottung all jener, die als Parasiten betrachtet wurden.

Der Antignostiker steht dem individuellen spirituellen Leben, das sich im Inneren des Menschen abspielt, ablehnend gegenüber, er betrachtet den Gnostiker als Feind und stellt insofern die moderne Ausformung eines intellektuellen Totalitarismus dar, der jede Suche nach innerem Frieden oder jede Orientierung auf eine geistige Welt bekämpft. Dieser neue Totalitarismus versucht das ganze Leben auf das Diesseits zu beschränken. Die Erben der Täter von gestern sind die militanten Säkularisten, die jede Form von Spiritualität bekämpfen. Sie sind die Nachfolger der Inquisition und der Ideokratien des 20. Jahrhunderts.

Die antiesoterische Polemik Adornos

Adorno gehört ohne Zweifel zu den einflussreichsten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts. Als Mitglied der Frankfurter Schule trug er maßgeblich zur Entwicklung der linken »Kulturkritik« bei. Ein zentrales Motiv seiner Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ist seine Kritik am »Irrationalismus«, den er vor allem im »Okkultismus« verkörpert sah. Adornos Angriffe auf den Okkultismus sind bei genauerem Hinsehen ein Beispiel für den Antiesoterismus der Linken, der ein exaktes Spiegelbild der inquisitorischen Tendenzen der Rechten ist.

Adorno war der Überzeugung, der Nationalsozialismus sei auf den Einbruch antirationaler oder irrationaler Kräfte in die Gesellschaft zurück zu führen. Sein Kampf gegen den angeblich irrationalen Autoritarismus der Astrologie und des Okkultismus war in seinen Augen ein Kampf gegen jene geistigen Strömungen, die den Antisemitismus und den Nationalsozialismus ermöglicht hatten. Die Auffassung ist heute verbreitet, viele führende Figuren des Nationalsozialismus – Hitler, Himmler und Hess eingeschlossen – hätten okkulte Neigungen gehabt. Tatsächlich wuchs der Nationalsozialismus aus einem Milieu hervor, das in einer lockeren Verbindung mit dem Okkultismus stand. Zu diesem Milieu gehörten die Thule-Gesellschaft, diverse »arische«, pseudomythologische Gruppierungen, antimodernistische, neuheidnische, vegetarische und andere Gemeinschaften, die man im weitesten Sinne als irrational, wenn nicht sogar okkultistisch bezeichnen könnte. Adorno war der Überzeugung, der Feind des Rationalen und Humanen sei das Irrationale und Inhumane, deswegen müsse das Irrationale in der modernen Gesellschaft ausgemerzt werden, um die Rückkehr des Nationalsoziallismus zu verhindern. Von dieser Ansicht zeugen seine »Thesen gegen den Okkultismus« (1946-47, wieder veröffentlicht in »Minima Moralia«).

Erstaunlicherweise ist Adorno völlig entgangen, dass man die Okkultisten – zusammen mit den Juden – in der europäischen Geschichte weit mehr auf der Seite der Verfolgten, als auf der der Verfolger findet. Ist Adorno derselben rhetorischen Inversion erlegen, wie Voegelin und andere? Grundlegend für Adornos Kritik am Okkultismus ist seine Überzeugung von seiner Irrationalität, seinem absoluten Gegensatz zum Rationalen. Dieser Dualismus ist typisch für die Logik der Inquisition. Adorno vergegenständlicht den Okkultismus und die Okkultisten in einer Art, die an die Argumentationsformen der Antisemiten erinnert. In seiner antiesoterischen Polemik finden sich ebenso grobe Verallgemeinerungen, Karikaturen, Halbwahrheiten, logische Fehlschlüsse und Lügen, wie bei jenen.

In seinen »Thesen gegen den Okkultismus« stellt Adorno weitreichende Behauptungen auf. Die Tendenz zum Okkultismus sei ein Symptom der Regression des Bewusstseins. Das Bewusstsein habe die Kraft verloren, das Absolute zu denken und das Relative zu ertragen. Der Monotheismus zerfalle in eine Aftermythologie, »der Geist« löse sich in Geister auf und verliere die Fähigkeit, zu erkennen, dass letztere gar nicht existierten. Die verschleierten Kräfte der Gesellschaft narrten ihre Opfer mit falschen Prophezeiungen und nach Jahrtausenden der Aufklärung breche über die Menschheit wieder die Panik herein, wobei die Herrschaft über die Natur, indem sie sich zu einer Herrschaft über den Menschen verkehre, alle Schrecken übertreffe, die der Mensch jemals von der Natur zu erleiden hatte.

Adorno bleibt eine nähere Definition dessen schuldig, was er unter Okkultismus versteht. Offensichtlich denkt er vor allem an den Spiritismus, an Medien und an Wahrsager. Er spricht auch von einem wiedergeborenen Animismus, der die Entfremdung negiere, die er selbst hervorgerufen habe, zu deren Beseitigung er eine nicht-existente Erfahrung anbiete. Warum jedoch ist eine »animistische« oder »okkulte« Erfahrung per se nicht-existent? Nur weil man dies behauptet? Behauptung ohne Beweis ist kein Argument. Wie kommt Adorno von der Behauptung, der Okkultismus sei ein Symptom der Regression zu der anderen, die Herrschaft über die Natur sei in die Herrschaft über den Menschen verkehrt worden – und was hat das eine mit dem anderen zu tun?

Adorno macht die Rückkehr zum magischen Denken für den Totalitarismus verantwortlich. Aber der Zusammenhang zwischen beiden wird von ihm nicht nachgewiesen. Auch seine Behauptung, die hypnotische Wirkung magischer Objekte gleiche dem totalitären Terror, beide würden mit der Zeit eines, hängt in der Luft. Seine Erklärung ist bizarr: das Horoskop entspreche den Anweisungen des Zentralbüros an die Bürger und die Zahlenmystik bereite auf die Statistiken der Verwaltung und die Preiskontrolle vor. Schlußendlich entpuppe sich die Integration als Ideologie der Desintegration in Machtgruppen, die sich gegenseitig ausrotten. Wer auch immer hinein gerate, sei verloren. Ein Benutzer von Tarotkarten ist einem SA-Mitglied gleichzusetzen? Es ist völlig unerfindlich, aufgrund welcher Logik man vom unterdrückten und marginalisierten Okkulten in Gestalt der Astrologie oder der kabbalistischen Zahlenmystik zu den Direktiven eines Zentralbüros oder der Statistik der Verwaltung gelangen soll. Und was die Machtgruppen anbetrifft, die sich gegenseitig auslöschen: das »Okkulte« ist in der Geschichte des Abendlandes in der Regel auf der Seite der Opfer solcher Aurottungen zu finden. Ketzer und Hexen waren die Unterdrückten, die an den Rand Gedrängten, die Opfer der Inquisition. Aber auf wundersame Weise verwandeln sie sich bei Adorno in die Urheber der Bürokratie, von der sie verfolgt werden, in die Täter, die sie verfolgen.

Ohne es zu bemerken, reproduziert Adorno in seiner antiesoterischen Rhetorik die Argumentationsfiguren des Antisemitismus. Okkultisten sind bei ihm mit zwielichtigen, asozialen Randphänomenen verbunden, offenbaren die Kräfte des Niedergangs, eine »Krankheit des Bewusstseins«, für die der Abfall aus der Welt der Erscheinungen zur intelligiblen Welt wird, der Okkultismus ist auf barbarische Weise ungesund. Der Okkultist möchte laut Adorno die Welt mit seiner eigenen Dekadenz in Übereinstimmung bringen. Die »Macht des Okkulten« soll seiner Ansicht nach »wie der Faschismus« nicht bloß »pathisch« sein, beide seien durch ihr Denkmodell miteinander verwandt. Stattdessen besteht eine Verwandtschaft zwischen dem Antisemitismus und der Attacke Adornos auf den Okkultismus.

Der Okkultismus ist nach Adornos berühmt-berüchtigtem Diktum »die Metaphysik der Dummen«. Der Spiritismus, mit dem er den Okkultismus gleichsetzt, habe nicht mehr zutage gefördert, als Mitteilungen verstorbener Großmütter. Gegen Ende seiner Thesen trägt Adorno eine globale Interpretation des Religiösen vor, nach der die großen Religionen das Schicksal der Verstorbenen entweder mit Schweigen bedachten, oder die Auferstehung des Leibes lehrten. Sie hätten stets an der Untrennbarkeit des Geistigen und des Körperlichen festgehalten. Es habe in ihnen nichts Geistiges gegeben, das nicht in sinnlicher Wahrnehmung verankert war oder körperliche Erfüllung verlangte. Die Okkultisten dagegen hielten – so Adorno – diese Ansicht für abseitig, machten sich über die Idee der Auferstehung lustig und strebten nicht nach Erlösung.

Diese Argumentation ist nicht nur deswegen befremdlich, weil dem Spiritismus normalerweise vorgeworfen wird, er unterscheide nicht hinreichend zwischen dem Diesseits und dem Jenseits, sondern auch weil dem Okkultismus etwas untestellt wird, was man ihm historisch nicht vorwerfen kann. Eine auch nur oberflächliche Kenntnis der Geschichte der Esoterik kann darüber belehren, dass die Beziehung zwischen der Körperwelt und der geistigen Welt ein zentrales Thema für die Esoterik war und dass die Idee einer »Geistleiblichkeit« in ihr bis heute eine große Rolle spielt.

Adorno schließt mit der Behauptung, die Idee einer Existenz von Geistern sei Ausdruck eines ins Extrem getriebenen bourgeoisen Bewusstseins. Diese These ist nicht mehr weit von Marx entfernt, für den die Religion Opium für das Volk war.

Adornos Thesen sind eine Ansammlung von Konfusion und Verallgemeinerungen, vermischt mit einer verstörenden Bitternis, die an Nihilismus grenzt. Es ist schwer zu verstehen, wie jemand, der mit der Rhetorik des Antisemitismus so vertraut war, diese Rhetorik in seiner eigenen antiokkultistischen Polemik so hemmungslos reproduzieren konnte. Versluis meint, Adornos »Thesen« bemühten sich ebensowenig darum, den Okkultismus zu verstehen oder angemessen darzustellen, wie die »Protokolle der Weisen von Zion« sich darum bemühten, die jüdische Kultur oder die Juden zu verstehen.

Die antiokkultistischen Ressentiments Adornos vagieren bis auf den heutigen Tag durch »kritische« Literatur. Insbesondere radikale Säkularisten haben sich seine Sprach- und Argumentationsmuster zu eigen gemacht. In der von ihnen produzierten Bekenntnisliteratur kehrt auch die Auffassung von Marx wieder, Religion sei Opium für das Volk, nur dass Religion heutzutage mit Okkultismus oder Esoterik ersetzt wird.

Der tiefere Grund für die Konvergenz rechter und linker Polemik

Obwohl Voegelin und Adorno von zwei entgegengesetzten Seiten kommen, stimmen sie doch in einem Grundirrtum überein. Irgendwie versuchen sie »Gnostiker« oder »Okkultisten« für den Aufstieg des Totalitarismus verantwortlich zu machen, auch wenn, wie die jüngere Forschung gezeigt hat, die Okkultisten in Wahrheit zu den ersten Opfern der Nazis gehörten, von ihnen unterdrückt, gefangengesetzt und getötet wurden. Wenn Voegelins These, die Gnostiker seien für den linken oder marxistischen Totalitarismus verantwortlich, ein Körnchen Wahrheit enthielte, wie ist es dann möglich, dass einflussreiche linke oder marxistische Autoren ebensolche Antiokkultisten oder Antignostiker sind, wie ihre Gegner bei den Rechten? Voegelin und Adorno stellen beide die Behauptung auf, Gnostiker oder Okkultisten seien für den Totalitarismus verantwortlich, aber beide bleiben die Beweise für ihre Behauptung schuldig. In Adorno lässt sich derselbe ideologische Geist der Inquisition beobachten, wie in Voegelin. Adorno verabscheut den Nazismus, Voegelin den Kommunismus, beide suchen einen ideologisch-politischen Sündenbock, den sie für das verantwortlich machen können, was sie verabscheuen. Okkultismus oder Gnostizismus sind ideale Sündenböcke, weil sie eine Menge historischen Ballast mit sich herum tragen, ihnen haften jahrhundertealte Verdächtigungen an, dennoch bleiben sie vage und unbestimmt, und eignen sich deshalb bestens als Gegenstände der Verachtung, gerade wegen ihrer Unbestimmtheit. Jedermann weiß, dass Okkultismus oder Gnostizismus »schlecht« sind, auch wenn kaum jemand weiß, was man genau darunter verstehen soll.

Voegelin und Adorno waren Schreibtischtäter, die sich auf eine intellektuelle Hexenjagd beschränkten. Die praktischen Konsequenzen solcher Dämonisierungen ließen sich seit 1933 in Deutschland beobachten (Näheres in der unten genannten Publikation von Corinna Treitel). Die moralischen Implikationen der Polemiken Voegelins und Adornos sind um so gravierender, als beide nach 1945 veröffentlicht wurden.

Für Adorno, Voegelin und alle, die noch heute den rhetorischen Konstrukten des »Fortschritts« und der »Aufklärung« anhängen, ist das »Okkulte« ein leichtes Ziel und ein geeigneter Sündenbock. Okkultisten repräsentieren den »überwundenen Aberglauben« der Vergangenheit, des »finsteren Mittelalters« und werden deswegen von linken und rechten Ideologen, die sich der Fortschrittsrhetorik bedienen, mit der sie den Gang in ein künftiges Utopia rechtfertigen, gerne als Ziele ihrer Ausrottungsfeldzüge auserkoren, bei denen sie die »rückwärtsgewandten« Kräfte der Gesellschaft zu beseitigen versuchen.

Der Antiokkultismus ist ein eigenständiges Phänomen, das sowohl bei Rechten wie bei Linken zu beobachten ist. Die Verlockungen zur ideologischen Inquisition und zu politischen Sündenbockritualen sind auf beiden Seiten des Spektrums gleich groß und die natürlichen Opfer sind oft die »Okkultisten«. Mit ihrer antiokkultistischen Rhetorik reproduzieren die Rechten und die Linken – meist unbewusst – die Sprach- und Argumentationsmuster ihrer Vorgänger in Zeiten der Inquisition und der Hexenjäger in der frühen Neuzeit.

Es ist leicht verständlich, warum konservative Autoren, die der katholischen Kirche nahestanden, wie Voegelin oder auch Carl Schmitt, bewusst oder unbewusst die Inquisition als intellektuelles und politisches Vorbild übernahmen. Warum aber Linke wie Adorno und seine Nachbeter?

Der Antiokkultismus und die Antiesoterik sind tief in das Denken des 20. Jahrhunderts verwoben, sowohl bei der Rechten als auch bei der Linken. Kommunisten und Nazis setzten die frühere Praxis der Kirche fort, die jene, die angeblich »irrationale«, »okkulte« oder »häretische« Überzeugungen vertraten, verfolgten und vernichteten. In seiner Reaktion gegen die »irrationalen« Aspekte des Nazismus setzte Adorno genau jene Art rhetorischer Dämonisierung fort, die die Nazis gegen mißliebige Minderheiten betrieben. Und in seinem Kreuzzug gegen die Irrationalismus übersah Adorno die schauerliche Rolle, die der rationale Industrialismus im Nationalsozialismus spielte: was anderes waren die Gaskammern, als industrielle Todeskammern? Antiokkultismus und Antiesoterik sind so tief in den Fundamenten der westlichen Gesellschaft verankert, dass sie selbst von Esoterikern oder Okkultisten kaum bemerkt werden, dass vor allem die Kritiker die jahrhundertealte Ausgrenzungtaktik nicht mehr als solche erkennen, auch wenn sie in ihrer Tradition stehen. Praktisch niemand im linken Lager scheint die unerfreulichen Ursprünge und Implikationen von Adornos Antiokkultismus bemerkt zu haben, stattdessen findet man fast ausschließlich stillschweigende Zustimmung oder ausdrückliche Bekräftigungen seiner Vorurteile. Natürlich muss man den Okkultismus ablehnen. Doch je unbewusster solche Vorurteile sind, um so größer ist ihre Macht. Die Esoterikforschung hat sich aufgemacht, über solche Vorurteile aufzuklären.

* Arthur Versluis ist Professor für Amerikanistik an der Michigan State University, Herausgeber der Zeitschrift Esoterica und Gründungspräsident der Association for the Study of Esotericism.

Arthur Versluis, The New Inquisitions: Heretic-Hunting and the Intellectual Origins of Modern Totalitarianism
Corinna Treitel, A Science for the Soul: Occultism and the Genesis of the German Modern


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