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Anthroposophie / Erweiterungen / Beiträge zur Esoterikforschung / Rudolf Steiner als Esoteriker

Rudolf Steiner als Esoteriker

von Lorenzo Ravagli

»Philosophie ist die esoterische Betrachtung Gottes und der Wahrheit.«

Georg Friedrich Wilhelm Hegel

Im späten 18. Jahrhundert kamen im Tübinger Stift drei jugendliche Genien zusammen: Hegel, Schelling und Hölderlin. Während die Stürme der Revolutionskriege über Europa hinwegzogen, brüteten die drei im stillen Kämmerlein eine andere Revolution aus: eine Revolution des abendländischen Geistes. Hellsichtig, wie sie waren, erkannten sie die großen Bildungsmängel ihrer Zeit. Wenn man über Steiner als Esoteriker spricht, muss man an ihre Vision erinnern, sonst fehlt die Grundlage, um die Anthroposophie zu verstehen.

Die Aufklärung, von Kant zu ihrem Abschluss gebracht, hatte Europa den Glauben geraubt. »Der Weise von Königs­berg« hielt es für angebracht, dass die Offenbarung sich »vor dem Richterstuhl der Vernunft« rechtfertige. Wie aber konnte sich die menschliche Vernunft, ein Abbild des göttlichen Geistes, anmaßen, über ihren Schöpfer zu Gericht zu sitzen? Kant wollte von der Religion, um sie vor dem Ansturm der aufklärerischen Kritik zu retten, nur übriglassen, was ihm vernünftig schien. Was von ihr übrigblieb, wurde in einem Gebiet jenseits der Wissenschaft eingesargt. Kants Lösung war noch die vornehmste. Andere Aufklärer wollten von Religion überhaupt nichts mehr wissen, weil sie in ihr eine unreife Entwicklungsstufe des menschlichen Geistes sahen. Die Wissenschaft sollte nun, rein rational, alles erklären. Tiefgreifende Fragen, wie die nach dem Ursprung der Welt oder nach dem Wesen der Seele, betrachtete Kant als wissenschaftlich unbeantwortbar. Fragen, von deren Beantwortung die Erfahrung von Lebenssinn abhängt, waren damit für unwissenschaftlich erklärt.

Die logische Konsequenz dieser Aufklärung, das war den drei Tübingern klar, konnte nur das Verschwinden des Heiligen aus dem Leben sein und das Auseinanderfallen des sozialen Bandes, das seine Stärke aus der Präsenz dieses Heiligen schöpfte. Die Zertrümmerung der Bilder musste zu einer Verarmung und Verödung der Seelen führen, und nicht nur für die heranwachsende Generation, sondern für das gesamte Gemeinschaftsleben fatale Konsequenzen haben. Sie erkannten aber auch die Unmöglichkeit, das Rad der Geschichte zurückzudrehen, und so zu tun, als hätte die Aufklärung nie stattgefunden. Wo lag der Ausweg aus der gewaltigen Krise des abendländischen Geistes? Wie konnte man seinen vollständigen Absturz in den Nihi­lismus verhindern?

Philosophie muss wieder Mythologie werden

Die Tübinger verfassten ein Programm. Die »absolute Freiheit aller Geister, die die intellektuelle Welt in sich tragen und weder Gott noch Unsterblichkeit außer sich suchen« müssen, war für sie historisches Resultat der Aufklärung. Aber wie verhindern, dass diese Freiheit in Anarchie abgleitet, oder – als Gegenreaktion darauf – zu einem neuen Despotismus, zu Tyrannei führt? Was bindet die Menschen, die ihre gemeinschaftsstiftenden religiösen Leitbilder verloren haben, wieder zusammen? Was vermag zu verhindern, dass die Gesellschaft in lauter Atome auseinander­bricht, die durch keine Moral, durch kein Recht mehr gebunden sind? Was kann die Verstandes- und Herzensbildung wieder zusammenführen? Es ist nicht schwer zu erkennen, dass die drei Tübinger mit demselben Problem rangen, das zu dieser Zeit auch Schiller und Goethe bewegte. Die Antwort aller war ästhetische Bildung, Philosophie als Poesie, Wissenschaft als Kunst, Entfaltung des kreativen Potenzials in jedem Einzelnen – jeder Mensch ein Künstler!

Der Wissenschaftler, so die Tübinger, müsse ebensoviel Phantasie besitzen wie der Dichter. Wer die Poesie verschmähe, dessen Herz vertrockne, dessen Begeisterung erlahme. Die Philosophie müsse ästhetisch, sinnlich, poetisch werden. Auf diesem Wege werde die Dichtung wieder zu dem, was sie am Anfang war: zur »Lehrerin der Menschheit«. Sie werde alle übrigen Wissenschaften und Künste in sich aufnehmen und überleben. Nicht nur die Ungebildeten, sondern auch die Gebildeten bedürften einer »sinnlichen Religion«.

Der Monotheismus tauge zwar für die Vernunft und – so glaubten sie wenigstens – für das Herz, das moralischer Gesetze bedürfe; die Phantasie und die Kunst hingegen verlangten nach dem Polytheismus. Der eine bildlose, abstrakte Gott sei der Kunst ebenso abträglich, wie die vielen Götter der Seele und der Landschaft sie befruchteten. Die Menschheit benötige eine neue Mythologie, eine Mythologie, die im Dienst der Ideen stehe, eine Mythologie der Vernunft. Eine Mythologie also, zu der die Vernunft sich wandle oder die aus der Vernunft hervorgehe. Würden die abstrakten Ideen des Verstandes nicht wieder ästhetisch, bildhaft, mythologisch, hätten sie für die Mehrheit der Menschen keine Bedeutung.

Wenn aber die Wissenschaft zur Kunst werde, das Denken sich zum Anschauen des Geistigen steigere, dann, so die Tübinger, könnten »Aufgeklärte und Unaufgeklärte« sich die Hand reichen, könne die Mythologie philosophisch werden und das Volk vernünftig. Dann herrsche »ewige Einheit« unter den Menschen, das Volk werde von seinen Eliten nicht mehr verachtet und blicke nicht mehr voller Angst zu seinen Weisen und Priestern hinauf. Dann erst sei »gleiche Ausbildung aller Kräfte« bei jedem Einzelnen wie auch in der Gemeinschaft erreichbar. Keine Kraft werde mehr unterdrückt werden. Dann werde die »allgemeine Freiheit und Gleichheit der Geister« erreicht.

Aber die Tübinger glaubten, ein höherer Geist, vom Himmel gesandt, müsse diese neue Religion unter den Menschen stiften, sie selbst sahen sich dazu nicht imstande. Dennoch sollte später jeder auf seine Art versuchen, dieses Programm in die Tat umzusetzen, Hölderlin durch seine Dichtung, Hegel durch die Philosophie und Schelling durch die Theosophie seines Spätwerks.

Esoterik als Religion der Philosophie

Vor einer ähnlichen Situation stand Rudolf Steiner am Ende des 19. Jahrhunderts. Vieles von dem, was die jungen Tübinger vorausgesehen hatten, war eingetreten, noch weit über ihre Erwartungen hinaus. Der Verstand, der von der Aufklärung als das große Instrument der Naturbeherrschung und der sozialen Organisation freigelegt worden war, hatte tief in die europäischen Gesellschaften eingegriffen. Die industrielle und die wissenschaftliche Revolution hatten die sozialen Verhältnisse umgewälzt und sogar neue Klassen entstehen lassen. Das Diesseits war entgöttlicht, das Jenseits zu einem leeren Begriff geworden. Am Horizont zeichneten sich bereits die großen Irrwege des 20. Jahrhunderts ab: die Vergötzung des Menschen und die Vergöttlichung des Staates. Die politischen Religionen sollten die Konsequenzen aus der Aufklärung ziehen: Wenn es keinen Unterschied mehr zwischen Gott und Mensch gab, ja, wenn Gott nicht mehr existierte, dann musste die Politik selbst zur Religion werden, der »Führer« zum Gott auf Erden. Nachdem das Religiöse und das Mythische durch die Wissenschaft in den Untergrund des Seelenlebens verdrängt worden waren, kehrten sie mit umso größerer Macht in pervertierter Form zurück. Alles Verdrängte bleibt auf einem primitiven Niveau stehen und sucht den Menschen oder die Gesellschaft heim, die es verdrängen. Ebenso wie die Kunst ist auch die Religion eine essentielle Wesensäußerung des Menschen. Wer das religiöse Bedürfnis, die religiöse Kreativität, die Gestaltung symbolischer Bilder des Transzendenten und die Erfahrung der ihnen zugrunde liegenden Wirklichkeit unterdrückt, nimmt dem Menschen, der Gesellschaft den Lebensatem. Wenn die Wissenschaft sich auf das Sinnliche beschränkt, bedarf die Seele und die Gesellschaft um so mehr des Ausgleichs durch das Übersinnliche, von dem die Religion kündet. Besser wäre es, die Wissenschaft bezöge das Übersinnliche mit ein und die Religion leitete uns zur Verehrung und Anbetung des Ewigen im Zeitlichen.

Schon in seinem philosophischen Werk sprach Steiner das Problem einer Wissenschaft an, für die sich niemand interessiere, und stellte ihr ein verbreitetes wissenschaft­liches Bedürfnis gegenüber, das von niemandem befriedigt werde. Wie die Tübinger betrachtete er die »absolute Freiheit des Geistes«, der die intellektuelle Welt in sich trägt und weder Gott noch Unsterblichkeit außer sich suchen muss, als unhintergehbares Ergebnis der geschichtlichen Entwicklung. Aber er erwartete nicht die Stiftung einer neuen Religion durch einen Geist, der vom Himmel gesandt werde, sondern stiftete sie selbst. Diese Aussage wirkt nur solange anstößig, als man am alten Gegensatz von Wissenschaft und Religion festhält. Was Steiner ins Leben rief, war eine Erkenntnisreligion, eine Religion der Erkenntnis. Die Kluft zwischen Wissenschaft und religiösem Bedürfnis kann nur überbrückt werden, wenn die Wissenschaft selbst das religiöse Element in sich aufnimmt: den Bezug auf das Trans­zendente, das nur solange transzendent bleibt, als es nicht erkannt wird. Da die Wissenschaft der Neuzeit durch die Absonderung alles Mythischen entstanden war, hieß dies nichts anderes, als die Wissenschaft müsse wieder mythologisch werden. Wir befinden uns in einer Zeit, in der nicht mehr »fides quaerens intellectum« (der Glaube auf der Suche nach Einsicht) – das Leitbild der Scholastik – gilt, sondern in der es heißen muss: »intellectus quaerens fidem« (die Einsicht auf der Suche nach den früheren Inhalten des Glaubens) – die Erkenntnis muss wieder spirituell werden.

Steiner betrachtete dies als Aufgabe, die jedem Einzelnen gestellt ist. »Der Weg ins spirituelle Reich des Geistes führt heute durch das intellektuelle Reich«, schrieb er Anfang des 20. Jahrhunderts. Aber es ist ein Weg – ein Weg, der gegangen werden kann und gegangen werden muss, von jedem Einzelnen. Wenn der erkennende Geist des Menschen, wenn die Wissenschaft diesen Weg beschreitet, dann führt er über die Grenzen hinaus, die unser abendländisches Leben bestimmen. Ideen werden wieder Lebensmächte, die Natur streift ihr äußeres Gewand ab, der Kosmos beginnt zu klingen, die Menschheit sich als reale Einheit zu fühlen. Alle Begriffe werden revolutioniert, die Wissenschaft wird tatsächlich zur Mythologie, der Mythos zur Wissenschaft, die Religion durchdringt das alltägliche Handeln und die Kunst vermittelt religiöse Erfahrungen. Grenzüberschreitungen, wohin man sieht, Zertrümmerung der festen Kategorien des Verstandes, lebendig werdende Wissenschaft, lebendig werdende Kunst, lebendig werdende Religion: das ist Esoterik. Esoterik im Sinne Steiners: das ist die Religion der Philo­sophie.

Literatur:

Lorenzo Ravagli, Aufstieg zum Mythos, Stuttgart 2009

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