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Theosophie

Arthur Versluis über die verborgenen Dimensionen des Christentums

von Lorenzo Ravagli

 

In seinem Buch »Theosophie, die verborgenen Dimensionen des Christentums«, das im Jahr 1994 bei Lindisfarne Press erschien, betont Arthur Versluis, es sei an der Zeit, die Theosophie von den falschen Kontexten zu befreien, in die sie durch H.P. Blavatsky und ihre Mitstreiter gebracht worden sei. »Theosophie« und »Gnosis«, so Versluis, verweisen auf »authentische spirituelle Lehren des Christentums, des Islams und des Judentums«.

Sein Buch ist ein Buch über christliche Gnosis. In einer Zeit, in der das einst christliche Abendland sich in gravierenden ökologischen, sozialen, kulturellen und religiösen Krisen befinde, sei es angebracht, sich auf die christlichen Traditionen zu besinnen, zu denen die Gnosis, »die Erfahrungserkenntnis des Göttlichen« gehöre. Gnosis ist nichts anderes als »Geisterkenntnis«. Eine solche gibt es nicht nur im Christentum, sondern auch im Islam und Judentum. Heute scheint der siegreiche Materialismus das Erbe spiritueller Traditionen des Abendlandes verdrängt zu haben und viele Menschen suchen daher in nichteuropäischer Spiritualität ihr Heil. Das ist aber nach Versluis nicht nötig, denn das Christentum birgt in seiner zweitausendjährigen Geschichte ein Schatzhaus der Spiritualität. Es reicht von der valentinianischen Gnosis und den Wüstenvätern über Dante, Eckhart und Tauler bis zu den deutschen Theosophen des 17. und 18. Jahrhunderts. Schon René Guenon habe in seinem Buch »Die Krise der modernen Welt« darauf hingewiesen, dass der Westen die christliche Spiritualität erneuern müsse, um die endgültige Katastrophe zu vermeiden. Zwar scheine dies aussichtslos, aber Versluis hält die Lage doch nicht für hoffnungslos.

Durch die ganze Geschichte des Christentums habe es eine gnostische Strömung gegeben, die man auch als parakletisch bezeichnen könne, nach dem im Neuen Testament verheißenen Parakleten oder Tröster. Die Herabkunft des Heiligen Geist als des künftigen Interpreten der Mysterien des Logos wurde zu Beginn des Christentums angekündigt und diese Herabkunft wurde immer als eine Erleuchtung der Zeit durch die Ewigkeit, als Überwindung der Zeitordnung im Glanz des Christus verstanden. Mit der Offenbarung des Heiligen Geistes breche die Ewigkeit in die Zeit ein, sie sei der Grund, warum die christliche Mystik immer wieder in der Geschichte auftrete, diskontinuierlich, ohne Vorläufer oder historische Abhängigkeiten, denn das Zeitlose sei allezeit als innere Erfahrung zugänglich.

Die christlichen Theosophen hätten sich immer auf diese zeitlose Offenbarung berufen. Und so beziehe sich der Ausdruck Theosophie auf eine authentische gnostische Tradition des Christentums, die von Dionysios Areopagita über Clemens von Alexandria und Origenes zu Maximus dem Bekenner, Johannes Scotus Eriugena, Meister Eckhart, Johannes Tauler, Jacob Böhme, Gottfried Arnold, Franz von Baader und bis in die Gegenwart reiche. All diesen sei die Berufung auf eine authentische spirituelle Erfahrung und eine innere Wandlung oder Wiedergeburt gemeinsam. Dieser zeitlose oder gnostische Kern des Christentums allein ist laut Versluis imstande, die Zeit zu übersteigen. Der ahistorische Charakter der zugrundeliegenden Erfahrungen zeige sich auch daran, dass es keine lückenlose Kette der Überlieferung gebe, sondern dass die christliche Gnosis aus ihrer überzeitlichen Einheit zu unterschiedlichen Zeiten stets von neuem anfange.

Diese ahistorische oder parakletische Dimension des Christentums gehe letztlich auf das Neue Testament zurück. Christus selbst kündigte den Tröster an und die Gründungsakte der neuen Religion beginn mit der Ausgießung des Heiligen Geistes.

Immer wieder beriefen sich in der Geschichte die Theosophen auf dieses Urereignis, wenn sie beanspruchten, das Christentum zu seinem unverfälschten Wesen zurückzuführen. Denn nichts anderes sei Theosophie, als der Versuch, das Christentum in seiner ursprünglichen Form wieder herzustellen, das Ewige im Zeitlichen zu vergegenwärtigen. Den Theosophen sei ein anderer Blick auf die Geschichte eigen, durch den sie zu einer Hierohistorie, einer Heiligen Geschichte werde. Die Hierohistorie sei die Geschichte der Offenbarung oder spirituellen Erleuchtung, die immer möglich sei, auch in der Gegenwart. Pfingstliche Offenbarungen sind für die Theosophen das Wesen des Christentums – wer keine unmittelbare spirituelle Erfahrung erlange, bleibe nach Böhme in einem Zustand der Unwissenheit und bleibe von äußeren Quellen und Beglaubigungen abhängig.

Gnosis und Engel

Heute sei klar, dass das frühe Christentum eine Fülle unterschiedlicher Zugänge zu seinen höchsten Mysterien entwickelt habe, die nicht mehr alle als Häresien abgetan werden könnten. Die vergleichende Religionswissenschaft habe die tiefere Verwandtschaft zwischen den spirituellen Traditionen des Valentinian, der Mandäer, der Ismaeliten und des orthodoxen Christentums erforscht. Sie alle seien von zwei goldenen Fäden durchzogen: der Gnosis und der Schau der Engel. Im Christentum finde sich nicht weniger als in anderen Religionen eine initiatische oder initiatorische Tradition, dir zu vergleichbaren Erfahrungen führe.

Die initiatische Tradition des Christentums fuße auf der Metaphysik der Emanation. Die Lehre von der Emanation spreche dem Menschen die Fähigkeit zu, zu immer reineren Stufen der Erleuchtung aufzusteigen und den Makrokosmos im Mikrokosmos zu finden. Die gesamte christliche Lehre von der Initiation fuße auf dieser Korrespondenz und Teilhabe des Menschen an der himmlischen Hierarchie. Der Hierarch oder Einweihende könne Menschen, die die Erleuchtung suchten, an seiner spirituellen Erfahrung teilhaben lassen.

Für dieses Verständnis der Initiation ist Dionysios Areopagita mit seiner Schrift »Von der himmlischen Hierarchie« wegweisend. Bei ihm wird der Aufstieg der Erleuchtung durch eine zentrale Lichtachse des Kosmos bewirkt, die alle Wesen zu sich heraufzieht, die sie dazu ausersehen hat. Der Strahl des göttlichen Lichtes durchdringt die gesamte Schöpfung in ihrer unendlichen Mannigfaltigkeit und bleibt doch nur einer, aber er verhüllt sich zugleich mit den heiligen Schleiern der Schrift, der Liturgie und der geschaffenen Natur. Das Licht macht die Natur Gottes offenbar. Die Schrift und die Liturgie sind verdichtete Formen der Gotteserscheinung, die Natur zerstreut das Licht der göttlichen Weisheit, manche Seelen vermögen das Licht aber auch direkt anzuschauen. Diese direkte Anschauung wird durch Offenbarung ermöglicht, denn die Aufgabe der höheren Wesen ist es, jene zu erleuchten, die unter ihnen stehen, so wie sie selbst von jenen erleuchtet werden, die über ihnen stehen. Daher werden auch menschlichen Initiatoren als Engel bezeichnet, weil sie die Funktion der Engel ausüben. Menschen können sogar über die Engel hinaussteigen, aber insofern auch die Aufgabe des Menschen darin besteht, das göttliche Licht zu offenbaren, kann man ihn als Engel bezeichnen. Selbst Christus ist ein Engel für die Menschen, der herausragendste unter ihnen, da er die göttliche und die menschliche Natur vollkommen in sich vereinigt hat. Er ist der vollkommene Bote und Mittler, daher ist er das Zentrum der Engelwelt, der vollkommene Offenbarer, weil er selbst zur Offenbarung geworden ist.

Das Erscheinen der Engel, das Sichtbarwerden Gottes und die Erkenntnis sind voneinander nicht zu trennen, denn die Engel sind das Medium der göttlichen Offenbarung, die wiederum nichts anderes als Gnosis, Erkenntnis, Schau ist. Ohne englischen Offenbarungsträger kann es keine Gnosis geben – der Engel ist die Offenbarung, insoweit er das Wesen Gottes offenbart. Gott ist die letzte Quelle der Offenbarung, so wie die Sonne die Quelle des Lichtes: die Engel spiegeln und leiten das göttliche Licht weiter, so wie die Planeten es mit dem Licht der Sonne tun.

Die geistige Erleuchtung, die in Gott ihren Ursprung hat, muss von den höheren auf die niederen Wesen herabfließen, da die niederen Engel von der Fülle des Lichts sonst überwältigt würden. Stufenweise flutet das Licht der Erleuchtung durch die Ränge der Hierarchien, bis es zu Menschen gelangt. Die Engel erleuchten aber nicht nur, sie reinigen und läutern auch durch die Erleuchtung. Sie gewähren Teilhabe am Göttlichen und diese Teilhabe ist die Reinigung. Die gesamte christliche Initiation kommt aus der Welt der Engel, die nicht etwa bloß Einbildungen sind, sondern objektive kosmische Mächte, die aber ebenso in der Seele des Menschen gefunden werden können. Die Initiierten steigen auf de geistigen Stufen der Hierarchien auf, so weit sie können. Die Menschen werden in dem Masse vergöttlicht, als sie das Engelsdasein in sich verwirklichen können, als die Engel sich ihnen offenbaren können.

Da der Mensch ein Bild Gottes ist, trägt er ein Spiegelbild der dreifaltigen Hierarchienwelt und der göttlichen Dreifaltigkeit in sich bzw. er ist dieses Bild. Dieses dreifaltige Bild ist er durch seinen Leib, seine Seele und seinen Geist. Die körperlosen Geistwesen tragen diese Dreifaltigkeit in Form von Kräften oder Vermögen in sich. Jedes Wesen trägt also ein Bild der gesamten Hierarchienwelt in sich und dieses Bild ermöglicht es den Engeln sich uns zu offenbaren, soweit wir ihre Offenbarung zu ertragen vermögen.

Das Bild des Engels, das uns erscheint, ist zugleich das Bild des Engels, das wir in uns tragen, es ist unsere eigene Vollkommenheit, die uns in einem äußeren Bild erscheint. Mit anderen Worten, der Geist der Seele ist es, der ihr im Bild eines Engels gegenübertritt und sie zu ihrem geistigen Ursprung zurückführt.

Die Seele des Menschen vermag in eine Zwischenwelt einzutreten, in der sie sich in Bildern und Symbolen bewegt, die zugleich Offenbarungen der himmlischen Hierarchien und ihres eigenen höheren Wesens sind.

Die natürliche Heimat der Seele ist die Welt symbolischer, imaginativer Bilder, so wie die natürliche Heimat des Leibes mit seinen Sinnen die körperliche Welt ist. Die Seele vermittelt die Urbilder der geistigen Welt mit den mannigfaltigen Formen der körperlichen Welt und hat dadurch an den Bildekräften teil, die der gesamten Schöpfung zugrunde liegen. Er ist nur konsequent, wenn die heilige Schrift und auch Christus in Bildern, in Symbolen und Parabeln zur Seele sprechen.

In der Theologie des Dionysios kommt den Bildern und Symbolen eine herausragende Bedeutung zu. Durch sie offenbaren sich dem Menschen die Kräfte und Eigenschaften der göttlichen Welt, die oft eine Entsprechung im Menschen haben, da er ja selbst ein Bild Gottes ist. Wenn daher von den Augen, dem Mund, den Händen Gottes die Rede ist, dann stehen diese für bestimmte Wesenseigenschaften der Gottheit. Für den Gnostiker spiegelt nicht nur der Mensch, sondern die gesamte Natur ihren göttlichen Ursprung. Jede Pflanze, jedes Lebewesen offenbart einen bestimmten Aspekt Gottes und kann vom Menschen als Zeichen aufgefaßt werden, aus dem er Gott zu erkennen vermag. (Daran erinnert auch Goethes Satz »Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis«). Die Biene, die Honig erzeugt, ist wie der Betende, der Adler, der sich in die Höhe schwingt, ist wie der Geist, der sich zu Gott erhebt, der Erleuchtete ist wie der Fisch im Wasser usw. Für den Gnostiker und Theosophen ist die gesamte Natur eine Theophanie, eine Erscheinung Gottes.

Obwohl die Natur als Symbol des Göttlichen dient, sind die Symbole doch nur Bilder, die die Eingeweihten verwenden, um überhaupt zu den Uneingeweihten vom Göttlichen sprechen zu können. Aber Flügel oder anthropomorphe Attribute dürfen nicht mit der Realität verwechselt werden, die sie symbolisieren. Das göttliche Wesen offenbart sich dem, der gereinigt ist, in ungreifbarer und unausdrückbarer Form. Die Bilder aus der körperlichen Welt offenbaren in erster Linie den göttlichen Ursprung dieser Welt und nicht dieses Göttliche auf unmittelbare Weise.

In der christlichen Gnosis gibt es, so Versluis, eine fundamentale Beziehung zwischen Engelserscheinungen, Gnosis, himmlischen Hierarchien, der theophanen Natur und dem spirituellen Symbolismus. Diese Beziehung ist für die Unterscheidung zwischen falscher und wahrer Gnosis von großer Bedeutung. Schon das Neue Testament unterschied zwischen diesen beiden Formen der Gnosis. Als falsche Gnostiker werden von Petrus jene bezeichnet, die nicht die Freiheit von der Sünde, sondern die Freiheit zur Sünde propagieren. Außerdem ist von den »großen Zeichen und Wundern« die Rede, die die falschen Gnostiker vollbringen, ja Jesus spricht vom »Greuelbild der Ichverirrung«, das am Ende der Zeiten im Tempel aufgestellt werde. Falsche Gnosis, der Erkenntnisirrtum, führt zu moralischer Verirrung, zur Anbetung von Ersatzgöttern, zu denen die irdischen Dinge und Bedürfnisse des Leibes erhoben werden. Wahre Gnosis heiligt den Leib und die Natur, da beide von Gott geschaffen sind, ihn offenbaren oder ihm zur Wohnung dienen. Falsche Gnosis verwirft die Heiligkeit der Natur und die Heiligkeit des Leibes. Im Gegensatz zu solchen Gnostikern, die den Leib als Tempel des Geistes mißbrauchten und gleichzeitig die Natur als Schöpfung eines Aftergottes ablehnten, betonten Neuplatoniker wie Plotin die theophanische Bedeutung der körperlichen Welt.

Versluis zieht eine Verbindung zwischen dem Antikosmismus der falschen Gnosis und dem Materialismus oder Szientismus, der ebenso die Natur zerstöre, in der er nicht eine Offenbarung Gottes sehe, sondern als einen Ort, in dem der Mensch in kreatürlicher Angst lebt. Sowohl die antiken Pseudognostiker als auch die modernen Materialisten hätten die Natur als von Gott entfremdeten Mechanismus gesehen. Es ist daher nur konsequent, wenn moderne Theosophen wie Böhme, Arnold, Molitor und Baader die materialistische Entweihung des Kosmos aufs Äußerste verurteilten. Für die Theosophen gibt es keine Kluft zwischen Gott, dem Menschen und der Natur, sondern nur einen kontinuierlichen Übergang, der durch die Emanation vermittelt ist. Denn die physische Welt ist das »Ende der Wege Gottes«, bei ihr kommt die kontinuierliche Folge der Emanationen an ihre Ende, ohne dass die Natur aus Gott deswegen herausfiele. Vielmehr kommt in dieser physischen Welt im Menschen das Göttliche in seiner unverfälschten Form zur Erscheinung. Niemand geringerer als Christus hat die menschliche Natur und mit ihr die gesamte physische Welt glorifiziert. Die Emanation schließt nicht nur den gesamten Kosmos zu einer Einheit zusammen, sie stiftet auch ein Band der Sympathie zwischen allen Wesen und Ebenen der Schöpfung, da alles miteinander verwandt ist und im selben göttlichen Grund wurzelt.

Versluis meint, wenn man bei den Kirchenvätern und Mystikern Mahnungen vor allzu großer Hingabe an die Welt finde, dann dürfe man diese nicht als Herabsetzung der Schöpfung mißverstehen. Vielmehr mahnten sie vor dem Haften am Vergänglichen und an Begierden, das gerade für die Entheiligung des Kosmos und des Leibes verantwortlich sei.

Schließlich findet sich in den Werken aller wirklichen Gnostiker oder Theosophen eine grundlegende Übereinstimmung in diesen Fragen, auch wenn es keine historische Kontinuität zwischen ihnen gibt. Die Übereinstimmung beruht auf einer Verwandtschaft im Geist, die letztlich darauf zurückzuführen ist, dass sie  zu unterschiedlichen Zeiten dennoch alle dieselben spirituellen Erfahrungen des Zeitlosen gemacht haben. Eine Geschichte der Theosophie ist so gesehen eine Geschichte jener, die die Erfahrung der Zeitlosigkeit gemacht haben, die sich durch spirituelle Erfahrung in die Region ewiger Wahrheiten erhoben haben.

Daher kann Theosophie nach Versluis auch nicht Gegenstand historischer Kritik sein, denn in ihr geht es um das, was die Geschichte übersteigt. Die Theosophie entstammt einer überweltlichen Erfahrung und spricht jene Menschen an, die sich in dieser Welt fremd fühlen. Allein aus dieser überweltlichen Erfahrung sei aber auch das wahre Wesen des Menschen, der Natur und Gottes zu begreifen. Die Erfahrung der Engel beginne mit diesem Gefühl der Fremdheit, ihre Frucht sei die Erleuchtung der Seele durch den Geist.

Dass das Gefühl der Entfremdung von der Welt das Eingangstor zur Theosophie bildet, diese aber die Welt nicht verneint, sondern als Theophanie betrachtet, ist nur scheinbar ein Widerspruch. Denn was zur Entfremdung führt, ist gerade das Unvermögen, in der Welt selbst das Göttliche zu erblicken. Und dieser im Zeitalter des Materialismus verloren gegangene Blick ist es, der durch den Engel erst wieder erweckt werden muss.

Eros im Mittelalter

In der christlichen Mystik des Mittelalters, so Versluis, findet man sowohl die via negativa, als auch die via positiva. Die via negativa übersteigt alle Bilder und Symbole, um in der »Wolke des Nichtwissens« zu versinken, in der der Mystiker sich jenseits alles Sagbaren und Wissbaren mit dem Einen vereinigt. Für die via positiva werden die den Menschen umgebenden Bilder geistig durchsichtig, wer sie beschreitet, für den wird die sichtbare Welt durchscheinend für das Göttliche. In der »sophianischen Mystik« oder dem religiösen Eros fallen diese beiden Wege in eins zusammen.

Der religiöse Eros manifestierte sich im 12. Jahrhundert in der höfischen Liebe des Minnesangs. Bei den Troubadouren ging es um spirituelle Ritterschaft, um die Hingabe des Kriegers an eine Frau, die für ihn eine Erscheinung des Ewig-Weiblichen, der Sophia war. Der Minnesang verband religiöses Wissen, Rittermythologie, Initiationsweisheit, Askese und Liebe miteinander.

Auf den ersten Blick unterscheiden sich die Wege voneinander: Eckhart, ein Vertreter der via negativa, wendet sich gegen die Bindung der Seele an Bilder oder die Welt, während Hadewijch (Hadewig), eine Begine, sich mit ihrem Symbolismus und ihren Visionen in einer ritterlichen Bilderwelt bewegt. Der spirituelle Weg der Krieger führt durch die äußere Welt und die Bewährung in dieser, der mystische Weg führt nach innen.

Wenn man aber näher hinsieht, erkennt man laut Versluis Konvergenzen. Ein Mystiker wie Jan van Ruysbroek, den man der Schule Eckharts zurechnet, stand unter dem Einfluss Hadewijchs und ihrer ritterlichen Symbolik. In Wahrheit handelt es sich um einen einzigen spirituellen Pfad mit verschiedenen Stufen: symbolische Meditation, Engelsoffenbarung, Transzendenz der Bilder.

Die höfische Liebe ist mindestens so asketisch wie die Mystik. Der Ritter, der sein Herz einer keuschen Dame geschenkt hat, befindet sich auf einer Abenteuerfahrt, bei der er von der Geliebten getrennt ist und Entsagung übt – Keuschheit und Entsagung sind Motiv und Quelle von Lebensfahrt und Liebespoesie. Um nichts anderes geht es auch in der mönchischen Lebensweise: auch hier wird die Welt und die weltliche Befriedigung zugunsten einer spirituellen Erfüllung verschmäht. Für den höfisch Liebenden ist jedoch die Geliebte ein Bild des weiblichen Aspekts der Gottheit auf Erden.

Der Pfad der Symbole, auf dem die irdischen Dinge Gott widerspiegeln, geht ebenso auf Dionysios Areopagita zurück, wie die via negativa, die alle Symbole verwirft. Dionysios kennt die anagogische Bedeutung von Bildern, er kennt die Offenbarung der göttlichen Weisheit durch die Engel und er kennt die höchste Erleuchtung, bei der alle Formen überstiegen werden. Das Symbol, die Offenbarung der Weisheit durch die Engel und das Einswerden mit dem Einen jenseits der Sagbarkeit stellen drei Stufen eines Weges dar: Imagination, Inspiration und Intuition, um es anthroposophisch auszudrücken.

Das Grundmotiv der Liebesmystik kommt nicht nur im Minnesang zum Ausdruck, sondern auch in den gotischen Kathedralen, im Chorgesang, in Dantes »Göttlicher Komödie«. Immer geht es um die Vereinigung der himmlischen und der irdischen Welt. Die mittelalterlichen Gnostiker führen nach Auffassung Versluis’ Clemens von Alexandrien und Origenes fort – sie leben aber auch in einer Spannung zwischen Orthodoxie und individueller spiritueller Erfahrung, die sich in allen Religionen findet, die eine Orthodoxie ausgebildet haben.

Stets geht es darum, wie Bilder und Symbole aufgefaßt werden. Zwar trägt die gesamte Schöpfung die »vestigia Dei«, die Spuren Gottes (Paulus), in sich, aber in manchen verdichtet sich gleichsam die spirituelle Substanz. Man kann geradezu von einer »Wissenschaft der Symbole« sprechen, zu der die anagogische Deutung der Bilder gehört. Untersucht man die verschiedenen mystischen Traditionen des Christentums, des Judentums (Kabbalah) und des Islam (Sufismus), stößt man immer wieder auf dieselben Zentralsymbole für spirituelle Erfahrungen, was auf Archetypen verweist, nicht nur im Sinne C.G. Jungs. Versluis spricht von einer »spirituellen Geognosie« und »Physiologie«. In allen Mystiken tauchen gewisse Bilder auf: die Quelle, die Flamme, das Herz – sie sind Teile der Natur, in denen die Spur des Schöpfers besonders deutlich zu lesen ist. Daher eignen sie sich auch besonders, um sein Wesen und seine Beziehung zur Schöpfung auszudrücken.

Ähnlich verhält es sich mit dem Weiblichen in Gott, mit der Gestalt der Sophia, der göttlichen Jungfrau (Schekinah). Die weibliche Gottheit taucht nicht aufgrund historischer und literarischer Abhängigkeiten in allen Mystiken zu allen Zeiten auf, sondern deswegen, weil sie eine reale spirituelle Erfahrung ist, die die Suchenden dazu aufruft, über sich selbst hinauszuwachsen. Sie wird überall auf dieselbe Weise gefunden: durch Symbolmeditation. Was die Seele durch archetypische Symbole erfährt, ist keine Ausgeburt realitätsferner Subjektivität, sondern eine geistige Realität, die der objektiven und der subjektiven Welt als gemeinsamer Grund vorausgeht. Die Theosophie hält diese geistige Realität für wissenschaftlich erforschbar. Die Quelle dieser Wissenschaft ist nicht die sinnliche, sondern die übersinnliche Erfahrung. Und diese Wissenschaft setzt Glauben und Ehrfurcht voraus.

Die anagogische Durchsichtigkeit der Bilder wird nirgends deutlicher als in der Liebespoesie des Minnesangs, in der alles Weltliche zugleich geistlich, alles Irdische zugleich himmlisch ist. In der »Divina Commedia« geht es nicht in erster Linie um die historische Beatrice, sondern um Beatrice, insofern sie für Dante zu einem Engel der Offenbarung wird. Sie belehrt ihn darüber, was es heißt, Christi Reich sei nicht von dieser Welt, sondern im Inneren zu finden, erweckbar und realisierbar durch Meditation der Bilder der sinnlichen Welt.

Zu Recht erinnert Versluis daran, dass die christliche Liebesmystik nicht ohne Plato denkbar sei. Im Symposion belehrt die Priesterin Diotima – die weibliche Gestalt der Gottheit – Sokrates darüber, dass Eros der Mittler zwischen der irdischen und der himmlischen Welt ist, weil er selbst an beiden teilhat. Eros zieht den Menschen hinauf, nicht hinab. Wer in die Mysterien der Liebe eingeweiht ist, erkennt, dass alle Liebe letztlich von Gott kommt und zu Gott führt. In allem was sich sehnt und begehrt, in allem Zeugungsverlangen, wirkt die Liebe Gottes zu sich selbst, deren letzte Erfüllung dann erreicht wird, wenn dem Schöpfer jene Liebe aus der Kreatur zurückfließt, aus der sie hervorgegangen ist.

Dieses platonische Verständnis des Eros findet sich auch im frühen Christentum, bei Clemens oder Origenes. Für sie sind die Gier nach Geld, Macht oder sexueller Lust »Krankheiten der Seele«. Die Seele leidet an diesen Krankheiten, weil sie nicht erkennt, dass all ihr Verlangen nur durch jenes Gute gestillt werden kann, das der Quell alles Seins und das Ziel alles Begehrens ist. Christus ist ein Heiler der Seele, da er in ihr die Erinnerung an das wahrhaft Begehrenswerte wieder erweckt.

Der spirituelle Eros unterdrückt nicht das natürliche Verlangen nach Zeugung und Unsterblichkeit, sondern er lenkt es um auf jenes Ziel, in dem allein es Erfüllung findet: nicht das vergängliche, nur das ewige Gute vermag das Verlangen nach Unsterblichkeit zu erfüllen, nicht die vergängliche Speise, allein die himmlische vermag auf ewig zu sättigen.

Die Sehnsucht nach dem Lebensgefährten ist zugleich eine Sehnsucht nach einem Geistgefährten und der religiöse Eros verwandelt den ersteren in den letzteren, er enthüllt, dass der erstere in Wahrheit der letztere ist, er macht beide eins, erlaubt uns, im Irdischen das Himmlische, im Zeitlichen das Ewige zu sehen. Der religiöse Eros, so Versluis, verwandelt den geliebten Menschen in ein Symbol, das die Bedeutung der gesamten Welt und unserer spirituellen Reise durch sie offenbart. Die Welt der Symbole gewinnt eine größere Bedeutung als die äußerliche Geschichte.

Auf diese Weise konvergieren höfische Liebe und mystische Spiritualität. Der Symbolismus der Troubadoure, die Offenbarung der Engel und die gnostische Spiritualität eines Eckhart oder Tauler sind ihrem Wesen nach eins. Stets geht es um die Vereinigung von Himmel und Erde. Zwar mag die spirituelle Erfahrung letztlich auf das Unsagbare abzielen, aber der Weg dorthin wird durch Imaginationen und Symbole gewiesen. Am deutlichsten zeigt sich dies für Versluis an Dantes Werk.

In einer Vision trägt Beatrice ein flammendes Herz in ihren Händen. Dieses flammende Herz findet sich auch in der islamischen oder christlichen Esoterik oft mit dem Atem oder dem geistigen Auge verbunden (»das Auge des Herzens«). Das entflammte Herz ist das Herz, das sehend wird, weil es in Liebe zum Unsichtbaren entbrannt ist, und alles weltliche Begehren in sich verbrennt bzw. die Flamme des Begehrens auf das Überweltliche richtet. Für Dante wird eine irdische Person Träger einer überirdischen Offenbarung, Beatrice verwandelt sich in einen Engel der Offenbarung, von ihr empfängt er Einsicht in den spirituellen Aufbau des Kosmos.

Dass dieser Weg auch Frauen offensteht, zeigt Hadewijch, in deren Werken die Offenbarung der Engel das Zentrum bildet. Sie bewegt sich in der Symbolik höfischer Liebe, die nicht den Männern vorbehalten ist. Hadewijch war eine leitende Gestalt der Beginen, einer spirituellen Vereinigung von Frauen, die keine Nonnen waren und sich außerhalb der Kirche organisierten, immer am Rande der Verfolgung. Von Jugend auf hatte sie visionäre Erfahrungen, in denen ihr Engel Aspekte göttlicher Weisheit offenbarten. Hadewijch ist auch insofern interessant, als an ihr deutlich wird, wie Himmel und Seele in eins verschmelzen. Hadewijch wird die göttliche Offenbarung durch Engel vermittelt, sie selbst wird durch die Offenbarung zum Engel. Ihr Engel sagt zu ihr: »Diese Himmel, die Du in Dir trägst, gehören zu ihr und zu mir. Und was Du als zwei getrennte Reiche gesehen hast, das waren unsere beiden menschlichen Naturen, bevor sie voll herangereift waren ... Du verlangtest in Deinen Zweifeln zu wissen, teuerste Herrin und Heldin, wie es kommt, dass sie ganz heranwachsen kann, um zu werden wie ich, auf dass ich werde wie sie und Du wie ich. Nimm dies ganz in Dir auf, und laß es Dir durch meinen Mund gesagt sein: es ist meine Erkenntnis meines ganzen Wesens.«

Der Text zeugt laut Versluis von der mystischen Vereinigung, die doch nicht zur Ununterscheidbarkeit führt. Die reale Hadewijch sieht durch die Anwesenheit des Engels in sich die geistige Hadewijch in einer Vision, wie sie vom Engel erfährt, dass alle drei zu einer Einheit zusammenwachsen werden, wenn sie voll ausgereift sind. Durch den Engel erfährt Hadewijch die Liebe Gottes zu sich selbst, die ihm aus den Kreaturen zuströmt, sie erkennt ihn »von Angesicht zu Angesicht«.

Auch bei Ruysbroek findet sich dieser religiöse Eros, wenngleich er ein stärkeres Gewicht darauf legt, die Bilder hinter sich zu lassen, selbst dort, wo er sie verwendet. Er steht zwischen Hadewijchs religiöser Symbolik und der vollständigen Transzendenz Eckharts. Er verwendet die Bilder der heiligen Hochzeit von Braut und Bräutigam, warnt aber davor, sie mit der letzten Realität zu verwechseln. Letztlich führen nach Ruysbroek alle Wege zu jenem Wesen, das jenseits aller Wesen liegt. Alle drei Wege münden in einem Ziel. Wer Gott schaut, schaut ihn durch einen Mittler und doch nicht durch einen Mittler, er wird mit ihm eins, indem er alle Unterscheidung hinter sich läßt.

Plato und Hermes

Platonismus und Hermetik bezeichnet Versluis in einem schönen Bild als zwei Waisenkinder, die vom Christentum, vom Islam und vom Judentum adoptiert worden sind. Die christliche Theologie verdanke dem Platonismus einen Großteil ihrer Metaphysik und der Hermetik einen Großteil ihrer Kosmologie., ähnliches ließe sich vom Islam und vermutlich auch vom mittelalterlichen Judentum sagen.

Der Platonismus gehörte einer griechischen Mysterientradition an, die bis zu den orphischen Mysterien und der Initiation des Pythagoras zurückreichte und bis zu Neuplatonikern wie Proklus und Iamblichus fortdauerte. Die Hermetik verdankt manches der platonischen Tradition und wurzelt zugleich in den Mysterientraditionen der ägyptischen Religion. Aber Platos Dialoge und das Corpus Hermeticum repräsentieren eine initiatorische Symbolik, die auch jenen zugänglich war, die keinen Anschluss an lebendige Mysteriengemeinschaften besaßen.

Der Platonismus ist ein Gebäude von Parabeln, Mythen und poetischen Bildern, die die Mysterientradition fortsetzen, die in Platos Werken ihren Niederschlag fand. Seine Bilder wurden oft mißverstanden. Ihm wurde Dualismus vorgeworfen, weil er die körperliche Welt als Schattenwelt beschrieb und die Ideenwelt als eigentliche Wirklichkeit. Aber Versluis hält dem entgegen, von einer anderen Welt zu sprechen, heiße lediglich, die urbildliche Realität zu bekräftigen, von der die sinnliche ein vergängliches Abbild sei. Das sei nicht Eskapismus, sondern metaphysischer Realismus.

Da der Platonismus selbst keine Religion ist, benötigt er ein religiöses Ambiente, in dem seine Metaphysik fruchtbar werden kann. Deswegen wurde er von allen monotheistischen Religionen adoptiert und entfaltete in ihnen seine metaphysischen Keimkräfte. Manchmal trat er auch in der Verkleidung des Aristotelismus auf – etwa in der »Theologie des Aristoteles« – einer Schrift, die Aristoteles zugeschrieben wurde, bei der es sich in Wahrheit um einen Kommentar des Proklus zu den »Enneaden« des Plotin handelte. So schmuggelte er sich in eine Welt, die zunehmend von Logik und Rationalismus beherrscht wurde und trug zum Überleben initiatorischer Motive in einer Orthodoxie bei, die von der Tendenz beherrscht war, die individuelle Erfahrung des Göttlichen auf dem Wege der Imagination oder Inspiration zu verdrängen. Schon Sokrates stand als Visionär einer historizistischen, wortgläubigen Fraktion von Fundamentalisten gegenüber – diese Konstellation setzte sich durch die Geschichte fort. Am Platonismus konnte sich stets von Neuem ein individualistischer Mystizismus entzünden, der die Grenzen der Orthodoxie sprengte.

Versluis führt Johannes Tauler im 14. Jahrhundert als Beispiel für einen christlichen Mystiker an, der dem Platonismus Wesentliches verdankte. Tauler betrachtete Plato und die Neuplatoniker als Vorläufer des Christentums, er sprach ihnen Einblicke in den Grund der Seele zu, auf dem sich das Göttliche findet, die er bei seinen christlichen Zeitgenossen vermißte. Platonische Autoren hatten in Taulers Augen auf vorbildliche Weise das Göttliche im Innern der Menschenseele erkannt und erfaßt. Der Platonismus, so Versluis, diente dem Christentum stets als Erinnerung daran, was die Worte Christi: »Das Reich Gottes ist in uns« bedeuteten. In diesem Motiv überschneiden sich Plato, Plotin, Dionysios Areopagita und Tauler. Um die heiligsten Stätten zu beschreiben, die der Mystiker aufsuchen kann, greift Tauler auf Schilderungen des Proklus zurück.

Tauler hatte kein Problem damit, sogenannte heidnische Autoren in die christliche Mystik zu integrieren. Denn, so Versluis, wo es um spirituelle Erfahrung geht, kommt es nicht auf theologische Dogmatiken an, sondern auf das, was erfahren wird. Mystik und Theosophie sind inklusiv, integral, nicht abgrenzend, exklusiv. Jenseits aller dogmatischen Streitigkeiten um Begriffe und Definitionen, geht es den Mystikern, den Theosophen stets um die Erfahrung des Göttlichen, das sich ohnehin nicht in einander ausschließende Begriffssysteme zwingen läßt, dessen Wesen vielmehr all diese dogmatischen Unterscheidungen sprengt und übersteigt.

Etwas schwieriger aufzufinden sind die Spuren der Hermetik, da die Hermetik ihrem Wesen nach immer eine geheime, esoterische Tradition war. Während der Platonismus eher mystisch ist und die Betonung auf den individuellen Aufstieg zur Schau der Ideen legt, ist die Hermetik eher kosmologisch und legt die Betonung auf die Beziehung zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos. Der griechische Gott Hermes ist der Mittler kat exochen, der als Bote zwischen Himmel und Erde fungiert, sein Reich ist daher die mittlere Welt zwischen Fixsternhimmel und Erde, die Seele zwischen Geist und Leib. Daher kreisen die Geheimnisse der Hermetik um die Beziehung zwischen der oberen und der unteren Welt und zugleich um die Seele, ihre Läuterung, Verwandlung und Erleuchtung. Also auch die Hermetik zielt auf spirituelle Vollendung, wenn auch auf anderen Wegen.

Dies zeigt sich auch am Corpus Hermeticum, in dessen Traktaten die Beziehung von Meister und Schüler im Vordergrund steht, bei der es um Offenbarung eines geheimen Wissens geht. Hier werden keine Offenbarungsschriften als Autorität angerufen, sondern im Lehrgespräch offenbart sich das Göttliche durch den Lehrer, durch den es wirkt, der es in sich realisiert hat.

Die Hermetik ist mindestens so individualistisch wie der Platonismus. Sie hat keine Schulen gebildet, keine Institutionen begründet. Da die Hermetik ihrer Natur nach esoterisch ist und sich an die einzelnen wendet, die imstande sind, diese Tradition in sich neu zu erschaffen, um sich an sie anzuschließen, findet man kaum äußerliche Spuren von ihr. Erst in der italienischen Renaissance entfaltete sie im Westen eine stärkere Wirkung durch die Platonische Akademie, die ebensogut den Namen »Hermetische Akademie« hätte tragen können. Aber dem »Hirt des Hermas«, dem »Poimandres«, der »Vita Nuova« ist ein verwandter Zugang zur spirituellen Erfahrung gemeinsam.

Versluis meint, dies sei ein Bewußtsein zwischen dem Schlaf- und dem Wachzustand, ein Bewußtsein, das sich mit Hilfe der aktiven Imagination in Bildern und Symbolen bewegt, so wie dies der Anfang des Poimandres bezeuge. Hierin liege auch die Verwandtschaft zum Platonismus, der sich ja ebenso der Mythen und poetischen Bilder bediene.

Die Hermetik ist kosmologisch (der Platonismus allerdings auch, muss man hier ergänzen, man denke nur an den Timaios) – im Poimandres und anderen Dialogen des Corpus Hermeticum geht es um die Natur des Kosmos, das Urfeuer, das Erscheinen des Logos, die sieben Verwalter, die Planetenregenten, die Konstitution der Natur und des Menschen. Kosmologie sei insgesamt das Interesse, das im Corpus Hermeticum im Vordergrund stehe: die Beschaffenheit des Kosmos, der Natur, des Menschen. Die hermetische Kosmologie schließe Wissen von den Pflanzen, Alchemie, Astrologie ein, Kenntnisse darüber, wie die Planeten die Geschehnisse auf der Erde regulieren, und wie sich ihre Qualitäten in allen Dingen der Natur, im Menschen finden. Hermetik führt daher logisch zur Alchemie, zur Medizin, zu diversen anderen Künsten, die auf der analogia entis, auf der Entsprechung des Mikrokosmos und des Makrokosmos beruhen.

Vielleicht kann man sagen, dass die Hermetik stärker die Heiligkeit des Kosmos betont, was sich in Agrippa von Nettesheim, in Paracelsus, in Johann Georg Gichtel zeigt. Insbesondere Paracelsus ist in diesem Sinn ein Hermetiker.

Letztlich stellen aber sowohl der Platonismus als auch die Hermetik Formen einer unabhängigen, individuellen spirituellen Erfahrung dar, die in die verschiedensten Religionen integriert werden konnte. Beide repräsentieren innerhalb des christlichen Abendlandes einen individuellen Weg zur Erkenntnis des Kosmos und der Menschenseele. Da diese Erkenntnis nicht an die Geschichte gebunden ist, sondern an das zeitlose Wesen des Menschen, kann sie jederzeit erneuert werden. Insofern die Theosophie sich um genau diese Erkenntnisse bemüht, unterscheidet sie sich von ihrem Ziel her nicht von Platonismus oder Hermetik.

Theosophie

Nach diesen Vorüberlegungen wendet sich Versluis im folgenden Kapitel der christlichen Theosophie der Neuzeit zu. Er vermittelt einen kurzen historischen Überblick über eine Reihe von Autoren, angefangen mit Jacob Böhme, in dem die Theosophie ihre »historisch bewussteste Form« annimmt, bis zu Franz von Baader im 19. Jahrhundert. Versluis vertritt die Auffassung, die Theosophie stelle in einem Zeitalter der Verirrung, wie dem unsrigen, das durch Vergessen essentieller Werte gekennzeichnet sei, noch immer eine spirituelle Alternative dar. An dieser Stelle könnte man die Frage aufwerfen, warum er die moderne Fortentwicklung der Theosophie im 20. Jahrhundert, die Anthroposophie, die ebenso in der Tradition eines individualisierten Erfahrungschristentums steht, mit keinem Wort erwähnt – auch sonst nirgends in seinem Buch. Aber darüber zu spekulieren ist hier müßig.

Böhme jedenfalls repräsentiert ihm ein mystisches Potential, das dem Protestantismus selbst inhärent war. Entgegen der selbst von Protestanten häufig genug kolportierten Auffassung, gibt es nämlich im Protestantismus nicht nur die Bibel und den Glauben, sondern auch eine reichlich fließende Quelle mystisch-spirituellen Lebens, die ihren Ausgang von Jakob Böhme nahm.

Die Theosophen hatten eine völlig unsektiererische Auffassung vom Christentum, was um so ironischer anmutet, wenn man die Zersplitterung des Protestantismus in zahllose verfeindete Sekten in Betracht zieht. Theosophen konnten sich jedenfalls über die Konfessionsgrenzen hinweg in gewissen gemeinsamen Grundüberzeugungen finden, die das Verständnis des Christseins betrafen. Ihr Verständnis wurzelte in der gnostischen visionären Spiritualität Böhmes und folgte dem »Pfad des Herzens«. Sie waren denkbar weit vom exoterischen Fundamentalismus entfernt, der heute meist das Bild des Protestantismus bestimmt, zumal in den USA. Von Böhme ging nicht nur die Theosophie aus, sondern auch eine außerordentlich kraftvolle, populäre religiöse Erneuerungsbewegung, der »radikale Pietismus«, der mit seiner schlichten Dreiheit von Glaube, Frömmigkeit und Mystik ganz Europa ergriff und bis nach Nordamerika wirkte.

In Versluis’ Augen zeichnet die moderne Theosophie vieles aus: eine einzigartige Verbindung von breitem Einfluss und metaphysischer Reflexionshöhe, tiefer Gelehrsamkeit und spiritueller Konsequenz, ein ökosophisches Denken, das die Natur und ihre spirituelle Bedeutung würdigt, ein kultureller Konservatismus (Festhalten an der mittelalterlichen Kosmologie) und schließlich der Primat individueller, spiritueller Erfahrung vor Dogma und Institution. Das zentrale Anliegen der »europäischen Theosophie« war nach seiner Auffassung die innere Wandlung (Transmutation) durch die Geburt Christi im Menschen. Es gibt zwar auch andere wichtige Elemente, aber aus diesem gehen alle anderen hervor. Man könnte sogar behaupten, »die gesamte theosophische Tradition sei nichts anderes, als eine Ausgestaltung des inneren Wesens der Seele, ihrer Wandlung und Erleuchtung«.

Diese Betonung der individuellen Erfahrung, der Geburt des Christus in der Seele des Menschen – die wohl das Logon des Angelus Silesius: »Wird Christus tausendmal zu Betlehem geboren, und nicht in Dir, Du bleibst doch ewiglich verloren« am deutlichsten zum Ausdruck bringt –, verhinderte, dass die Theosophie jemals institutionelle Formen annahm. Zwar schlossen sich immer wieder Gruppen von Menschen zusammen, besonders im Pietismus, aber diese Zusammenschlüsse blieben informell, führten zu keiner institutionellen Verfestigung.

In England bildete sich eine solche Gemeinschaft um John Pordage (1608-1681), dessen Arbeit von Jane Leade fortgesetzt wurde. Sie gründete die Gruppe der »Philadelphier« (nach der gleichnamigen Gemeinde in der »Offenbarung des Johannes«). Manche Theosophen in der Tradition Böhmes wanderten im 18. Jahrhundert nach Amerika aus. Zu ihnen gehörte Johann Conrad Beissel, der 1720 im Alter von 30 Jahren sein Eremitenleben in der amerikanischen Wildnis begann und eine Gruppe von Anhängern um sich sammelte. Beissel, der von Johann Georg Gichtel beeinflußt war, gründete eine »Priesterschaft des Melchisedek« (nach jenem geheimnisvollen Priester, der Abraham segnete). Graf Zinzendorf versuchte, Beissels Gemeinschaft von Ephrata in Pennsylvania in die seinige zu integrieren, scheiterte aber an deren Unabhängigkeitsstreben.

Auch um Johann Georg Gichtel bildete sich eine informelle Gemeinschaft, die »Engelsbrüder«. Versluis weist darauf hin, dass diese Gemeinschaftsbildung für das Verständnis der Theosophie von ebenso großer Bedeutung sei, wie etwaige Lehren oder Offenbarungen. Denn es gehe in der christlichen Theosophie immer um die Verwirklichung des wahren Christentums auf Erden, dessen Quelle zwar die individuelle Erfahrung der Wiedergeburt sei, dessen Ziel jedoch die Bildung einer spirituellen Ecclesia, einer spirituellen Lebensgemeinschaft in Christo.

Wer sich besonders für Lehren interessiert, wird etwa in Böhmes »Aurora oder Morgenröte im Aufgang« fündig. Für die ethisch-moralischen Aspekte, Anweisungen für eine spirituelle Lebenspraxis, wendet man sich dagegen besser an sein Buch »Der Weg zur Christosophie«.

Böhme, der Schuster aus Görlitz, erlebte seine erste Erleuchtung in seinen zwanziger Jahren. Die »Aurora« fußte auf diesen spirituellen Erfahrungen. Bereits seine erste Schrift rief den Argwohn der lutherischen Orthodoxie hervor. Aber dieser Widerstand hinderte ihn nicht, weiter zu publizieren.

Johann Georg Gichtel wurde 1638 in Regensburg geboren, studierte Theologie und stieß auf die Werke von Angelus Silesius und Böhme. Er wurde zum rührigsten und tiefsinnigsten Verbreiter und Interpreten des letzteren. Seine »Engelsbrüder« waren der Versuch, die spirituelle Kirche zu verwirklichen. Die Angehörigen der Gemeinschaft bildeten zwei Gruppen: die »fleischlichen«, die verheiratet waren und doch dem spirituellen Leben zugewandt, und die »vollkommenen«, die ehelos lebten. Die zwei Gruppen erinnern an die Katharer, die ebenfalls diese Zweigliederung kannten. Gichtel, der über hellseherische Fähigkeiten verfügte, beschrieb in manchen seiner Werke die übersinnlichen Wesensglieder des Menschen und die Chakras (Lotusblumen), ähnlich wie später auch Rudolf Steiner.

Anderen Theosophen stand Gichtel skeptisch gegenüber. Von Jane Leade sagte er, sie besitze zwar Kenntnisse der Astralwelt, habe aber keine Einblicke in die höhere Geistwelt gewonnen, ein Einwand, den später auch Steiner zusammen mit Louis Claude de Saint-Martin gegenüber Swedenborg erhob.

Einer der größten Gelehrten der theosophischen Bewegung war Gottfried Arnold, der 1666 in Annaburg in Sachsen geboren wurde. Er zeigte, wie die Erkenntnisse Böhmes bereits bei den Kirchenvätern und Mystikern des Mittelalters auftraten. Eine Fundgrube solcher Einsichten stellt sein Buch »Das Geheimnis der göttlichen Sophia« dar. Gichtel schätzte dieses Werk, mißbilligte jedoch, dass Arnold den Stand der Ehe einging. Arnold bemühte sich auch darum, die Kirchengeschichte neu zu schreiben. Er würdigte in seiner »Unparteischen Kirchen- und Ketzerhistorie«, einem Buch, das von Goethe geschätzt wurde, die von der Orthodoxie verworfenen Gnostiker, und sah die wahre Kirche in jenen verwirklicht, die das Erlebnis der spirituellen Wiedergeburt erreicht hatten.

Louis-Claude de Saint-Martin gehörte zu den fruchtbaren französischen Theosophen. Zunächst mit dem theurgischen Orden von Martinez de Pasquali verbunden, wendete er sich ganz der Übersetzung und Verbreitung der Werke Böhmes zu, die er in der Mitte der 1780er Jahre kennengelernt hatte. In seinen davor erschienenen Werken »Des erreurs et de la vérité« und »Tableau naturel des rapports entre dieu, l’homme et l’univers« stand die Korrespondenz zwischen Mensch und Natur und die Widerspiegelung des Makro- im Mikrokosmos im Vordergrund. Saint-Martin war ein engagierter Gegner des Atheismus und Materialismus, deren Quelle er im Rationalismus der Aufklärung sah, die zu seinen Lebzeiten ihre Triumphe feierte. Als er Böhmes Werke kennenlernte, erkannte er, dass sie all das enthielten, wovon Pasquali nur Bruchstücke besaß. Seine späteren Schriften wie »De l’esprit des choses ...« und »Le ministère de l’homme-esprit« zeugen von seiner tiefgründigen Verbundenheit mit Böhme. Sie betonen die Notwendigkeit der Regeneration der Menschheit durch den Logos, zu der die Evangelien führen und schildern die Gefahren, die vom Rationalismus und Atheismus für das soziale Zusammenleben ausgehen. Er selbst wurde als Adliger Opfer des militanten Rationalismus der französischen Revolution, verlor zwar nicht sein Leben, aber seinen Besitz, was ihn jedoch nicht von seinem spirituellen Lebenswandel abbrachte. Gerade in dieser Treue zu einem Ideal sieht Versluis seine Bedeutung: dass außerordentlich chaotische soziale Verhältnisse kein Hindernis sein müssen, den theosophischen Pfad zu beschreiten. Saint-Martin betrachtete die französische Revolution mit ihren Greueln als ein Wetterleuchten der Apokalypse und auch wenn wir – so Versluis 1994 – nicht vor solchen Umwälzungen wie damals stehen, ist unsere westliche Zivilisation dennoch von ökologischer, sozialer und religiöser Fragmentierung betroffen. Im Jahr 2011 sieht dies noch etwas anders aus, der Gedanke liegt nahe, dass uns ein erneutes Wetterleuchten der Apokalypse bevorsteht.

In Deutschland entstand im 18. Jahrhundert durch die Verschmelzung der Kabbala mit der Theosophie ein neuer Zweig der letzteren. Dafür steht Johann Christoph Oetinger, der auf den Schultern Böhmes stand, aber auch über Swedenborg, Alchemie und Kabbala schrieb. In seiner »Lehrtafel der Prinzessin Antonia« behandelte er die lurianische Kabbala und führte solche Ideen ein wie Adam Kadmon, das himmlische Urbild des irdischen Menschen, den makrokosmischen Menschen vor der Erschaffung des Universums, Ain Soph, die Urgestalt der Gottheit vor aller Manifestation und das tsim tsum, die Selbstbeschränkung Gottes, die für die Schöpfung Raum schafft. Oetinger bekräftigt auf seine Weise die Lehre von der Emanation, da die verschiedenen Welten von Gott nicht geschaffen werden, sondern wie das Licht von Gott ausfließen, was ausschließt, dass sie gänzlich von ihm getrennt sind.

Auch Oetinger wandte sich gegen den Materialismus, Atheismus und Rationalismus, die zu seinen Lebzeiten (1702-1782) in Deutschland zu wachsen begannen.

Als Krönung der Synthese zwischen Kabbala und Theosophie betrachtet Versluis das Werk Franz Josef Molitors, dessen »Philosophie der Geschichte oder über die Tradition« noch Gershom Scholem im 20. Jahrhundert für bedeutsam hielt. Auch Molitor hielt eine spirituelle Wiedergeburt für erforderlich, um der Flut des Rationalismus und Szientismus etwas entgegenstellen zu können. Der Materialismus war für ihn eine Folge des Sündenfalls – die Aufgabe bestehe darin, diesen Sündenfall umzukehren: auch Steiner sprach im 20. Jahrhundert vom »intellektuellen Sündenfall« und der »spirituellen Sündenerhebung«. Durch den Sündenfall seien die innere und die äußere Welt, Himmel und Erde für den Menschen auseinandergefallen, und er müsse sich wieder zur ursprünglichen Einheit erheben, die in der Wirklichkeit fortbestehe, nur nicht für sein Bewußtsein. Wahre Wissenschaft gewinne man aus der Erkenntnis der inneren geistigen Formen der Dinge und nicht durch ihre quantitative Erforschung. Die Heilige Sprache, der schöpferische Logos, zu dessen Erkenntnis die Kabbala führe, könne diese inneren Lebensformen alles Geschaffenen für den Menschen erschließen. Nur so könne die Wissenschaft zur spirituellen Wiedergeburt des Menschen beitragen.

Diese Spiritualisierung der Wissenschaft sah Molitor lebendig vor sich: in Gestalt des Theosophen Franz von Baader, den August Wilhelm Schlegel aus »Boehme redivivus« bezeichnete. Baader wurde 1765 in München geboren und starb daselbst 1841. Laut Versluis gelang ihm die »vollständigste Synthese der Traditionen«. Baader gehörte zu den Universaltalenten des 18. Jahrhundert und betätigte sich auf vielen theoretischen und praktischen Gebieten, selbst in der Politik. Er bemühte sich um eine ökumenische Versöhnung zwischen Katholizismus, Protestantismus und russischer Orthodoxie, was ihn 1815 dazu führte, die Bildung einer Heiligen Allianz zwischen Preußen, Österreich und Rußland zu unterstützen. Aber seine Hoffnungen wurden 1825 durch den mysteriösen Tod Alexander I. zunichte gemacht. Obwohl er zeit seines Lebens Katholik blieb, schonte er das Papsttum nicht, das er für viele Fehlentwicklungen des Abendlandes verantwortlich machte.

Baader sollte Berdjajew und Solowjoff beinflussen, ebenso Rosmini. Durch sein tiefes Verständnis des klassischen Griechentums, der Böhmeschen Theosophie und der östlichen Orthodoxie vermochte er diese Traditionen miteinander auszusöhnen, indem er sie auf ihre Quelle, die spirituelle Erfahrung zurückführte. Dadurch ist Baader aus der Sicht Versluis’ die Krönung der europäischen Theosophie. Er vermochte einen frommen Katholizismus mit dem protestantischen Mystizismus Böhmes ebenso zu verbinden, wie die Alchemie und eine paradiesische Anthropologie mit sozialem Engagement, er erkannte die Bedeutung des Eros für das Christentum, und überbrückte mit seinem ökumenischen Anliegen die Gegensätze der Konfessionen. Besonders hervorzuheben ist Baaders Philosophie der Liebe, die ein spirituelles Verständnis der Sexualität ermöglicht.

Doch mit Baader ist nicht das Ende der Theosophie erreicht, sondern nur die Aufgabe umrissen, denn schließlich soll sie auch im 21 Jahrhundert fruchtbar werden.

Diese Aufgabe umschreibt Versluis wie folgt:

  • die Wiederherstellung der wahren Beziehung des Menschen zum Kosmos,
  • eine Wissenschaft der Wandlung (Transmutation), die die gesamte Natur wieder qualitativ versteht,
  • ein spirituelles Verständnis der Sexualität,
  • eine neue Vision der Kultur,
  • eine Umkehrung des Falls und
  • eine Rückkehr zum Paradies, das sich in Wahrheit immer schon in unserem Besitz befindet.

Diesen Themen wendet er sich in den folgenden Kapiteln zu.

Liturgie und Zeitlosigkeit

In diesem Kapitel deutet Versluis die Liturgie, das Messritual, aus der Perspektive des Geistrealismus gemäß dem religiösen Selbstverständnis. In der mittelalterlichen katholischen und in der orthodoxen Kirche bis in die Gegenwart empfangen die Gläubigen aus den Mysterien der Sakramente, den Ritualen und der heiligen Sprache, ihre geistige Nahrung. Anders als für den Protestantismus, ist die Messe für die Orthodoxie bis heute die Erscheinung des Zeitlosen in der Zeit, die Gegenwart Gottes in der Welt.

Für Protestanten ist unverständlich, dass Gott in der Liturgie gegenwärtig wird, dass das Zeitgebundene durch die sakramentale Erfahrung des Ewigen geheiligt werden könnte. In einem schönen Bild erläutert Versluis diesen Gedanken am Kreuz. Die horizontale Zeitachse wird von der Vertikale der Ewigkeit durchschnitten. Das Kreuz versinnbildlicht das zentrale Mysterium der ewigen Gegenwart im Christentum: nur an einem Ort kann das Ewige das Zeitliche schneiden, nur in unserer jeweiligen Gegenwart kann die Erscheinung des Ewigen in der Zeit von uns wahrgenommen werden. Im Raum repräsentiert die Mitte des Kreuzes Wesen und Ursprung der Existenz, das Herz des Einzelnen und des Kosmos.

Das Geheimnis der Liturgie ist das Geheimnis des Kreuzes und beide sind untrennbar von der Vertikalität, von der himmlischen Hierarchie. Die gesamte Schöpfung ist eine vertikale Kette, eine Ausstrahlung der Gottheit in die Welt. Die Sakramente könnten nicht wirken, gäbe es diese vertikale Ausstrahlung Gottes in die Welt nicht. Sie sind nicht nur ein Aufstieg der Feiernden zu Gott, sondern auch ein Abstieg des Heiligen Geistes zu den Feiernden.

Daher heißt es in der orthodoxen Kirche, in der Liturgie seien die Engel anwesend. Während sie zelebriert wird, ist die Erlösung im Zeitlichen gegenwärtig. Die Liturgie ist ein Bruch im Strom der Zeit, eine Umkehrung des Falls, eine Wiederherstellung der ursprünglichen Beziehung des Menschen zu Gott. Wer an der Liturgie teilhat, hat an der Gegenwart des Himmels auf Erden und an der Erlösung teil.

Aber die Sakramente machen die Mitwirkung des Menschen nicht überflüssig. Sie sind ein Geschenk Gottes an die Menschheit und rufen uns auf, unser Wesen durch eine spirituelle Praxis unentwegt umzuwandeln. Die Liturgie selbst ist eine spirituelle Praxis, in der sich das Mysterium der Wandlung Gottes in den Menschen, des Menschen in Gott, stets von neuem entfaltet. Die Sakramente sind ein Ausfluß der göttlichen Gnade und rufen den Menschen auf, diese in sich aufzunehmen, sich ihr entgegen zu bewegen, um sich zu einem würdigen Gefäß für sie zu machen. Sie erleuchten den in der Zeitlichkeit wandelnden Menschen mit dem Licht seines urbildlichen Wesens.

Diese Erleuchtung wurde von manchen gnostischen Gruppierungen betont, die historisch betrachtet, sich den historisierenden Tendenzen der Kirche entgegenstemmten. Im Thomasevangelium heißt es, das Reich Gottes, das die Gläubigen erwarteten, sei schon da, sie erkennten es nur nicht oder es sei über die Erde ausgebreitet und die Menschen sähen es nicht. Das göttliche Wesen durchdringt den gesamten Kosmos, der dieses Wesen widerspiegelt. Auch die Liturgie vergegenwärtigt dieses Wesen, durch die Zeremonien, die einen Zugang zum Heiligen eröffnen.

Franz von Baader faßte die Kommunion als einen Abstieg des Göttlichen in unsere Welt auf, ohne dass es dadurch vermindert oder verändert würde. Die Eucharistie ist die Präsenz Gottes vor dem Menschen, eine Epiphanie, die die künftige Gegenwart des vergöttlichten Menschen an der Tafel Gottes bezeugt. Die Kommunion ist die Offenbarung des Geheimnisses der göttlichen Einheit und Vielfalt. Die Liturgie ist eine heilige Handlung, die Heiliges bewirkt, eine Offenbarung der künftigen Möglichkeiten des Menschen, die diese künftigen Möglichkeiten mit herbeiführt, und eine Offenbarung des höchsten Opfers, in dem sich Christus zeigt, an dem der Mensch durch das Ritual teilhat. Wem das Sakrament zuteil wird, hat an seiner eigenen Vergöttlichung teil.

Was für die orthodoxe Kirche gilt, galt auch für die katholische Kirche – zumindest bis zum 2. Vatikanum 1969. Die Abschaffung der tridentinischen Messe in Lateinisch hält Versluis für einen schweren Fehler. Das Lateinische hatte den Charakter einer sakralen Sprache und die Übersetzung in Umgangssprachen kommt einem Substanzverlust, einem Verlust an liturgischer Kraft gleich. Die Kirche hat gleichsam ihre eigene Kraft, die Gegenwart Gottes durch das Ritual zu bezeugen, geschwächt. Versluis führt Ambrosius und Chrysostomus als Zeugen für die Heiligkeit der Messe an: Ambrosius sprach von der Gegenwart der Engel bei der Messe, Chrysostomus bezeichnete sie als Quelle, aus der spirituelle Ströme sprudeln, eine Quelle, die von Engeln besucht werde, die die Schönheit des Stromes der Weisheit bewunderten, der durch sie geoffenbart werde. Durch die Modernisierung des Messrituals, so Versluis, habe sich die Messe gleichsam von der Menschheit zurückgezogen.

Je mehr sich das Heilige in Gestalt der Rituale aus dem Alltagsleben zurückzieht, um so mehr muss der Einzelne sich um dessen Vergegenwärtigung bemühen. Dies war auch Jakob Böhmes Überzeugung, der verlangte, jeder Augenblick des Tages müsse zu einer liturgischen Handlung werden. Er wollte den Verlust an Sakralität, den der Protestantismus verschuldet hatte, durch eine um so stärkere Sakralisierung des individuellen Lebens wettmachen. Diese Notwendigkeit bestehe in unserer modernen, säkularisierten Welt noch mehr, meint Versluis. Je mehr die traditionellen Formen des religiösen Lebens schwinden und die Gesellschaft im Chaos versinkt, um so mehr kommt es auf das immerwährende Herzensgebet und die »Engelsbruderschaft« an, die Vereinigung des Menschen mit den Engeln und der Menschen untereinander unter der Leitung der Engel. An dieser Stelle können wir auch an Steiner erinnern, der davon sprach, die alltägliche Begegnung zwischen Menschen und die Arbeit des Naturwissenschaftlers im Labor müßten zu sakramentalen Handlungen werden.

Die Theosophen standen dem Ritual nicht feindselig gegenüber, sondern betonten die Notwendigkeit der individuellen Heiligung: das liturgische Bewußtsein der Gegenwart Gottes sollte alle Aspekte des täglichen Lebens durchdringen. Goethes Aphorismus, jeder Mensch solle wie ein Priester sein, der am Altar der Natur liturgische Handlungen vollbringe, bringt eine theosophische Überzeugung zum Ausdruck. Die Forderung der Theosophen, das Leben von neuem zu heiligen, war eine Kompensation für die Sakralitätsverluste, die mit der Reformation einhergingen.

Diese Heiligung bedeutet, sich mit der göttlichen Liebe zu durchdringen, die sich auf alle Kreaturen erstreckt. Je mehr dies gelingt, um so mehr wird der einzelne Mensch zu einem liturgischen Ort, einem Ort, in dem das Ewige im Zeitlichen zum Vorschein kommt.

Die Natur als Erscheinung Gottes

Zwar wird vielfach das Christentum für die Naturfeindlichkeit der Moderne verantwortlich gemacht, weist doch schon die Genesis den Menschen an, Herrschaft über sie auszuüben. Doch dies, so Versluis, sei ein Irrtum. In Wahrheit liege der Ursprung der Moderne gerade in der Zurückweisung und Überwindung der jüdisch-christlichen Tradition zugunsten des »wissenschaftlichen Ratiozentrismus«. Das Christentum dagegen habe stets ein esoterisches Verständnis der Natur als Erscheinung des Heiligen in sich getragen.

Insbesondere der Protestantismus mit seiner Bilderfeindlichkeit und seinem Individualismus wird für die Heraufkunft der profanen Moderne, für die Industrialisierung und den Kapitalismus haftbar gemacht. Doch ignoriere dieses Argument vollkommen die theosophische Strömung, die ein Gegengewicht gegen genau diese Tendenzen darstellte. Der Protestantismus zerstörte nicht nur den katholischen Zeremonialismus und dessen Ikonografie, sondern er schuf auch die reiche innere Bilderwelt des Rosenkreuzertums, Jakob Böhmes und der Theosophie.

Gegen diese Erinnerung unseres Autors ließe sich allerdings einwenden, dass dieser Wiedereinbruch der Bilder in den Protestantismus nicht zwingend diesem selbst zugeschrieben werden muss, sondern auch als eine Rekatholisierung interpretiert werden könnte, die sich auf dem Gebiet der mystischen Erfahrung und medialen Kommunikation vollzog. Die theosophische Gegenbewegung gegen den Protestantismus innerhalb des Protestantismus war keine genuin protestantische Innovation, sondern eine allgemeinkulturelle Gegenreaktion gegen dessen Einseitigkeiten.

Wie dem auch sei: Jedenfalls gilt von der Theosophie, dass sie sich deutlich gegen die Profanisierungstendenz im Naturverhältnis des Menschen wandte, indem sie die Natur wieder als Offenbarung Gottes, als Theophanie deutete. Davon zeugen die Werke Böhmes, Saint-Martins und Baaders (die beide übrigens Katholiken waren). Für die Theosophen war die Natur eine Verkörperung des göttlichen Logos. Damit kehrten sie zu einem Verständnis der Natur zurück, das auch aus schamanistischen Kulturen bekannt ist. Schamanen besitzen das Vermögen, die Sprache der Tiere und Pflanzen zu verstehen und mit ihnen zu sprechen. Versluis vergleicht diese Fähigkeit der Schamanen mit der Fähigkeit Adams, allen Kreaturen ihre Namen zu geben, und meint, schamanische Kulturen befänden sich noch in einer Art paradiesischem Zustand, was die Beziehung zwischen Mensch und Natur anbelange. Die geheime Sprache der Natur kannte auch die christliche Hermetik. Bei dieser wurzelte sie jedoch nicht in einem paradiesischen Naturverhältnis, sondern in der emblematischen Bilderwelt der Alchemie und einer Wissenschaft der Korrespondenzen. Von diesen Korrespondenzen spricht der Grundsatz der »Tabula Smaragdina«, »Wie oben, so unten«: die spirituelle Welt spiegelt sich in der natürlichen. Schon das Neue Testament verwende Bilder der Natur, um spirituelle Wahrheiten zum Ausdruck zu bringen.

Daher konnte Valentin Weigel schreiben: »O mein Schöpfer und Gott, durch Dein Licht weiß ich, wie wundervoll ich geschaffen wurde. Aus der Welt wurde ich geschaffen, und ich bin in der Welt, und die Welt ist in mir. Ich wurde aber auch aus Dir geschaffen, und ich bleibe in Dir, und Du in mir ... Ich bin Dein Kind und Dein Sohn ... und alles, was in der größeren Welt ist, ist geistig auch in mir, so sind ich und die Welt eins«. Hier kommt ein theosophisches Verständnis der mystischen Einheit zwischen Mensch, Gott und Welt zum Ausdruck, das noch über die hermetische Auffassung der Spiegelung des Makro- im Mikrokosmos hinausgeht.

Die theosophische Anschauung von der emblematischen Sprache der Natur wurzelte in der alchymischen Wissenschaft der Korrespondenzen. Merkur, Sulfur und Sal finden sich als Qualitäten nicht nur im Kosmos, sondern auch im Leib und in der Seele des Menschen, sie sind sogar ein Bild des gesamten Menschen nach Leib, Seele und Geist. Die Alchemie ist an Qualitäten interessiert, so wie die moderne Wissenschaft an Quantitäten. Während der Wissenschaft der Qualitäten eine intrinsische Begrenzung des technologischen Zugriffs auf die Natur eigen ist, fällt diese Begrenzung bei der quantifizierenden Wissenschaft weg, was zu der bekannten Entfesselung des technologischen Zugriffs auf die Natur führt, die des Menschen gesamte Existenz bedroht. Wahre Alchemie ist nach Versluis eine Wissenschaft der Korrespondenzen und Signaturen, eine esoterische Bildersprache, die die in der Natur verborgenen spirituellen Geheimnisse enthüllt. Sie hat nichts mit Goldmacherei oder der Suche nach dem ewigen Leben zu tun. Die Alchemie befaßt sich mit jenen subtilen Wandlungsprozessen, die sich sowohl in der Natur als auch in der Menschenseele abspielen. Böhme und Baader waren besonders von Paracelsus beeinflußt.

In der deutschen und französischen Theosophie flossen zwei geistige Strömungen zusammen: die Alchemie des Paracelsus und die Gnosis bzw. Mystik Meister Eckharts. Die Alchemie steuerte die Bilder, Figuren und Prinzipien bei, die deutsche Mystik die überkosmische, metaphysische Ausrichtung des ganzen Denkens. Die Alchemie, so Versluis, vermittle ein Verständnis des Geistigen, das auf die Natur einwirke, die Mystik ein Verständnis dessen, was nicht nur auf die Natur einwirke, sondern sie übersteige.

Beides komme in der Naturtheologie Oetingers zum Ausdruck, wenn er schreibe: »Es ist die verderblichste aller Ideen, zu glauben, man könne sich die Natur außerhalb der Gegenwart Gottes denken. In allen Menschen gibt es ein unwiderlegbares Bewußtsein von den unsichtbaren Mächten, die die Natur beseelen.  Es gibt in uns auch ein geheimes ›Ja‹ oder ›Amen‹ zur Weisheit in und außerhalb von uns. Dieses geheime Bewußtsein veranlaßt uns, die Schönheit der Natur als Bild der primordialen Schöpfung anzuerkennen.« Das geheime »Ja« spiegele die Gnosis der deutschen Mystik, und das Bewußtsein der belebenden Mächte die kosmologische Gnosis der Alchemie.

Dieses theosophische Verständnis der Natur, das in ihr Embleme der göttlichen Weisheit erkennt, und Mensch und Kosmos als Spiegelbilder betrachtet, ist der materialistischen Wissenschaft direkt entgegengesetzt, die die Einheit von Mensch, Natur und Geist auseinanderreißt. So kann man die Theosophie Böhmes, Oetingers, Saint-Martins und Baaders auch als historisches Gegengewicht zum wachsenden Materialismus und Atheismus ihrer Zeit betrachten. Jeder dieser Autoren brachte eine Synthese hervor, die dem reduktionistischen Dualismus und Materialismus strikt entgegengesetzt war. Für die Theosophen ist die Natur ein Buch, eine Schrift, deren Bilder, Parabeln und Embleme entziffert werden müssen, ein Buch, das Gott bzw. der Logos geschrieben hat.

Das Erscheinen der Theosophie in der Epoche der Aufklärung und des Materialismus hält Versluis für providentiell. Noch mehr aber bedarf ihrer unsere Zeit, die die Beschränktheit materialistischer Wissenschaft einzusehen beginnt und vom sozialen Zusammenbruch bedroht ist. Umweltschützer betrachten die Erde zwar mittlerweile als lebendigen Organismus, begreifen aber nicht, dass dieses Leben eine religiöse Dimension hat. Andere machen das Christentum für die zerstörerische Moderne verantwortlich. In Wahrheit sei die Verabschiedung des Christentums die Ursache der Probleme der Moderne und nur seine Wiederherstellung könne möglicherweise den »hieros gamos« zwischen Gott, Mensch und Natur erneuern.

Eine solche Wiederherstellung könnte nach Versluis nur aus drei Quellen kommen: aus der (katholischen) Mystik eines Tauler, Ruisbroeck oder Baader, aus der (protestantischen) Theosophie eines Böhme oder Oetinger, oder aus der Gesamtheit der orthodoxen Tradition. Allein diese drei besäßen das richtige Verständnis der Beziehung von Mensch und Natur, das in einem religiösen Zentrum verankert sei. Dass die Anthroposophie auf genau diese Wiederherstellung abzielt, bleibt unerwähnt.

Für Saint-Martin ist Christus das Vorbild des Menschen, denn er stellt das ursprüngliche Gleichgewicht wieder her, das durch den Fall verloren gegangen ist. Christus ist die Säule zwischen Himmel und Erde, das Heilmittel, das die katastrophischen Folgen des Sündenfalls zu heilen vermag. Diese Heilkraft geht auf den Menschen über und die Heilung wird des Menschen Aufgabe im Kosmos. Denn die Natur spiegelt die Folgen des Falls der Engel und Menschen wieder. Die Tendenz zum Bösen und die Zerstörungskräfte der Natur sind eine Folge der Zerstörung der ursprünglichen, paradiesischen Harmonie der Schöpfung.

Die Anerkennung der objektiven Macht des Bösen durch die Theosophie ist laut Versluis kein Dualismus, sondern ein kosmologisches Verständnis der Folgen unrechten Handelns, das nicht nur eine individuelle, sondern auch eine kosmische Bedeutung hat.

Dass der Absturz des Menschen in die Zeit, in die Vergänglichkeit und den Tod, Folge eines metaphysischen Ungleichgewichts ist, das er selbst mit herbeigeführt hat, das weiß nicht nur die christliche Theosophie, sondern auch die ismailische Gnosis.

Seit dem Fall ist die Natur wie eine Witwe, die sich nach Wiederverheiratung sehnt. Über diese Natur schrieb Baader: »So vom Fluch getroffen, vermochte die Natur keine himmlischen, paradiesischen Früchte mehr hervorzubringen und ihre Unfruchtbarkeit folgte auf die des Menschen. Hinter der Schönheit der Natur vernimmt der Mensch, da mehr, dort weniger, die Klagen der Witwe über die Verfehlungen des Menschen, an denen sie leiden muss.«

Zwar sei es in der gegenwärtigen Zeit kaum möglich, den paradiesischen Zustand wieder herzustellen, aber man könne dennoch versuchen, wieder in Einklang mit der Natur zu kommen. Aber Bedingung für die Wiederherstellung ist eine Befreiung aus den Fesseln der Zeit. Aus diesen Fesseln befreit allein eine spirituelle Praxis, die das Bewußtsein zu den geistigen Wurzeln alles Seins erhebt. Böhme spricht davon, dass die sichtbare Natur ein Abbild der unsichtbaren sei, die sich in der sichtbaren Natur verberge, wie eine Tinktur in Metallen und Pflanzen. So gebe es in allem Seienden zwei Naturen: eine himmlische und eine irdische, eine ewige und eine zeitgebundene. Die himmlische offenbare das Licht der Herrlichkeit, die irdische den Gegenschein des göttlichen Zorns.

Wer durch die äußere Erscheinung der Natur hindurch zu sehen vermag, der kann in ihr immer noch das Abbild des Paradieses erkennen. Allein der »religiöse Mensch« ist nach Versluis dazu imstande, denn er allein vermag sich als Säule der Erde zu betrachten, als Wesen, das Himmel und Erde miteinander verbindet. Diese Auffassung auferlegt dem Menschen eine große Verantwortung und diese Verantwortung wird nur von wenigen wahrgenommen. Aber sie allein ermöglicht auch den »rechten Lebenswandel«. Für diesen ist nicht erforderlich, in der jungfräulichen Natur zu leben, sondern es reicht aus, zu erkennen, dass der Mensch die Brücke zwischen Himmel und Erde bildet und wie die Natur ihren göttlichen Ursprung widerspiegelt. Wenn die irdischen Gärten die himmlischen Gärten wieder abbilden, und die irdischen Reiche die himmlischen, dann ist auch der Mensch mit dem Himmel und der Natur wieder versöhnt.

Die Theosophie bietet eine Kosmologie, eine integrale Wissenschaft der Natur, die sie als Erscheinung Gottes erkennbar werden läßt. Um die in ihr verborgenen göttlichen Geheimnisse zu erkennen, ist es nicht erforderlich, den fernen Osten aufzusuchen. Die spirituellen Reichtümer liegen in der europäischen Geschichte, in unserer vergessenen Vergangenheit vergraben. Zwar ist es heute schwieriger als früher, die in der Natur verborgene Glorie Gottes zu sehen, aber unmöglich ist es nicht. Es kommt darauf an, dass der Mensch sich wieder auf sie einstimmt.

Die Wiedervereinigung der Christentümer und der Heilige Geist

Die Wiedervereinigung der getrennten Christentümer, die Wiedervereinigung der Religionen, hält Versluis weder für möglich, noch für wünschenswert. Wenn, dann kann sie sich nicht im Äußeren, sondern nur im Inneren, auf einer esoterischen Ebene, in jedem Einzelnen vollziehen. Der Theosophie geht es nicht um die äußere Wiedervereinigung, sondern um die innere Umwandlung und Erneuerung. Die Gesellschaft, die ihr vorschwebt, ist eine aus dem Inneren jedes einzelnen Menschen durch den Heiligen Geist erneuerte Gemeinschaft.

Auf diesem inneren Schauplatz allein eröffnet sich die Einsicht in die esoterische Einheit auch der christlichen Konfessionen. Theosophen aus unterschiedlichen Bekenntnissen haben sich in ihrem Ringen um eine Erneuerung des Christentums aus innerer Erfahrung zusammengefunden und sich gegenseitig befruchtet. Und sie haben auch Wahrheiten aus anderen, nicht-christlichen Weisheitsströmungen aufgenommen. Jakob Böhme etwa schöpfte alchemistische Elemente aus der paracelsischen Hermetik, die Hermetik entstand lange vor der christlichen Ära. Gerade die von Konfessionen unabhängige Natur der Hermetik ließ es zu, dass sie von den unterschiedlichsten religiösen Strömungen aufgegriffen wurde. Dies liegt daran, dass sie kosmologische Einsichten enthält, die die Religionen erweitern und nicht mit ihnen im Widerspruch stehen. So wurden laut Böhme die Menschen in Güte und Mitleid erschaffen, durch den Sündenfall entstand in ihnen der Widerstreit zwischen dem Reich des Zorns und dem Reich der Liebe. Wer in seinem Erdenleben vom Zorn beherrscht wird, lebt auch nach seinem Tode in diesem Reich – der Hölle – weiter. Böhme leugnet damit keineswegs die objektive Realität der Hölle, sondern schließt eine Offenbarungslehre mit Hilfe der menschlichen Imagination auf. Wer den Menschen als Mikrokosmos betrachtet, der im Inneren findet, was im Äußeren wirkt, reduziert dadurch nicht das Äußere auf das Innere.

Unter Mystikern unterschiedlichster Herkunft gibt es bemerkenswerte Übereinstimmungen, nicht, weil sie einander historisch beeinflußt hätten, sondern weil sie – so Versluis – aufgrund vergleichbarer Erfahrungen zu vergleichbaren Ansichten gelangten. Insofern kann man von universellen mystischen Wahrheiten sprechen. Eine dieser Wahrheiten betrifft den Menschen und sein Verhältnis zu Gott. Der Mensch ist von Gott geschaffen, um ihn zu erkennen. Dies tut er im Gebet und in der Andacht. Obwohl Gott in seinem tiefsten Grunde für den Menschen nicht ergründbar ist, da seine überwesentliche Wesensfülle mit Begriffen nicht ausgedrückt werden kann, sollte er sich ihm doch mit seinem ganzen Wesen – auch fühlend und wollend – zuwenden.

Der Mensch ist von allen Lebewesen das einzige, das imstande ist, zu beten und Erde und Himmel miteinander zu verbinden. (Genauer betrachtet, sind sie für alle anderen Kreaturen gar nicht getrennt). Dies ist auch der Sinn der Lehre von der Inkarnation, mit der die »Erlösung« – die Wiedervereinigung von Himmel und Erde – verbunden ist.

Sehr schön bringen dies Sätze des Heiligen Patrick zum Ausdruck: »Unser Gott ist der Gott aller Menschen, der Gott der Himmel und der Erde, des Meeres und der Flüsse, der Sonne, des Mondes und der Sterne, der erhabenen Berge und tiefen Täler, der Gott über den Himmeln, in den Himmeln und unter dem Himmel. Seine Wohnung ist überall, im Himmel und auf Erden, im Meer und allem was es belebt. Er erfüllt alles mit seinem Geist, belebt alles, beherrscht alles und erhält alles im Dasein.«

Die Menschheit ist geschaffen, um diese Wahrheit auf Erden zu erkennen und die Erkenntnis dieser Wahrheit ist die Erlösung, die spirituelle Befreiung der Natur, das Geheimnis der Inkarnation, der göttlichen, wie der menschlichen. Spirituelle Wahrheiten können nicht erklügelt werden. Als bloße Informationen sind sie wertlos. Man muss sie erfahren. Dies meint auch Meister Eckhart, wenn er sagt, dass die Seligkeit nicht darin bestehe, zu wissen, dass man Gott erkenne. Vielmehr trete der Zustand der Seligkeit ein, wenn sich die ganze Seele Gott zuwende, wenn sie ihr ganzes Sein und Leben aus dem göttlichen Ungrund empfange, wenn sie weder wisse, dass sie wisse, noch dass sie liebe oder sonst etwas tue.

Auch Jakob Böhme spricht von der Unfähigkeit der natürlichen Vernunft, das übernatürliche Wesen Gottes zu erfassen. Und Maximus der Bekenner schreibt aus der Sicht der östlichen Orthodoxie, erst wenn sich der Intellekt von allem befreit habe, was geschaffen sei und sich Gott als Opfer darbringe, dann vereinige sich der Mensch mit Gott, verschmelze durch den Heiligen Geist mit ihm und bekleide sich mit dem Bilde des Himmels. Immer wieder kommt das östliche Christentum darauf zurück, »dass Gott Mensch wurde, damit der Mensch vergöttlicht werde«. Diese Anschauung hält Versluis für zentral in allen christlichen Mystiken. Nicht um das niedere Selbst gehe es dabei, sondern um das höhere, oder eben, um die Umwandlung des niederen, mit Leidenschaften und Begierden behafteten, in das höhere Selbst, um das »Seelenfünklein«, den göttlichen Funken, den jedes menschliche Wesen in sich trage, möge er auch noch so tief vergraben sein unter den Wolken der Leidenschaften. Nicht indem er wie Luzifer sich selbst erhöht, vergöttlicht sich der Mensch, sondern indem er sich selbst verneint und der erleuchtenden und erwärmenden Gnade Einlaß in sein Herz und seinen Geist gewährt.

Diese Grundüberzeugung findet man in der christlichen Mystik, gleich welcher Konfession: der Einzelne soll sein Leben ordnen, nach innen gehen, und die vergöttlichende Gnade erfahren. Was für das Leben des Einzelnen gilt, gilt auch für die Gemeinschaft der Menschen, für ihre soziale Verbindung. So wie der Einzelne das königliche Element in sich zur Herrschaft bringen soll, soll es auch in der Gemeinschaft herrschen.

Daher kann das theosophische Ideal einer Gesellschaft auch nicht mit irgendeiner Form des Totalitarismus in Zusammenhang gebracht werden, denn im Totalitarismus setzt sich der Mensch an die Stelle Gottes.

Versluis unterscheidet im Sinne der Theosophie zwei Arten von Staaten: solche, in denen die Ordnung von innen kommt, und solche, in denen sie von außen kommt. Die erste ist theokratisch: die Quelle ihrer Dauer ist übermenschlich, geistig; die zweite ist totalitär, eine »Parodie« der Theokratie – sie wird durch unmenschliche Gewalt zusammen gehalten. Theokratien findet man am Anfang der Geschichte: sie selbst haben häufig Prophetien hervorgebracht, in denen vom Ende der Geschichte, vom Erscheinen des Antichristen, des Pervertierers der rechtmäßigen Ordnung die Rede ist. Versluis sieht in den totalitären Staaten des 20. Jahrhunderts solche Perversionen.

Theokratien kommen in der heutigen Welt nur noch in herabgesunkener Form vor, wie in der islamischen Welt, wo sie mit Gewalt und Unterdrückung verbunden sind, oder sie werden von anderen Regimen zerstört, wie Tibet. Zu früheren Zeiten der Menschheitsgeschichte gab es vollkommenere Formen der Theokratie. So wie der spirituelle Mensch ist auch der spirituelle Staat an einer zentralen religiösen Achse ausgerichtet, deren Licht alle Erscheinungen seines Lebens durchdringt. Diese Achse manifestiert sich im Priestertum und im Königtum. Die geistige Autorität strahlt vom Priestertum aus, das die Verbindung zur göttlichen Welt pflegt, das Königtum empfängt seine Autorität über die weltlichen Dinge aus dieser Quelle. Das Königtum hat die spirituelle Praxis der Priesterschaft zu sichern, ohne die es keine Existenzberechtigung hätte. Ein theokratisches Königreich dient, so Versluis, allein dem Zweck, Heilige zu erschaffen.

In der Moderne tendiert jedoch die theokratische Ordnung zur Despotie und die Religion zum Fanatismus. Die Moderne hat die Mittel hervorgebracht, um eine Massengesellschaft mit einer säkularen Staatsreligion zu schaffen, die mit Hilfe der Technologie manipuliert und beherrscht wird. In einer solchen Despotie ginge es vermutlich den Anhängern traditioneller Religionen am schlechtesten. Am mittelalterlichen Europa oder Byzanz läßt sich ablesen, wie eine authentische christliche Gesellschaft funktionierte. Zwar sehen wir in ihnen heute auch destruktive Elemente wirken, wie die Inquisition oder die Korruption des Papsttums, dennoch besaßen diese Gesellschaften eine Art von Stabilität, die unseren modernen Gesellschaften fremd ist. Beherrscht vom Interesse am geistigen Wohlergehen förderten sie das religiöse Leben und waren sowohl gegenüber der Natur als auch gegenüber dem Menschen weniger destruktiv als die meisten modernen Gesellschaften.

Die Vorstellungen der Theosophen waren allerdings weitaus radikaler, als die mancher Konservativer, die sich ins Mittelalter zurücksehnen. Denn sie waren der Auffassung, das Reich Gottes sei auf Erden vorhanden, die Menschen sähen es nur nicht. Jeder müsse Christus nachleben und dies sei der einzige Weg, um des Himmels auf Erden gewahr zu werden. Dazu reicht ein Appell an das Gewissen, wie ihn der Protestantismus bevorzugt, nicht aus. Die theosophische Botschaft ist die des Heiligen Geistes. Und dieser Heilige Geist will auf mystischem Wege erfahren werden. Nur indem er die Einzelnen vergöttlicht, vergöttlicht sich durch ihr Zusammenwirken die Gemeinschaft. Daher sollten sich die spirituellen Menschen laut Böhme auch nicht um die Laster der anderen sorgen, sondern um ihr eigenes spirituelles Leben. Denn nicht darauf komme es an, ob wir andere von unseren Ansichten überzeugen können, sondern darauf, wie sehr es uns gelinge, selbst ein spirituelles Leben zu führen. Je mehr der Einzelne zu einem Werkzeug der Liebe und Gnade wird, um so mehr vermag er im Sinne von Liebe und Gnade zu wirken. So versteht die orthodoxe Kirche Ritual und spirituelle Praxis: sie strahlen auf das Land und die Menschen aus, die es bewohnen. So sieht auch die griechische Mythologie die Bedeutung des hymnischen Gesangs, der in der Sage von Orpheus die Steine und die Götter erweicht. Die Theosophen glaubten an die geistige Kraft der Einzelnen und daran, dass der Himmel wiegt und nicht zählt.

Versluis ist der Überzeugung, dass die »relative Harmonie« alter Zivilisationen mit der  Präsenz und dem Wirken von Menschen zusammenhing, die dem Göttlichen zugewandt waren und ihr Leben in dessen Dienst stellten. Und möglicherweise hängt die Tatsache, dass unsere Welt bis heute existiert, mit der Existenz solcher Menschen zusammen.

Die Theosophie jedenfalls glaubt an die Existenz solcher Gerechten und strebt an, die vollkommene Gemeinschaft auf Erden zu realisieren, deren Voraussetzung die Verwirklichung von Christi Vorbild durch jeden einzelnen Menschen ist. Nach dessen Vorbild zu leben, bedeute, dem Materialismus zu entsagen und sich der himmlischen Welt zuzuwenden. So verstand sich auch die Gemeinschaft der Philadelphier – nach der Gemeinde in der Offenbarung Johannis – als wahre Gemeinde Christi, die sich der freien Gnadengabe Gottes in einer Zeit der Finsternis zuwandte. Dies zeichnet Theosophen aus: sie sind überzeugt davon, dass die Welt durch den Heiligen Geist bereits verwandelt ist, dass die Menschen aber versäumt haben, dies zu erkennen.

Tempel, Pilger und die Apokalypse des Herzens

Der Tempel und der Pilger enthalten laut Versluis die tiefsten Mysterien der drei Religionen, die auf Jerusalem hinorientiert sind. Das Zentrum des Judentums ist der »geomantische« salomonische Tempel, dessen Geheimnisse später vom christlichen Templerorden inkorporiert wurden, der aufgrund seines Wissens um diese Geheimnisse verfolgt wurde. Das Geheimnis des Tempels hängt mit dem »Ende der Zeiten« zusammen.

Der Pilger ist ein Fremdling in dem Land, das er bereist. Aber dieses Land soll ihm seine heiligen Symbole enthüllen, zuletzt das spirituelle Ziel, nach dem er strebt. Sich als Fremdling in einem Land zu empfinden, drückt dasselbe aus, wie Christi Worte: »Mein Reich ist nicht von dieser Welt.« Ein Pilger zu sein, bedeutet, mit den Augen des Geistes in die Welt zu sehen und nach den spirituellen Archetypen der Dinge zu suchen.

Auch das Rittertum birgt eine Symbolik in sich. Die Aufgabe der Templer war es, die christlichen Pilger auf ihrem Weg zum heiligen Jerusalem zu schützen. Die Templer stellten als Hüter der Heiligen Stadt für manche weltlichen Herrscher und auch für die katholische Kirche eine Bedrohung dar, beschützten sie doch die individuellen Wege zu den tiefsten Mysterien des Christentums.

In der Symbolik der Templer verbinden sich die spirituellen Welten der Engel und die Kosmologie. Um diese Vereinigung geht es in allen drei abrahamitischen Religionen. Deutlich tritt diese Symbolik in der »Göttlichen Komödie« zutage, wenn Beatrice am Eingang des Paradieses den Pilger Dante an Bernhard von Clairvaux übergibt, der für die Templer eine große Bedeutung hatte. Vor dem Eintritt in das Allerheiligste, das Paradies, wo die Struktur des Kosmos für die außerkosmische Welt durchsichtig wird, tauchen die Templer als Hüter des Tempels und Bernhard, ihr geistiger Führer, auf.

Gleichzeitig spielt aber auch das Bild Christi, die sogenannte Veronika, bei Dante eine Rolle. Dante spricht in der »Göttlichen Komödie«, ebenso wie in »La Vita Nuova«, vom Antlitz Christi, in das er geblickt habe. Pilgerschaft ist auch eine Suche nach dem »Bild«, der »imago« Christi, deren Abbild der Pilger werden möchte.

Auch in der Apokalypse des Johannes stehen der Tempel und das neue Jerusalem am Ende. Das neue Jerusalem hat keinen eigenen Tempel mehr, sein Tempel ist Gott der Allmächtige. Das neue Jerusalem ist eine Stadt aus Licht, eine Stadt der Erleuchtung, und wer zu ihm hinfindet, wird das Antlitz Gottes sehen, und Gottes Name wird auf seiner Stirn leuchten. Die Stadt, die aus dem Himmel herabsteigt und das letzte Gericht sind weitere Archetypen, die in vielen mystischen Berichten vorkommen.

Das Antlitz Gottes sieht, wer in das neue Jerusalem gelangt, in einen neuen Himmel und eine neue Erde. Der neue Himmel und die neue Erde sind die archetypische Welt, in der das neue Jerusalem sich offenbaren kann, die Welt symbolischer Bilder, die sich der mystisch-seherischen Erfahrung erschließt. Die heilige Stadt befindet sich nicht auf Erden, sondern in einer übersinnlichen, urbildlichen Welt. Daher ist diese Stadt ewig, ihr Ort ist das ewige Jetzt, das in jedem Augenblick da ist, nicht erst am Ende der Zeiten, sondern dort, wo die Zeit endet, dort, wo die Seele durch ihre geistigen Wahrnehmungsorgane in die Welt jenseits der Zeit eintritt.

Pilgerschaft, Geistsuche führt durch symbolische Landschaften zu heiligen Orten und die Wanderung durch diese Landschaften reinigt, verwandelt und verjüngt den Pilger. Das neue Jerusalem betritt, wer sich selbst läutert und seine Seele reinigt, so dass ihre geistigen Augen sehend werden. Die Ungläubigen, Götzendiener und Zauberer werden in einen See aus Feuer geworfen, die äußerliche Manifestation ihres Wesens. Jene, die reinen Herzens sind, sehen das Antlitz Gottes in reinem Licht.

Das Antlitz Gottes ist ein zentrales Motiv des Christentums. Der heilige Bernhard fordert Dante am Ende dazu auf, dieses Antlitz anzuschauen. Gott vermag nur anzuschauen, wer sich über die Engel erhoben hat, wer geworden ist wie er, damit er sein Bild zurückwerfen kann, daher erscheint auch Gottes Name auf seiner Stirn. Symbolisch wird dadurch das tiefste Geheimnis der Gnosis ausgesprochen: denn der Mensch selbst wird in seinem vergeistigten Leib, seinem Geistleib, zum Tempel Gottes. Die höchste Erkenntnis ist die Erkenntnis Gottes, die Erkenntnis seiner Anwesenheit in seinen Kreaturen und durch seine Kreaturen in der Schöpfung.

Die Schau des göttlichen Antlitzes kennen alle abrahamitischen Religionen. Der Tempel der Theosophen ist das Herz als spirituelles Wahrnehmungsorgan. John Pordage spricht vom »Auge des Herzens«, islamische Theosophen vom »Auge der anderen Welt«. Dieses innere Auge allein vermag den Tempel zu sehen. Hayy ibn Yaqzan besucht den König der Einsamkeit, der in seiner Schönheit ein einziges Antlitz ist, frühe Kabbalisten sprechen von der höchsten Gotteserkenntnis als einer Schau des Antlitzes, das im jungfräulichen Licht vor der Schöpfung erstrahlt, einer Schau, die Moses noch versagt ist.

Nur ausgewählten Einzelnen wird diese Erfahrung zuteil. Der Pilger Dante wandert allein in seiner Divina Commedia, nur begleitet von Bernhard. Johannes wird von einem Engel begleitet. Auch islamische oder jüdische Mystiker sprechen von der Einsamkeit als der Voraussetzung der Schau des Antlitzes. Nur das kleine Häuflein der von Gott Berufenen wird sehend.

Die Theosophen gehören zu diesen Berufenen. Jeder von ihnen wird auf die Seelenreise geschickt, eine Reise der Reinigung, die in der Schau Gottes gipfelt, einer Erfahrung, die letztlich mit Worten nicht beschrieben werden kann. Aber alle beschreiben diese Erfahrung mit ähnlichen, ja identischen Metaphern.

In dieser theosophischen Erfahrung durchdringen sich die überhimmlische und die himmlische Welt. Aus ihr ergibt sich ein neues Verständnis der Apokalypse. Die Offenbarung ist nicht mehr nur historisch, sie liegt nicht einmalig und abgeschlossen in der Vergangenheit, oder einer fernen zeitlichen Zukunft, sondern sie ist zeitlos, sie ist eine Erfahrung im Hier und Jetzt des sehenden Herzens, ein Eintritt in die Ewigkeit, die zugleich symbolisch und real ist. So verstanden, ist die Apokalypse immer gegenwärtig, sie ereignet sich jetzt.

In allen abrahamitischen Religionen finden sich übereinstimmende Berichte über die Schau Gottes. Versluis ist der Überzeugung, diese Übereinstimmung sei auf eine universelle spirituelle Erfahrung zurückzuführen, auf die Erfahrung, dass sich im sehenden Herzen des Menschen die geistige Ordnung des Kosmos und die Weisheit der Engel durchdringen. Von solchen Erfahrungen berichten Jakob Böhme, John Pordage und viele andere. Pordage spricht von einer Reise ins Innere des archetypischen Globus, in den Tempel des Herzens, wo er Gott begegnet. Auch Jane Leade erzählt davon, sie sei zu bestimmten Zeiten am himmlischen Hof zugegen gewesen.

Die Gegenwart der Apokalypse hat aus theosophischer Sicht aber auch noch eine andere Dimension: den Milleniarismus. Alle Theosophen glaubten, sie lebten in der Endzeit vor der Wiederkunft Christi. Das Argument, sie hätten sich geirrt, denn er sei bis heute nicht erschienen, beruht nach Versluis auf einem Mißverständnis. Denn womöglich ist die Apokalypse so zu verstehen, dass ihre Prophezeiungen für den Leser wahr werden, der sich so in sie einlebt, wie die Theosophen es getan haben. Für den Theosophen, der sich zur Schau Gottes aufschwingt, ist die Apokalypse gegenwärtige Realität, für ihn offenbart sich der Herr in den Wolken, ist das neue Jerusalem, der neue Himmel und die neue Erde bereits da.

Die Betonung der Apokalypse des Herzens birgt noch eine weitere Konsequenz, die besonders deutlich im Werk von Jane Leade zutage tritt: die Überzeugung von der »apokatastosis ton panton«, der Wiederherstellung aller Dinge. Leade begegnete Christus und dieser sprach zu ihr: »Ich will alle Dinge neu machen, das Ende soll zu seinem ursprünglichen Zustand, seinem Anfang, zurückkehren. Niemand soll daran zweifeln, dass Gottes Gnade dies vermag. So wie es am Anfang keine Sünde gab, soll es auch am Ende keine geben. Wenn der Tag des Gerichts anbricht, dann werden all diese Unvollkommenheiten in den See des Feuers und den bodenlosen Abgrund geworfen, wo alle Sünde, aller Tod, alle Sorge und alle Pein aufhören. Auch die diabolischen Mächte werden aufhören zu sein.«

Wenn Christus erscheint, wird er alle Dinge in ihren archetypischen, jungfräulichen Zustand vor der Erschaffung zurück versetzen und allen Wesen wird Liebe, Friede und Versöhnung zuteil. Diese Wiederherstellung betrifft nicht nur das Innere des Menschen, die Umwandlung seiner Seele, sondern auch die äußere Welt, eben die Umwandlung aller Dinge. Die Apokalypse des Herzens muss zu einer universellen Erfahrung werden, an der alle Wesen teilhaben. Die Milleniaristen empfinden die Dringlichkeit dieser Umwandlung nur deutlicher als andere. Und dass diese Apokatastasis alle Dinge umschließt, dass nichts verlorengeht, ist eine Konsequenz der unendlichen Güte Gottes, der seinen Sohn in die Welt entsandte, um die Schöpfung wieder zu sich zurückzuführen. Apokalypse heißt Durchchristung der Welt, die Auferstehung der Schöpfung in Gott durch seinen Sohn.

Durch die Apokalypse wird aber auch das Böse offenbar, das für die Theosophen wie bereits erwähnt kein Abstraktum, sondern eine Realität ist. Meist führt ihr Weg durch die Hölle, bevor sie Zugang zur himmlischen Welt erlangen: so bei Pordage, bei Dante, der das Purgatorium und die Hölle durchschreiten muss, bevor er ins Paradies gelangt. Auch als persönliche Erfahrung in ihrem Alltagsleben kannten Böhme und Pordage das Böse, die Zorneskräfte, mit denen sie konfrontiert wurden, bevor sie jenseits davon die paradiesischen Aspekte der Schöpfung erfahren konnten. Aber sie erlebten auch, wie diese Mächte des Bösen vor dem Antlitz Christi zerschmolzen.

Apokalypse bedeutet Enthüllung, Entschleierung und so sollte die Apokalypse des Herzens verstanden werden. Diese Enthüllung findet nicht nur einmal in der Geschichte statt, sie kann jederzeit stattfinden, ja sie muss jederzeit stattfinden, wenn die Menschheit nicht gänzlich ihren Zusammenhang mit der göttlichen Welt verlieren soll.

Novalis schrieb, der Mensch solle teilhaben an der göttlichen Sympathie mit allen Dingen, er solle Gott beistehen, die Schöpfung zu erlösen, ein Messias der Natur werden. Darum geht es in der Theosophie: um die Mitwirkung des Menschen am Schöpfungs- und Erlösungswerk. Die Verantwortung des Menschen geht weit über das Bekenntnis zu einem historischen Christusereignis hinaus: sie schließt die Nachfolge Christi zu jeder Zeit, an jedem Ort ein – denn diese Nachfolge allein sichert die Wiederherstellung aller Dinge, die Rückkehr der Schöpfung in Gott.

Umwendung des Geistes

Jede Metaphysik – so Versluis – beginnt mit einer Umwendung des Geistes, einer metanoia. Wohin wendet sich der Geist? Er wendet sich einer Offenbarung zu, die für den Verstand und die Sinne nicht erreichbar ist. »Metaphysik« bezeichnet, was jenseits der Physik, jenseits der Kosmologie liegt. Die Zuwendung zum Göttlichen, die metanoia, wird im Deutschen als »Wiedergeburt« bezeichnet. Durch sie öffnet sich der Mensch gegenüber seinem wahren Wesen.

Der Protestantismus hat mit seiner Buchstabengläubigkeit viel zur Verschüttung des ursprünglichen Sinns der »metanoia« beigetragen. Daher muss dieser erst wieder durch Besinnung auf die Quellen hergestellt werden. Für Dionysios Areopagita schloß die metanoia ein geistiges Verlangen, einen Eros ein. Als gefallene Wesen werden wir von der Sinneswelt angezogen und die Umwendung des Geistes besteht darin, dass wir uns wieder Gott in unserem Inneren zuwenden. Der Wendung nach innen liegt ein tiefes Verlangen zugrunde, uns wieder mit Gott zu vereinigen und unser geistiges Wesen zu verwirklichen, dasselbe Verlangen, das auch den Liebenden nach der Vereinigung mit dem Geliebten streben läßt. Die Umwendung des Geistes ist nicht Ablehnung der sinnlichen Welt, sondern Bejahung der übersinnlichen.

Von diesem Verlangen der Kreatur spricht Dionysios in seinem Buch über die »Göttlichen Namen«: »Und daher müssen alle geschaffenen Dinge das Schöne und das Gute verlangen, begehren und lieben. Und wir müssen mutig genug sein, zuzugestehen, dass die Ursache aller Dinge in der Überfülle ihrer Gutheit alle Dinge liebt, dass sie aufgrund dieser Gutheit alle Dinge schafft, und alles zur Vollendung führt, alles zusammenhält und alles wieder zu sich zurückbringt. Das göttliche Verlangen ist das Gute, das das Gute um des Guten willen sucht.«

Das Verlangen, der Eros, von dem Dionysios spricht, ist das Göttliche in uns, das durch uns erkannt sein will. Dionysios zitiert aus den »Sprüchen«: »Verlange nach ihr und sie wird Dich halten; erhöhe sie und sie wird Dich erheben; ehre sie und sie wird Dich umfangen.« Gemeint ist die Sophia, die göttliche Weisheit. Auch Maximus Confessor spricht von diesem Eros, durch den das Göttliche »anderes bewegt und sich selbst bewegt, da er danach dürstet, dass man nach ihm dürstet, da er danach begehrt, begehrt zu werden und liebt, geliebt zu werden.« Nichts anderes bedeutet auch Ekstase: aus sich selbst herauszutreten, um sich mit Gott zu vereinigen. Denn auch Gott tritt aus Liebe zu seinen Geschöpfen aus sich selbst heraus, und »läßt seine Transzendenz hinter sich zurück, um in allen Dingen zu wohnen, während er doch zugleich in sich selbst bleibt«. Demnach gibt es eine spiegelbildliche Entsprechung zwischen Gott und der Seele – im Verlangen der Seele nach Gott verlangt Gott nach sich selbst, nach seiner Erkenntnis durch die, die ihn lieben.

Dieses Verlangen aller Kreaturen nach Vereinigung, zuletzt nach der Vereinigung mit Gott, wird als »Theopathie« bezeichnet. Alle Kreaturen tragen das Bild Gottes in sich, durch das sie sich mit ihrem Schöpfer vereinigen wollen, ein Bild, das zugleich das Bild der Seele ist, wie sie ursprünglich von Gott geschaffen wurde, Gott, der sich in dem, der ihn liebt, erkennt. Die Manichäer sprachen vom »Jesus patibilis«, der in den erlösungsbedürftigen Kreaturen leidet, und vom »Jesus impatibilis«, dem transzendenten Bild, das frei von allem Leiden ist – in Wahrheit sind beide eins, so wie auch der Liebende entdeckt, dass sein Verlangen nach Erlösung das Verlangen Gottes nach seiner Offenbarung im Herzen aller Geschöpfe ist.

Maximos der Bekenner sieht in dieser Spiegelbildlichkeit das Wesen der Liebe, des Eros. Da Gott in seiner Liebe zu seinen Geschöpfen aus sich heraus tritt, ist er der urbildliche Liebende, denn er erhebt andere dazu, sein eigenes Verlangen nachzuahmen, und er verdient es, von ihnen in seiner Hingabe nachgeahmt zu werden. »Gott«, so Maximos Confessor, »erregt und lockt, um eine liebende Vereinigung im Geist herbeizuführen« und stets ist »diese erotische Kraft, sei sie nun göttlich, engelhaft, geistig, seelisch oder physisch, eine vereinigende und vermischende Macht«.

Diese mystische Liebe, die auch in der vergänglichen Schönheit das unvergängliche Urbild zu sehen vermag, hat eine lange Geschichte, die bis in die antiken Mysterien und noch weiter zurück reicht. Sie begegnet auch in Platos Werken, wenn Sokrates als »Liebhaber der Sophia« beschrieben wird, der in die Mysterien der Liebe eingeweiht war, und einer Gesellschaft zum Opfer fiel, die unfähig war, die Natur seines transzendenten Eros zu verstehen. Ihm erging es nicht anders als vielen Mystikern nach ihm. Die Idee der spirituellen Wiedergeburt der christlichen Gnosis geht von Johannes aus: »Es sei denn, jemand werde wiedergeboren, sonst sieht er nicht das Königreich Gottes.« Auch die islamische Mystik kennt diese Wiedergeburt im Geiste. Nach Corbin beinhaltet sie, dass »die Seele des Mystikers ihren Schöpfer erschafft«, dass seine Verwirklichung des »schöpferisch Weiblichen, der Sophianität, bestimmt, in welchem Ausmaß er imstande ist, das Geheimnis der Göttlichkeit seines Herrn zu erkennen, in welchem Ausmaß seine Theopathie jenen Gott gebiert, dessen Verlangen darin besteht, durch den Mystiker erkannt zu werden«.

Die Theosophen sehnen sich nach der Sehnsucht Gottes. Unser Verlangen nach dem Guten und Schönen ist das Verlangen Gottes in uns, durch uns erkannt zu werden. Wiedergeburt heißt demnach, so Versluis, die Erweckung ebendieses Eros in uns. Es sei daran erinnert, dass auch Steiner von diesem Verlangen spricht: die Vereinigung des Geistigen im Menschen mit dem Geistigen im Kosmos, die nach seinen Worten die Aufgabe der Anthroposophie ist, wird von manchen Menschen empfunden, wie von anderen Hunger und Durst. Menschen, in denen dieses Verlangen wachgerufen ist, unterscheiden sich von den übrigen, die kein Bewußtsein der tieferen Natur des Eros haben, sie wissen nicht, dass der tiefste Grund ihrer Seele »Gottes Grund« ist.

Meister Eckhart betonte die Notwendigkeit, dass Christus in der Seele jedes Menschen geboren werde. Wenn es heiße, Gott habe seinen eingeborenen Sohn in die Welt gesandt, dann sei darunter »nicht die äußere Welt zu verstehen, in der der Sohn mit uns gegessen und getrunken hat, sondern die innere Welt. So wie in Wahrheit der Vater in seiner einfachen Natur den Sohn auf natürliche Weise gebiert, so gebiert er ihn auch im innersten Teil des Geistes, in der inneren Welt. Hier ist Gottes Grund mein Grund, und mein Grund ist Gottes Grund.« Beide sind eins, denn Gott selbst verlangt nach seiner Erkenntnis durch uns.

Durch die persönliche Erfahrung des Göttlichen werden wir Menschen verwandelt, Gott muss in unserem Herzen geboren werden: diese Verwandlung ist die Spiegelung unserer Verwandlung durch das Bild Gottes in uns, den Engel, der in Wirklichkeit unser wahres Wesen ist. Diese Verwandlung unseres inneren Menschen vollzieht sich durch symbolische Erfahrungen, durch Bilder, in denen sich dieses wahre Wesen offenbart. Jakob Böhme spricht in seinem »Weg zur Christosophie« von dieser Umwandlung. Wenn die Seele des inneren Christus gewahr wird, wenn die Jungfrau Sophia ihr in ihrer reinen Schönheit erscheint, dann, so Böhme, erschrickt sie angesichts ihrer eigenen Unwürdigkeit. Sie fühlt die Nähe des Gerichts. Dann jedoch »zieht die Jungfrau die Seele zu sich heran und küßt sie ... und die Seele hüpft vor Freude in ihrem Körper, ob der Macht dieser jungfräulichen Liebe.«

Versluis betont, dass diese Transformation erfahren werden muss. Wer solche Schilderungen nur von außen verstehen will, ohne sich durch Empathie in die gnostische Bilderwelt zu versetzen, wird nicht verstehen, wovon Böhme spricht. Daher wurde Böhme durch die Jahrhunderte hindurch immer wieder mißverstanden. Nur wer durch die Lektüre der Theosophen oder auch der islamischen Gnostiker innerlich verwandelt wird, versteht sie richtig.

Böhme hebt den Zusammenhang von metanoia und Wiedergeburt hervor, wenn er sagt: »Diese Geburt muss in dir stattfinden. Das Herz oder der Sohn Gottes muss in deinem Leben geboren werden. So wird der heilige Christus dein wahrer Hirte. Und du bist in ihm und er in dir. Und alles, was er und sein Vater besitzen, besitzt auch du, und niemand vermag es dir wegzunehmen. So wie der Vater (des Vaters Herz) einer ist, so bist auch du als neuer Mensch einer im Vater und im Sohn, eine Kraft, ein Licht, ein ewiges Paradies, eine ewige himmlische Geburt, ein Vater, Sohn, Heiliger Geist und du bist ihr Kind.«

Nach den Theosophen besteht das Wesen der Religion darin, das Paradies in diesem Leben auf Erden zu verwirklichen. Die Wiedergeburt ist wie ein Gespräch der Seele mit der heiligen Sophia, ein Gespräch, durch das die Gnade der Sophia die jungfräuliche Natur der Seele enthüllt, durch das der Logos in ihr geboren wird. Diese Entfaltung der Seele beginnt mit einer inneren Erweckung, mit der Entfachung der Liebe zu Gott.

Die Transformation der Seele ist ein langer Prozeß. In deren Verlauf gibt der Theosoph seinen eigenen Willen auf und begibt sich in die Hand Gottes oder der Sophia. Durch die Aufgabe des eigenen Willens identifiziert und vereinigt er sich immer mehr mit der göttlichen Sophia und tritt die Nachfolge Christi an, was die Bereitschaft einschließt, sich für andere zu opfern. Das Selbstopfer Christi ist für die Theosophen nicht ein einmaliges historisches Ereignis, »durch das wir alle gerettet sind«, sondern ein Pfad, auf den sich alle begeben müssen, die wirklich gerettet werden wollen. Die Wiedergeburt nimmt die Dauer eines ganzen Lebens ein, auch wenn sie sich punktuell als Erlebnis verdichten kann. Auch wenn Böhme über seine Erleuchtung mit 25 schrieb, sein Geist habe mit einem Mal durch alles hindurch gesehen und in allen und durch alle Kreaturen, sogar in Kräutern und im Gras Gott erkannt, wer er sei und wie er sei, und was sein Wille sei, auch wenn er in einer Viertelstunde mehr erkannte, als durch ein jahrelanges Studium, so benötigte er doch den ganzen Rest seines Lebens, um diese Erleuchtung zu vertiefen und auszuarbeiten.

Metanoia ist im Sinne der Theosophie eine innere Enthüllung, ein inneres Sehen der geistigen Welt, das den gesamten Menschen umwandelt. Der Mensch wendet sich von einem Leben im Dienste der Leidenschaften zu einem Leben im Dienste des Mitleids. Durch Schweigen und stille Meditation erlangt die Seele Frieden und Ruhe. Die Frucht des spirituellen Lebens ist ein Friede, der das kurze Leben auf Erden überdauert.

Die himmlische Sophia

Die Lehren von der himmlischen Sophia bilden so etwas wie eine zweite Offenbarung neben dem Neuen Testament. Sie sind für die christliche Theosophie zentral, wenngleich sie stets im Geruch einer gewissen Heterodoxie standen. Die historischen Wurzeln liegen im Alten Testament, so gut wie im Neuen – aus ihnen hat sich die christliche und die jüdische Mystik gleichermaßen genährt.

Philo von Alexandria spricht von der Identität der Sophia und des Logos. Der Logos ist der Mittler zwischen den Geschöpfen, so wie die Vokale zwischen den Konsonanten. Die Sophia strömt ewig vom göttlichen Logos aus. Die Tochter Gottes ist aber auch männlich für die Menschen, da sie in den Seelen den Wunsch nach Wissen und Erkenntnis erzeugt.

In den gnostischen Schriften der Bibliothek von Nag Hammadi begegnet die Sophia als die weibliche Zwillingsseele (Syzygie) des Ersten Menschen. Im »Traktat über die Sophia« heißt es: »Ich wünsche, dass du verstehst, dass der Erste Mensch als ›Erzeuger, als Geist der in sich vollkommen ist‹ bezeichnet wird ... Sein männlicher Name lautet ›Erster Erzeuger, Sohn Gottes‹, sein weiblicher Name ›Erste Erzeugerin Sophia, Mutter des Kosmos‹. Manche nennen sie Liebe. Nun, das erste Erzeugte wird Christus genannt.«

Auch in der jüdischen Gnosis, im Buch »Bahir«, begegnet die Sophia als Emanation oder göttliche Hypostase. Hier wird zwischen der oberen Sophia, der Weisheit Gottes, und der unteren Sophia, der Weisheit Salomos, unterschieden. Gleichzeitig ist die Sophia mit der Schekinah, der exilierten Gottheit in der Welt verbunden.

Zwischen dem Ersten Menschen, Adam, Sophia und Christus gibt es eine Wesensgemeinschaft. Darstellungen über Adam, Sophia und Christus in der Welt der Engel, über deren Präexistenz, sind in der ismailischen Gnosis und der christlichen Theosophie verbreitet. Für diese spirituellen Strömungen stehen nicht die historischen Figuren oder Daten im Vordergrund, sondern die archetypischen und mystischen, die kosmologischen und metaphysischen Dimensionen.

Auch Jakob Böhme spricht von der präexistenten Sophia, der Weisheit Gottes: »Und wir geben dem Leser deutlich in großer Tiefe zu verstehen, was das reine Element ist, aus dem unser Leib (vor dem Fall Adams) bestand und aus dem es auch heute nach der neuen Wiedergeburt besteht. Es ist eine himmlische Leiblichkeit, die nicht rein geistig ist, in der die reine Gottheit wohnt, es ist nicht die reine Gottheit selbst, sondern etwas, das aus aus den Essenzen des heiligen Vaters gezeugt wird.« Dieses reine Element ist die »Barmherzigkeit«, die Gott wie ein Leib umschließt. »Und die Jungfrau der Weisheit Gottes ist der Geist dieses reinen Elementes, und daher heißt sie Jungfrau, weil sie so keusch ist und nichts erzeugt. Ebenso wie der flammende Geist im Leib des Menschen nichts erzeugt, aber alle Geheimnisse erschließt. So auch hier: Die Weisheit (oder die ewige Jungfrau) Gottes erschließt all die großen Wunder im heiligen Element, denn es sind die Essenzen, aus denen die Früchte des Paradieses entspringen.«

Sophia ist Jungfrau, die Jungfrau Maria, die Gottesgebärerin, sie ist der Schlüssel der Wiedergeburt des Menschen. So wie Adam durch Eva fiel, wird die Menschheit durch Sophia, die Jungfrau, wieder erhoben. Die neue Eva, die Jungfrau, muss aus der Substanz Christi sein, da die alte Eva aus der Substanz des Ersten Adam kam. Böhme verbreitete diese Anschauung von der neuen Eva in Europa.

Johann Gottfried Arnold schrieb ein dickes Buch über das »Geheimnis der Göttlichen Sophia«, in dem er den Nachweis führte, dass die Lehren Böhmes schon im frühen Christentum vorhanden waren. Sophia ist für Arnold ein ewiges Wesen, das vor aller Schöpfung existiert, das zusammen mit der göttlichen Trinität und für immer in Ewigkeit besteht. Sie steht über allen Engeln. Sie wurzelt allein in Gott und offenbart sich durch ihr Wesen. Sie ist keine (vierte) Person neben oder in der Trinität, aber der Geist der Sophia und der Geist Jesu sind nicht voneinander unterschieden. Die ewige Sophia drängt den Menschen durch die Wiedergeburt, zur Integrität des Paradieseszustandes zurückzukehren, zu dem sie ihn hingeleitet.

Arnolds Buch beschreibt eine sophianische Reise, von der ersten Bekanntschaft über ihren ersten Kuß bis zur Vermählung. Und all dies hängt mit der Wiedergeburt des Menschen zusammen. Die weibliche Sophia stellt ein Gegengewicht zum exzessiv maskulinen, intellektuellen Charakter des Protestanismus dar. »Im Frausein ist eines der tiefsten Geheimnisse der Welt verborgen. Von diesem Geheimnis strahlt eine reinigende Kraft aus, dieselbe, die vom geschaffenen Licht beim Berg Tabor ausging. Die sophianische Mystik ergreift das Herz des Menschen unmittelbar«, so Walter Nigg, der Herausgeber des Arnoldschen Buches.

So wie die Weisheit wesenseins mit Christus ist, so ist die Sophia der Atem des Geistes in den Heiligen Schriften. Sophia ist dem Menschen niemals fern, ja sie ist ihm näher als er sich selbst ist. Sie ist das reine Element des Geistes, die innere Jungfrau, durch die der Logos oder Christus in uns geboren wird. Saint-Martin schreibt über sie: »Ich zweifle nicht, dass sie in unserem Innersten geboren werden kann. Ich zweifle auch nicht, dass das göttliche Wort dort durch sie geboren werden kann, so wie es durch Maria geboren wurde.« Denn, so Saint-Martin, alle Heiligen und Erwählten haben an dieser Sophia teil. Und Arnold schreibt: »Der Geist Jesu und der Geist der Weisheit sind nicht zwei unterschiedliche Geister, sondern ein Geist und ein untrennbares Wesen.«

In der Theosophie repräsentiert die Sophia eine Art Milieu – eigentlich die Gebärmutter – in welchem der Logos geboren wird, sie ist die Substanz, durch die Christus sich offenbart. Sie ist aber auch die transzendente Form, die »Jungfrau aus Licht«, auf die wir uns bei unserer spirituellen Reise zur Verwirklichung unseres höheren Wesens innerlich zu bewegen. Sie ist die Barmherzigkeit, das göttliche Element, das Christus durch den Heiligen Geist empfängt. Sie ist die Weltseele, durch die Christus zur Erde herabsteigt und die Seele der Erde, die ihn in sich aufnimmt und sie ist die Seele des Menschen, in der Christus durch den heiligen Geist geboren wird.

Nigg schreibt: »Man muss sie im Herzen suchen, denn sie offenbart sich nur im Inneren, durch geheimnisvolle Selbsterinnerung und durch Küsse der Seele, die kein Mann (Mensch) verweigern kann.« Einst lebte Adam in seliger Kommunion mit Sophia im Paradies, der Fall hat Unwahrheit und Irrtum, Leid und Entbehrung über ihn gebracht. Der Kuß der Sophia ist die göttliche Erleuchtung im Inneren und die Erfahrung paradiesischer Freuden hier auf Erden. Die jungfräuliche Sophia küßt die Seele wach, aber ihrem Kuß geht eine Prüfung voraus. »Von der Seele wird sie wie eine Mutter erlebt, aber sie empfängt wie eine Jungfrau«, schreibt Arnold. »Die geistige Braut ist eine Kraft des Paradieses. Ein süße Erhebung ergreift die Seele und all ihre Kräfte, die Flut ihrer Liebe zieht alle Sinne an sich.« Man begibt sich in ein paradiesisches Liebesspiel. Das Spiel der Sophia ist nicht das der Aphrodite, sondern »reine Wollust«, heilige Liebe, Minne. Dabei handelt es sich nicht um bloße Phantasien, sondern Kuß und Vermählung sind laut Versluis essentielle Erfahrungen der Seele. Diese heilige Hochzeit hat nichts mit äußeren Vorgängen zu tun. Sie ist mystisch. Sophia teilt der Seele unsterbliche Lebenskraft mit, wer von ihr erfüllt wird, der gewinnt Anteil an der Unsterblichkeit. Göttliche Weisheit bringt das todlose Leben mit sich.

Francis Lee, der geistige Ziehsohn von Jane Leade, beschrieb 1679 seine Sophia-Erfahrungen ähnlich. Sophia versetze einen in einen Zustand der Erleuchtung, eine göttliche Schau eröffne sich der Seele, ein Zustand, den jeder durchleben müsse, der Mitglied der ewigen Priesterschaft des Melchisedek werden wolle. »Die Geburt der Weisheit in der Seele erschließt ihr die Geheimnisse der unsichtbaren Welten, die Seele wird zu einem klaren, unbefleckten Spiegel, der ihr Bild empfängt«, so Lee.

Versluis bezeichnet die sophianische Mystik der deutschen Theosophie als die am höchsten entwickelte Form. In Böhmes Werk sei sie durchsetzt mit alchemistischer und kosmologischer Symbolik. Anders dagegen im Werk der russischen Sophiologen Solowjow, Bulgakow und Florenskij, die sich an die orthodoxe Tradition anschlossen. Aber es sind dieselben Erfahrungen, die nur auf andere Art ausgedrückt werden.

Solowjow nahm wie Franz von Baader an, Sophia sei unter vielen Völkern erschienen: den Hindus als Maja, den Griechen als Idea, den Hebräern als Sophia. Er unterscheidet drei Aspekte an ihr: den magischen, lebhaften und leibhaften. Der erste ist die Macht der Schöpfung, der zweite das Ideal, das zwischen der Transzendenz und Immanenz steht, und der dritte Sophia als Vehikel der Erlösung (als Mutter Gottes). Hieran schließt sich die Unterscheidung zwischen der oberen und unteren Sophia, die sowohl der Kabbala, als auch der deutschen und russischen Sophiologie bekannt ist. Die obere Sophia ist die reine, ungefallene, die ewige Jungfrau. Die untere ist die Weltseele, die Gegenwart Gottes in der Schöpfung. Die obere ist das ursprüngliche Licht der Schöpfung, die untere das Licht, das in der Schöpfung gegenwärtig ist, das Licht, das aus dem ursprünglichen Licht emanierte. Aber die Kabbalisten sagen: »So wie seine Schekinah oben ist, ist sie auch unten.« Die beiden sind letztlich eins, aber durch den Fall hat die obere die untere als ihre Hypostase erzeugt, ihre Spiegelung in den unteren Wassern.

Die russischen Sophiologen meinten, die Aufgabe des Menschen sei es, die gefallene Sophia wieder mit ihrem transzendenten Archetyp zu vereinigen. Tatsächlich kennt die Geschichte zwei Formen der Sophia: die Weltseele und die Engelsgestalt der göttlichen Weisheit. Diese Unterscheidung setzt voraus, dass es neben dem Abstieg auch einen Aufstieg, eine Erhebung der einen zur anderen gibt. Und jede Form sophianischer Spiritualität schließt eine Erhebung der unteren zur oberen Sophia durch einen Prozeß der seelischen Transformation ein. Von dieser Erhebung, die jüdische, islamische und christliche Mystiker kennen, spricht Corbin: »Der Erde von Angesicht zu Angesicht in Gestalt ihres Engels gegenüberzutreten, ist ein wesentliches seelisches Erlebnis, das sich weder in der Welt unpersönlicher abstrakter Begriffe abspielt, noch in der Welt der Sinnestatsachen. Nicht durch die Sinne nimmt man die Erde wahr, sondern durch ihr Urbild. Weil dieses Bild, das die Seele in ihren Tiefen mit sich herumträgt, die Züge der Person annimmt, gerade deshalb vermag es zu versinnbildlichen. Die Wahrnehmung des Engels der Erde ereignet sich in einer mittleren Welt, einer Welt von archetypischen Bildern, die von jedem Einzelnen auf individuelle Weise erlebt wird.«

Der Engel der Erde ist nach Versluis Sophia, die Weltseele, durch sie begreift die menschliche Seele ihre eigene spirituelle Bedeutung, die ihr durch das Bild der Sophia offenbart wird, deren Abbild sie letztlich ist. Die Seele erlebt ihr innerstes Zentrum als etwas, das ihr von außen entgegentritt. Sophia ist das reine Element, in dem sich die Offenbarung des Logos oder der geistigen Sonne abspielt, sie ist auch die Gegenwart Gottes im Kosmos. Daher bezeichnete sie Böhme als ein Prisma, durch das das reine Licht der Gottheit ins Sein aufgespalten wird und meinte, dass man sich der Trinität durch Sophia nähern müsse. Denn sie gehört laut Versluis nicht der Trinität an, sondern ist das Medium oder Element, durch das die Geschöpfe sich dem Vater, dem Logos und dem Heiligen Geist nähern können. Wenn sich der Schauende der Jungfrau aus Licht nähert, dann nähert er sich in Wahrheit seinem eigenen Wesenszentrum an.

Daraus wird laut Versluis begreiflich, warum die theosophische Devotion gegenüber Sophia anthropomorph sein muss. Denn sie zieht alle natürlichen Kräfte des Eros in sich zusammen und wendet sie auf den transzendenten Ursprung und das sinnesjenseitige Ziel des Menschen. So schreibe auch Corbin über persische Sufis: »Der Weg von der menschlichen Liebe zur Liebe Gottes besteht nicht darin, von einem Gegenstand zu einem anderen überzugehen. Vielmehr handelt es sich um eine Metamorphose des Subjektes der Liebe.«

Alles in allem gibt es laut Versluis nur einen spirituellen Weg, der von der Katharsis über die Myesis zur Epopteia führt: von der Reinigung der Seele über die Rückkehr zu ihrem ursprünglichen Zustand der Einheit zu ihrer Erleuchtung durch ihr spirituelles Zentrum, den Logos. Und diese Wandlung der Seele wird durch die Offenbarung der Sophia symbolisiert, die die Weltseele ist, und zugleich die Seele, die sich selbst begrüßt, denn in der Zwischenwelt der Seele wird das Innere als Äußeres erlebt. Erst nach ihrer Reinigung (katharsis) wird Christus in der Seele wahrhaftig geboren, die Seele muss zur Jungfrau werden, damit sie den Logos in sich empfangen kann.

Eine Frage bleibt allerdings bei all diesen Ausführungen offen: warum das Weibliche oder auch nur die Symbolik des Weiblichen von der Trinität ausgeschlossen sein soll und es bestenfalls als »Medium«, als »Matrix« in der theosophischen Ontologie vorzukommen scheint. Wenn schon die Geschlechtssymbolik in die Trinität hineinprojiziert werden muss, dann ist eine trinitarische Gottheit ohne ein weibliches Element eine monströse Einseitigkeit. Es läge in der Tat nahe, wie dies zuweilen geschehen ist und wie dies auch in der Kabbala geschieht, den Heiligen Geist mit Sophia zu identifizieren. Im Sephirotbaum der Kabbala ist die erste Manifestation des En Soph (Kether) geschlechtslos oder übergeschlechtlich und erst die zweite (Binah) und die dritte (Chokmah), die einander gleichgeordnet sind und zusammen mit der ersten die trinitarische Manifestation des En Soph bilden, repräsentieren das männliche und das weibliche Element. Man muss dann nicht das Weibliche als Weltseele oder Weisheit Gottes von der Trinität loslösen, was zur widersinnigen Idee eine weisheitslosen Gottheit führen würde. Gott ist Vater und Mutter zugleich, aus ihm gehen Sohn und Tochter hervor: die Trinität vereint die unentfaltete Androgynität und die entfaltete Zweigeschlechtlichkeit aufarchetypische Weise in sich. Der Sohn wiederum versöhnt das männliche und das weibliche Element in sich und ist das Urbild des wieder vereinigten Menschen, der seit dem Fall die beiden Naturen nicht mehr zur Einheit zu bringen vermochte, es sei denn punktuell durch die Zeugung. Tochter und Sohn, Logos und Sophia, Christus und der Heilige Geist (die Jungfrau-Mutter) sind die beiden Hypostasen des Muttervaters, der seine ureine, übergeschlechtliche Einheit in der Emanation seiner beiden Kinder aus sich heraussetzt.

Imagination

Im Anschluss an Henry Corbin behandelt Versluis die »aktive Imagination«, das Instrument, durch das die Seele Offenbarung und Wandlung (Transmutation) erlangt. Corbin selbst fand seinen Zugang zu diesem Kapitel islamischer Mystik durch seine Beschäftigung mit der imaginativen Bilderwelt Böhmes, Oetingers und Baaders.

Eine Unterscheidung hält Versluis für grundlegend: die zwischen wahrer und falscher Imagination. Nach Böhme gibt es eine schöpferische Kraft im Kosmos, die er als Magie bezeichnet, die sich sowohl dem Guten als auch dem Bösen zuwenden kann. Der Einzelne kann sich diese Macht entweder durch das richtige Verständnis zu eigen machen, oder durch falsches Wollen auf dämonische Abwege geraten. Der richtige Weg führt zur aktiven Imagination, der falsche in die bloße Phantasie.

Die aktive Imagination, so Versluis, führt in das Paradies, die Phantasie in die Hölle. Warum? Aus Sicht der Theosophen bereitet das Leben auf der Erde das Leben nach dem Tode vor: die Beschaffenheit der Seele bleibt nach dem Tode bestehen. Hat sich der Mensch bereits während seines Lebens auf Erden ins Paradies begeben, findet er sich auch nach dem Tode dort wieder, hielt er sich in der Hölle auf, findet er auch nach dem Tode nicht mehr aus ihr heraus. Karl von Eckarthausen schreibt in seinen »Aufschlüssen zur Magie« (1788), unser Leben auf der Erde sei lediglich die Kindheitsphase unserer Existenz. Alles komme auf die Beherrschung der Imagination an. Die schlimmste Gefahr bestehe darin, dass der Mensch dem Tagträumen zum Opfer falle.

John Pordage schilderte in seiner »Theologia Mystica« und seinem »Treatise of Eternal Nature« die imaginative Welt, die sich dem Auge des Herzens erschließt. Es gibt einen ewigen Globus, darin sich drei Höfe befinden, ein äußerer, ein mittlerer und ein innerer, der heiligste aller Plätze. In diesem Globus gibt es ein Auge, das Auge des Geistes, das abgründige Auge der Ewigkeit. Wenn sich das Auge öffnet, sieht man im innersten Hof die Trinität. Das Auge, das sich öffnet, gliedert sich in drei Teile: der erste ist das Auge des Abgrunds, der zweite das Herz und der dritte der ausströmende Atem. Versluis sieht in dieser Symbolik einen Schlüssel zur Wissenschaft des Herzens. Was damit gemeint ist, wird durch Ausführungen Corbins zu Ibn Arabi erläutert. Im Sufismus ist es das Herz, das wahre Erkenntnis, zusammenschauende Intuition und die Gnosis Gottes hervorbringt. Es besitzt die Kraft, den Menschen Gott anzugleichen, denn seine höchste Schau ist die Schau Gottes. Es ist der Sitz des Pneuma, des göttlichen Atems, der den Menschen belebt, und als gnostisches (sehendes) Herz ist es das Auge, durch das Gott sich selbst erkennt, sich selbst in allen denkbaren Gestalten offenbart. Auch Pordage spricht von diesem Auge des Herzens, durch das sich Gott im Menschen selber sieht. Das Herz des Gnostikers öffnet sich für die Selbstbetrachtung Gottes. Das innere Auge gewährt den Blick auf die Welt der Engel, die aus Bildern besteht, die realer sind, als alles in der physischen Welt. Es ist die platonische Welt der Archetypen, die Corbin als imaginative Welt (»imaginal world«) bezeichnet, im Gegensatz zur »imaginären« Welt der bloßen Phantasie.

Pordage sagt über diese Welt: »Die Bilder und Gestalten, die das sich öffnende Auge enthüllt, sind keine Schatten und leere Abbilder, sondern real und substantiell, sie sind nicht bloß Abbilder himmlischer Dinge, sondern diese himmlischen Dinge selbst. Diese Gestalten leben und sind voller Geist, sie sind keine toten Bilder, denn die Fülle des göttlichen Lebens durchpulst sie mit ihrer Kraft. Die Bilder sind unveränderlich und ewig.«

Diese Welt der Engel, die sich dem Auge des Herzens in Bildern mitteilt, ist nach Versluis eine Zwischenwelt, die ihre eigene Form der Realität und Stofflichkeit besitzt. Der geistigen Wesen besitzen Geistleiber mit Sinnen, ihre eigene Sprache und ernähren sich von der Lebensenergie der Trinität. Die imaginative Welt ist keine Theorie: laut Corbin ist es nicht möglich, etwas zu sehen, ohne an dem Ort anwesend zu sein, den man sieht. Gotteserscheinungen, Theophanien, sind daher immer Eintritte des Menschen in die göttliche Welt. Die Mystiker aller Religionen haben sich in dieser Welt bewegt, sie alle gehörten demselben »Tempel des Lichtes« an. Die Parallelen zwischen der Symbolsprache Ibn Arabis und Pordages sind daher nicht zufällig, sie gehen auf gleichartige Erfahrungen zurück, die mit »kulturellen Einflüssen« nicht zu erklären sind. Versluis sieht in diesen Parallelen einen klaren Beweis für die Existenz einer übersinnlichen Realität, die in unterschiedlichsten religiösen und kulturellen Milieus erfahren werden kann. Für Versluis heißt dies aber auch, dass Europäer, die dem christlichen Abendland angehören, nicht in Asien oder im Orient nach spirituellen Erfahrungen suchen müssen, da diese auch in ihren eigenen Traditionen enthalten sind.

Erforderlich ist allerdings, sich über die Grenzen hinwegzusetzen, die die exoterischen Hüter der Orthodoxie, die »Pharisäer und Schriftgelehrten« dem spirituellen Suchen stets zu setzen versuchen. Aber diesen Konflikt zwischen Esoterik und Exoterik gibt es in allen Religionen. Religion, wenn sie lebendig bleiben soll, benötigt die aktive Imagination, immerwährende Offenbarung, direkten Zugang zur göttlichen Welt. Die Alternativen sind Sklerose, Fundamentalismus und Dogmatismus.

Etwas bedenklich in Versluis’ Ausführungen scheint die scharfe Trennung zwischen Imagination und Phantasie. Wenn man die Phantasie als die Kraft betrachtet, die das Reich der Künste konstituiert, würde diese scharfe Trennung auf eine Verbannung der Künste aus der Kultur hinauslaufen. Deswegen wäre es sinnvoller, die Phantasie als eine Erscheinungsform der Imagination aufzufassen, die nicht per se »in die Hölle« führt. Imagination und Phantasie liegt dieselbe magische Kraft der Seele zugrunde und die Übergänge zwischen beiden sind fließend. Möglicherweise unterscheidet sich die künstlerische Phantasie von der Imagination allein durch den Grad der Bewusstheit, mit der diese magische Kraft betätigt wird. Dies ließe sich gut an Goethe zeigen, bei dem die schöpferische Imagination sowohl zu wissenschaftlichen als auch künstlerischen Leistungen führte. Und Goethe kann man als einen der größten Theosophen der europäischen Geschichte betrachten.

Himmlische Hierarchie

Gottfried Arnold bezeichnete die »areopagitischen Grundgedanken« als die Quintessenz aller christlichen Spiritualität. Aber diese »Grundgedanken« sind kein theoretisches Konstrukt, sondern Ausdruck einer realen geistigen Erfahrung. Daher können sie auch ohne historische Anknüpfungspunkte in anderen Kulturen und Religionen auftreten. Dionysios bleibt dennoch die zentrale Quelle für das christliche Verständnis von Hierarchie, sowohl im Himmel als auch auf Erden. Für Dionysios ist die Hierarchie eine Stufenordnung der Erkenntnis und der Aktivität, die sich so weit als möglich Gott annähert. Hierarchie ist eine vollkommene Ordnung, ein Bild der Schönheit Gottes, die die Geheimnisse ihrer eigenen Erleuchtung in Ordnungen und Stufen unterschiedlichen Verstehens entfaltet und sich ihrer Quelle immer mehr angleicht. Die hierarchische Ordnung auferlegt es manchen, zu reinigen, anderen gereinigt zu werden, manchen zu vollenden, anderen vollendet zu werden, und alle ahmen sie Gott nach, soweit sie irgend vermögen.

Im Zentrum der triadischen Kaskade von Reinigung, Erleuchtung und Vollendung steht die Erleuchtung. Man wird so weit gereinigt, als man das Licht zu sehen vermag, man wird vollendet, in dem Masse, als man erleuchtet wird und andere zu erleuchten vermag. Alle Erleuchtung geht vom göttlichen Licht aus, das den ganzen Kosmos durchdringt, ja, der gesamte Kosmos wird von Gott erleuchtet. Reinigung besteht in durchsichtiger Klarheit, während die Erleuchtung im Empfang und der Weitergabe des Lichtes besteht.

Die Erleuchtung vollzieht sich durch Mittlerschaft. Die Engelshierarchien sind die Mittler des göttlichen Lichtes füreinander und für den Menschen. Würde der Mensch das göttliche Licht unmittelbar sehen, würde er erblinden, wenn nicht gar verbrennen – daher wandte Moses sein Antlitz von Gott ab, daher sah Jesajas das göttliche Licht nicht direkt. Diese Mittlerschaft gibt es auch unter Menschen. Auch der menschliche Hierarch hat die Aufgabe, zu erleuchten und übernimmt damit die Funktion eines Engels: Gott zur Erscheinung zu bringen, für die, die er erleuchtet. Die kirchliche Hierarchie sollte dieser Erleuchtung dienen. Dies tat sie möglicherweise zu Dionysios Zeiten noch. Doch als die deutschen Theosophen auftraten, nach der Reformation, hatte die Kirche diese Kraft verloren. Sie gaben zwar das dionysische Verständnis der Hierarchie nicht auf, paßten es aber den veränderten Zeitumständen an. Was Dionysios noch voraussetzen konnte: die Übereinstimmung des himmlischen Urbildes mit dem irdischen Abbild, mußten die Theosophen der Neuzeit erst wiederherstellen. Und die Quelle dieser Restitution war das Individuum. Im Zeitalter des Individualismus konnte die Quelle der Erleuchtung nicht mehr eine vorausgesetzte Hierarchie sein, sie war im Individuum selbst zu suchen, das von sich aus den Weg zur Hierarchie bahnen mußte. Von Böhme bis Baader und Molitor betonten sie die Notwendigkeit der individuellen spirituellen Entwicklung, die erst wieder zu einer Spiritualisierung der Natur und des Kosmos führe. Gegen die veräußerlichte Institution der Kirche führten sie die Erweckung des Herzens ins Feld, gegen die Wissenschaftsgläubigkeit und das mechanistische Weltbild ein symbolisches Verständnis der Natur.

Oetinger und Molitor fanden in der lurianischen Kabbala eine emanatistische Kosmologie, die der dionysischen Hierarchienlehre entsprach. In beiden geht es um den Aufstieg des Gnostikers, der die Folgen des Sündenfalls beheben muss und mit der Wiederherstellung seiner integren Natur auch die äußere Natur wieder herstellt. Die kabbalistische Lehre von Adam Kadmon, dem himmlischen Urmenschen, betont die Wesensidentität von Mensch und Kosmos und die Erneuerung der Natur durch die Erneuerung des Menschen. Auch die Lehre vom tzim tzum, wonach Gott in sich selbst Raum für die Schöpfung schaffen mußte, wurde von den christlichen Theosophen aufgegriffen, zeigte sie doch, dass die Natur und der Mensch in Gott sind und ihn widerspiegeln. Doch die Betonung liegt bei den neuzeitlichen Theosophen nicht auf der himmlischen Hierarchie, sondern auf der individuellen Erneuerung. Deutlich zeigt dies Böhmes »Weg zur Christosophie«, ein Gebetsweg zur spirituellen Erneuerung des ganzen Menschen. Im Vordergrund steht die Umwandlung des individuellen Menschen. Der Mensch ist imstande, in sich den Himmel und die Hölle zu erschaffen. Dionysios konnte voraussetzen, dass der Leser sich bereits auf dem Weg der Gnosis befand, Böhme mußte unter den Bedingungen der Neuzeit erst das Gestrüpp beiseite schaffen, das den Anfang des Weges verbarg. Der Lebenssituation der Moderne angemessen setzen die modernen Theosophen beim Individuum an, das erst die Voraussetzungen schaffen muss, um einen Weg zur himmlischen Hierarchie zu finden. Ohne dass das moderne Individuum diese Voraussetzungen erfüllt, wird ihm, so Versluis, die initiatische Tradition des christlichen Mittelalters verschlossen bleiben.

Genauso wie die von Versluis beschriebenen »modernen Theosophen« setzt auch Steiner beim Individuum an. Von der »Philosophie der Freiheit« bis zu »Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?« weist er auf die Kräfte hin, die in der Seele jedes Menschen schlummern, die erweckt und entfaltet werden können, damit sich der Mensch durch sie seinen Weg auf der Jakobsleiter zum Allerhöchsten bahnen kann. Auf diesem Weg, den Steiner selbst beschritten hat, eröffnet sich ein neues Verständnis des Christentums, eine Schau der Hierarchienwelt, und eine Quelle moralischer Antriebe, die imstande ist, die Umwandlung der Gesellschaft im Sinne der modernen Theosophen herbeizuführen. Bedauerlich, dass Versluis diesen bedeutendsten Theosophen des 20. Jahrhunderts systematisch ignoriert.

Nachwort

Aufmerksamen Lesern wird nicht entgehen, dass der Aufbau des hier besprochenen Buches sich an den zwölf Tierkreiszeichen orientiert: Gnosis und Engel – Widder, religiöser Eros – Stier, Platonismus und Hermetik – Zwilling, Theosophie – Krebs, Liturgie und Zeitlosigkeit – Löwe, die Natur als Erscheinung Gottes – Jungfrau, die Wiedervereinigung der Christentümer und der Heilige Geist – Waage, Tempel, Pilger und die Apokalypse des Herzens – Skorpion, Umwendung des Geistes – Schütze, die göttliche Sophia – Steinbock, Imagination – Wassermann, die himmlische Hierarchie – Fische.

Die zwölf Kapitel sind in drei Hauptteile gegliedert: die ersten vier bilden den Teil »Geschichte der Gnoseologie«, die zweiten vier den Teil »Kosmologie« und die dritten vier den Teil »Metaphysik«.


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