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Wouter Hanegraaff: Wissenschaft und Esoterik

Die Geschichte der Wahrheit. Das alte Wissen wird wieder entdeckt

1. Konkurrierende Metaerzählungen
Das 2011 erschienene Buch »Esotericism and the Academy: Rejected Knowledge in Western Culture« von Wouter J. Hanegraaff ist keine Geschichte der Esoterik, sondern eine Geschichte der Vorstellungen, die sich Gelehrte und Wissenschaftler im Lauf der Geschichte von der Esoterik gebildet haben. Es ist eine Diskursgeschichte, die unser kulturelles Gedächtnis und die Entstehung unseres heutigen wissenschaftlichen Selbstverständnisses untersucht. Hanegraaffs Buch stellt die mit reichem historischem Material unterfütterte Ausarbeitung von Thesen dar, die er 2005 in einem Aufsatz mit dem Titel »Verbotenes Wissen: Anti-Esoterische Polemik und akademische Forschung« vorgetragen hat.

Das weite Feld der »Esoterik« diente laut Hanegraaff immer als Projektionsfläche für Hoffnungen und Ängste, die das »Andere« des wissenschaftlichen Selbstes darstellten, das sich im Verlauf des Diskurses über ebendiese Esoterik herausbildete. Unsere heutige Identität als Wissenschaftler oder Akademiker hängt, so Hanegraaff, auf fundamentale Weise von der impliziten Zurückweisung des artifiziellen Zerrbildes dieser Identität ab. Die imaginären Konstrukte des »Esoterischen« oder »Okkulten« sind Gegenkonstrukte des »wissenschaftlichen Bewusstseins« – und wenn sich durch eine historische Analyse herausstellen sollte, dass dieses »Andere« anders ist, als wir es uns immer vorgestellt haben, zieht das gravierende Konsequenzen für unser Selbstverständnis nach sich.

In der italienischen Renaissance entstand gleichzeitig mit der Geschichte der Esoterik die »Geistesgeschichte« als wissenschaftliche Disziplin. Die Wiederentdeckung der klassischen Antike veranlasste die Protagonisten dieses großen Projektes, das Verhältnis von menschlichem Denken und göttlicher Offenbarung grundlegend neu zu denken. Da sich in der Geschichtsschreibung noch keine kritische Neutralität etabliert hatte, entfaltete sich diese Unternehmung im Rahmen theologischer und metaphysischer Vorannahmen, als Versuch, die Geschichte der Wahrheit zu schreiben. Gesucht wurden die Quellen wahrer Erkenntnis und Weisheit, erwiesen werden sollte die Übereinstimmung dieser Quellen mit der wahren Religion, dem Christentum.

Im Zuge der Auseinandersetzungen über diese Fragen entstanden drei große Metaerzählungen, die miteinander um die Deutung der neu entdeckten antiken Quellen konkurrierten:

1. die Erzählung von der »prisca theologia«, der ursprünglichen Theologie, nach der die ältesten Quellen die reinste Offenbarung enthielten,

2. die Erzählung von der »philosophia perennis«, der ewigen Wahrheit, die jederzeit erreichbar, aber oft genug verschleiert war, und

3. die Erzählung von der »pia philosophia«, der heidnischen Weisheit als einer Vorschule des Christentums.

Jede dieser Erzählungen versuchte auf unterschiedliche Art die Frage nach dem Verhältnis der neu entdeckten heidnischen Weisheit zur Offenbarungsreligion zu beantworten. Gemeinsam war ihnen der Bezug auf die vorchristliche Weisheitsoffenbarung und der apologetische Rahmen, in dem sie sich bewegten. Erst der antiapologetische Diskurs, der von protestantischer Seite in Gang gesetzt wurde, sollte die große Erzählung von der »Urweisheit« im 17. Jahrhundert aus ihrer herrschenden Stellung verdrängen. Seither fristete sie nur noch ein Dasein als offiziell diskreditierte Gegentradition.

Der Begriff der »prisca theologia« wurde erstmals von Marsilio Ficino verwendet, die »philosophia perennis« geht auf seinen Zeitgenossen Agostino Steuco zurück. Obwohl diese Begriffe seit den 1960er Jahren eine bedeutende Rolle in den Diskussionen über die Geschichte der Esoterik spielten, hat sich mit Ausnahme von Ch. B. Schmitt, einem Renaissancehistoriker, noch niemand um eine ernsthafte Definition ihrer Bedeutung bemüht. Nach Schmitt besagt der Begriff der »prisca theologia«, dass die wahre Weisheit schon vor der griechischen Philosophie bestanden habe und auf Weise wie Zarathustra, Hermes Trismegistos und Orpheus zurückgehe. Diese hätten ihr Wissen von Moses bezogen und daher eine hohe Autorität besessen. Die Weisheit, die die Alten (prisci) empfangen hatten, kam von ihnen über Orpheus, Aglaophamus und Pythagoras zu Plato.

Geht man von dieser Voraussetzung aus, dann stellt die Wiederentdeckung von Schriften, die Zarathustra, Hermes und Orpheus zugeschrieben wurden, eine Sensation mit milleniaristischen Untertönen dar. Das erste Mal in der Geschichte erhielten Christen Zugang zu den ältesten und damit authentischsten Quellen wahrer Religion und Philosophie. Hier musste die Vorsehung im Spiel sein, die der Menschheit einen Weg zur Reform des Christentums zeigen wollte.

Die Idee der »philosophia perennis« geht zwar auch davon aus, dass die Weisheit aus Urzeiten stammt und dieselben Genealogien durchlief, betont aber, dass es durch alle Zeiten hindurch gültiges Wissen gegeben habe, das immer zugänglich war, ewige, unveränderliche Wahrheiten, die allein durch die Schuld der Menschen manchmal in Vergessenheit gerieten.

»Philosophia perennis« betont die Zeitlosigkeit und Allgemeingültigkeit der Weisheit, während die »prisca theologia«, vom Verfall und Niedergang der Uroffenbarung ausgeht. Nach Hanegraaff ist es kein Zufall, dass Steuco sein Buch »De perenni philosophia« 1540, wenige Jahre vor dem Konzil von Trient verfasste, als Katholiken und Protestanten darum konkurrierten, die Kirche durch eine Rückkehr zu ihren höchst unterschiedlich verstandenen Ursprüngen zu reformieren. Im Gegensatz dazu ging es Steuco nicht um Reformation, also Erneuerung, sondern um Bewahrung, also Tradition. Steuco sah sich in Übereinstimmung mit Augustinus, der die Auffassung vertreten hatte, die wahre Religion habe bereits bei den Alten bestanden und seit dem Erscheinen Christi im Fleisch den Namen »Christentum« angenommen.

Zwei Erzählungen standen sich also gegenüber: eine Abstiegserzählung, die eine authentische Uroffenbarung an den Anfang der Zeiten setzte, die im Verlauf der Geschichte verloren gegangen war, jetzt aber wiederhergestellt werden konnte. Und eine geschichtslose Erzählung, die davon ausging, dass die ewige Wahrheit für alle Zeiten bestand und dass geschichtlicher Wandel und Fortschritt bedeutungslos seien.

Schließlich gab es aber noch eine dritte Erzählung, die Aufstiegserzählung der »pia philosophia«. Nach ihr hatten die alten Weisen durch göttliche Gnade gewisse Einblicke in die Wahrheiten des Christentums erhalten und diese prophetisch vorausverkündet. In der Geschichte gab es also Entwicklung und Fortschritt vom Unvollkommenen zum Vollkommenen, auch wenn dieser mit dem Erscheinen Christi auf Erden zum Abschluss gekommen war. Darin lag aber zugleich das Problem dieser dritten Erzählung: sie bezog sich auf Geschehnisse, die für die Gegenwart keine wirkliche Relevanz mehr besaßen.

Die drei Metaerzählungen enthielten drei sich gegenseitig ausschließende Paradigmen: Evolution, Degeneration und Kontinuität (oder Stillstand).

Die Aufstiegserzählung der »pia philosophia«, die in der alten Weisheit eine Vorbereitung auf das Evangelium sah, war orthodox, setzte aber die Bedeutung der neu entdeckten Texte herab, denn alles, was sie enthielten, musste im Christentum besser und vollkommener offenbart worden sein. Und was in der christlichen Offenbarung nicht enthalten war, konnte nur heidnischer Irrtum sein.

Die geschichtslose Erzählung der »philosophia perennis« sah im Christentum ebenfalls die ultimative Weisheitsoffenbarung und interessierte sich für die neuen Texte nur insoweit, als sie neue Bestätigungen für die bereits erkannte Wahrheit enthielten.

Das größte revolutionäre Potential enthielt die Abstiegserzählung der »prisca theologia«, weil in ihr das Älteste das Vollkommenste war, was die Exklusivität und den Wahrheitsanspruch des Christentum als jüngerer religiöser Offenbarung gefährdete. Entweder war es überflüssig oder eine Niedergangserscheinung. Drohte von den heidnischen Weisheitstexten möglicherweise die Zerstörung des Christentums und die Wiedergeburt einer universellen heidnischen Religion?

Hinzu kam eine gewisse Zweideutigkeit des Weisheitsdiskurses in bezug auf das Verhältnis von Philosophie und Theologie. Die alten Theologen waren in Wahrheit Philosophen, aber die »philosophia perennis« sollte die Grundlage einer universalen Religion sein. Anhänger der alten Weisheit konnten sich zu Philosophen erklären, wenn sie von Theologen angegriffen wurden und sich unter Hinweis auf göttliche Offenbarung philosophischer Kritik entziehen.

Die Frage, die Hanegraaff hier stellt, lautet: Wo lagen die Ursprünge der großen Erzählung von der alten Weisheit und wie wurde sie zur Gründungserzählung der westlichen Esoterik, die vom 15. Jahrhundert an bis in die Gegenwart Bestand hatte? Um diese Frage zu beantworten, müssen die Ursprünge der abendländischen Philosophie untersucht werden.

2. Vorgeschichte: Orientalisierender Platonismus

Laut Hanegraaff faszinierte die Renaissanceplatoniker nicht so sehr der historische Plato, als vielmehr das Bild Platos, das die religiösen Denker der Spätantike geschaffen hatten. Die Philosophen des Mittel- und Neuplatonismus formten die platonische Philosophie in eine »religiöse Weltsicht mit eigener Mythologie und eigenen Riten« um, und konzentrierten sich auf den Erwerb erlösender Erkenntnis (gnosis), durch die die Seele sich aus der Bindung an die Materie befreien und mit dem göttlichen Geist vereinigen konnte. Dieser Grundzug war für alle gnostischen, hermetischen und theurgischen Strömungen der Spätantike charakteristisch und nach ihrem Vorbild verstanden die Renaissanceplatoniker den Platonismus.

Die Umformung der Philosophie in Religion, Mythologie und Ritual war laut Hanegraaff für die Philosophiehistoriker stets ein Stein des Anstoßes. John Dillon sprach von der »Unterwelt des Platonismus«, die von »sub-philosophischen Phänomenen« bestimmt gewesen sei. Dass die okkulten Spekulationen des Neuplatonismus nichts mit Philosophie zu tun hatten, galt als selbstverständlich. Auch Festugière, der Herausgeber des »Corpus Hermeticum«, verbarg seine Verachtung für die »abergläubische Pseudophilosophie« des Hellenismus nicht, in der er eine »Verfallsform des Rationalismus« sah. Und die Einführung theurgischer Rituale in die Philosophie durch Iamblichus bezeichneten Historiker des 20. Jahrhunderts als »unlösbares Rätsel«, obwohl Iamblichus weitaus typischer für seine Zeit war, als Plotin, der sich vom Ritualismus fernhielt.

Solche »normativen Vorurteile«, die befremdliche religiöse Praktiken mit dem Maßstab der rationalistischen Philosophie messen und moderne Stereotypen des Okkulten anachronistisch in die Vergangenheit projizieren, verunmöglichen nach Hanegraaffs Auffassung ein Verständnis der Ursprünge des Narrativs von der alten Weisheit. Vermieden werden muss auch der Fehler, diesen Traditionen einen seriösen philosophischen Gehalt abzusprechen, nur weil sie als »religiös« oder – »noch schlimmer« – als »okkult« klassifiziert werden. Dass die meisten Neuplatoniker Theurgie praktizierten oder wenigstens guthießen, disqualifiziert sie nicht als Philosophen. Und man wird die gnostische, hermetische und neuplatonische Form von Religiosität nicht verstehen, wenn man ihre philosophischen Begründungen ignoriert.

Hanegraaff schlägt vor, das geistige Milieu der Spätantike, aus dem diese Form des Platonismus entstand, als »platonischen Orientalismus« zu bezeichnen. Für diesen ist die Auffassung des Pythagoräers Numenius von Apamea kennzeichnend, der bei seiner Suche nach philosophischer Erkenntnis nicht bei Plato stehenblieb, sondern zu Pythagoras und jenen Völkern zurückging, die mit Plato angeblich übereinstimmten, nämlich zu den »Brahmanen, Juden, persischen Magiern und Ägyptern«. Diese Ansicht war typisch für seine Zeit: die ältesten barbarischen Völker besaßen eine reine und überlegene Wissenschaft und Weisheit, die nicht menschlicher Vernunft, sondern unmittelbarem mystischem Zugang zum Göttlichen entsprungen war. Alles, was Plato und die anderen griechischen Philosophen wussten, stammte von diesen Vorgängern. Die gesamte griechische Philosophie stammte aus orientalischen Quellen und den Ägyptern wurde die Ehre zugesprochen, sie begründet zu haben. Philosophie aber wurde nicht als Wissen aus reiner Vernunft verstanden, sondern als göttliche Weisheit und Rettung der Seele.

Dass der Platonismus eine »alte göttliche Weisheit war, die aus dem Orient stammte«, darin bestand die gemeinsame Überzeugung der hellenistischen Mysterienphilosophen. Die alten Perser, so die verbreitete Auffassung, hatten ihre Philosophen als Magier bezeichnet. Zoroaster war ein persischer Weiser, der Schriften hinterlassen hatte, die von seinen astrologischen Kenntnissen zeugten. Er hatte etwas mit den Chaldäern zu tun, denn Pythagoras war bei ihm in Babylonien in die Schule gegangen. Andere Werke bewiesen, dass die alten Perser Meister der okkulten Wissenschaften waren. Ähnliche Auffassungen gab es über Hermes Trismegistos und eine Reihe weiterer Weiser anderer Völker. Dass Plato sein Wissen von den Persern erhalten hatte, darauf deutete eine Bemerkung im Alkibiades, in dem Sokrates von der Magie Zoroasters als einer Form des Gottesdienstes sprach. Viele weitere Quellen unterstützten solche Auffassungen, unter anderem Historiker wie Diodorus Siculus oder Plutarch, aber auch Neuplatoniker wie Iamblichos und Proklos. Die Gelehrten der Renaissance, die diese Traditionen wiederentdeckten, betrachteten die »Chaldäischen Orakel« als authentisches Werk Zoroasters und die hermetischen Schriften als Werke des Hermes Trismegistos. Der Typenbegriff »platonischer Orientalismus« scheint demnach gerechtfertigt.

Es ist daher nicht überraschend, wenn die Platoniker der Renaissance die Vorstellung von der »alten Weisheit« übernahmen. Da all ihre Quellen in der Auffassung übereinstimmten, der Platonismus habe seinen Ursprung im Orient, wäre es geradezu unplatonisch gewesen, nicht von der Existenz einer »prisca theologia« oder einer »philosophia perennis« überzeugt zu sein, oder den rituellen Praktiken und okkulten Künsten der alten Religionen jeglichen Wert abzusprechen. Und da alle alten Weisen ein und derselben zeitlosen und universellen Tradition anzugehören schienen, war es nur logisch, auch die platonischen Dialoge so zu lesen, wie der Mittel- und der Neuplatonismus dies getan hatten. Aus der Sicht Ficinos sprach Plato durch die Abhandlungen Plotins, – ja Plato und Plotin waren beide keine originalen Denker, sondern lediglich Sprachrohre ein und derselben alten Weisheit, deren Urheber letztlich Gott war.

Wie war es möglich, dass die Platoniker der Renaissance ein so uneingeschränktes Bekenntnis zur alten heidnischen Religion mit dem Christentum für kompatibel hielten und sogar als Voraussetzung für ein wirkliches Verständnis des Christentums betrachteten?

3. Vorgeschichte: Christliche Apologetik

Die Gründe dafür sind laut Hanegraaff in der apologetischen Tradition zu suchen. Unter Apologetik versteht man »die polemische Verteidigung der Überlegenheit der eigenen Überzeugungen gegenüber anderen«. Apologetik und Polemik sind nicht voneinander zu trennen. Indem man die eigene Position verteidigt, zieht man die der anderen in Zweifel, indem man die Positionen der anderen als falsch erweist, nimmt man für die eigene in Anspruch, richtig zu sein. Daher ist jede Art von Apologetik implizit polemisch und jede Art von Polemik implizit apologetisch.

Das »symbolische Kapital« um das die Beteiligten stritten, war die »Tradition«. Die antiken Kontrahenten erhoben mit unterschiedlichen Genealogien Ansprüche auf dieses symbolische Kapital. So konnte der eine behaupten, die gesamte griechische Philosophie habe ihren Ursprung in Ägypten (Hekateus von Abdera), während ein anderer diesen Anspruch zurückwies und behauptete, nicht nur die Philosophie, sondern auch die Geschichte der Menschheit habe erst mit den Griechen begonnen (Diogenes Laertios). Andere Autoren beanspruchten die höchste Weisheit für ihr eigenes Volk: Berossus für die Babylonier, Manetho für die Ägypter, Philo von Byblos für die Phönizier. Allen war die Überzeugung gemeinsam, Alter sei mit Überlegenheit gleichzusetzen. Was neu war, war historisch bedeutungslos. Nichts konnte neu und zugleich wahr sein. Das älteste war auch das beste, die Gegenwart eine Phase des Niedergangs, der tiefste Punkt eines Kreislaufs, die Alten standen den Göttern und dem Anfang der Dinge näher und wussten daher auch besser über sie Bescheid.

Für eine neue Religion wie das Christentum war diese in der Antike verbreitete Auffassung natürlich ein Problem. Um den Anspruch der Überlegenheit gegenüber dem Heidentum zu rechtfertigen, mussten die christlichen Apologeten daher das Kunststück vollbringen, die vollkommen neue frohe Botschaft zu verkündigen und gleichzeitig zu leugnen, dass sie neu sei. Ihre Trumpfkarte in diesen Auseinandersetzungen war Moses.

In der heidnischen griechischen Literatur taucht Moses das erste Mal bei Hekateus von Abdera (4. Jh. v. Chr.) auf, der ihn für einen Ägypter hält und als Gründer Jerusalems, Stifter eines religiösen Kultes und Gesetzgeber darstellt. Ihm hielten jüdische Autoren entgegen, Moses sei Jude, mit dem Dichter Musaeus identisch und der Lehrer des Orpheus gewesen (Artapanus). Der jüdische Moses erscheint hier geradezu als Kulturheros der Ägypter, er erfand allerlei technische Innovationen, die Philosophie, organisierte die Religion, gründete Städte und schuf die Hieroglyphen. Weil er diese Hieroglyphen so gut zu deuten wusste (»hermeneuein«), gaben ihm die Priester den Namen »Hermes«. Die Identifikation von Moses und Hermes war ein kluger Schachzug im Streit um Überlegenheit und Priorität: alles, was man Hermes zugeschrieben hatte, ging nun auf Moses zurück, und da dieser auch Lehrer des Orpheus war, hatte die griechische Philosophie einen jüdischen Ursprung. Auf die gleiche Art argumentierte auch Flavius Josephus, der behauptete, Moses sei der älteste Gesetzgeber gewesen, älter als Lykurg, Solon, Zoleukos usw.

Um ihre Zeitgenossen vom großen Alter ihrer Religion zu überzeugen, beriefen sich die christlichen Apologeten ebenfalls auf Moses. Am klarsten zeigt sich diese Argumentation in einem anonymen Traktat aus dem späten dritten Jahrhundert, das fälschlicherweise Justinus Martyr zugeschrieben wurde. Sein Titel: »Ad Graecos de vera religione« (»Von der wahren Religion, an die Griechen«).

Der Autor versucht die Heiden durch Vernunftargumente von der Minderwertigkeit der griechischen Philosophie und Religion zu überzeugen. Die griechischen Dichter hatten abstruse Ideen über die Herkunft der Götter und die Philosophen vor Plato eine noch lächerlichere Theologie. Plato und Aristoteles sind schon ernster zu nehmen, aber sie widersprechen einander. Man muss fragen, wo sie ihr Wissen her hatten, denn selbst haben sie es sich gewiss nicht ausgedacht. Selbst wenn man Plato oder Aristoteles akzeptiert, muss man nach den Ursprüngen ihrer Ideen suchen. Diese Ursprünge liegen bei ihren jüdischen Lehrern. Diese lebten lange vor den Lehrern der Heiden und was sie lehrten, war nicht ihre eigene Erfindung. Sie widersprechen sich auch nicht, sondern überlieferten ihr Wissen, das sie von Gott erhalten hatten, direkt an ihre Nachfolger, die Christen. Mit »einem Mund« und »einer Zunge« haben sie die Menschheit über Gott, den Ursprung der Welt, die Schöpfung des Menschen, die Unsterblichkeit der Seele, das künftige Gericht und vieles mehr belehrt. Unter Berufung auf eine lange Reihe von Historikern wird der Nachweis versucht, Moses sei älter als alle griechischen Philosophen. Alles was Moses und die späteren Propheten lehrten, kam direkt von Gott. Eine solche direkte göttliche Inspiration wurde den Griechen nicht zuteil. Nur weil Männer wie Orpheus, Homer, Solon, Pythagoras und Plato Ägypten besuchten, wo sie die mosaische Weisheit kennenlernten, konnten sie Ideen verbreiten, die sich von ihren früheren vorteilhaft abhoben. Auch Plato las in Ägypten den Pentateuch, und wenn er nicht offener die Lehre vom einen und wahren Gott verbreitete, dann nur, weil er fürchtete, das Schicksal des Sokrates zu erleiden. Aber man finde diese Lehre dennoch im »Timaios« und in der »Republik«. Viele göttliche Wahrheiten seien in Platos Werkens enthalten, wenn auch in einer verschleierten Form und diese verhüllte Lehre stamme von Moses, der sie direkt von Gott erhalten habe.

Aber diese ganze Argumentation löste noch nicht das Dilemma einer neuen Religion, die behauptete, alt zu sein. Wozu das Christentum, wenn all seine Wahrheiten bereits von Moses gelehrt wurden? Die Antwort war: Jesus Christus stellte die alte Religion wieder her, die aufgrund des verderblichen Einflusses der Dämonen, die die Heiden als ihre Götter verehrten, verloren gegangen war. Das Christentum ist keine Neuerfindung, es ist die Wiedergeburt der alten Religion, die der Menschheit durch den Logos zuteil wurde. Dieses Argument findet sich auch in den Schriften des Justinus Martyr: Christus ist der Erstgeborene Gottes, der Logos, an dem alle Menschen Anteil haben. Und die, die gemäß dem Logos lebten, waren Christen, selbst unter den Heiden, solche Menschen wie Sokrates, Heraklit oder Abraham, Elias und viele andere.

Die alte Religion war also, soweit sie wahre Weisheit enthielt, ein »unbewusstes Christentum«. Schon Paulus hatte dieses Argument gegenüber den Griechen in seiner Rede vor dem Altar des unbekannten Gottes in Athen benutzt. Nach demselben Muster konnten die christlichen Platoniker Plato und alle Neuplatoniker als unbewusste Christen identifizieren, die vom Logos inspiriert waren, ohne es zu wissen.

Das Argument folgt der Logik der »philosophia perennis«, kann aber auch im Sinne der »pia philosophia« interpretiert werden: das unbewusste Christentum der »guten Heiden«, die mit dem Logos in Übereinstimmung lebten, wurde durch das Christentum offen und unverschleiert ausgesprochen. Mit anderen Worten: die wahre und universelle Religion fand ihren vollkommensten Ausdruck erst im Christentum. Insofern gehört »Ad Graecos« als Text nicht dem Typus der »prisca theologia« an. Es mag zwar zutreffen, dass das Christentum die alte Weisheit des Moses wiederherstellt, aber im Grunde bedarf es seiner Autorität nicht, und das Judentum ist auch nicht die vollkommenste Offenbarung der wahren Religion. Zwar kommt Moses größere Autorität als den Lehrern der Heiden zu, aber »älter« heißt nicht in jedem Fall »besser«, denn dann hätten die Christen Moses gegenüber Christus vorziehen müssen. Auch wenn also radikale Neuheit Minderwertigkeit gleichkommt, folgt daraus nicht, dass größeres Alter mit Überlegenheit gleichzusetzen ist.

Heidnische Autoren konnten sich vorbehaltloser gegen das Neue stellen. Als Beispiel führt Hanegraaff Celsus an, dessen Polemik gegen das Christentum unter dem Titel »Alethes Logos«, »Das wahre Wort«, Ende des zweiten Jahrhunderts als Antwort auf die Verteidigung des Christentums durch Justinus Martyr erschien. Celsus war überzeugt von der Existenz einer alten Weisheit, die schon immer im Besitz der weisesten Völker und Männer gewesen war. Aber unter all den weisen Völkern, von denen er sprach, kamen die Juden nicht vor. Auch Moses taucht in seiner Liste der inspirierten Theologen nicht auf. Der Grund ist, dass Celsus Moses mit seinem exklusiven Monotheismus für die Korruption der alten Weisheit verantwortlich machte: »Die Ziegen- und Schafhirten, die Moses anführte, wurden von ihm dazu verleitet, zu glauben, es gebe nur einen Gott und ohne vernünftigen Grund gaben diese Hirten die Verehrung der vielen Götter auf.« Immerhin blieben die Juden ihrer verkehrten, aber wenigstens alten Tradition treu, während die Christen noch schlimmer waren: Sie lehnten sich nicht nur gegen die jüdische Religion auf, die schon schlimm genug war, sie brachen auch noch mit allen anderen Traditionen, sie waren »wurzellose Gesellen«, die sich selbst von der übrigen Menschheit absonderten.

Wie man sieht, ist Celsus Anhänger der »prisca theologia« und interpretiert das Christentum als Dekadenzerscheinung, während Justinus die »pia philosophia« vertritt und in seiner Religion einen Aufstieg zum Besseren erkennt. Eine weitere Position vertritt Tatian in seinem Werk »Gegen die Griechen« Ende des zweiten Jahrhunderts. Die Griechen waren nicht nur nicht die Quelle der höheren Kultur, sie waren bloße Nachahmer. Das Christentum ist die jüngste Erscheinungsform der Gottesweisheit der Heiden, Moses stellt ihren ersten Träger dar. Eine Generation später, bei Clemens von Alexandria, wurden aus den Nachahmern »Diebe«: die Griechen hatten ihre Weisheit von den barbarischen Nationen gestohlen (den Ägyptern, Chaldäern, Druiden, Kelten, Magiern und Indern), die sie ihrerseits von Moses empfangen hatten. Aber die Barbaren verfügten auch über unabhängige Erkenntnisquellen, wie das Beispiel der persischen Magier zeige, deren Sternenweisheit ihnen erlaubte, die Geburt Jesu vorauszusehen, und ihm in Betlehem ihre Huldigung darzubringen.

Die apologetische Literatur gipfelte im 3. Jahrhundert im Buch des Origenes gegen Celsus. Unter Berufung auf orientalisierende Platoniker wie Numenios kritisiert er Celsus dafür, Moses von seiner Liste der inspirierten Theologen gestrichen zu haben. Vielmehr sei er die älteste barbarische Autorität, von der die Griechen abhingen. Auch Origenes hält die direkte Inspiration der Heiden durch Gott für möglich. »Gott hat allen Menschenseelen die Wahrheiten eingepflanzt, die er durch seine Propheten und den Heiland offenbarte«, schreibt Origenes.

Die Attacke des Platonikers Porphyrius gegen das Christentum leitete eine zweite Phase der apologetischen Auseinandersetzungen ein. In seiner Kindheit christlich erzogen, später Schüler Plotins in Rom, verfasste er gegen Ende des 3. Jahrhunderts ein Werk, in dem er die Vorwürfe der Wurzellosigkeit und Rebellion gegen die Christen erneuerte und die Behauptung, Moses sei älter als alle anderen Lehrer, mit präzisen philologischen und historischen Argumenten in Zweifel zog. Ihm antwortete zu Beginn des 4. Jahrhunderts Eusebius mit seiner »Praeparatio Evangelica«.

Eusebius entwickelt eine ganze Kulturgeschichte, um zu beweisen, dass das Christentum nicht nur alt und wahr ist, sondern dass es wahr ist, weil es alt ist. Aber die historischen Argumente des Porphyrios zwingen ihn zu einem erheblich größeren Aufwand als seine Vorgänger. Nach dem Sündenfall lebte die Menschheit in primitiver, ungezügelter Wildheit. Die heidnischen Phönizier und Ägypter erhoben sich aus diesem Zustand der Unwissenheit, ihnen folgten die Griechen. Unter dem zunehmenden Einfluss der Dämonen verfiel die Religion dem Aberglauben, von dem die griechisch-römische Welt voll war. Daneben aber zeigte sich unter dem Einfluss Gottes auch die wahre Religion. Schon zur Zeit der Wilden nach dem Sündenfall erhoben sich die jüdischen Patriarchen von Enoch bis Moses aus diesem Zustand und wandten sich dem einen Gott, dem Schöpfer aller Dinge und wahren Erlöser zu. An der von ihnen begründeten wahren Religion hielten die Juden bis zum Erscheinen Christi fest, die in einem Meer des abergläubischen Heidentums eine rühmliche Ausnahme darstellten. Das Erscheinen Christi und der Evangelien führte zu etwas Neuem und Einzigartigem: zur Vertreibung der Dämonen und damit dem Ende des Heidentums. Trotz dieser Neuerung ist die wahre Religion selbst nicht neu, sie ist eine Wiederverkörperung der alten hebräischen Religion, die schon bestanden hat, bevor Moses das Judentum begründete. Die Hebräer benötigten keine Gesetze, weil sie frei von Leidenschaften in Übereinstimmung mit der Natur lebten, dank der Weisheit, die ihnen von Gott offenbart worden war. Das Christentum stellt diese uralte wahre Religion der Freiheit wieder her. Es benötigt ebensowenig wie die alten Hebräer das mosaische Gesetz und ist deswegen dem Judentum überlegen, ohne dass dieses dadurch minderwertig würde.

Eusebius schrieb in Caesarea und stützte sich auf die Bibliothek des Origenes, die eine Fülle von Werken orientalisierender Platoniker enthielt. In diesen Werken sehr bewandert, hielt er zwar die heidnische Religion für eine Erfindung von Dämonen, führte aber die platonische Philosophie auf hebräische Quellen zurück und war von ihrer essentiellen Übereinstimmung mit dem Christentum überzeugt. Durch ihn ist das berühmte Numenios-Zitat über Plato erhalten: »Was ist Plato anderes als ein Moses, der attisches Griechisch spricht?«

In den folgenden Jahrhunderten wurden all diese Motive vielfach variiert. Laktanz betonte, die hebräischen Propheten seien älter als die Lehrer der Griechen und Augustinus gesteht zwar Hermes ein höheres Alter als den griechischen Weisen zu, lässt ihn aber zeitlich auf Moses folgen. Im achten Buch des »Gottesstaates« spricht er davon, dass niemand dem Christentum näher gekommen sei, als die Platoniker, schließt aber auch die Weisen anderer Völker von dieser Wahrheit nicht aus. Überall wo die wahre Erkenntnis Gottes zutage trat, gab es auch vor dem Erscheinen Christi auf Erden »Christen«. Er vertritt also eine Variante der »philosophia perennis«: die wahre Religion war auch den Heiden bekannt und nahm den Namen Christentum an, nachdem der Logos im Fleisch erschienen war.

Alles in allem, so Hanegraaff, konnten sich die Renaissanceplatoniker auf die Autorität der Kirchenväter berufen, solange sie Moses als die letzte Quelle der wahren Religion betrachteten. Die »Weisheit der Heiden« konnte vom Logos inspiriert sein, auf Moses zurückgehen oder die wahre Religion vorankündigen. Und der Platonismus in seiner orientalisierten Form konnte eine besondere Rolle bei der Vermittlung zwischen der philosophischen Vernunft und der Offenbarungsreligion spielen. Aber um den Diskurs über alte Weisheit im 15. Jahrhundert zu ermöglichen, mussten noch einige Aspekte hinzukommen. Von entscheidender Bedeutung war die Tatsache, dass sich die Machtverhältnisse grundlegend geändert hatten. Die früheren Apologeten mussten das Christentum in einem feindseligen heidnischen Umfeld verteidigen, während die italienischen Platoniker zu Verteidigern heidnischer Weisheit in einem intoleranten christlichen Umfeld wurden. Außerdem stritten sie nicht über dasselbe »symbolische Kapital«. Die alten Apologeten mussten beweisen, dass ihre Religion die Autorität einer alten ehrwürdigen Tradition beanspruchen konnte, während die Renaissancehumanisten zu zeigen hatten, dass die heidnischen Quellen nicht im Widerspruch zur theologischen Orthodoxie standen. Schließlich mussten sich die christlichen Apologeten mit einer reichen heidnischen Literatur auseinanderzusetzen, während die Renaissancehumanisten eine lange verschollene und eben erst wieder entdeckte Literatur verarbeiten mussten. Diese Wiederentdeckung der alten Weisheit barg ein revolutionäres Potential in sich: die heidnische Weisheit konnte innerhalb des Christentums wiederaufleben, in friedlicher Koexistenz mit ihm oder auch in Konkurrenz. Dies waren die Rahmenbedingungen für die Entstehung der westlichen Esoterik.

4. Weisheit aus dem Osten: Georgios Gemistos Plethon

Eine Schlüsselgestalt für das Wiederaufleben des orientalisierenden Platonismus im Westen ist Georgios Gemisthos Plethon, der den byzantinischen Kaiser Johannes VII. und den Patriarchen Josef II. 1438 zum Konzil in Ferrara und Florenz begleitete. Er war bereits achtzig Jahre alt und einige der Mitglieder der Delegation gehörten zu seinen ehemaligen Schülern (Bessarion, Eugenikos, Isidor von Kiew). Um sein Erscheinen in Florenz woben sich Legenden. Unter den versammelten Gelehrten »leuchtete er wie eine Sonne«. Man betrachtete ihn als »Lehrer der Menschheit« und bezeichnete ihn als Plato und Sokrates, denen er in Weisheit nicht nachstehe. Marsilio Ficino sollte 1492 in einer Widmung der plotinischen Enneaden an Cosimo di Medici dieses Bild aufrufen. Er schrieb, der junge Cosimo habe oft zu Füssen des greisen Lehrers gesessen und ihn »wie einen zweiten Plato über die platonischen Mysterien« sprechen hören. Damals sollten die Samen ausgesät worden sein, die zwei Jahrzehnte später in der platonischen Akademie von Florenz aufblühten. Auch wenn die historische Wahrheit dieser Legende heute angezweifelt wird, kommt dem Besuch Plethons in Florenz eine große historische und noch größere symbolische Bedeutung zu. In Plethon begegneten die Humanisten das erste Mal einer lebendigen Verkörperung des orientalisierenden Platonismus, einem Mann, der glaubte, die wahre Weisheit sei von Zoroaster, dem bedeutendsten der persischen Magier, ausgegangen. Der Besuch der Byzantiner konnte symbolisch rückbezogen werden auf den Besuch der Magier in Betlehem. So wie diese einst bezeugten, dass ihre alte Weisheit mit der in Christus verkörperten übereinstimmte und durch ihre Huldigung seine Superiorität anerkannten, so konnte auch der Besuch der byzantinischen Delegation in Rom gedeutet werden. Und in der Tat wurde am Johannitag 1439, bei den Festlichkeiten zur Beendigung des Konzils, ein Umzug inszeniert, in dem als Magier verkleidete Männer einem Stern folgten. Die Byzantiner, so der Subtext, mussten nach Rom pilgern, dem Oberhaupt der Christenheit huldigen und seine Überlegenheit anerkennen. In einem Fresko Benozzo Gozzolis, »Die Reise der Magier«, das Cosimo di Medici 1459 in Auftrag gab, spiegeln sich all diese Motive. Hier verbanden sich Cosimos Bewunderung der biblischen Magier mit seinen Erinnerungen an das Konzil und der Wiedergeburt Platos, die unter seinem Schirm in Florenz stattfand. Für all dies stand Plethon.

Marsilio sollte später im Hinblick auf das Konzil davon sprechen, der Geist Platos, der in seinen Schriften lebe, habe Byzanz verlassen und sich wie ein Vogel zu Cosimo in Florenz begeben. Und kein Zweifel bestand daran, dass die Magier, die das Kind in Betlehem anbeteten, die Schüler Zoroasters gewesen waren.

Gemistos, der sich später den Beinamen Plethon zulegte, war Lehrer der Philosophie in Byzanz. Kaiser Manuel II. entsandte ihn als seinen Beauftragten auf den Peloponnes. Hier, in Mistra, wirkte er in vielerlei auch öffentlichen Funktionen. Zwar verdächtigte ihn die Kirche der Häresie, aber die kaiserliche Familie schätzte ihn, was nicht zuletzt durch seine Mitgliedschaft in der byzantinischen Konzilsdelegation zum Ausdruck kam.

Für Plethon selbst war der Besuch in Florenz ein Wendepunkt seines Lebens. Hier nahm er den Autorennamen Plethon an (eine Anspielung auf Platon und »plethos«, »Fülle«) und nach seinem Besuch verfasste er seine bedeutendsten Werke. Er genoss die Bewunderung der italienischen Humanisten und dürfte von ihrer Unkenntnis der griechischen Philosophie schockiert gewesen sein. Plato wurde gerade erst von ihnen entdeckt und das Wissen über Aristoteles ließ sehr zu wünschen übrig, obwohl die Scholastiker sich unentwegt auf ihn beriefen, den sie meist aber nur aus zweiter und dritter Hand und oft genug verstümmelt kannten. Um Missverständnisse zu beseitigen, verfasste Plethon während seines Aufenthalts in Florenz die Abhandlung: »Worin Aristoteles mit Plato nicht übereinstimmt« (De differentiis). Überall, wo Aristoteles von Plato abwich, irrte er nach Ansicht Plethons und damit eröffnete er eine große Plato-Aristoteles Kontroverse, die bis in die frühen 1470er Jahre andauerte.

Bedeutender ist die Ausgabe der »Chaldäischen Orakel«, die Plethon mit einer Einleitung versah. Sie stellten einen der zentralen Texte des orientalisierenden Platonismus dar. Plethon war im Besitz einer Ausgabe aus dem elften Jahrhundert, ließ bei seiner Edition sechs Orakel weg und gab sie unter dem Titel: »Magische Worte der Magier, der Schüler Zoroasters« heraus. Aus »chaldäischen« Orakeln wurden also »magische« (persische) und als Verfasser wurde erstmals in der Geschichte Zoroaster bezeichnet. Dieser Schritt barg weitreichende ideenpolitische Implikationen.

Im Hintergrund steht die Geschichte einer Überlieferungskette des Wissens, in die das Heidentum und alle drei Schriftreligionen verwickelt sind, die erstmals von Henri Corbin postuliert wurde. Schlüsselfigur darin ist ein jüdischer Lehrer Plethons, der in Briefen des Scholarios erwähnt wird, in denen dieser Plethon der Ketzerei und des Götzendienstes bezichtigt. Dieser Jude namens Elissaeus soll eine bedeutende Figur am Hof der Türken in Adrianopel gewesen sein, der vom mosaischen Glauben zum Polytheismus übergegangen war. In seiner Philosophie hatte er den averroischen Aristoteles in lateinischer Lesart und die Lehren Avicennas in der Interpretation des Suhrawardi kombiniert. Die Philosophie der Illumination (Erleuchtung) des Suhrawardi wurzelte im orientalisierenden Platonismus. Seine Wissenschaft der Lichter (und der Erleuchtung) führte er auf »den inspirierten und erleuchteten Plato« zurück, den Führer und Meister der Philosophie, sowie auf jene, die ihm seit der Zeit des Hermes, des Vaters der Philosophen, vorangegangen seien. Suhrawardi war der Überzeugung, wer sich mit dieser Wissenschaft der Lichter eingehend beschäftige, werde das Licht sehen, »das im Königreich der Macht leuchtet und die himmlischen Wesenheiten und Lichter, die Plato und Hermes zugänglich waren.« Er werde »die geistigen Lichtwesen sehen, die Quelle des königlichen Glanzes und die Weisheit, von der Zoroaster sprach.«

Sollten die Informationen des Scholarios über Elissaeus zutreffen, könnten sie verständlich machen, warum Plethon sich berechtigt glaubte, die chaldäischen Orakel als die älteste Quelle der alten Weisheitstradition zu betrachten. Mit ihrem Symbolismus von Licht und Feuer, die das Göttliche repräsentieren, waren sie nicht nur Beispiele für Suhrawardis vorplatonische Wissenschaft der Lichter, sondern auch des Feuerkultes, der immer mit der Religion Zoroasters in Verbindung gebracht worden war. Suhrawardi unterscheidet zwischen der »wahren Lehre vom Licht«, in deren Besitz sich die persischen Magier befunden hatten und der »falschen Lehre der ungläubigen Magier«, der manichäischen Häresie. Außerdem hatte der Begriff »Magier« in den griechischen Quellen stets eine doppelte Bedeutung: einerseits meinte er einen Weisen, der den alten Kult der wahren Götter praktizierte, andererseits stand er aber für einen Zauberer, der schwarzmagische Künste beherrschte. Plethon scheint der Auffassung gewesen zu sein, dass Zoroaster und die alten persischen Magier für die alte wahre und universelle Religion standen, während die Chaldäer die Wahrheit korrumpiert hatten, was zum Dualismus und zur schwarzmagischen Praxis führte. Daher strich er die drei Orakel, die sich auf die Praxis der Magie bezogen, aus seiner Ausgabe und schrieb den Rest des Textes Zoroaster und den wahren Magiern zu.

Zurück in Mistra verfasste Plethon sein Hauptwerk, das er nach dem Vorbild Platons die »Gesetze« nannte. Scholarios, inzwischen Patriarch von Konstantinopel, sorgte in den 1460er Jahren dafür, dass dieses Werk verbrannt wurde, nicht ohne jene Passagen aufzubewahren, die ihm bei seinem Kampf gegen Plethon nützlich schienen. Aus diesen Passagen ist eine Genealogie von Gesetzgebern und Weisheitslehrern zu entnehmen, die laut Plethon auf Zoroaster folgten: Eumolpos, der Begründer der eleusinischen Mysterien, Minos, der Gesetzgeber Kretas, Lykurg, Gesetzgeber Spartas, Iphitos, Gründer der Olympischen Spiele und Numa, Begründer der römischen Religion. Unter den Heiden ragen die Brahmanen und die Magier hervor, unter den Griechen die Kureten, danach folgt eine weitere Liste inspirierter Männer, darunter die Priester von Dodona, Männer wie Polyides, Teiresias, Chiron und die Sieben Weisen, schließlich Pythagoras, Plato und andere Philosophen, insbesondere Parmenides, Timaios, Plutarch, Plotin, Porphyrios und Iamblichos.

An dieser Liste hält Hanegraaff drei Dinge für bemerkenswert: 1. Plethon stellt seine Gesetzgeber und Philosophen als Positivliste einer negativen Kategorie von »Dichtern und Sophisten« gegenüber, die sich als Code für die Gründer von Offenbarungsreligionen, insbesondere des Christentums, herausstellt. 2. Wie der Titel »Gesetze« betont, ging es Plethon nicht nur um eine religiöse, sondern auch um eine politische Reform, die er durch die Rückkehr zur alten Weisheit erreichen wollte. 3. Schließlich fehlen bestimmte Figuren auf seiner Liste: Orpheus bei den griechischen Weisen und Proklos unter den Neuplatonikern. Was aber am schwersten wiegt: Hermes und Moses kommen in ihr nicht vor. Diese Lücke führt ins Zentrum der Erzählung Plethons von der alten Weisheit, die das Verhältnis von Heidentum und Christentum betrifft.

Plethon stellt sich der gesamten apologetischen Tradition entgegen, die seit Justinus Martyr die Griechen von Moses abhängig sah. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Plethon implizit gegen Justinus schrieb. Sein Anliegen war nach dem Besuch des Konzils, den Vorrang der griechischen Tradition zu bekräftigen, aber die wahre Philosophie sollte nicht auf Moses, sondern auf Zoroaster zurückgeführt werden. Plethon versuchte in deutlicher Opposition gegen die gesamte apologetische Tradition die Religion, die im Gesetz des Moses verankert war, durch eine andere zu ersetzen, die auf die alte Philosophie des Feuers und des Lichtes zurückging, die Zoroaster begründet haben sollte. Mithin übernahm er die Strategie des Celsus, der Moses ebenfalls aus der Genealogie der Weisheit ausgeschlossen hatte. Hermes dürfte er entfernt haben, weil die Auffassung verbreitet war, er habe seine Weisheit vom (jüdischen) Ägypter Moses erhalten, was die Position Zoroasters wieder geschwächt hätte.

Dieser offene Bruch mit der patristischen Tradition lässt laut Hanegraaff nur einen Schluss zu: Plethon beabsichtigte tatsächlich eine Wiederbelebung des Heidentums in offener Opposition zum Christentum. In Form eines orientalisierenden Platonismus sollte es den exklusiven Monotheismus der mosaischen Religion durch einen toleranten, inklusiven Monotheismus im Stile des Celsus und Proklos ersetzen.

Nahezu alle Kenner dieses Sachgebiets stimmen darin überein, dass Plethon tatsächlich ein »neuheidnischer« Gegner des Christentums war. Entgegen einem weitverbreiteten Klischee über die Renaissance als »Wiedergeburt des Heidentums«, ist er aber auch der einzige, dem eine solche Intention nachgewiesen werden kann. Alle anderen führenden Exponenten des Renaissance-Platonismus waren überzeugte Christen.

Aber Plethon zeigt, dass die platonischen Texte in einer Zeit, die das dringende Bedürfnis nach religiöser Reform empfand, als Ausgangspunkt für eine Widergeburt des Heidentums dienen konnten. Seine wahre Bedeutung liegt jedoch nicht in seinem unmittelbaren Einfluss, der begrenzt war, sondern im Bereich der »kulturellen Mnemonik«, der Gedächtnisgeschichte, in seiner symbolischen Bedeutung als zweiter Plato aus dem Orient, dessen Erinnerungsgestalt je nach Perspektive dämonisiert oder romantisiert werden konnte. Plethon konnte als repräsentativer Platoniker wahlweise als Ausgangspunkt für eine Erneuerung der Kultur und des religiösen Lebens oder als Zentrum einer neuplatonischen Verschwörung zur Zerstörung des Christentums interpretiert werden. Unmittelbar neben dem Bild des weisen Philosophen und Boten der alten Weisheit steht also das Bild eines subversiven Heiden, eines Agenten dämonischer Mächte, die sich hinter einer Maske des Wohlwollens verbergen. Diese beiden Bilder sollten die weiteren Auseinandersetzungen über die Esoterik bis in die Gegenwart bestimmen.

5. Platonische Theologie: Marsilio Ficino

Bis 1990 zweifelte niemand an der offiziellen Legende, Cosimo habe einst zu Füßen Plethons gesessen, und hier die Idee aufgenommen, Platos Akademie in Florenz wieder aufleben zu lassen. 20 Jahre später, so die Legende, soll er den begabten Marsilio Ficino getroffen, ihm die platonischen Dialoge mit dem Auftrag ausgehändigt haben, sie zu übersetzen, und ihm eine Villa in Careggi, das künftige Zentrum der platonischen Akademie überlassen haben. James Hankins hat diesen Mythos 1990 zerpflückt. Im einzelnen auf diese Diskussion einzugehen, würde hier zu weit führen.

Eine weitere Legende betrifft die Ankunft des »Corpus Hermeticum« im Jahr 1462 in Florenz. Cosimo wies Ficino an, die Platoübersetzung liegen zu lassen, um die Übersetzung dieses Corpus vorzuziehen, war doch Hermes weit älter als Plato und dessen Quelle. Ficino vollendete die Übersetzung 1463 und ließ sie 1471 im Druck erscheinen. Nach der einflussreichen Deutung von Frances Yates begann damit die »hermetische Tradition« der Renaissance. Zweifellos ging von dieser Übersetzung die Rezeptionsgeschichte der Hermetik in der Renaissance aus, aber entgegen der Auffassung von Yates sieht Hanegraaff diese nicht als eine autonome Tradition hermetischer Magie, sondern als einen wenn auch wichtigen Bestandteil der umfassenderen Geschichte des orientalisierenden Platonismus der Renaissance.

Auch wenn die platonische Akademie von Florenz in der Villa von Careggi als feste Institution eine historische Fiktion sein mag, wird dadurch die Bedeutung der Wiedergeburt des Platonismus oder die zentrale Rolle Ficinos für diese nicht geschmälert. Auch für die Faszination, die seither von Hermes ausging, war Ficino zentral. Dennoch muss festgehalten werden, dass aus der Sicht des orientalisierenden Platonismus beide keine eigenständigen Philosophen, sondern Sprachrohre einer alten, zeitlosen und universellen Weisheit waren, die letztlich von Gott stammte. Aber das machte sie in den Augen Ficinos nur noch bedeutsamer. Ähnlich verhält es sich mit Ficinos Vorstellungen über die Reise der alten Weisheit von Byzanz nach Florenz. Er dachte dabei nicht an Manuskripte und wandernde Mönche, sondern an die göttliche Vorsehung, die sich in spirituellen Einflüssen und bedeutungsvollen Synchronizitäten manifestierte.

Ficinos Interesse an der alten Weisheit durchlief verschiedene Phasen. In seiner Jugend, als er noch kein Griechisch verstand, blickte er durch die Augen lateinischer Neuplatoniker auf den göttlichen Plato, den religiösen Denker. Plato lernte er in anfänglichen Übersetzungen von Bruni und Decembrio kennen. Schon damals war er voller Enthusiasmus für die »alten Weisen.« Manche seiner Lehrer scheinen seine Begeisterung für die Heiden als beängstigend empfunden zu haben. Lorenzo Pisanos Dialoge schildern Konflikte zwischen älteren konservativen Klerikern und rebellischen jugendlichen Schwärmern, die von Dichtkunst und Heidentum trunken sind, unter denen Ficino eine prominente Rolle spielt. Sie verteidigen die Schönheiten Platos und der heidnischen Dichtung, und werden wiederholt ermahnt, besser dem wahren Glauben der Kirche zu folgen.

Etwas reifer geworden, scheint Ficino seine jugendlichen Eskapaden bereut zu haben. Nach seinen eigenen Worten wurde er durch die »Summe gegen die Heiden« von Thomas von Aquin von seiner »gefährlichen Häresie« geheilt. Für diesen Sinneswandel finden sich auch Zeugnisse in seinem Briefwechsel. Neben Philosophen schätzte Ficino auch die Dichtung als Quelle genuiner Offenbarungen. Hierin folgte er Petrarca und Boccacio, die davon überzeugt waren, dass die »prisci theologi« oft »prisci poetae« waren, inspirierte Dichter, die über die göttlichen Geheimnisse in mythologischen Bildern sprachen. Petrarca hielt die Dichter für die ersten Theologen und Bocaccio hatte diese Idee einer »poetischen Theologie« mit Orpheus und Moses als Hauptfiguren in einer einflussreichen Schrift verteidigt.

Den jungen Ficino scheint weder die Frage der Priorität oder Superiorität im Verhältnis zwischen alter Weisheit und Christentum interessiert zu haben, noch die Frage, ob Moses der historische Vorrang vor Hermes gebühre. Sie scheinen ihn auch später nicht ernsthaft beschäftigt zu haben. 1464 jedoch entschied er sich in der Frage Moses oder Hermes gegen beide und gab Zoroaster als ältestem Offenbarungsträger den Vorzug. Diese Entscheidung war sicherlich von Plethons Ausgabe der »chaldäischen Orakel« und der biblischen Geschichte über die Magier beeinflusst, die Christus als dem »Vollender des Zoroastrismus« gehuldigt hatten. Nach seiner Auffassung hatte bereits Abraham, als er von Ur in Chaldäa auszog, die zoroastrische Weisheit im Gepäck.

Ficinos Aufwertung Zorasters war von Bedeutung für die Vorstellung der »prisca theologia«, denn sie schloss magische Praktiken und die okkulte Philosophie ein. Da die neuplatonische Theurgie der chaldäischen Orakel Zoroaster zugeschrieben wurde, dem ältesten aller Weisen und Präzeptor der Magie, verschmolz die alte Weisheit mit der Magie. »Prisca theologia« wurde zur »prisca magia«. Ficino hielt sich in dieser Hinsicht zurück, aber Pico della Mirandola nicht. Ein zeitgenössischer Autor gibt dessen Auffassungen wie folgt wieder: »Die göttliche Philosophie des Pythagoras, die sie als Magie bezeichneten, gehörte größtenteils zur mosaischen Tradition, da Pythagoras bei den Hebräern in Ägypten in die Lehre gegangen war, wo er viele ihrer heiligen Mysterien kennenlernte. Sogar die Weisheit Platos kommt, wie man weiß, der hebräischen Wahrheit sehr nahe, daher haben ihn viele als ›Moses‹ bezeichnet, ›der griechisch spricht‹. Zoroaster, der Sohn des Oromasius, betrachtete die Magie als eine Form der Gottesverehrung und als Theologie, in Persien untersuchte er jede Kraft der Natur, um die heiligen und erhabenen Geheimnisse der göttlichen Intelligenz zu erforschen, was viele als Theurgie bezeichneten, andere als Kabbala oder Magie.«

Manche seiner Zeitgenossen irritierte die Bedeutung, die Ficino den heidnischen Quellen gab. Jemandem, der daran zweifelte, die Wiederbelebung der heidnischen Theologie sei im Sinne der Vorsehung, antwortete Ficino 1485 mit drei Argumenten: der Idee eines religiösen Fortschritts durch göttliche Pädagogik, der Idee der Verschleierung und Reinigung und einer Unterscheidung zwischen Philosophie und Religion. Das erste war eine Variante der »pia philosophia«: da die alten Weisen vor Christus gelebt hatten, konnte man nicht erwarten, dass sie sich zur reinen christlichen Wahrheit zu erheben vermochten, aber sie waren auf dem Weg zu dieser Wahrheit, die zuletzt im Christentum offenbart wurde. Über das Wirken der göttlichen Inspiration in allen Zeiten und Völkern sagt Ficino: »So geschah es, dass in jenen Zeiten bei den Persern unter Zoroaster und den Ägyptern unter Hermes eine fromme Philosophie geboren wurde, und dass beide miteinander übereinstimmten. Diese fromme Philosophie wurde dann von den Thrakern unter Orpheus und Aglaophamus großgezogen. Sie erreichte ihr frühes Mannesalter bei den Griechen und Italienern in der Zeit des Pythagoras. Und in Athen erlangte sie im göttlichen Plato ihre volle Reife.«

Aber die alten Theologen pflegten die göttlichen Geheimnisse mit Zahlensymbolik und poetischen Fabeln zu verhüllen. Erst viel später wurde diese verschleierte Theologie unter göttlichem Einfluss durch Plotin freigelegt, aber Plotin ist selbst komplex und schwer zu verstehen. Daher hat Gott Ficino auserwählt, ihn zu übersetzen und zu kommentieren. Wenn sein Werk abgeschlossen ist, wird die wahre alte Philosophie in gereinigter Form frei zugänglich sein. Die Dichter erzählten die Mysterien der Frömmigkeit auf unfromme Weise, indem sie sie in Fabeln über heidnische Götter verbargen, die Aristoteliker waren für die Verbreitung von Meinungen verantwortlich, die jede Art von Religion zerstören, Plotin hingegen bringt diese Philosophie klar und unzweideutig zum Ausdruck. Durch die Arbeit Ficinos wird also die alte Philosophie von den unfrommen Fabeln der heidnischen Dichter gereinigt, und sich gegen die »Ammenmärchen der Scholastiker« als überlegen erweisen. Auf diese Weise wird die Wiederentdeckung der alten Weisheit zu einer Reform des Christentums führen. Das bloße Predigen des Glaubens wird nicht genügen. Sofern es Gott nicht gefällt, durch Wunder einzugreifen und die wahre Religion wiederherzustellen, müssen die Intellektuellen, die einen so großen Einfluss auf die Kirche gewonnen haben, durch Autorität und philosophische Argumente überzeugt werden.

Die Aufeinanderfolge der Weisen verstand Ficino nicht im strengen Sinn historisch. Er sah in ihnen Träger der göttlichen Offenbarung, die diese Offenbarung bestimmten Völkern und Zeiten mitteilten. Er unterschied zwischen einer »Periode der Inspiration«, die unter den Heiden mit Plato endete und unter den Juden mit den letzten Propheten, von einer »Periode der Interpretation«, die mit der Geburt Christi begann. Aber die erste Periode war für Ficino laut Hanegraaff nicht historisch im heutigen Sinn, daher interessierte ihn die historische Abfolge der Weisen auch nicht. Wenn Moses, die Propheten und die heidnischen Weisen alle direkt von Gott inspiriert waren, erübrigte sich die Frage nach den historischen Prioritäten. Für Ficino ging es nicht mehr um das symbolische Kapital der »Tradition«, sondern um das der »Orthodoxie«. Daher antwortete er auf den Einwand seines Zeitgenossen auch nicht, die heidnischen Philosophen seien »älter«. Überzeugender klang schon das Argument, die Alten hätten die Wahrheit des Christentums vorausgeahnt, wenn auch nur unvollständig. An die Stelle der historischen Tradition und der Übermittlung der Weisheit von einem Träger zum nächsten trat bei Ficino die zeitlose Wahrheit. Wenn die göttliche Wahrheit den unterschiedlichen Völkern offenbart worden war, und alle darin übereinstimmten, wurde die Suche nach den Ursprüngen überflüssig. Selbst wenn Zoroaster der erste war, machte das die späteren nicht von ihm abhängig, denn alle waren gleichermaßen von der göttlichen Inspiration erfüllt. Dies alles galt für die Epoche der Inspiration bis Plato. Für die Epoche der Interpretation sah es anders aus. Hier setzte für Ficino die geschichtliche Zeitfolge ein. Hanegraaff hält dies für konsistent. Denn die göttliche Offenbarung war eins, unteilbar und vollkommen verlässlich, die menschlichen Interpretationen hingegen fehlbar und widersprüchlich. Daher wich die vorhistorische Einheit der Metaphysik einer Vielheit sich widersprechender Interpretationen und die Überlieferungswege dieser Interpretationen konnten historisch untersucht werden. In der »Zeit der Interpretation« folgten Epochen der Verschleierung und Entschleierung aufeinander. Nach der Epoche der Inspiration versanken sowohl die Griechen als auch die Juden in Ignoranz und Aberglauben. Nur wenige innerhalb der Schulphilosophie wie Xenokrates und Ammonius Saccas blieben der Wahrheit treu und außerhalb der Schulen überlebte sie dank Sibyllen, Priestern und Dichtern, die von Gott inspiriert waren.

Nach dem katastrophischen Niedergang der wahren Weisheit, der auf Plato folgte, wurde sie durch Christus in ihrer ursprünglichen Form wiederhergestellt und durch die Evangelisten und Dionysios Areopagita kodifiziert. Aber durch gewisse unglückliche Umstände in der Kirche fielen die Bücher des Dionysios in Vergessenheit, die Weisheit verhüllte sich und wurde erst von den Neuplatonikern unter dem Einfluss christlicher Autoren wieder entdeckt: »Denn die Platoniker«, so Ficino, »nutzten das göttliche Licht der Christen, um Plato zu verstehen. Basilius der Große und Augustinus sagen deshalb, die Platoniker hätten die Mysterien des Heiligen Johannes des Evangelisten in sich aufgenommen. … Was immer die Platoniker über den göttlichen Geist, über die Engel und andere theologische Fragen wissen und das uns bewundernswert erscheint, stammt von jenen christlichen Autoren.« (»De Christiane religione«).

So haben die Kirchenväter, besonders Augustinus, die alte Religion in ihrer höheren christlichen Form wieder hergestellt. Danach aber verhüllte sie sich wieder, um schließlich von Ficino Dank der Vorsehung erneut enthüllt zu werden. Die universelle Weisheit durchläuft demnach nacheinander drei Phasen des Niedergangs, auf die drei Phasen der Wiederherstellung folgen.

All dies zeigt, dass Ficino sich grundlegend von Plethon unterscheidet, der das hellenistische Heidentum wiederherstellen und an die Stelle des Christentums setzen wollte. Für Ficino ist die Wiederherstellung der alten Weisheit mit der Wiederherstellung der wahren Form des Christentums identisch, es geht ihm nicht um einen Ersatz des Christentums durch das Heidentum. Ficino denkt wie die frühen christlichen Apologeten, tut dies aber in einem völlig anderen historischen Kontext. Denn nun ging es um eine Wiederherstellung heidnischer Quellen um der Reform des Christentums willen. Er glaubte, ein neues goldenes Zeitalter stehe unmittelbar bevor, er selbst sei das von Gott auserwählte Werkzeug, um dieses Zeitalter herbeizuführen.

Zwar kam die Reform, aber sie sah anders aus, als Ficino sie sich dachte. Die Kirche vermochte er nicht zu beeinflussen, dafür schuf er, wie Hanegraaff sagt, die Grundlage für eine andere religiöse Bewegung, eine nicht-institutionelle Bewegung religiöser Spekulation, die sich in den folgenden Jahrhunderten in Europa ausbreitete, deren Inhalt der orientalisierende Platonismus war. Durch sein Werk schuf er den »Referenzkorpus« (Faivre) der westlichen Esoterik. In diesen wurden im weiteren Verlauf weitere Strömungen aufgenommen. Eine der wichtigsten war die Kabbala. Dies führt zu Giovanni Pico della Mirandola.

6. Der geheime Moses: Pico della Mirandola und die Verchristlichung der Kabbala

1486 lud der 23-jährige Mirandola Gelehrte aus aller Welt nach Rom ein, um über sein megalomanes Projekt der 900 Thesen zu diskutieren. Bereits ein Jahr später verurteilte Papst Innozenz VIII. alle 900 Thesen, besonders jene, die sich auf »Irrtümer der heidnischen Philosophen«, »jüdische Betrügereien« und gewisse magische Künste bezogen. Mirandolas Thesen waren das erste gedruckte Buch in der Geschichte, das von der Kirche weltweit verboten wurde.

Mirandolas Projekt war laut Hanegraaff nur eine Erscheinungsform des »Narrativs der alten Weisheit«, neu war hingegen der Einbezug der jüdischen Esoterik. Dadurch begründete Mirandola die christliche Kabbala. Er setzte damit einen ähnlichen Prozess in Gang wie jenen, der bereits gegenüber dem orientalisierenden Platonismus stattfand: einen Prozess der Einverleibung nichtchristlicher Traditionen in das Christentum. Dieser Prozess war allerdings keine Einbahnstraße: die christliche Auseinandersetzung mit der Kabbala beeinflusste auch die weitere Entwicklung des jüdischen Denkens. Hanegraaff plädiert energisch dafür, die christliche Kabbala unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten und bedauert die diesbezüglichen Forschungsdefizite. Mit Ausnahme Moshe Idels habe bisher niemand die tiefen interreligiösen Wechselwirkungen in diesem Diskursfeld untersucht.

Mirandola, Reuchlin und ihre Nachfolger interessierten sich jedoch nicht für die jüdische Esoterik um ihrer selbst willen. Sie suchten in ihr nach der alten Weisheit. Da diese per definitionem »christlich« war, konnte die Kabbala auch kein genuin jüdischer Besitz sein. Die Juden würden zum Christentum übertreten, sobald sie die wahre Bedeutung ihrer eigenen Esoterik verstanden hätten.

Mit dieser Denkfigur bewegten sie sich in den Bahnen der frühchristlichen Apologetik. Aber die christlichen Kabbalisten hatten auch etwas Neues zu bieten: die geheime Lehre des Moses, der von Gott nicht nur das Gesetz des Pentateuch erhalten hatte, sondern auch eine esoterische Deutung dieses Gesetzes, die er wenigen Auserwählten vorbehielt. Diese Deutung hatte er laut Mirandola nicht der Schrift anvertraut, sondern unter dem Siegel des Schweigens nur der mündlichen Überlieferung. Diese geheime Lehre hatte er einem gewissen Jesus, Sohn des Nave, übergeben, der sie an würdige Nachfolger weitergab. Insofern die heidnische Weisheit mit dieser geheimen Lehre übereinstimmte, hatte sie an der ewigen Wahrheit teil. Aber im Gegensatz zu allen anderen heidnischen Weisheitstraditionen handelte es sich bei der Kabbala um eine lebendige Tradition, die auch noch zu Zeiten Mirandolas existierte. Für Christen ergab sich daher die Aufgabe, die Juden davon zu überzeugen, dass ihre geheime Lehre mit den Wahrheiten des Christentums übereinstimmte. In diesem Gedanken steckte ein beträchtliches milleniaristisches Potential. Mirandola setzte den Beginn seiner großen Debatte auf den 6. Januar an, den Tag der Epiphanie, an dem die heidnischen Völker in Gestalt der drei Magier sich vor Jesus niedergebeugt hatten. Möglicherweise erwartete er, dass am Ende der Debatte tatsächlich der jüngste Tag anbrechen werde. Das Projekt der christlichen Kabbala war zutiefst apologetisch und missionarisch.

Für Mirandola stand Moses am Anfang aller Weisheitsüberlieferungen und der göttlichen Quelle am nächsten. Aus einem obskuren Hinweis im Ecclesiasticus schloss er, Moses habe sein geheimes Wissen einem gewissen Jesus, Sohn des Nave übergeben. Die heidnischen Weisen, Pythagoras, die ägyptischen Priester, Plato und sogar Aristoteles blieben dem Schweigegebot treu. Mündlich bis in die Renaissancezeit überliefert, war es nun an den Christen, die Juden über die wahre Bedeutung ihrer Esoterik zu belehren: dass sie in Wahrheit mit dem Christentum identisch sei.

Mirandola war davon überzeugt, dass der Strom der alten Weisheit mit Moses begonnen hatte, und auch wenn Spuren davon sich bei anderen Heiden fanden und es eine Genealogie des Wissens gab, war er an der genauen historischen Abfolge nicht interessiert, denn Moses überleuchtete aus seiner Sicht alles. Ähnlich sah dies auch Johannes Reuchlin, der zweite bedeutende christliche Kabbalist in seinem Werk »De verbo mirifico« (1494). 1517 ging er allerdings in »De arte cabalistica« noch einen Schritt weiter und machte Adam nach dem Fall zum ersten Empfänger der göttlichen Weisheitsoffenbarung in Gestalt der Kabbala, die er als messianische Weisheit verstand, durch welche die Menschheit am Ende – vermittelt durch Jesus – wieder in das Paradies Eingang finden werde. Hier wurde die christliche Kabbala zu einer »prisca theologia«, deren Ursprung weder in Moses noch bei den Heiden lag, sondern in Gott allein.

Je mehr die christlichen Kabbalisten in die Interpretationstechniken der jüdischen Esoteriker eintauchten, um so gigantischere hermeneutische Perspektiven schienen sie ihnen zu eröffnen. Nicht nur die biblischen Texte bargen unendliche Schichten von geheimen Bedeutungen in sich, die Korrespondenzen zur heidnischen Mythologie und Philosophie waren auf einmal uferlos. Alle Bereiche des Wissens schienen durch ein geheimes Netz von Beziehungen miteinander verknüpft, und es war, als hätte Mirandola den Schlüssel gefunden, um diese Beziehungen aufzudecken. Immer deutlicher wurde, dass die alte Weisheit eine verborgene, verschleierte Weisheit war, die unter einer Unzahl symbolischer Verschleierungen existierte. Schon Petrarca und Boccacio hatten von den »prisci poetae« gesprochen, die ihr tieferes metaphysisches Wissen in dichterischen Fabeln versteckten. Dies galt nun auch für die heidnischen Religionen und Mythologien. Diese Verknüpfung des alten Wissens mit Geheimnis und Verschleierung sollte für die Folgezeit von großer Bedeutung sein. Pico selbst spielte mit der Dialektik von Verhüllung und Entschleierung, sprach in »Rätseln«, so dass seine Worte veröffentlicht und zugleich nicht veröffentlicht würden. Zusätzlich verstärkt wurde diese Verknüpfung von Verbergen und Entschleiern durch eine weitere Innovation Mirandolas: die Zahlensymbolik.

Die Geheimnisse der Kabbala wurden nicht nur wegen der Gefahr geheimgehalten, dass die Ungebildeten sie falsch verstehen könnten, sondern auch aus einem intrinsischen Grund: die göttliche Weisheit widersetzte sich aufgrund ihrer Beschaffenheit der Versprachlichung. Die kabbalistischen Wahrheiten waren so subtil, dass sie sich nicht der Logik und ihren Gesetzen beugten, sie verlangten eine Sprache, in der »jede Aussage ihre eigene Verneinung einschloss«. Die erhabenen Wesen, von denen diese Weisheit handelte, entzogen sich der auf die sinnliche Welt bezogenen Sprache, sie konnten nur »durch komplexe linguistische und numerische Kalkulationen« und durch »Intuitionen des Geistes« annähernd erfasst werden. Reuchlin sprach von einer »symbolischen Philosophie« und damit meinte er die Doppelbödigkeit der Bilder, die darin besteht, dass sie eine geistige Realität zugleich zum Ausdruck bringen und verhüllen.

Auf dem Umweg über die Kabbala drang das Motiv des »Esoterischen«, die Dialektik von Verschleiern und Enthüllen, Geheimhalten und Veröffentlichen, in den Weisheitsdiskurs der Renaissance ein, bzw. dieses Motiv, das bereits in der symbolischen und allegorischen Exegese heidnischer Weisheitsformen enthalten war, gewann eine bis dahin unbekannte Prominenz. Es ist auf diese Entwicklung zurückzuführen, dass Agrippa von Nettesheim 1533 sein großes Kompendium alter Weisheit mit dem Titel »De occulta philosophia« versah. Hier strömten alle Elemente des Diskurses über die alte Weisheit zusammen: die Wissenschaft der alten Magier, die Kabbala und die Vorstellung einer geheimen Philosophie, die in der Wahrheit des Christentums gründete.

Aber neu war dieses Motiv nicht, es fasste ein ganzes Bündel alter Topoi zusammen: das Christentum als verborgenen Kern des Heidentums, die ersten Theologen als Dichter, die ihr Wissen im Gewand mythologischer Fabeln verbargen, die Anspielungen orientalisierender Platoniker auf Geheimhaltung, mündliche Überlieferung von Lehrer zu Schüler und Einweihung in Mysterien, die Auffassung von Symbolik und Allegorie als Alternative zu aristotelischer Logik und diskursiver Sprache, die Dialektik von Verbergen und Enthüllen, die für die Kabbala zentral war, die neuen Interpretationstechniken, die den geheimen Schriftsinn aufdeckten, und schließlich, nicht unbedeutend: die Vorsicht der Autoren, die sich davor in Acht nehmen mussten, als Verteidiger des Heidentums, des Judentums oder der Magie zu erscheinen.

Dieser letzte Aspekt lenkt den Blick auf die Orthodoxie. Sah sie den Diskurs über die alte Weisheit durchgehend als Bedrohung des Christentums und als Häresie? Um diese Frage zu beantworten, wendet sich Hanegraaff dem Bibliothekar des Vatikans, Agostino Steuco zu.

7. Universalistischer Katholizismus: Agostino Steuco

Steuco veröffentlichte 1540 sein Buch »De perenni philosophia«, in dem er den Versuch unternahm, die Summe der alten Weisheit als katholische Wahrheit zu erweisen.

Sein ganzes Leben stand er im Dienst der Kirche. 1538 wurde er zum Bibliothekar des Vatikans ernannt. Er nahm am Konzil von Trient teil und starb 1548. In seiner Jugend scheint er den Diskurs über alte Weisheit abgelehnt zu haben, aber in seinem späten Hauptwerk entwickelte er eine Idee der »philosophia perennis«, die extrem inklusiv war und gleichzeitig orthodox in ihrer Ablehnung kabbalistischer und magisch-symbolischer Methoden der Interpretation. Seine Auffassung von »philosophia perennis« war denkbar konservativ.

Für ihn ging es nicht darum, eine alte Weisheit zu erneuern, die verloren gegangen war. Vielmehr war er der Überzeugung, sie sei immer zugänglich gewesen und die Kirche ihre rechtmäßige Besitzerin.

Steucos Idee der »philosophia perennis« ist merkwürdig unbestimmt. Ob die Menschheit in der Erleuchtung durch die ewige Wahrheit vorangeschritten ist, oder ob sie diese Erleuchtung besessen, dann verloren und in Christus wieder erlangt hat, ist seinen Äußerungen nicht zu entnehmen. Er interessiert sich nicht für Fragen der Priorität oder Sukzession, nicht für die Genealogie des Wissens, sondern nur dafür, zu zeigen, dass die Eine Wahrheit immer bestanden hat und jenen, die sie suchten, immer zugänglich war. Am vollkommensten aber wird sie aus seiner Sicht durch die katholische Kirche repräsentiert. Da die Lehre der katholischen Kirche, die auf den Evangelien und allein auf diesen fußt, die vollkommenste Erscheinungsform der »philosophia perennis« ist, muss alles an ihr gemessen werden. Von den Heiden kann man deshalb nichts lernen, vielmehr müssen sie durch die Kirche über die wahre Bedeutung ihrer eigenen Philosophie belehrt werden. Was Christen aus den heidnischen Quellen entnehmen können, sind keine neue Wahrheiten, sondern allein die Erkenntnis, dass der Logos zu allen Zeiten unter allen Völkern gewirkt hat. Ist erst einmal klar, dass der Katholizismus die etwaigen heidnischen Wahrheiten in ihrer vollendetsten Form bereits enthält, kann die Autorität der Kirche nicht mehr bezweifelt werden.

Die protestantischen antiapologetischen Autoren, die sich ab dem 17. Jahrhundert gegen das »platonisch-hermetische Christentum« wandten, drehten das Argument Steucos um: während er die katholische Wahrheit als geheimen Kern des Heidentums zu erweisen suchte, behaupteten sie, das Heidentum sei der geheime Kern des Katholizismus. Aus dieser Sicht waren die platonische und kabbalistische Philosophie Ficinos und Mirandolas nur eine besonders extreme Erscheinungsform jenes Heidentums, das sich im Katholizismus seit Justinus Martyr und den auf ihn folgenden Apologeten verbarg.

Was ist der Ertrag dieses ersten Kapitels von Hanegraaffs Untersuchung? Die Renaissance-Erzählung von der alten Weisheit formte die komplexe Grundlage für die abendländische Esoterik. Die abendländische Esoterik gründet also letztlich in einer geschichtlichen Idee, einer Idee der Geistes- oder Ideengeschichte. Damit formuliert Hanegraaff eine neue Definition von westlicher Esoterik, die sich von der anderer Autoren unterscheidet. Sie ist weder eine klar abgrenzbare philosophische oder religiöse Weltsicht (Goodrick-Clarke), noch ein spezifischer Erkenntnisweg (Stuckrad), noch eine Form des Denkens (Faivre). Dennoch spielten all diese Motive eine zentrale Rolle: Korrespondenzen, lebendige Natur, Imagination, Mediation, Transmutation – (Faivres Kategorien), Gnosis oder höhere Erkenntnis (Stuckrad, Versluis), ebenso Geheimhaltung und Verschleierung.

Aber entscheidend ist für Hanegraaff der geschichtliche (historiographische) Gedanke. Und gerade diese Interpretation hat weitreichende Konsequenzen. Denn auch wenn die Urintuition der westlichen Esoterik geschichtlich war, wurde sie doch – laut Hanegraaff – mit untauglichen Mitteln entfaltet, ohne historisch-kritisches Bewusstsein, vielmehr auf der Grundlage theologischer und metaphysischer Paradigmen. Daher gestaltete sich diese eigentlich historische Intuition auch nicht als eine Geschichte der Entwicklung menschlicher Meinungen aus, sondern als große Erzählung von der Geschichte der Wahrheit.

Aber ebendies war auch der fundamentale Widerspruch, an dem sie letztlich zugrunde ging. Denn absolute Wahrheit kann sich nicht ändern oder in der Zeit entwickeln und gleichzeitig absolut bleiben. Mit anderen Worten: die große Erzählung der Renaissance gründete in einem ahistorischen Zugang zu einem historischen Problem. Das lässt sich allerdings erst rückblickend erkennen, und entsprang nicht bewusster Absicht. Die Renaissance-Platoniker waren historische Enthusiasten mit großen philosophischen Ideen, aber schlechte Historiker. Sie waren Pioniere der Geschichte des menschlichen Denkens, die an ihren unausgereiften Methoden scheiterten. Erst später, ab dem 18. Jahrhundert, sollte die große Erzählung von der alten Weisheit zum Thema von Autoren mit einem ausdrücklich antihistorischen Programm werden.

In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurde die Geschichte der Wahrheit von der »Wahrheit der Geschichte« eingeholt, als die Philologie ihre kritischen Methoden entwickelte, die alle Gründungsmythen der Renaissance-Esoterik zu Fall brachten: die »hermetische Tradition« durch den Nachweis, dass deren Grundtexte nicht von Hermes Trismegistos stammten, die platonische Tradition durch die Einsicht, dass Platos Philosophie nicht mit ihren neuplatonischen Interprationen identisch war.

Frances Yates hatte laut Hanegraaff Recht, wenn sie behauptete, dass die Philologie die Fundamente der großen Erzählung von der alten Weisheit zerstörte und sie intellektuell diskreditierte. Aber wissenschaftliche Argumente, so Hanegraaff, haben selten Konsequenzen für das reale Leben der Religionen. Denn, wie der Anthropologe Evans-Pritchard feststellt, richten sich Menschen in ihrem Leben nicht primär an wissenschaftlichen Argumenten, sondern an Gefühlen und Werten aus, die ihr Weltbild in einem weit größeren Maß bestimmen, als die wissenschaftliche Rationalität. Es sollte daher nicht überraschen, dass die große Erzählung von der alten Weisheit bis in die Gegenwart überlebt hat und nach wie vor eine große Faszination ausübt.

Aber Hanegraaff deutet noch auf eine zweite Konsequenz. Die Zerstörung der großen Erzählung von der alten Weisheit durch die Philologie stand in einem größeren (geistesgeschichtlichen) Kontext – sie war selbst Teil eines ganzen Komplexes religiöser Narrative, deren grundlegende »Gefühle und Werte« eine scharfe Zurückweisung des Heidentums und eine Kritik seiner historischen Verbindung mit dem Katholizismus verlangten. Diese religiösen Narrative der Kritik zu untersuchen, ist Aufgabe des zweiten Kapitels von Hanegraaffs Buch.

Die Geschichte des Irrtums. Das Heidentum wird ausgetrieben

1. Gegen die Heiden

Der zweite Teil der Untersuchung Hanegraaffs trägt den Titel »Die Geschichte des Irrtums«. Die »Geschichte des Irrtums« ist die antiapologetische Geschichte, die der Protestantismus über die katholische Kirche erzählte. Diese Erzählung behauptet, die katholische Kirche sei von Anfang an einem großen historischen Irrtum verfallen, weil sie sich um eine Aussöhnung zwischen Christentum und Heidentum bemüht habe.

Im Grunde wurzelt diese antiapologetische Gegenerzählung bereits in der Renaissance. Von Beginn an stand dem orientalisierenden Platonismus sein antiplatonischer Schatten gegenüber: Plethon begleitete sein Erzfeind und Rivale Georg von Trapezunt. Ersterer erschien Georg als »giftige Viper«, die das Christentum zerstören und das Heidentum an seine Stelle setzen wolle. Mit letzterem hatte er ja, wenn wir der Darstellung Hanegraaffs folgen, nicht ganz Unrecht. Georg glaubte außerdem an die Existenz einer Verschwörung von Platonikern, die das Kommen des Antichrist vorbereite. Diese Überzeugung hatte keinerlei historische Grundlage und zeugt von der paranoiden Dimension, die häufig mit antihäretischen Diskursen einhergeht. 1458 bezeichnete Georg in seinem »Vergleich von Plato und Aristoteles« Plato als »Vater aller Häresien«. Dieser habe eine Reihe von Nachfolgern gezeugt: Mohammed als zweiten Plato, Plethon als dritten, und Kardinal Bessarion als vierten, von dem Georg fürchtete, er schicke sich an, den Thron des Papstes zu ersteigen. In Kardinal Bessarion und Georg von Trapezunt standen sich zwei katholische Konvertiten aus der Ostkirche gegenüber. Da für Trapezunt die Ostkirche platonisch war, Rom hingegen aristotelisch, hätte Bessarion auf dem Papststuhl die Eroberung Roms durch Plato bedeutet. Bessarion antwortete im Jahr 1469 mit seiner großen Synthese »Gegen die Verleumder Platos« auf diese Angriffe.

Anhänger Trapezunts waren Savonarola und der Neffe Pico della Mirandolas, Gianfrancesco. Letzterer hatte zwar die gesamten Werke Picos herausgegeben, gehörte aber gleichzeitig zu den schärfsten Gegnern des orientalisierenden Platonismus und des Heidentums. Gianfrancesco stand unter dem Einfluss Savonarolas. Die Möglichkeit wird diskutiert, dass der Neffe späte Werke Picos gefälscht hat, um ihn zu rekatholisieren. Wie dem auch sei: sein Buch »Examen vanitatis« stellt laut Hanegraaff eines der frühesten Beispiele der »antiheidnischen Reaktion« in der Geschichte der Renaissance dar. Alles weltliche Wissen ist nach ihm unsicher und eitel, die einzige Quelle sicherer Erkenntnis ist die heilige Schrift. Gianfrancesco verbindet also Skeptizismus (gegen die Vernunft) mit Fideismus (gegenüber der Offenbarung). Für Gianfrancesco ist die Geschichte der Philosophie eine Geschichte der Irrtümer, in die das von der Offenbarung nicht geleitete menschliche Denken notwendigerweise verfallen muss. Da die Wahrheit der Schrift einzig, ewig und unwandelbar war, kann es von dieser Wahrheit auch keine Geschichte geben, Geschichte des Denkens bedeutet daher, zu schildern, wie die Kirchenväter und späteren christlichen Theologen die Angriffe heidnischer Philosophen auf diese ewige und einzige Wahrheit abgewehrt haben. Die Geschichte des menschlichen Denkens wurde dadurch zu einer Geschichte des Irrtums. Diese Umkehrung der Perspektive der »pia philosophia« ist laut Hanegraaff der Ausgangspunkt der modernen Philosophiegeschichte.

Gianfrancescos Urteil über die heidnischen Weisen ist hart: Zoroaster, Hermes und Orpheus vermochten nur gewisse Eigenschaften Gottes zu erkennen, aber nicht sein Wesen. Allein die Hebräer waren vor Christus im Besitz der göttlichen Wahrheit. Die heidnische Philosophie begann nach Gianfrancesco mit Pythagoras und spaltete sich in Griechenland  und später Italien in zahlreiche Sekten auf, die sich alle gegenseitig widersprachen – für Gianfrancesco ein deutliches Zeichen, dass sie dem Irrtum verfallen waren. Die heidnischen Philosophen mussten zertrümmert und für ungültig erklärt werden. Einen Weg zur Wahrheit boten allein der Glaube und das Studium der Heiligen Schrift.

Hanegraaff erinnert daran, dass der neue Antipaganismus auch vor dem Hintergrund der Hexenhysterie zu sehen ist: Im selben Jahr, in dem die große Disputation über Picos 900 Thesen stattfinden sollte, erschien auch der »Hexenhammer« von Henricus Institoris (»Malleus Maleficarum«, 1486). Der Diskurs über alte Weisheit und die Hexenmanie entwickelten sich parallel.

Der Hexenhammer nahm noch keinen Bezug auf die gelehrte Magie der Florentiner (Ficino, Pico della Mirandola). Das tat aber das 1563 erschienene Buch des Holländer Arztes Johann Weyer »De praestigiis daemonum«. Weyer war Schüler Agrippa von Nettesheims (!), als dieser an seinem Kompendium »De occulta philosophia« schrieb (1530-1535). Agrippa war Anhänger der alten Weisheit und der magischen Künste und Skeptiker gegenüber dem weltlichen Wissen, das er aber nicht für schädlich hielt, sondern nur für unvollkommen und ergänzungsbedürftig durch das Offenbarungswissen der Heiligen Schrift. Der Intellekt, meinte Agrippa, müsse sich dem Glauben unterwerfen, über göttliche Dinge könne man nicht disputieren, über alle weltlichen und geschaffenen schon. Weyer näherte sich in seinem Buch, das im letzten Jahr des Konzils von Trient veröffentlicht wurde, der Position Gianfrancesco della Mirandolas an: die magischen Künste waren für ihn nicht nur unsicher, sondern auch schädlich und gefährlich. Das Buch stand am Beginn einer Epoche zunehmender Hexenverfolgungen und der Ausrottung alter heidnischer Volksbräuche, die bisher von der Kirche weitgehend toleriert worden waren.

Weyer ist laut Hanegraaff insofern bedeutsam, als er die Geschichte heidnischer Irrtümer in eine Geschichte dämonischer Unterwanderung transformierte. Die alten Weisen und Philosophen entbehrten aus seiner Sicht nicht nur des göttlichen Lichtes, sondern waren Werkzeuge des Teufels und seiner Dämonen. Seine Genealogie des Bösen beginnt mit den gefallenen Engeln, die Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben und dem verderblichen Einfluss dieser Dämonen auf Ham, den Sohn Noahs. Sie setzt sich fort mit Hams Sohn Misraim, der von Weyer mit Zoroaster, dem Erfinder der Magie identifiziert wird. Die Ägypter, Babylonier und Perser empfingen ihre verderblichen Künste laut Weyer von Zoroaster und gaben sie an andere Völker weiter, bis die ganze Welt angefüllt war »mit dem Gestank des Unglaubens wie ein Laboratorium der Hölle«. Die teuflische Kunst, so Weyer, lernten Pythagoras und Plato in Ägypten kennen und brachten sie nach Griechenland. Magie bedeutet für Weyer »Götzenverehrung«, »Idolatrie«, Anrufung und Verehrung heidnischer Götter, die in Wirklichkeit Dämonen sind. Immerhin lässt Weyer die »natürliche« Magie gelten, die sich – im Gegensatz zur dämonischen – auf die Erkenntnis der Naturkräfte beziehe. Er schreibt diese natürliche Magie den heiligen drei Königen zu, die das Jesuskind in Betlehem besuchten. Aber beide Formen sind aus seiner Sicht schwer auseinanderzuhalten und es ist besser, von jeder Form der Magie Abstand zu nehmen. Auch die jüdische Kabbala wurde nach Weyer durch den Einfluss der Magie verdorben. Die Neuplatoniker setzten den Götzendienst der Magie fort und wurden zu den Urvätern aller christlichen Häresien, deren Geschichte mit Simon Magus begann und über die Gnostiker und Julian Apostata bis zu Roger Bacon und Albertus Magnus im Mittelalter reichte. Die Florentiner Platoniker schließt Weyer in seine Liste des Bösen nicht ein, aber diese ist laut Hanegraaff ein »vollkommenes Beispiel« für die Umdeutung des orientalisierten Platonismus zu einem Inbild des Bösen und Widergöttlichen. Die Abstammungslinie der alten Weisheit ist keine Geschichte einer verehrungswürdigen Tradition mehr, sondern eine »dämonische Genealogie der Finsternis«. Weyer ist laut Hanegraaff der erste Autor, der die Genealogie des Bösen nicht mit den Platonikern und den von ihnen beeinflussten Kirchenvätern enden lässt, sondern sie auf die gnostischen Häretiker erweitert und bis in seine Gegenwart verlängert.

Viele Hexerei-Traktate, die auf Weyer folgten, boten ähnliche Genealogien des Bösen: Zoroaster war der erste Satanist, die Platoniker die Hauptschuldigen, aber allmählich erstreckten sich die Vorwürfe auch auf die italienischen Platoniker.

Manche Autoren, wie der Jesuit Martin del Rio, bemühten sich angesichts des zunehmenden Fanatismus um Besonnenheit. In seinem Werk über Magie definierte er diese 1599 als eine Form des Aberglaubens, der stets mit Götzenverehrung verbunden sei. Aber er unterschied deutlich zwischen »natürlicher« und »dämonischer« Magie, welch letztere eine Pervertierung des Wissens von der Natur sei, das bereits Adam von Gott empfangen habe. Von den Persern ging nach seiner Auffassung eine gute Form der Magie aus, die auf Erkenntnis der inneren Natur der Dinge abzielte, und eine schlechte Form, die mit der Verehrung falscher Götter verbunden war und in den Häresien Marcions und Manis in Erscheinung getreten war. Es gab mehrere Personen namens »Zoroaster«, einer von ihnen schrieb die chaldäischen Orakel. Eine Reihe von Platonikern verteidigte laut del Rio die gute Form der Magie. Schließlich gibt es aber bei del Rio eine Liste von Autoren, die vom Teufel inspiriert waren oder die Häresie unterstützten: sie fängt mit Petrus von Abano und Roger Bacon an, schließt Raimundus Lullus, al-Kindi, Agrippa von Nettesheim und Paracelsus ein und endet mit Pietro Pomponazzi und Giovanni Pico della Mirandola.

Del Rio ist laut Hanegraaff typisch für den gegenreformatorischen Eifer der Kirche, die mit Inquisition und Index versuchte, die Ketzer zu bekämpfen. Er ist aber nicht so paranoid wie Weyer und kennt keine platonische Genealogie der Finsternis. Hanegraaff vermutet, del Rio habe den Platonismus deswegen nicht in die Genealogie des Bösen aufgenommen, weil er wusste, dass das katholische Denken selbst zutiefst mit diesem Platonismus verbunden war.

Andere Katholiken waren weitaus radikaler. Sie griffen gegen Ende des 16. Jahrhunderts auch den italienischen Platonismus offen an. Anlass war die große Synthese des orientalisierenden Platonismus, die Francesco Patrizi 1591 veröffentlichte und Papst Gregor XIV. widmete. Sie sollte als Lehrbuch für den Philosophieunterricht dienen und dabei helfen, Protestanten und Muslime mit rationalen Argumenten zu bekehren. Die anfängliche Reaktion auf das latent anti-aristotelische Werk war positiv: Patrizi wurde eingeladen, an der päpstlichen Universität in Rom Philosophie zu unterrichten. Kardinal Aldebrandini, der spätere Clemens VIII. unterstützte Patrizi, später verurteilte ebendieser Papst Giordano Bruno zum Tod. Die positive Reaktion in kirchlichen Kreisen ist insofern erstaunlich, als Patrizi im Vergleich mit Ficino die heidnischen Philosophen weit höher schätzt als die Patriarchen und Propheten des Alten Testamentes. Bemerkenswert ist auch, dass Patrizi die Genealogie der göttlichen Weisheit mit derselben Figur beginnen lässt, der Weyer den Anfang der Teufelsanbetung zuschreibt: mit Ham, dem Sohn Noahs. Dieser war laut Patrizi entweder mit Zoroaster identisch oder hatte einen Sohn dieses Namens, der zur Zeit Abrahams lebte und in Ägypten als Osiris bekannt war. Hermes Trismegistos hält Patrizi für einen Berater dieses Zoroaster. Außerdem, so Patrizi, hatte dieser ältere Hermes Trismegistos einen Enkel mit dem selben Namen, der kurz vor Moses das »Corpus Hermeticum« schrieb. Orpheus brachte laut Patrizi die hermetische Weisheit aus Ägypten nach Griechenland, wo sie über Aglaophamus und Pythagoras zu Plato gelangte. Über Ammonios Sakkas kam sie zu den Neuplatonikern. Durch Autoren wie Raimundus Lullus und Ficino wurde sie nach einer dunklen Zwischenphase im Mittelalter erneuert.

Den Verteidigern der scholastischen Theologie erschien dieses Werk als Provokation. 1592 musste sich Patrizi gegen den Häresievorwurf verteidigen, sein Buch wurde 1594 verboten. Dennoch durfte er bis zu seinem Tod weiter unterrichten. Ein Jahr nach seinem Tod, im Jahr 1597, erschien der nächste große Angriff gegen den Platonismus aus dem gegenreformatorischen Milieu: »Von Plato, mit Vorsicht zu lesen«. Verfasser war ein gewisser Giovanni Battista Crispo, der über ausgezeichnete Verbindungen in hohen Kirchenkreisen verfügte. Am Anfang seines Buches stand eine Liste von Autoren, deren Werke »mit Vorsicht« zu genießen seien. Sie schloss Zoroaster, Hermes und Orpheus ein, Plato und Aristoteles und praktisch alle Neuplatoniker, die muslimischen Philosophen, Plethon und den Kabbalisten Leone Ebreo. Crispo kritisierte Ficino und Kardinal Bessarion und die »monströse« Kabbala. Sein Angriff auf den Platonismus ist nach Hanegraaff maßlos und »von kriegerischen Metaphern« durchsetzt. Crispos Geschichte des Bösen beginnt mit Satan, der alten Schlange, der im Augenblick der Geburt Jesu Christi mit seinem Kampf gegen die göttliche Wahrheit begonnen habe, indem er die heidnischen Philosophen, die Urväter der Häresie inspirierte. Zwar schien die Kirche ihren Kampf gewonnen zu haben, aber die Väter machten einen fatalen Fehler: sie übten sich in »Religionsvergleichen«, anstatt den einzigartigen christlichen Glauben gegen das Heidentum zu verteidigen. Das verführte sie dazu, auch den Heiden – den Griechen und Ägyptern – Gutes zuzuschreiben. So importierten sie die heidnischen Irrlehren in das Christentum und seither wirkte der Feind auf verborgene Weise im Inneren der Kirche. Statt die Feinde auszurotten und ihre Anführer zu töten, hatten die Kirchenväter sie als »Gefangene« nach Hause gebracht, allen voran Plato, den Urgrund alles Übels. Denn dank Plato, so Crispo, »fingen die Häretiker an, ihre zweideutigen Stimmen unter den Völkern zu erheben. Alle Arten von Aberglauben, Lügen und Perversionen gingen von ihm aus und begannen die Kirche Gottes zu infizieren. Mit ihm begann der schreckliche und bösartige Krieg der Häretiker gegen die Kirche, den sie mit jedem erdenklichen Hass und jeder nur vorstellbaren Bösartigkeit führten.« Platos Beredsamkeit sei so groß, dass ihm viele große Kirchenlehrer verfielen. Durch Plato seien viele vom christlichen Glauben abgefallen: er sei die Quelle aller Häresien. Auf ihn gehe auch der Protestantismus zurück. Kurz: alles Häretische ist für Crispo per definitionem »platonisch«.

Crispo bereitete dadurch, dass er die Kirchenväter nicht mehr als unfehlbare Autoritäten, sondern als irrende Menschen betrachtete, die historisch-kritische Auseinandersetzung mit diesen Autoren im 17. Jahrhundert vor, die schließlich zur Verabschiedung der Erzählung von der alten Weisheit führte, die in einer »philosophia perennis« verankert war. Die Kirchenväter konnten nun historischen Untersuchungen unterworfen und nach Kriterien beurteilt werden, die nicht aus ihnen selbst entnommen waren. Die Tragik Crispos liegt laut Hanegraaff darin, dass er den Protestanten und ihrem Kampf gegen die Kirche, die er verteidigte, eine wirksame Waffe in die Hand gab. Diese Waffe wurde schärfer, je mehr man sie anwandte. Sie sollte zur Zerstörung der großen Erzählung der Renaissance vom christlichen Platonismus führen, aber am Ende auch die Fundamente der Kirche, das Trinitätsdogma und den Protestantismus zertrümmern und den Weg in die Aufklärung und den Säkularismus bahnen.

2. Gegen die Kirchenväter

Es war nur konsequent, dass Kritiker, die gegen den Platonismus der Florentiner polemisierten, sich irgendwann den Kirchenvätern zuwandten, beriefen sich doch die Florentiner auch auf diese Väter. Der »Platonismus der Väter« war schon immer ein latentes Problem, dank der nun zugänglichen Quellen wurde dieses Problem akut. Erstmals war es möglich, genaue Vergleiche zwischen den heidnischen Philosophen und den Apologeten der ersten Jahrhunderte anzustellen. Möglicherweise, so der Verdacht der Antiapologeten, hatten die Kirchenväter vor dem Konzil von Nizäa sich selbst schon mit dem heidnischen Virus angesteckt.

Bei diesen Fragen ging um nicht weniger als das Wesen und den Ursprung des Christentums und die Reinheit der Lehre. War das Dogma der Kirche Ausdruck der ursprünglichen Botschaft Christi oder ein Ideengebäude, das von heidnischen Lehren beeinflusst und verseucht war? Diese Frage ließ nur drei Antworten zu: entweder man leugnete jeglichen platonischen Einfluss auf die Kirchenlehre, oder man gestand ihn zu, vertrat aber die Auffassung, die heidnischen Lehren stünden nicht im Widerspruch zur biblischen Botschaft. Wenn man jedoch die heidnischen Lehren ablehnte, und sie die Väter beeinflusst hatten, dann waren die Väter selbst fehlbar, und die Dogmatik der Kirche möglicherweise heidnisch verunreinigt. Dann konnte es nur darum gehen, festzustellen, wie weit diese Verunreinigung ging, und wie sehr die Krankheit des Heidentums die Kirche befallen hatte. Aus protestantischer Sicht erschien es denkbar, dass die gesamte Kirche mit ihrem Dogmengebäude nichts als eine heidnische Perversion war.

Diese Fragen wurden unter dem Titel »Platonismus der Väter« vom 16. bis ins 19. Jahrhundert in Philosophie und Theologie verhandelt. Dieses komplexe Diskursfeld war für den historischen Prozess der Modernisierung von größter Bedeutung. Die antiplatonische Kritik führte zur Zerstörung der großen Erzählung, die ein integraler Bestandteil der christlichen Kultur bis zur Reformation war. Es gab eine klare Alternative: entweder man hielt an einer Version der Erzählung von der alten Weisheit fest, die auf einer Synthese von heidnischer Weisheit und Christentum beruhte, oder aber, man schied den »heidnischen Irrtum« strikt von der biblischen und apostolischen Wahrheit.

Die Protestanten beherrschten das antiplatonische Lager. Ihre Kritik am Platonismus der Väter führte laut Hanegraaff zu einem neuartigen historischen Bewusstsein. Während die Katholiken an der einen und unteilbaren Wahrheit festhielten, glaubten die Protestanten, die Kirche habe von der Zeit der Apostel an bis in die Gegenwart einen gewaltigen Irrweg eingeschlagen. Wie und warum die Kirche auf diesen Irrweg geraten war, das musste eine Untersuchung der historischen Quellen zeigen. Der Ursprung der Reformation, so betont Hanegraaff, war nicht die Bevorzugung der Schrift gegenüber der Tradition, sondern ebendieser Glaube an den Niedergang und die Korruption der Kirche. Die Kirche war aus der Sicht der Protestanten krank und bedurfte der Heilung. Die Krankheit, die sie befallen hatte, war der Platonismus, der für das Heidentum stand und das diagnostische und therapeutische Mittel war die historische Kritik.

Diese Denkfigur zeigt sich deutlich in der monumentalen protestantischen Kirchengeschichte der »Madgeburger Zenturien«, die in 13 Folianten zwischen 1559 und 1574 eine große Erzählung ausbreiten, die auf einem extremen Dualismus beruht. Auf der einen Seite die ursprüngliche Reinheit der evangelischen Botschaft, auf der anderen die Berge des Aberglaubens, die die Kirche von den Heiden und Juden übernommen hatte. Seit den ersten Jahrhunderten, so die »Zenturien«, hatte die wahre Lehre, die Christus und die Apostel verkündigten, gegen die satanische Gegenkirche von Rom und das Papsttum um ihr Überleben gekämpft. Trotz allem konnten die Verfasser der »Zenturien« in den Kirchenvätern aber nur wenig Falsches entdecken. Noch hatten die Feinde der Kirche das wirkliche Potential des Antiplatonismus nicht entdeckt.

Für die katholische Kirche antwortete mit einem ebenso umfangreichen Werk autoritativ Cesarius Baronius, der Bibliothekar des Vatikan. Seine »Annales Ecclesiastici« (1588-1607) veranlassten den Kalvinisten Isaac Casaubon zu seiner Erwiderung von 1614. Darin wies Casaubon nach, dass das »Corpus Hermeticum« nicht von Hermes Trismegistos verfasst worden sein konnte und der hellenistischen Zeit angehören musste. Das Werk des Baronius war für den Katholizismus typisch: es betonte die Einheit und Reinheit des Kirchenglaubens, der die ursprüngliche Lehre der Evangelien unversehrt bewahrt habe. Baronius war trotz einer Überfülle von gegenteiligen Hinweisen, die ihm in der vatikanischen Bibliothek zur Verfügung standen, völlig unberührt von jeglicher historischen Kritik. Im Gegensatz dazu fragte Casaubon danach, wie die hellenistische Kultur das frühe Christentum beeinflusst hatte. Besonders interessierten ihn die griechischen Mysterien und die patristische Auffassung der Sakramente. Er war überzeugt davon, dass die Väter eine ganze Reihe von Begriffen, Riten und Zeremonien von den Heiden übernommen hatten, meinte aber, sie hätten das Übernommene erfolgreich christianisiert.

Denis Pétau, ein Jesuit, entwickelte ein umfassendes Konzept der Hellenisierung des Christentums in seinem unvollendeten Werk »Von der dogmatischen Theologie«, das 1644-1650 erschien. Er war laut Hanegraaff der erste, der die Entwicklung der christlichen Dogmatik systematisch historisch untersuchte. Er identifizierte wie Crispo den Platonismus als Quelle aller Häresien, besonders jedoch solcher Irrlehren, die die Trinitätslehre betrafen. Zu seinem größten Bedauern lieferte er mit seinem Werk Sozinianern und Unitariern, die das Trinitätsdogma in Zweifel zogen, Munition. Pétau schrieb dem Konzil von Nizäa die Kanonifizierung der wahren Lehre zu, während er bei den vornizänischen Vätern noch heidnische Irrtümer diagnostizierte. Aber als die Protestanten ihre Kritik auch auf diese vornizänischen Väter ausdehnten, erwies sich diese Unterscheidung als wenig hilfreich.

Der Arminianer Jean le Clerc setzte den Beginn der Hellenisierung Ende des 17. Jahrhunderts sogar noch früher an. Schon das Judentum sei zur Zeit der Apostel hellenisiert gewesen, wovon ihm Philo von Alexandria zeugte. Selbst im Johannes-Evangelium fand er platonische Einflüsse. Die allegorische Schriftdeutung, die das wörtliche Verständnis unterminierte, war von den Vätern Philo entnommen worden, der diese Art der Interpretation von den Ägyptern gelernt hatte, die ihre Weisheiten in Fabeln zu verstecken pflegten. Die Arkandisziplin der Väter war für le Clerc eine Nachahmung heidnischer Kultpraktiken.

Eine Vielzahl ähnlicher Werke erschien gegen Ende des 17. Jahrhunderts, die alle die Kirche seit den ersten Jahrhunderten als durch den Platonismus und die hellenistische Kultur pervertiert darstellten. Einen Gipfelpunkt stellte das Buch »Der entlarvte Platonismus« aus dem Jahr 1700 dar, dessen Verfasser, Jacques Souverain, nach England auswanderte und dort zum Anglikanismus konvertierte. Er behauptete, die Trinitätslehre sei das Ergebnis eines »vergröberten Platonismus«, den die Kirchenväter eingeführt hätten. Plato selbst habe an einen einzigen Gott geglaubt, aber in allegorischen Bildern von den drei Attributen (Güte, Weisheit, Macht) dieses einen Gottes gesprochen, um nicht in Konflikt mit dem polytheistischen Heidentum zu geraten. Viele der Kirchenväter hätten diese Allegorien wörtlich verstanden, was zu einer kryptopolytheistischen Auffassung der Trinität als drei unterschiedlichen Personen geführt habe. Für Souverain waren die Kirchenväter ebenso wie ihre modernen Nachfolger Gnostiker und Häretiker. Interessanterweise nimmt hier ein protestantischer Autor den »rechtgläubigen Monotheisten« Plato gegen die Katholiken in Schutz, die ihn angeblich entstellt haben.

Für die Geschichte der abendländischen Esoterik bedeutsam an all diesen Auseinandersetzungen ist, dass die antiheidnischen Gegner des Platonismus in diesem nicht mehr nur eine von außen kommende Gefahr sahen, sondern einen »okkulten Gegner«, der das Christentum von innen heraus zersetzte.

3. Der Anti-Apologet Jacob Thomasius

Ab 1650 begannen protestantische Historiker systematisch die Erzählungen des orientalisierenden Platonismus über die Geschichte der Philosophie anzugreifen. Die »Geschichte der Wahrheit« war in der apologetischen Erzählung verankert. Die protestantischen Historiker setzten ihr eine »Geschichte des Irrtums« entgegen, die auf der radikalen Ablehnung jener Erzählung beruhte. Daher ist ihr Standpunkt laut Hanegraaff zu Recht als anti-apologetisch bezeichnet worden. Die protestantischen Historiker sahen in der apologetischen Tradition nicht nur den Hauptgrund für die Hellenisierung des Christentums, sondern auch für das Absinken der Philosophie in »Pseudophilosophie«. Die Hauptvertreter dieser kritischen Denkrichtung systematisierten die anti-heidnischen, anti-platonischen und anti-patristischen Tendenzen und schufen eine logisch konsistente Erzählung, die auf historischer Kritik und der exklusiven Wahrheit des Protestantismus fußte.

Die Geschichte der Anti-Apologetik beginnt laut Hanegraaff mit Jacob Thomasius, dem Vater von Johannes Thomasius, einem der Lehrer von Leibniz, der in Leipzig Philosophie und Philologie unterrichtete. Mit seinem »Schediasma historicum« schuf er 1665 die Grundlagen des neuen anti-apologetischen Narrativs. Insoweit er sich auf philosophische Analyse und historische Kritik stützte, kann er als Begründer der Philosophiegeschichte betrachtet werden – aber sein Hauptmotiv war nicht historisch, sondern dogmatisch. Er wollte die christliche Theologie von ihrer Verunreinigung durch die heidnischen Irrtümer reinigen. In der Folgezeit führte seine Methode tatsächlich zur Entstehung der Philosophiegeschichte (und der westlichen Esoterik), aber auch zu grundlegenden Problemen für die Theologie. Seine scharfe Trennung zwischen antiker Philosophie und christlicher Religion mündete schließlich in der Zertrümmerung der Orthodoxie, die er mit dieser Unterscheidung hatte verteidigen wollen.

Geleitet von seiner »Liebe zur historischen Wahrheit«, suchte er nach den »authentischen Lehren der Philosophen«. Er wollte aus diesen alles entfernen, was auf den »Synkretismus« zurückzuführen war, besonders spätere Interpretationen, die sie verfälschten. Ein Hauptbeispiel für solchen Synkretismus war für ihn die versöhnlerische Tendenz der Erzählung von der alten Weisheit, die die heidnischen Philosophen zu »halben Christen« und die Christen zu »halben Heiden« machte. Heidnische Philosophie und christliche Wahrheit hatten aus seiner Sicht absolut nichts miteinander gemein. Als frommer Lutheraner sah er die Geschichte der Kirche seit den Vätern als Geschichte des Niedergangs und der Irrtümer. Die Quelle aller Häresien war für ihn die heidnische Philosophie, insbesondere der Platonismus. Gegenüber den Vätern übte er keine Rücksicht mehr: sie waren aus seiner Sicht verantwortlich für die Hellenisierung der Kirche, weil sie glaubten, die platonische Philosophie sei kompatibel mit dem Christentum.

Alle heidnischen Philosophien gingen nach Thomasius auf die dualistische Lehre Zoroasters und die persischen Magier zurück, die vom Teufel inspiriert waren. Dieser Dualismus sei der »Grundirrtum« der Heiden: er impliziere die Annahme, dass »aus nichts nichts kommen könne«. Die heidnische Philosophie lehne die »creatio e nihilo«, die Schöpfung aus dem Nichts ab (die historisch gesehen nicht biblisch ist, sondern erstmals im 2. Jahrhundert von Theophilus von Antiochien formuliert wurde). Das Heidentum glaube stattdessen an die Ewigkeit der Welt. Entgegen der strengen Scheidung zwischen Gott und Welt, Schöpfer und Schöpfung, mache das Heidentum die Welt ewig (koaetern mit Gott). Alle häretischen Ansichten gehen laut Thomasius auf diesen Grundirrtum zurück: der Emanatismus (der die Seelen und Geister aus Gott fließen lasse), der Dualismus (der Gott und Materie für gleichewig erkläre), der Pantheismus (der behaupte, Gott sei die Welt) und der Materialismus (der behaupte, die Welt sei Gott). All diese Irrlehren vergöttlichen nach Thomasius die Schöpfung auf Kosten des Schöpfers.

Die Versuchung, die für Thomasius von dieser »teuflischen« Lehre ausgeht, kommt der Versuchung Adams und Evas durch die Schlange gleich. Die christliche Offenbarung ist die einzige Heilung für diesen zweifachen – ontologischen und intellektuellen – Sündenfall. Die Erscheinung Christi hätte das Heidentum ein für allemal überwinden sollen, aber dem Teufel gelang es, mit seinen philosophischen Lehren das Christentum zu infiltrieren. Das bedeutsamste Hilfsmittel des Teufels war der Platonismus. Jedes Weiterleben heidnischer Philosopheme im Christentum ist für Thomasius »Synkretismus« und damit Häresie, ganz gleich, ob er offen oder verschleiert in Erscheinung tritt. Damit wurde die gesamte Kirchengeschichte vor der Reformation zu einer Geschichte der Häresien. Ohne das Gegenbild des Heidentums konnte es gar keine Geschichte der christlichen Theologie geben, denn auch wenn sich ihr zentraler Inhalt in der Offenbarung des Neues Testaments manifestiert hatte, war sie selbst nicht der historischen Entwicklung unterworfen. Die Geschichte des Christentums dagegen war beherrscht vom Gegensatz zwischen heidnischer Korruption und christlicher Wiederherstellung.

Mit diesem Narrativ, so Hanegraaff, kehrt der fundamentale Gegensatz zwischen Geschichte und Wahrheit wieder, der für die Renaissance-Erzählung von der Alten Weisheit kennzeichnend war. Thomasius schuf eine protestantische Gegenerzählung, die ebenfalls auf der Voraussetzung beruhte, dass die letzten religiösen Wahrheiten nicht dem Wandel unterworfen sind, da sie ansonsten ihre Absolutheit verlieren, weswegen sie auch keine Geschichte haben können. Aus diesem Grund musste die Geschichte des menschlichen Denkens eine Geschichte des Irrtums sein.

Thomasius betrachtete den Protestantismus als den radikalsten aller bisherigen Versuche, das Christentum zu enthellenisieren. Er fürchtete aber auch, dass die heidnischen Häresien im Protestantismus ihr Haupt wieder erheben würden. Das Hauptmerkmal dieser neuen Häresien sah er in der »Schwärmerei«, im »Enthusiasmus«, in der Bevorzugung persönlicher religiöser Erlebnisse oder ekstatischer Erfahrungen gegenüber der Glaubenslehre. Der Enthusiasmus wurzelte aus seiner Sicht in der platonischen Lehre von der Emanation und Wiederherstellung, nach der die Seele aus der göttlichen Substanz hervorgegangen war und wieder in sie zurückzukehren vermochte. Der Emanatismus schrieb dem Menschen die Fähigkeit zu, durch sein eigenes göttliches Wesen Gott unmittelbar zu erkennen, indem er sich ekstatisch mit diesem vereinte – und diese Auffassung war für Thomasius identisch mit der gnostischen Häresie der Selbsterlösung und Vergöttlichung durch Erkenntnis. Daher gab es für Thomasius eine ununterbrochene Linie von Simon Magus, dem Erzgnostiker, über die gnostischen Sekten der frühen Jahrhunderte bis zu den Schwärmern und Enthusiasten seiner eigenen Zeit. Die Ewigkeit der Welt und die »falsche Gnosis« waren die Hauptideen jeder Ketzerei. Hinzu kamen Magie und Astrologie, die aus der Suche nach dieser eitlen Erkenntnis entsprangen.

Häresie war nun, aufgrund dieser Untersuchung, jede Form von Synkretismus, der Christentum und heidnische Philosophie verband. Thomasius schuf die Begrifflichkeit, mit deren Hilfe Ehregott Daniel Colberg ein Werk schreiben konnte, das zum Ausgangspunkt der Erforschung der westlichen Esoterik wurde: das »Platonisch-Hermetische Christentum«, das 1690-91 erschien.

4. Der Häresiologe Ehregott Daniel Colberg

Mit Colberg betritt man, so Hanegraaff, ein dogmatisches Schlachtfeld in Begleitung eines Autors, »der schießt, um zu töten«. Sein Werk stelle einen kompromisslosen Frontalgriff gegen alles dar, was damals als schwärmerisch und enthusiastisch gegolten habe: gegen den Spiritualismus der Reformation, gegen Paracelsismus, Weigelianismus, Rosenkreuzertum und christliche Theosophie in der Nachfolge Böhmes. Mit »extremer Feindseligkeit« untersuche Colberg diese Strömungen, um ihre Glaubwürdigkeit zu zerstören. Dennoch könne er als »Pionier der Esoterikforschung« bezeichnet werden, weil er als erster ein »vollständiges und konsistentes Konzept« entwickelte, das all jene Strömungen zusammenfasste, die heute unter dem Rubrum »westliche Esoterik« subsumiert werden, und zwar nicht aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer zeitlosen Wahrheit, sondern aufgrund einer Analyse ihrer tatsächlichen Anschauungen.

Colberg verfasste sein Buch über das »Platonisch-Hermetische Christentum«(1690-91) als Professor für Theologie in Greifswald. Es fußt auf der radikalen Synkretismuskritik von Thomasius, betrachtet aber nicht die Philosophie an sich als böse, sondern nur ihre Vermischung mit Theologie. Verurteilt werden muss nicht die Philosophie, sondern ihre Anwendung auf göttliche Dinge, die dem menschlichen Denken keineswegs zugänglich sind. Der Mensch kann nach Colberg versuchen, schlauer als die Schrift zu sein, also Mysterien zu erkennen, die die Schrift nicht enthüllt hat, oder schlau gegen die Schrift, indem er sich weigert, die durch sie offenbarte Wahrheit zu akzeptieren, weil sie der Vernunft widerstreite.

Der erste dieser Irrtümer war nach Colbergs Auffassung in der frühen Kirche weit verbreitet. Die Väter hielten laut Colberg ihre platonischen Ansichten nach der Konversion aufrecht, auch Simon Magus und viele Sektenhäupter nach ihm hätten dies getan, ebenso Dionysios Areopagita und Scotus Eriugena mit ihrer mystischen Theologie. Der »heilige« Luther habe zwar diese mittelalterliche Finsternis vertrieben, aber Satan sei nicht untätig geblieben. Colberg glaubte, Satan erhebe unter den Anhängern Böhmes und Weigels, die immer noch an derselben Vermischung von Philosophie und Theologie krankten, erneut sein Haupt.

Wo und wann die heidnische Philosophie genau entstand, ist für Colberg irrelevant, entscheidend ist ihr verderblicher Einfluss auf das Christentum. Er lässt diese Philosophie mit Pythagoras beginnen, dessen einziges Ziel die Vergöttlichung des Menschen durch Selbsterkenntnis oder Gnosis gewesen sei. Plato setze diese Linie fort und entwickle eine Trinitätsidee, die Weigel und Böhme aufgegriffen hätten. Von Plato gingen nach Colberg alle Häresien im Altertum und im Mittelalter aus.

Damit er die chymische Naturphilosophie von Paracelsus, Weigel, Böhme und der Rosenkreuzer in seine Systematik einschließen konnte, benötigte Colberg Hermes. Hermes galt traditionell als Begründer der Alchemie, und die naturphilosophische Form des neueren »Fanatismus« führte Colberg auf Hermes zurück, auch wenn er dessen historische Existenz nach Casaubon für eine Fabel hielt.

Die platonisch-hermetischen Sekten erschienen Colberg wie eine »filzige Brut von Würmern«, die aus dem platonischen Ei gekrochen waren. Trotz ihrer unterschiedlichen Auffassungen stimmten sie in gewissen Grundsätzen überein. Nach Colberg erzählen die genannten Sekten folgende Geschichte: Gott ist der Geist der Welt und zeigt sich in drei Dimensionen, die sich in den drei Welten abbilden: der Welt der Engel, der Astralwelt der Lichter und Kräfte und der äußeren Welt der Elemente. Die Seele des Menschen ist ein Tropfen aus dem Meer Gottes. Sie sollte in ihrem Schöpfer ruhen, missbrauchte aber ihre Freiheit und wandte sich der äußeren Welt zu. In der Folge nahm auch der Mensch dreifache Gestalt an: Geist, Seele und einen irdischen Körper. Sünde bedeutet den Fall in den Stoff. Der Weg zurück führt über die Selbsterkenntnis und die Reinigung von körperlichen Leidenschaften. Wer den alten Adam überwindet, wird sündlos und kann sich in einem Zustand der Gelassenheit völlig in Gottes Hände geben. Er wird eine innere Erleuchtung oder Wiedergeburt erfahren und mit dem inneren Christus vereint werden, was ein anderes Wort für Vergöttlichung sei. Den Körper, der nicht auferstehen werde, lasse er zurück.

Diese »platonisch-hermetische« Tradition manifestiere sich in zwei Formen: als Selbsterkenntnis (des Mikrokosmos) durch innere Erleuchtung und als Welterkenntnis (des Makrokosmos) durch das Lesen im Buch der Natur. Die erste Form sei platonisch, die zweite hermetisch.

Laut Hanegraaff lag die Bedeutung des Colbergschen Werkes darin, dass er erstmals eine Fülle unterschiedlicher Gedankenströmungen der Vergangenheit und Gegenwart unter einen allgemeinen Begriff brachte und als Teile einer einzigen Tradition darstellte. In vielerlei Gestalten begegnete man damit derselben häretischen Lehre. Colbergs Werk war ein Kompendium all dessen, was gute Christen verurteilen mussten. »Es gibt keine Lichtwelt und keinen dreifältigen Weltgeist … das alles sind jüdische und heidnische Märchen«, schrieb er. Die Leugnung einer Realität aufgrund ihrer Nichtwahrnehmbarkeit, das Hauptargument des aufklärerischen Rationalismus gegen die okkulte Welt, ist hier bereits deutlich erkennbar. Obwohl all diese Sektierereien keinerlei Wahrheit enthalten, muss man sie laut Colberg doch bekämpfen und widerlegen. Denn sie verbreiten Verwirrung und berufen sich auf blinden Glauben und Gehorsam – ein bemerkenswertes Argument angesichts seines eigenen Fideismus, welcher der Vernunft in Bezug auf die Erkenntnis göttlicher Dinge enge Grenzen setzte. Dennoch hält Hanegraaff Colberg zugute, dass er sich trotz seines protestantischen Dogmatismus gegen Geheimhaltung und Geheimnisse gewandt und die »Prinzipien der klaren Sprache und der offenen rationalen Diskussion« propagiert habe, die grundlegend für die Aufklärung und die moderne kritische Forschung geworden seien. In den auf Colberg folgenden Jahrzehnten jedenfalls wurde die Logik der Anti-Apologetik weiter entwickelt, was nach Hanegraaff sowohl für die Philosophiegeschichte, als auch für die Begründung der modernen Akademien von Bedeutung war.

5. Die pietistische Antwort, Geburt des »Religionismus«: Gottfried Arnold

Die Polemiken von Thomasius und Colberg riefen auf protestantisch-pietistischer Seite eine Reihe von Reaktionen hervor, deren bedeutendste die »Unparteische Kirchen- und Ketzer-Historie« von Gottfried Arnold war, die 1699/1700 erschien. Arnold versuchte, die meisten Strömungen, die von den Anti-Apologeten als häretisch denunziert worden waren, als rechtgläubig zu erweisen. Vor allem aber entwickelte er eine grundlegend andersartige Perspektive auf die ganze Kontroverse, die für das Studium der westlichen Esoterik laut Hanegraaff von großer Bedeutung ist.

Während Colberg als Pionier der historischen Untersuchung westlicher Esoterik bezeichnet werden könne, erscheine Arnold als Urheber der »religionistischen«, religionsfreundlichen Alternative. »Religionistisch« (»religionist«) ist ein Begriff, der eine mit Mircea Eliade verbundene religionsphilosophische Schule charakterisiert, die Religion als Phänomen sui generis betrachtet, das nicht auf soziologische oder historische Faktoren reduziert werden kann.

Arnold ist an der Frage der historischen Beziehung zwischen Heidentum, heidnischer Philosophie und Christentum schlicht nicht interessiert. Über das geschichtliche Milieu, in dem das Christentum erschien, sagt er lediglich, die Welt sei in einem erbarmungswürdigen Zustand gewesen, – die jüdische Religion degeneriert und das Heidentum unter dem Joch einer Priesterschaft, die es mit einer »selbsterfundenen« Religion beherrschte. In der Philosophie sah die Lage nicht besser aus. Aber Arnold vermeidet systematisch jedes nähere Eingehen auf historisch-kritische Fragen zum Verhältnis von heidnischer Philosophie und Christentum.

Hanegraaff erklärt diese Haltung damit, dass Arnold mit der Auffassung der Anti-Apologeten übereinstimmte, dass es zwischen der heidnischen Philosophie und dem christlichen Glauben keine Übereinstimmung geben könne. Während andere Pietisten der Kritik mit einer Erneuerung der patristischen Apologetik begegneten, schloss Arnold sich der Haltung eines anderen Kirchenvaters, Tertullians an, nach dessen Auffassung die Akademie nichts mit der Kirche, Athen nichts mit Jerusalem und Ketzer nichts mit Christen zu tun hätten.

Arnolds Geschichte war in einer radikal anti-apologetischen Haltung verankert, aber die Folgerungen, die er daraus zog, waren gänzlich anders als die von Thomasius und Colberg. Diese hatten die schädlichen Einflüsse der Akademie (des Platonismus), auf Jerusalem (die Kirche) kritisiert und wollten erstere ausmerzen. Aber diese Kritik unterminierte die christliche Theologie als solche: je besser die Historiker die heidnische Philosophie kennenlernten, um so mehr stellten sie fest, dass es im Christentum nichts gab, das nicht von ihm beeinflusst worden wäre. Die Anti-Apologetik endete im Fiasko, weil sie die Orthodoxie zerstörte, die sie verteidigen wollte.

Arnold schien dies vorauszusehen und seine Kirchengeschichte zeigt laut Hanegraaff, wie die Pietisten das anti-apologetische Argument zu ihrem Vorteil verwenden konnten. Er verweigerte eine Diskussion über die historischen Beziehungen zwischen Heidentum und Christentum, weil es seiner Auffassung nach eine solche Beziehung gar nicht geben konnte. »Athen« und »Jerusalem« waren schlicht inkommensurabel, sie maßen die Welt mit gänzlich verschiedenartigen Maßsystemen. Da es keine Kriterien gab, die beide umfassten, konnte es auch keine sie gemeinsam umgreifende Diskussion geben. Der christliche Glaube genügt sich selbst und muss sich nicht vor der Akademie rechtfertigen. Die Tragik der orthodoxen Polemiker bestand aus Arnolds Sicht darin, dass sie selbst Träger der Krankheit waren, für die sie angeblich eine Heilung bereit hielten. Sie glaubten, die Schlacht zwischen Orthodoxie und Heterodoxie in der Akademie – durch philosophisch-theologische Diskussion entscheiden zu können – und begriffen nicht, dass diese Diskussion in der wahren Religion nichts zu suchen hatte. Arnold ließ sich auf die Dichotomie zwischen heidnischer Philosophie und biblischem Glauben nicht ein, sondern änderte die Regeln des Spiels, indem er eine neue Dichotomie einführte: die zwischen »christlicher Frömmigkeit« und »dogmatischer Theologie«.

Arnolds Kirchengeschichte stellt laut Hanegraaff einen subtilen, aber bedeutenden Paradigmenwechsel dar. Obwohl sich die Väter mit dem Platonismus eingelassen hatten, verurteilte er sie nicht, weil eine solche Verurteilung nur aufgrund begrifflicher Kriterien möglich gewesen wäre, die eine Entscheidung zwischen Orthodoxie und Häresie auf dem Feld der Lehre zugelassen hätten. Aber das einzige Kriterium, das Arnold akzeptierte, war, ob das Werk eines Autors den demütigen Glauben und die praktische Frömmigkeit bewies, die den wahren Christen auszeichneten. Sie mochten sich in die Philosophie verirrt haben, ihr Herz befand sich dennoch in Jerusalem.

Das Inbild des wahren Christentums war für Arnold die »Urgemeinde«: sie war von reinem Glauben, von Liebe, Einigkeit, Friede und gelebter Frömmigkeit erfüllt. Und diese ethischen und spirituellen Qualitäten flossen aus einer unmittelbaren Erleuchtung und der Erfahrung der geistigen Wiedergeburt in Christus durch den Heiligen Geist. Aber diese Urgemeinde war bald zerfallen, die innere Kirche des Geistes wurde zur äußeren Institution, deren Machtstreben mit Kaiser Konstantin zum Ziel gelangte. Von da an setzte sich die Verfallsgeschichte fort. Luthers Reformation bildete keine Ausnahme, da sie zu jenem unfrommen Gezänk der Theologen geführt hatte, die sich um den rechten Glauben stritten. Ihre Gehässigkeit gegeneinander zeugte davon, wie weit sie sich vom wahren Christentum entfernt hatten. Die Schulgelehrten und Theologen hatten wesentlich Teil an der Zerstörung des wahren Christentums, weil sie das fromme Gemüt mit ihren spitzfindigen Streitigkeiten verwirrten.

Arnold meinte unparteiisch zu sein, weil falsch und richtig aus seiner Sicht nichts mit Fragen der Lehre zu tun hatten. Das erlaubte es ihm, die wahren Christen überall zu finden, auch unter den sogenannten Ketzern. In einem Jahrhundert des Kirchenkampfes schien das tolerant, aber Arnolds Unparteilichkeit bedeutete nicht Neutralität, denn – so Hanegraaff – seine Kirchengeschichte drehte den Spieß einfach um: die Orthodoxen erwiesen sich als die wahren Häretiker und die Häretiker als die wahren Christen. Das war kein Ergebnis seiner persönlichen Vorlieben, sondern der theoretischen Voraussetzung seiner Untersuchung. Denn die Orthodoxie war für Arnold per definitionem häretisch, weil sie institutionell und doktrinär war.

Dem endlosen Streit der theologischen Meinungen setzte Arnold ein überhistorisches Prinzip der unmittelbaren religiösen Erfahrung entgegen, die in sophianischer Weisheit gründete, ein Prinzip, das erfahren werden musste und nicht definiert werden konnte. Wie Gott selbst, ist auch die wahre Weisheit verborgen und geheim. Beide übersteigen die menschliche Vernunft und offenbaren sich nur dem demütigen und frommen Herzen. Daher spricht man nach Arnold auch besser von »Theosophie« statt Theologie.

Arnolds Haltung zur »Logik der historischen Kritik« und zur Geschichte ist in Hanegraaffs Augen die entscheidende Innovation. Sein Zugang zur Geschichte war mit jenem der Anti-Apologeten vollständig inkompatibel, und aus seiner Sicht waren die Argumente der Kritiker irrelevant. Nur ein innerlich erleuchteter Historiker konnte nach Arnolds Auffassung eine Geschichte des Christentums schreiben, da er ansonsten des entscheidenden Kriteriums entbehrte, um die Wahrheit zu erkennen. Zwar war es möglich, historische Dokumente für den Zustand der Erleuchtung zu untersuchen, aber die Erfahrung selbst transzendierte das Feld des Historischen und konnte deshalb nicht mit historischen Mitteln erfasst werden. Was auch immer die historische Forschung über mögliche Quellen mystischer Erfahrungsdokumente sagte, die wahre Quelle lag in Gott und entzog sich der historischen Untersuchung. Die mystische Erfahrung war stets unmittelbar zu Gott und bedurfte keiner historischen Vermittlung. Weil es definitionsgemäß unmöglich ist, die authentische Gotteserfahrung von äußeren Bedingungen abzuleiten, ist jeder historisch-kritische Versuch, die mystische Theologie auf philosophische Quellen zurückzuführen, vergeblich und im Ansatz verkehrt. Daher konnte Arnold auch mögliche heidnische und platonische Quellen bei seiner Behandlung des frühen Christentums ignorieren und musste nicht auf frühere Weisheitstraditionen eingehen. Er kümmerte sich nur um das »wahre Christentum«, nicht um das Christentum als historisches Phänomen, das in enger Wechselwirkung und im Austausch mit seiner kulturellen Umgebung entstanden war. Da das Evangelium das Heidentum hinter sich gelassen hatte, waren heidnische Traditionen für die Geschichte der Kirche und der Ketzerei irrelevant. Die alten Weisen mochten zufällig etwas Wahres gesagt haben, aber sie waren für einen Historiker des Christentums bedeutungslos, einfach weil sie Heiden waren.

Arnolds Standpunkt ist nach Hanegraaffs Auffassung mit der Geschichtsforschung an sich inkompatibel, er beruht auf einem »Essentialismus«, der jeden historischen Vergleich erübrigt. Arnolds »Kirchengeschichte« präsentiert den »wahren« Glauben und seine vielen Entstellungen ohne jeden historischen Kontext, und führt die vielfältigen Verirrungen auf innere Eigenschaften des Menschen zurück: auf Stolz, Egoismus oder Machtstreben.

Arnolds Standpunkt stellt eine Variante der perennialistischen Geschichte der Wahrheit dar. Er unterliegt demselben Paradox, an dem die Platonisten der Renaissance litten – dem Versuch, die Geschichte von etwas zu schreiben, das keine Geschichte haben kann, weil es nicht der Veränderung unterliegt. Aber Arnold ist radikaler als seine Vorgänger in der Betonung der inneren spirituellen Erfahrung als dem einzig möglichen Zugang zur universellen Wahrheit, der jeder historischen und damit zufälligen Entwicklung strikt entgegengesetzt ist.

Eben diese Auffassung macht laut Hanegraaff das Wesen des »Religionismus« aus. Sie unterscheidet sich von früheren Versuchen, die Geschichte der Wahrheit zu schreiben dadurch, dass sie zu einer Zeit, als das moderne historische Bewusstsein erwacht, sich selbst als Geschichte präsentiert, aber gleichzeitig versucht, den reduktionistischen Implikationen der historischen Kritik und der vergleichenden Untersuchung zu entkommen. Indem Arnold die Aufmerksamkeit von den Ideen auf die innere Erfahrung lenkte, konnte er auf die Grenzen der historischen Kritik verweisen, und daran erinnern, dass der »Historismus« blind mache für den eigentlichen Erfahrungskern des Glaubens. Laut Hanegraaff führt diese Denkfigur im 20. Jahrhundert zu anti-historischen Deutungen von Religion, die sich nichtsdestotrotz als historisch ausgeben.

6. Erleuchtung und Verfinsterung

Bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts hatten sich im Diskurs über alte Weisheit zwei gegensätzliche Positionen entwickelt: die eine hielt die Versöhnung zwischen heidnischer Philosophie und christlicher Theologie für möglich, die andere nicht. Der Pietist Gottfried Arnold hatte ein neues Paradigma ins Gespräch gebracht, das diesen Gegensatz hinter sich ließ, indem es das Heidentum für irrelevant erklärte und gleichzeitig eine neue Kategorie (der inneren Erfahrung) einführte, die es ermöglichte, in der »häretischen Tradition« Erscheinungsformen der göttlichen Wahrheit zu erkennen.

Zur gleichen Zeit entwickelte sich aber ein weiteres alternatives Paradigma, in dessen Licht das Heidentum nicht nur als irrelevant erschien, sondern als »kindischer Aberglaube«. Im Namen der Vernunft wurde dieser Aberglaube auf den Kehrichthaufen der Geschichte geworfen. Dieses Paradigma übernahm in der Aufklärung die Herrschaft und sollte die Sichtweise auf die abendländische Esoterik bis in unsere Gegenwart bestimmen.

Die Geschichtserzählung der Aufklärung über die alte Weisheit interpretiert Hanegraaff als letzte Konsequenz der Anti-Apologetik. Jacob Thomasius hatte noch versucht, das wahre Christentum durch Ausscheidung aller heidnischen Ingredienzien zu definieren, sein Sohn Christian nutzte die kritischen Instrumente seines Vaters, um die Geschichte der Philosophie von ihren theologischen Implikationen zu befreien und sie zu einer autonomen Disziplin zu erheben. Die heidnische Philosophie sollte nun als das anerkannt werden, was sie war: als Versuch, die Welt mit rein menschlichen Mitteln zu verstehen, ohne Hilfe der Offenbarung. Mit diesem Gedanken wird der Grund für die moderne Philosophiegeschichte gelegt, aber diese Emanzipation hatte ihren Preis.

Christian Thomasius gilt als Vater der deutschen Aufklärung. Aber er war auch vom Pietismus und der christlichen Theosophie Böhmes beeinflusst. 1693 erlebte er sogar seine eigene Erleuchtung und entwickelte eine Naturphilosophie entlang platonisch-hermetischer Denkformen, die 1699 erschien (»Wesen des Geistes«).

Das hinderte ihn aber nicht daran, die Philosophie von aller »Metaphysik« zu befreien, damit sie »praktisch und nützlich« werde. Das menschliche Denken sollte alle »unvernünftigen Vorurteile« hinter sich lassen, wobei Vorurteile für Thomasius junior gleichbedeutend mit Aberglauben waren. Dies setzte eine vollständige Revision der gesamten Geschichte des Denkens voraus, denn der Mensch, so Thomasius, werde sich nie von seinen Vorurteilen befreien können, wenn er nicht den geschichtlichen Ursprung dieser Vorurteile verstehe. Die Methode, mit der dieses Ziel erreicht werden sollte, war der »Eklektizismus«, die systematische »Auslese«. Sein eigenes vernünftiges Urteilsvermögen sollte es dem Historiker ermöglichen, die Spreu vom Weizen zu trennen, und Falsches vom Wahren zu scheiden. Der Historiker sollte nicht blind einer philosophischen Sekte folgen, sondern aus allen das Wahre auslesen.

Der Eklektizismus bestimmte die Philosophiegeschichte der Aufklärung. Aber auch Arnolds »Unparteilichkeit« war im Grunde nur eine Form dieses Eklektizismus. Auch er wollte frei von sektiererischen Vorurteilen das Wahre aus allen religiösen Denkströmungen heraus suchen.

Der Eklektizismus leitete nicht nur die Ideologen der Aufklärung, sondern die ganze Populärphilosophie des 18. Jahrhunderts. Es ist nach Hanegraaff eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet dieser Eklektizismus von Leibniz unter dem Titel »philosophia perennis« propagiert wurde. Diese falsche Gleichsetzung des Eklektizismus der Aufklärung mit der »philosophia perennis« sollte bis ins 20. Jahrhundert deren Verständnis erschweren. In Wahrheit ist der »Eklektizismus« der Aufklärung das genaue Gegenteil der »philosophia perennis«. Während es in dieser um eine ewige, unwandelbare, überhistorische Wahrheit gegangen war, die in den unterschiedlichsten Formen unter den Völkern erscheinen konnte, ging es dem Eklektizismus um die vielen Wahrheiten, die überall verstreut waren und gefunden werden konnten, wenn man den Aberglauben (des Perennialismus) hinter sich ließ.

Als Beispiel für den Eklektizismus der Aufklärung nennt Hanegraaff Christoph August Heumann, der als Begründer der Philosophiegeschichte als moderner Disziplin gilt. In seinen »Acta Philosophorum« legte er zwischen 1715 und 1727 einen Katalog von sechs Kriterien vor, die es erlauben sollten, »wahre Philosophie« von »Humbug« zu unterscheiden:

1. Pseudophilosophie bevorzugt nutzlose Spekulation. Darunter fallen alle divinatorischen Künste, die nichts als heidnische Missgeburten sind.

2. Die Pseudophilosophie stützt sich auf eine einzige menschliche Autorität. Da alle Menschen fehlbar sind, kann kein Mensch die ganze Wahrheit erkennen. Sich an einer Autorität allein zu orientieren, ist falsch. Man muss aus allen Denkern die Wahrheiten entnehmen, die sie gefunden haben und ihre Irrtümer verwerfen.

3. Noch schlimmer ist die Berufung auf die Tradition statt auf die Vernunft. Damit zielt Heumann auf die »prisca theologia« und den orientalisierenden Platonismus. Seine Kritik fallen die gesamte Dämonologie Platos und die jüdische Kabbala zum Opfer, weil sie sich auf alte Traditionen berufen.

4. Die Vermischung der Philosophie mit Aberglauben, mit vernunftwidrigem Gottesdienst, ist ein weiteres Kennzeichen der Pseudophilosophie. Das wahre Christentum ist nach Heumann vollkommen mit Vernunft und Philosophie vereinbar. Der Aberglaube, der aus seiner Sicht mit dem Heidentum identisch ist, fürchtet die Philosophie als ihren schlimmsten Feind. Die beiden schließen sich gegenseitig aus. »Aberglaube ist Torheit und kann Weisheit sowenig dulden wie Dunkelheit das Licht.«

In diesem Kontext vertreibt Heumann explizit die »barbarische Philosophie« aus dem Tempel der akademischen Philosophie. Er nennt die Philosophie der Chaldäer, Perser, Ägypter, die Priesterkollegien der Orphiker, Samothraker, Magier, Brahmanen und Druiden, mit ihrem angeblich geheimen, okkulten Wissen, die versuchten, den Aberglauben als Kunstform zu etablieren. All diesen Inhalten der »prisca theologia« und des orientalisierenden Platonismus wünscht Heumann ewiges Vergessen, da sie nichts als »Torheiten« waren.

Heumann schlägt einen noch schärferen Ton an, als die früheren Polemiken gegen das Heidentum und dieser Ton sollte im Verlauf des Jahrhunderts zur Gewohnheit werden. Er unterscheidet scharf zwischen dem Aberglauben der Heiden und dem vernünftigen Denken Griechenlands. Griechenland betrachtet er als Hort und Ursprung der wahren Philosophie. Die griechischen Philosophen will Heumann nicht als »heidnische Weise« verstanden wissen , denn Heiden seien per definitionem vom Aberglauben durchdrungen und beteten Götter aus Gold und Holz an, während die wahren Philosophen keine Götzenanbeter gewesen seien. Vielmehr hätten sie eine vernünftige »theologia naturalis« entwickelt, weshalb sie als »Naturalisten« bezeichnet werden sollten. Nach der Antike sei das »greuliche Papsttum« gekommen und die Menschheit in einem neuen Zeitalter der Barbarei versunken. Erst durch die Reformation sei die wahre Philosophie wieder ans Licht getreten.

5. Ein weiteres Merkmal von Pseudophilosophie ist laut Heumann die Liebe zu dunkler Sprache und rätselhaften Symbolen. Während die Philosophie erleuchten sollte, leitet die symbolische Philosophie in die Finsternis. Als Beispiele nennt er die Kabbala, die Alchemie, den Pythagoräismus und andere.

6. Das letzte Merkmal ist die Immoralität. Allein der Verstand vermag nach Heumanns Ansicht den Willen zum Guten zu leiten. Und zwar dann, wenn er sich an den drei Prinzipien aller wahren Philosophie ausrichtet: dass es nur einen Gott, den Schöpfer aller Dinge gibt, dass die Welt von seiner Vorsehung geleitet wird und dass die Seele des Menschen unsterblich ist. Heumann übernimmt damit die Lehre des Thomasius von den drei Grundirrtümern der heidnischen Philosophie (Ewigkeit der Welt, Materialität der Seele, Fähigkeit der Materie, aus sich heraus zu denken und zu handeln).

Auf diesen Katalog des Aberglaubens lässt Heumann eine Geschichte der wahren Philosophie folgen. Das heidnische Wissen hatte drei Quellen: praktische Notwendigkeit, Neugier und Aberglauben. Praktische Notwendigkeit führte die Ägypter zur Entwicklung der Geometrie (wegen der Bewässerung der Wüste), die Chaldäer zur Astronomie (wegen der Landwirtschaft). Auch die Neugier konnte zu Gutem führen. Nicht aber der Aberglaube, der solche zweifelhaften Künste wie Eingeweideschau oder Astrologie hervorbrachte. Aber auch wenn die Ägypter oder Chaldäer gewisse praktische Kenntnisse besaßen, die wahre Philosophie nahm ihren Ursprung erst bei den Griechen, in Gestalt von Logik, Moral und Physik. Alle ihre Erkenntnisse entwickelten die Griechen durch die Anwendung ihres Verstandes aus sich selbst und entlehnten sie nicht etwa von ihren orientalischen Vorgängern.

Die gesamte Abhandlung Heumanns durchziehen Metaphern des Wachstums und der Entwicklung, die den allmählichen Fortschritt der Philosophie durch die drei Stadien von Kindheit, Jugend und Mannesalter beschreiben. Die Ägypter und Chaldäer erfanden manche praktischen Kenntnisse und repräsentieren die Anfänge des gelehrten Studiums. Die Griechen waren die ersten, welche die Schwingen ihres Verstandes nach oben richteten und zu philosophieren begannen. Von diesen kam die Philosophie zu den Christen, die über die göttliche Offenbarung verfügten und deswegen selbst die gelehrtesten Griechen an Weisheit übertrafen.

Mit dem Aufklärungsparadigma, das Heumann verkörpert, begann laut Hanegraaff die Verdunkelung oder Verfinsterung der westlichen Esoterik im intellektuellen Selbstverständnis der Moderne. Bis dahin waren die heidnischen Philosophen ernst zu nehmende Mitspieler, weil nicht einmal ihre ärgsten Feinde leugnen konnten, dass sie zu einem altehrwürdigen Kanon gehörten. Der Eklektizismus änderte die Spielregeln. Er verweigerte der Tradition das Recht, darüber zu entscheiden, was Philosophie ist und legte diese Entscheidung in die Hände des menschlichen Verstandes allein. Zwei Jahrhunderte protestantischer Opposition gegen den Anspruch der Kirche, die universale Weisheitstradition zu repräsentieren, hatten die Aufklärung aufgerüstet, um ihre ganze Feuerkraft gegen die Erzählung von der alten Weisheit zu richten. Alles, was mit ihr in Verbindung stand, wurde nun verabschiedet: die alten orientalischen Initiationstraditionen, divinatorische Techniken, Dämonologien, die Kabbala, die Geheimnisse der symbolischen Theologie, die enthusiastische Philosophie der Theosophen. Colberg hatte all dies noch als gefährliche häretische Bewegung ernst genommen, Heumann machte sich nur mehr lustig darüber.

Damit war der Grund gelegt für das Verschwinden der abendländischen Esoterik aus den Lehrbüchern der Philosophiegeschichte und für eine neue Literaturgattung der Aufklärung, die der »Belehrung und Unterhaltung« dienen sollte: den »Geschichten der Dummheit (Torheit)«.

Das berühmteste Beispiel ist Johann Christoph Adelungs siebenbändige »Geschichte der menschlichen Narrheit«, die 1785-1789 erschien. In diesem Katalog der Narrheiten erscheinen alle bekannten Autoren der abendländischen Esoterik: der Alchemist Nicholas Flamel, der »Blasphemiker« Giordano Bruno, der Enthusiast Sebastian Franck, der philosophische Enthusiast Tommaso Campanella, der Chiliast Guillaume Postel, der »Scharlatan« Paracelsus, der Seher Nostradamus, der Kabbalist Jacques Gaffarel, der Kristallseher John Dee und viele andere.

Aber selbst Adelung ist noch der Anti-Apologetik verpflichtet, denn Narretei ist für ihn nicht nur ein Mangel an Verstand, sondern die Anhänglichkeit an eine häretische Tradition, an das System des Emanatismus und das Prinzip der inneren Erleuchtung.

7. Die wahre Philosophie und ihr Schatten: Der Historiker Jacob Brucker

In Johann Jacob Bruckers »Kritischer Geschichte der Philosophie« (1742-44), dem Standardwerk der Philosophiegeschichte im 18. Jahrhundert, kam Heumanns Programm zur vollen Blüte. Die Bedeutung dieser Publikation schätzt Hanegraaff als außerordentlich hoch ein, wurde sie doch zum Referenzwerk in ganz Europa bis weit ins 19. Jahrhundert. Von besonderer Tragweite ist die Beziehung dieser Philosophiegeschichte zu zwei anderen, extrem einflussreichen Publikationen: dem »großen Zedler« und der »Enzyklopädie« Diderots.

»Zedlers Universallexikon« erschien in 44 Bänden zwischen 1732 und 1754 und stellt das lexikographische Monument des deutschen Barock dar. Die meisten seiner philosophiegeschichtlichen Beiträge sind Paraphrasen aus Bruckers Werk. Brucker war die »allgegenwärtige Autorität« in diesem einflussreichsten aller deutschen Lexika. Auch für die »Enzyklopädie« Diderots, die zeitlich nach dem »großen Zedler« erschien, war Brucker die maßgebliche Quelle: Diderot plünderte dessen »Kritische Geschichte« skrupellos. Angesichts der zentralen Bedeutung der »Enzyklopädie« für die französische Aufklärung – und der paradigmatischen Rolle der französischen Philosophen für die Definition von Aufklärung – ist es gerechtfertigt, zu sagen, Brucker habe den antiesoterischen Diskurs des 18. Jahrhunderts beherrscht.

Brucker untersuchte die Geschichte der Philosophie systematisch gemäß dem eklektischen Prinzip, um die »pseudophilosophische« Spreu vom philosophischen Weizen zu trennen. An allen Formen der heidnischen Philosophie und des christlich-heidnischen Synkretismus zeigte er, was seiner Ansicht nach auf »gesundem Menschenverstand« beruhte und was Aberglaube war. Sein gesamtes Werk ist von zwei Strängen durchzogen: einer Geschichte der »eklektischen Philosophie«, die seiner Auffassung nach die wahre Weisheit enthält und einer Geschichte der »sektiererischen Philosophie«, dem polemisch gezeichneten Gegenbild der ersteren. Diese Art der Darstellung wurde vorbildlich bis weit ins 19. Jahrhundert und sollte das Fundament liefern, auf dem die Aufklärung ihr Selbstverständnis errichtete.

Wie beschreibt Brucker die Geschichte des »Schattens« der wahren Philosophie? Auch für Brucker sind, wie für Heumann, der protestantische Biblizismus und der rationale Kritizismus grundlegend. Die Offenbarung der Bibel steht für den Glauben jenseits aller Vernunftbeweise fest. Aber in der Auseinandersetzung mit dem historischen Material verfährt Brucker wie ein kritischer Geist der Aufklärung. Die Geschichte des Denkens ist für ihn eine Geschichte menschlicher Meinungen, die richtig oder falsch sein können. Brucker argumentiert bei der Auseinandersetzung mit diesen Meinungen wie ein moderner Philosophiehistoriker, indem er sie referiert, ihre Beweisgründe erörtert und entscheidet, ob sie vernunftgemäß sind oder nicht. Aber er hält sich streng an normative Leitlinien.

Die Geschichte des Denkens unterteilt er in verschiedene Phasen und untersucht die Entwicklung der sektiererischen Philosophie in diesen. In der ersten Phase erscheine das chaldäisch-zoroastrische und das ägyptische System des Denkens, gleichzeitig mit der »wahren« Philosophie in Griechenland. Die zweite Phase dominierten der Neuplatonismus und die Kabbala. In der dritten Phase, der Renaissance, erführen diese beiden Systeme eine Wiederbelebung und gleichzeitig entstehe ein neues sektiererisches System: die »Theosophie«. Auch wenn er diese Systeme gesondert behandelt, sieht er doch in allen Äste, die aus dem Baum des heidnischen Aberglaubens hervorgewachsen sind.

1. Die chaldäischen, zoroastrischen und ägyptischen Systeme gehören laut Brucker zur »barbarischen« Philosophie. Die Chaldäer sind die ältesten »Pseudophilosophen« und hingen vollständig dem Aberglauben an. Ihr Denken beruhe auf blinder Überlieferung und priesterlicher Verführung, ausgedrückt in dunklen Bildern und Worten. Sie verbänden die Grundirrtümer aller falschen Philosophie: Atheismus, Dualismus, Leugnung der Vorsehung und Glauben an die Emanation. Auch Brucker fußt, wie man sieht, auf den dichotomischen Kategorien, die Thomasius einführte. Die Schriften Zoroasters und die chaldäischen Orakel schreibt Brucker einer späteren Zeit zu, auch sie enthalten nichts als heidnischen Aberglauben. Die geheimen Lehren der Ägypter, die auf Hermes zurück gehen sollen, bieten in seinen Augen nichts als Götzenverehrung und Aberglauben.

Nichts in diesen Systemen verdient nach Bruckers Auffassung den Namen Philosophie. Die Anfänge des griechischen Denkens sind auch nicht viel besser. Diese beginnt mit Thales und Pythagoras, gefolgt von Sokrates, aber die weitere Entwicklung des Pythagoräismus und des Platonismus pervertiert die platonischen Lehren durch den Einfluss heidnischen Aberglaubens aus Chaldäa und Ägypten.

2. Dies führt Brucker zum ersten sektiererischen System: dem Neuplatonismus. Diese Gedankenströmung war seiner Auffassung nach die erfolgreichste und einflussreichste aller Sekten. Sie war Teil einer heidnischen Strategie, den Aufstieg des Christentums zu verhindern. Durch sie versuchten die Heiden, indem sie das Vorbild der vernunftgemäßen, wahren christlichen Religion nachahmten, ihrem Aberglauben ein vernünftiges Aussehen zu geben, um durch philosophische Scheinargumente die Christen von der Wahrheit abspenstig zu machen. Aber der ganze Neuplatonismus war für Brucker nichts als das Produkt einer »überhitzten Einbildungskraft«. Die Heiden versuchten, das Christentum zu infiltrieren und von innen zu zersetzen, indem sie die Wunder Jesu als Beweise für die Wirksamkeit ihrer theurgischen Praktiken ausgaben oder gefälschte Texte – wie die hermetischen – einführten, die christlich klangen. Die Neuplatoniker fälschten reihenweise solche Texte, in denen sie die »Missgeburten ihrer Gehirne« niederschrieben und schoben sie den alten Autoren unter, so dass es heute kaum mehr möglich sei, die wahre Geschichte zu rekonstruieren. Sie streuten viele solche »Eier« aus, denen »das Gewürm« entkrochen sei, das wie eine ansteckende Plage ganz Europa und Asien befallen habe.

Worin besteht nach Brucker die Essenz des Neuplatonismus? Er lehre, dass die Menschenseele eine natürliche Verbindung mit Gott habe, zu dem sie zurückzukehren versuche. Es gebe Hierarchien von Geistwesen, die überall gegenwärtig seien. Durch das Gebet komme man mit ihnen in Kontakt oder kommuniziere durch ekstatische Trance mit ihnen. Schicksalsdeutung sei wesentlicher Teil dieser Rituale und alles laufe darauf hinaus, den »ganzen Horror des heidnischen Aberglaubens« zu propagieren. Bedauerlicherweise, so Brucker, hatte dieses Panoptikum der Unvernunft Erfolg. Nicht zuletzt dank der Naivität der Christen, die sich der platonischen Terminologie bedienten, um die Heiden zu bekehren, aber auf diesem Weg vom Virus angesteckt wurden, der die christliche Theologie befiel.

Das zweite sektiererische System ist nach Brucker die Kabbala, die esoterische Philosophie des Judentums, das auf dieselbe Weise Verbreitung fand wie der Neuplatonismus: indem das heidnische Denken den biblischen Glauben infizierte. Jüdische Lehrer wandten laut Brucker die platonischen und pythagoräischen Erfindungen auf die Bücher Mose an, und schufen eine besonders dunkle und geheime Theologie. Sie schrieben den kabbalistischen Lehren ein großes Alter zu, gaben Abraham und die Patriarchen als deren Erfinder aus und behaupteten, sie hätten Schriften verfasst, die in Wahrheit von heidnischen Philosophen geschrieben worden waren. Die Kabbala gehöre zum Alten Testament wie der Neuplatonismus zu den Evangelien. In beiden Fällen sei die biblische Offenbarung durch die »Pest des heidnischen Synkretismus« verfälscht worden. Das Ergebnis sei dasselbe: eine undurchdringliche Masse irrationaler Spekulationen, vorgetragen in einer obskuren Sprache und verworrenen Bildern.

3. Die Wiedergeburt des Neuplatonismus und der Kabbala wird von Brucker penibel analysiert. Die Autoren der Renaissance gruben die alten neuplatonischen Texte und die erfundenen Schriften des Hermes, des Zoroaster usw. aus, und schufen aus ihnen ein neues philosophisches System. Brucker behandelt die Renaissancephilosophen etwas respektvoller, als die Urheber der vorherigen Systeme und bringt ihnen als »guten Christen«, die sich lediglich irrten, sogar Anerkennung entgegen. Ihre Ideen weist er nicht polemisch, sondern aufgrund philologischer Irrtümer, Fehldatierungen und unkorrekter historischer Interpretationen zurück. Schlussendlich können aber all diese Irrtümer auf die verschmutzte Quelle des Neuplatonismus und auf die Idee einer »philosophia perennis« oder einer »translatio sapientiae« (einer Übertragung der Weisheit durch eine Kette von Weisen von einer Epoche zur nächsten) zurückgeführt werden. Da die Anhänger der »philosophia perennis« laut Brucker annahmen, dass die alten Hebräer, Chaldäer, Ägypter, Orphiker, Pythagoräer und Platoniker ein und dasselbe lehrten, und dass ihre Weisheit aus einer einzigen, uralten Quelle entsprang, schlossen sie, alles müsse mit dem Christentum übereinstimmen. Und so versuchten sie diese Lehren mit der wahren Religion auszusöhnen.

Das dritte große sektiererische System, die »Theosophie«, ist dagegen jüngeren Datums. Sie wurde von Autoren geschaffen, die zwar die heidnische und sektiererische Philosophie verabscheuten, aber nichtsdestotrotz eine Variante dieser Philosophie ins Leben riefen. Sie beriefen sich nicht auf die Vernunft, sondern auf die göttliche Erleuchtung in ihrem Inneren, sie glaubten durch diese einen privilegierten Zugang zu den Geheimnissen der Natur zu besitzen, und kannten die Mysterien der Magie, der Astrologie, der Alchemie und ähnlicher Künste. Ihre Theosophie betrachten sie als eine Art von Kabbala. Eigentlich gehören sie laut Brucker eher der Theologie als der Philosophie an. Zu den behandelten Autoren gehören Paracelsus, Robert Fludd, Jakob Böhme, die van Helmonts und die Rosenkreuzer. An der Theosophie kritisiert Brucker die Ablehnung der Vernunftreflexion zugunsten der Erleuchtung und den zugrundeliegenden Emanatismus, der lehre, alles komme von Gott und kehre zu ihm zurück. In der Theosophie führe alles letztlich zur Selbstvergottung, die auf der verborgenen Überheblichkeit des menschlichen Herzens beruhe, die die gesunde Vernunft zerstöre.

Bruckers Philosophiegeschichte enthält, wie deutlich wird, die gesamte Geschichte des »Anderen« der »wahren« Philosophie, all jene Strömungen und Ideen, die heute unter dem Titel »westliche Esoterik« untersucht werden.

Die innere Logik der protestantischen Anti-Apologetik mündete bei Brucker in die Unterscheidung dreier Gebiete:

1. Geschichte der Philosophie. Diese musste mit der Methode des Eklektizismus eruiert werden – der Historiker musste aus der gesamten Geschichte des Denkens jene Traditionen heraussuchen, die mit dem gesunden Menschenverstand vereinbar waren. Diese Auslese bildete die Grundlage für die moderne Philosophiegeschichte als akademische Disziplin.

2. Biblische Offenbarung. Trotz ihrer rationalistischen Neigungen waren alle Autoren der deutschen Aufklärung überzeugte Lutheraner, die keinen Augenblick an der Überlegenheit des Christentums zweifelten. Sie waren keine Kritiker der Religion wie Voltaire, sondern unterschieden zwischen dem Glauben der Bibel, als dem absoluten und einzigen Fundament der Religion, und dem Verstand, als dem ebenso exklusiven Fundament der Philosophie. Verstand und Offenbarung konnten (durften) sich nicht widersprechen, sie waren autonom und inkommensurabel, sie sollten sich strikt auf ihr Gebiet beschränken, jede apologetische Verwirrung und das verschleierte Heidentum vermeiden, das nach ihrer Auffassung die römisch-katholische Theologie zugrunde gerichtet hatte.

3. Krypto-Heidentum. Aufgrund der radikalen, anti-apologetischen Trennung zwischen Offenbarung und Verstand (oder Vernunft) blieb am Ende des 17. Jahrhunderts ein großes Feld von Ideen und Gedankenströmungen übrig, das die Geschichtsschreibung keiner der beiden Kategorien zuordnen konnte, da diese Ideen und Gedankenströmungen »synkretistische Mischungen« aus beiden waren. In diesem dritten Gebiet existierte nach antiapologetischer Auffassung das Heidentum in christlicher Verkleidung fort. Es teilte mit der Philosophie die heidnischen Quellen, unterschied sich aber von dieser dadurch, dass es nicht auf der Anwendung des Verstandes beruhte. Mit dem Christentum hatte es die religiöse Form gemein, aber es war die »falsche« Religion, die nicht auf »wirklicher« (wahrer) Offenbarung beruhte. Mit einem Wort: dieses Gebiet stellte die »nicht-rationale« (vernunftlose, unvernünftige) »Natur-Religion« der Menschheit dar. Genau dieses protestantische, anti-apologetische Konzept einer heidnischen Religion, die sich als Christentum verkleidet hatte, ist laut Hanegraaff der historische Ursprung und der theoretische Kern des heutigen Konzepts der westlichen Esoterik als wissenschaftliches Forschungsfeld.

Brucker steht nach Hanegraaff an einer Epochenschwelle, weil er zeigt, dass die Intellektuellen noch eine deutliche Erinnerung an die Ideen und Strömungen des »Krypto-Heidentums« hatten und weil er den Grund für die spätere »damnatio memoriae« legte, der all diese Ideen und Strömungen anheimfielen. Brucker und seine anti-apologetischen Vorgänger widmeten all diesen Ideen und Strömungen noch ihre Aufmerksamkeit, und noch wichtiger, sie taten dies auf der Grundlage eines »konsistenten theoretischen Konzepts«, das ihnen erlaubte, dieses Gebiet als in sich zusammenhängende Tradition zu begreifen. Aber natürlich implizierte dieses Konzept, dass die Vertreter dieser Strömungen das negative Gegenbild sowohl der Vernunft als auch des Glaubens waren und deshalb nicht beanspruchen konnten, Teil ihrer Geschichte zu sein. Nachdem einmal ihr nicht-philosophischer und nicht-christlicher Charakter erkannt war, bestand keine Notwendigkeit mehr, ihnen in der Geschichte der Philosophie oder jener des Christentums größere Aufmerksamkeit zu schenken. Von nun an begann dieser bedeutende Teil der Geschichte des Denkens und der Religion aus den Lehrbüchern der Philosophie- und Religionsgeschichte zu verschwinden. Damit war ein Zustand eingetreten, der sich bis heute kaum geändert hat – wenn man von der Esoterikforschung absieht.

8. Jenseits von Religionismus und Aufklärung

In der Aufklärung begann sich das kritische Potential einer Rationalität zu entfalten, die von ihrer Bindung an die Theologie befreit war und sich als Kritik der Metaphysik gegen diese Theologie wandte. Diese kritische Rationalität interpretierte die alte Idee einer »Philosophie der Eingeweihten« fortan als »Esoterik« und drängte sie an den Rand der Gesellschaft ab.

Die »uralte Weisheit« wurde von den Intellektuellen nicht weiter ernst genommen, aber die meisten esoterischen Strömungen der Moderne blieben ihr dennoch verbunden. Der orientalisierte Platonismus blieb für das Geschichtsverständnis dieser Strömungen zentral. Die antiheidnische und antiplatonische Tradition der Renaissance verkehrte – beeinflusst durch die Auseinandersetzungen über das Hexenwesen – die Erzählung von der alten Weisheit in eine dunkle Gegenerzählung. Die Esoterik wurde zum düsteren Feind der Aufklärung. Manche Autoren konstruierten eine dämonische Genealogie der Finsternis mit paranoiden und verschwörungstheoretischen Zügen, die bis zur alten Schlange der Genesis zurückreichte. Diese paranoide Verschwörungstheorie der Esoterik als Gegenbild der Aufklärung überlebte in den antiokkultistischen und antisatanistischen Publikationen evangelikaler und fundamentalistischer Autoren, manchmal taucht sie auch in linksgerichteten Publikationen auf, die einem trivialen Verständnis der Aufklärung verpflichtet sind.

Aufgrund ihrer Inkompatibilität mit den Ergebnissen der kritischen Geschichtsforschung haben jedoch beide Interpretationen der Esoterikgeschichte – die verklärende und die dämonisierende Erzählung von der alten Weisheit – in der modernen akademischen Auseinandersetzung laut Hanegraaff allen Kredit verloren. Die heutige Ägyptologie oder Iranologie beginnt, »wo diese Geschichten enden«, und sie weiterhin zu vertreten, gilt als Zeichen von Unwissenschaftlichkeit. Aber um 1700 entstanden aus diesen zwei Erzählungen zwei neue Paradigmen die für das Verständnis der Esoterik nach der Aufklärungsepoche den Grund gelegt haben.

Das erste Paradigma ist der »Religionismus«, der auf Gottfried Arnold zurückgeht. Dieser behauptet von sich, historisch zu sein, weist aber alle Fragen nach möglichen historischen Einflüssen zurück, weil Religion nach seiner Auffassung auf einer unmittelbaren, persönlichen Erfahrung des Göttlichen beruht und nicht aus gesellschaftlichen oder historischen Bedingungen abgeleitet werden kann. Religionistische Akademiker halten soziologische oder historische Verfahren, die die Integrität der Religion in Frage stellen, für inkompatibel mit dem Gegenstand, den sie kritisieren. Aus der Sicht des Religionismus liegt jeder Form von Religion oder esoterischer Weisheit eine Erfahrung des »Heiligen« zugrunde, die nicht auf Faktoren reduziert werden kann, die dieser Erfahrung äußerlich sind.

Das zweite Paradigma ist jenes der »Aufklärung«. Für dieses Paradigma, das im Eklektizismus von Heumann und Brucker deutlich sichtbar wird, sind der »mündige Verstand« und das »gesunde Urteil« grundlegend. Der Verstand oder die Vernunft ist der einzige Maßstab, um die Wahrheit einer Weltsicht zu beurteilen, sei sie nun philosophisch oder religiös. (Kant spricht vom »Richterstuhl«, vom »Gerichtshof der Vernunft«.) Alles, was dieser Form von Rationalität nicht genügt, wird nicht ernst genommen, sondern dem Vorurteil, dem Aberglauben, der Narretei zugeordnet. Alle religiösen und philosophischen Strömungen oder Weltsichten, die dem so definierten Anspruch der Rationalität nicht genügten, wurden stillschweigend aus dem Gebiet der Geschichte ausgeschieden und in unhistorische Universalien umgewandelt, die Ausdruck der (unaufgeklärten) menschlichen Natur sein sollten. Man musste nicht weiter über sie diskutieren, sondern konnte sie fortan schlicht als »irrational« verwerfen.

Diese beiden Paradigmen, das »religionistische« und das »aufklärerische«, haben laut Hanegraaff mehr gemeinsam, als es auf den ersten Blick scheint. Beide sind »ideologisch«, nicht »empirisch«. Sie gehen nicht von historischen Beweisen aus, sondern setzen a priori absolute Kriterien der Wahrheit fest, und was diesen Kriterien nicht genügt, ist nicht weiter von Interesse. Beide Paradigmen sind als Methoden der Geschichtsforschung gleich ungeeignet. Der »Religionismus« neigt dazu, die westliche Esoterik als eine einzigartige spirituelle Tradition zu mystifizieren, während der »aufklärerische Rationalismus« deren Existenz entweder schlicht ignoriert oder sie als Paria des abendländischen Denkens behandelt.

Aus der Sicht Hanegraaffs hat der antiapologetische Diskurs dennoch die Grundlage für eine »historische, empirische« und damit »nicht ideologische« Erforschung der Esoterik geschaffen. Hanegraaff ist überzeugt, dass die empirische und historische Methode, die sich eines »methodischen Agnostizismus« befleißigt, die Esoterikforschung vor den gleich schlechten Alternativen des Religionismus und Reduktionismus bewahrt. Das scheint auf den ersten Blick befremdlich, waren doch die beinharten protestantischen Anti-Apologeten erklärte Feinde alles Esoterischen und an seiner Anerkennung als eigenständiges Forschungsfeld nichts weniger als interessiert. Es ist ebenfalls richtig, dass die unhistorische Perspektive der Aufklärung auf das Esoterische, die den Untergang des orientalisierten Platonismus und seine Ausgrenzung aus dem akademischen Diskurs vorbereitete, aus dieser Anti-Apologetik hervorging. Aber man sollte, so Hanegraaff, das Kind nicht mit dem Bade ausschütten, denn die Anti-Apologetik führte zu einer bleibenden Errungenschaft: einer Methode der historischen Kritik, die sich auf die Hellenisierung des Christentums, als den historischen Ursprung all dessen, was heute als Esoterik bezeichnet wird, konzentrierte.

Dass diese Strömungen vom intellektuellen, akademischen Establishment unterdrückt und verachtet wurden, ist laut Hanegraaff keine unmittelbare Folge der theoretischen und methodischen Grundsätze des anti-apologetischen Diskurses. Im Gegenteil, dieser verlangte eine genaue historische Untersuchung der Begegnung des antiken Heidentums und des Christentums und der geschichtlichen Folgen dieser Begegnung. Dass die esoterischen Strömungen marginalisiert wurden, ist vielmehr eine Folge der »normativen und ideologischen Vorurteile« der Hauptvertreter der Anti-Apologetik und ihres Publikums: sie ist eine Folge der protestantischen Stereotypisierung alles Heidnischen und der nicht weniger dogmatischen Behauptung der Aufklärung, Historiker dürften nur rationale Überzeugungen ernst nehmen. Das Aufklärungsparadigma stach die historische Kritik aus, was Generationen von Historikern zur Folge hatte, die bedauerten, dass die Gegenstände ihrer Untersuchung nicht den modernen Anforderungen von Rationalität entsprachen. Aber dieses »Befremden der Historiker« beruht auf anachronistischen Projektionen und trägt gar nichts zum Verständnis der historischen Realität bei. Wenn eine der bedeutendsten Forderungen der Aufklärung die Überwindung von Vorurteilen ist, dann muss dieser Grundsatz konsequenterweise auch auf die antiheidnischen, antimystischen und antireligiösen Vorurteile der Aufklärung angewendet werden.

Nach diesen Überlegungen kann Hanegraaff ein neues Methodenideal für die Esoterikforschung formulieren: die antieklektische Geschichtsforschung. Diese stellt die »selektiven Prozeduren« in Frage, durch die die Historiker seit der Aufklärung die Erforschung der Philosophie, des Christentums, der Wissenschaft und sogar der Religion und Kunst auf das eingegrenzt haben, was ihnen als real und rational erschien. Antieklektik will die »ideologisch bestimmten Bilder« der Geschichte korrigieren, die durch den Eklektizismus entstanden sind, indem sie die Aufmerksamkeit auf eben jene Ideen und Gedankenströmungen lenkt, die seit der Aufklärung im Sammelbecken des zurückgewiesenen Wissens (»rejected knowledge«) landeten. Sie stellt den »Kanon der modernen intellektuellen und akademischen Kultur« in Frage und betont, dass das gemeinsame Erbe des Abendlandes weitaus komplexer ist, als die Lehrbücher vermuten lassen. In der »antieklektischen« Geschichtsforschung geht es weder um eine »Apologie« des Heidentums oder der westlichen Esoterik, noch darum, Heidentum oder Esoterik anzugreifen, vielmehr will sie sicherstellen, dass der bedeutende Anteil dieser Strömungen an der Geschichte des Abendlandes aus der Verdrängung befreit und anerkannt wird.

Der Irrtum der Geschichte. Das Okkulte wird imaginiert

Bisher bewegte sich die Untersuchung Hanegraaffs im Rahmen der Philosophiegeschichte. Der Diskurs der Renaissance über die alte Weisheit war ein Diskurs von Philosophen mit tiefen religiösen Überzeugungen, die versuchten, Heidentum und Christentum miteinander zu versöhnen. Sie befassten sich auf der Grundlage einer umfassenden klassischen und humanistischen Bildung mit den Ursprüngen und der Geschichte der Esoterik. Dieser Diskurs war eine gelehrte Debatte über eine »philosophische Religion von Intellektuellen«. Unter dem doppeldeutigen Titel »Irrtum der Geschichte« wendet sich Hanegraaff nun im dritten Teil seines Werkes dem aufklärerischen Diskurs über Esoterik zu: doppeldeutig ist er deshalb, weil  er sowohl auf die Esoterik, die von der Aufklärung zum geschichtlichen Irrtum erklärt wird, als auch auf die aufklärerische »Konstruktion« dieser Esoterik selbst bezogen werden kann.

Mit der Aufklärung ändert sich der Rahmen der kulturellen Auseinandersetzungen im Abendland, da das Christentum seine dominierende Rolle verliert und die Philosophiehistoriker wie gesagt alles Esoterische links liegen lassen. Während des 18. Jahrhunderts wandte sich das Abendland ganz anderen Gebieten zu, die nunmehr die Debatten zu dominieren begannen: Wissenschaft und Naturphilosophie. In der Geschichte der Esoterik, die zwar marginalisiert wurde, aber sich trotzdem weiter entwickelte, ging es spiegelbildlich zu diesem säkularen Diskurs vermehrt um die »Geheimnisse der Natur«. Da aber die akademische Welt das Interesse an esoterischen Auseinandersetzungen verlor, wurden diese zunehmend von Privatgelehrten und Liebhabern betrieben.

Die Einstellungen bewegten sich von Feindseligkeit gegen das »Okkulte« über antiquarische Neugier bis zu Begeisterung für höhere religiöse Wahrheiten. Aber allen Beteiligten war ein Interesse an der Natur gemeinsam, was sich in ihrer starken Beschäftigung mit den »okkulten Wissenschaften« – der »natürlichen« Magie, Astrologie und Alchemie – zeigte. Die Teilnehmer dieser Debatten konnten dabei an die Renaissance, insbesondere an Ficino anschließen, der schon die Astralmagie verteidigt hatte. Aber als ebenso gewichtig erwies sich die Alchemie.

Die Anti-Apologeten hatten sich mit dieser aus der Antike stammenden Naturweisheit kaum beschäftigt. Im Zeitalter der Naturwissenschaften änderte sich das. Nun trat die Frage nach dem Verhältnis von Natur und Geist oder göttlicher Welt in den Vordergrund. Die Auseinandersetzungen über die Wahrheit der Religion wurden jetzt auf dem Feld der Naturtheorie ausgetragen: ließ die Natur überhaupt Raum für nicht-natürliche Entitäten oder konnte man aus ihr alles erklären? Der Calvinist und Cartesianer Balthasar Bekker sprach lange vor Max Weber im Hinblick auf die Naturwissenschaften 1691 von einer »entzauberten Welt« und rief mit seiner These ein gewaltiges Echo hervor.

Mit Entzauberung meinte er das Verschwinden geheimnisvoller Kräfte und Mächte aus dem Naturgeschehen. Von Entzauberung kann man auch in einer anderen Hinsicht sprechen: in den letzten drei Jahrzehnten hat die Wissenschaftsgeschichte die Standarderzählung vom »Sieg der Naturwissenschaften« über den mittelalterlichen Aberglauben dekonstruiert. Genauere Untersuchungen haben gezeigt, dass sogar auf dem Gebiet der Mechanik die führenden Köpfe den Atheismus zu vermeiden suchten, indem sie an immateriellen Kräften (Hexen, Dämonen und Geistern) festhielten. Die gelehrte Meinung bewegte sich nicht im simplen Dualismus von Wissenschaft und Aberglauben, sondern im weiten Gebiet dazwischen. So konnte die mechanische Auffassung von der Natur als bewegter Materie aus religiösen Gründen verteidigt werden, da sie die Existenz eines transzendenten Schöpfers sicherstellte, indem sie die Welt von Dämonen befreite. Sie konnte aber auch aus religiösen Gründen kritisiert werden, da sie Gott aus seiner Schöpfung vertrieb und diese jedes Geheimnisses beraubte. Die Auffassung von der belebten und beseelten Natur fand aus religiösen Gründen sowohl Verteidiger, da sie Gottes Allgegenwart zu bestätigen schien, als auch Kritiker, da sie aus deren Sicht jede Unterscheidung zwischen Schöpfer und Schöpfung aufhob und in den Pantheismus führte. Die These von der »Schöpfung aus dem Nichts« beherrschte die protestantische Welt und auch das Denken der meisten Aufklärer, sogar das der Atheisten. Sie ermöglichte die Entstehung einer mechanischen Philosophie und ließ alle Konzepte einer belebten Natur als Pantheismus erscheinen. Der »Sieg der Wissenschaft« wurde dadurch erheblich begünstigt, dass die neue Wissenschaft den theologischen Kampf gegen den »heidnischen Aberglauben« unterstützte.

Die Frage ist, wie die alten Künste der Astrologie, Naturmagie und Alchemie im Verlauf dieser neuartigen Diskurse seit dem 18. Jahrhundert zu »okkulten Wissenschaften« umdefiniert wurden. In drei langen Kapitel erörtert Hanegraaff dies am Beispiel des »Aberglaubens«, der »Magie« und des »Okkulten«.

1. Verdorbene Begriffe: Aberglaube

Seit dem 18. Jahrhundert pflegte man »Aberglaube«, »Magie« und das »Okkulte« weitgehend als Synonyme zu verstehen. Historisch betrachtet ist dies ein grundlegendes Missverständnis. Mangelnde Differenzierung ist laut Hanegraaff nicht nur Zeichen schlechter Wissenschaft, sondern führt auch zu anachronistischen Fehldeutungen. Die drei Begriffe haben eine lange und komplexe Geschichte und niemand sollte naiv ein Wissen von ihrer genauen Bedeutung voraussetzen.

In Wahrheit weiß niemand so richtig, was sie implizieren. Im Gegensatz zu »Astrologie«, »Alchemie« und »Weissagung« (Divination) sind sie relativ spät entstanden und äußerst vorurteilsbehaftet. Zwar haben auch die Begriffe »Aberglaube«, »Magie« und das »Okkulte« eine lange Geschichte, aber sie wurden während der Aufklärung vollständig mit neuem Inhalt angefüllt und dienten seither der Abgrenzung zwischen Wissenschaft, Rationalität und ihrem dunklen Gegenbild. Das hat zwei Konsequenzen: die Anwendung dieser Konzepte auf Epochen vor der Aufklärung führt zu anachronistischen Fehlinterpretationen, da die Vorurteile der Aufklärung in sie hineingedeutet werden, und generell sind sie untaugliche Werkzeuge für die neutrale Beschreibung religiöser Phänomene, da es sich um Werturteile und Kampfbegriffe handelt.

Aberglaube ist der pejorativste der drei Begriffe. Das war aber nicht immer so. Die griechische und lateinische Entsprechung hatten positive oder neutrale Bedeutungen. Im griechischen »deisidaimonia« bedeutete »deisi« Furcht oder Ehrfucht, und die »daimones« konnten Götter, Halbgötter oder sonstige übernatürliche Wesen sein. Die Bedeutung änderte sich, als Philosophen im Anschluss an Plato und Aristoteles anfingen, den ontologischen Rang von Wesen mit ihrem ethischen Rang gleichzusetzen. Danach galten Götter grundsätzlich als gut und es gab keinen Grund, sie zu fürchten. Wer es trotzdem tat, galt als ignorant. Seitdem bezeichnete der Ausdruck in der Sprache der philosophischen Elite einen irrationalen Volksglauben an schädliche Geistwesen, und die rituellen Praktiken, die auf der Furcht vor diesen Wesen beruhten. In der Zeit des Hellenismus und insbesondere im Christentum änderte sich die Bedeutung erneut: während heidnische Philosophen daran zu zweifeln begannen, ob wirklich alle »daimones« gut waren, behaupteten die Christen, die von den Heiden verehrten Götter seien allesamt böse. Für die Christen nahm das griechische Wort die Bedeutung »Dämonenfurcht« an.

Das lateinische »superstitio« bezeichnete ursprünglich Praktiken des Wahrsagens und der Prophetie (Eingeweideschau, Deutung des Vogelflugs usw.) , die im alten Rom gesellschaftlich akzeptiert waren. Seit dem ersten Jahrhundert – im Kaiserreich – wandelte sich die Bedeutung dieses Begriffs: als »superstitio« wurden nunmehr religiöse Praktiken bezeichnet, die von fremden Völkern stammten und als etwas Fremdartiges und Unehrenhaftes wahrgenommen wurden. Gleichzeitig betrachteten die konservativen Eliten diese Praktiken zunehmend als politische Gefahr. »Superstitio« war die potentiell gefährliche »Religion der Anderen«. Die Kulte erschienen um so gefährlicher und subversiver, als sie nicht in der Öffentlichkeit durchgeführt wurden, wie die der Staatsreligion, sondern im Privaten, Verborgenen. Die Christen übernahmen diesen Begriff, der unter anderem auch auf sie gemünzt war, und fügten den Praktiken des Wahrsagens und der Prophetie noch die »Dämonenfurcht« hinzu. Da alle heidnischen Götter für die Christen Dämonen waren, wurde »superstitio« zur Sünde schlechthin, zur Götzenanbetung.

Im (christlichen) Mittelalter war die »Idolatrie«, die in der Furcht vor Dämonen gründete, der zentrale Inhalt der »superstitio«. Man unterschied zwischen dem Aberglauben der Beobachtung (Deuten von Zeichen und Omen, Visionen, Träume, Orakel), dem Aberglauben der Weissagung (einschließlich Astrologie, Totenbeschwörung und mantischer Techniken) und dem Aberglauben der magischen Kunst. All diese Praktiken schlossen den Kontakt mit heidnischen Göttern oder Dämonen ein – deren Existenz nebenbei gesagt natürlich vorausgesetzt wurde –, die versuchten, die Menschen vom wahren Gott und Glauben abspenstig zu machen.

Ein weiteres Bedeutungsfeld hing mit dem griechischen »deisidaimonia« zusammen. Die aristotelische Lehre von der Mäßigung ließ die rituellen Praktiken mancher Kulte als Formen der Unbesonnenheit und des Exzesses erscheinen, die wiederum auf der (falschen) Furcht vor den Göttern beruhten. Der Exzess des Rituals (exzessive Rituale, Orgien usw.) war das ganze Mittelalter hindurch mit dem Begriff des Aberglaubens verbunden, eine Konnotation die auch noch in der Neuzeit nachklingt.

Die Reformation wendete diesen Begriff der »superstitio« gegen die Katholische Kirche, von der er als Waffe gegen die Heiden entwickelt worden war. Für Protestanten war der Katholizismus der Inbegriff des Aberglaubens, so wie wir heute Rassismus selbstverständlich für verwerflich halten. Der Kirche wurden eine Fülle solcher »abergläubischer«, »heidnischer« Praktiken vorgeworfen: die Anbetung der Hostie und der Sakramente, die Verehrung von Marien-, Heiligenbildern und Reliquien, der Glauben an das Fegefeuer, Totenmessen, Totenwachen, Begräbnisse, das Fasten, die Taufe von Glocken und Kerzen, Prozessionen und so fort. Die Reformatoren kritisierten die Kirche weil sie an die Macht der guten Werke glaubte, statt an die Rechtfertigung durch den Glauben allein. Sie stütze sich auf von Menschen geschaffene Idole und mindere die absolute Macht des Schöpfers herab. Bemerkenswert daran war, dass die Protestanten ihre ganze Kritik mit dem Argument stützten, all jene von ihnen verurteilten Praktiken seien auf die Einflüsterungen von Dämonen, auf Sendboten des Teufels zurückzuführen, und wer sich nicht von ihnen lossage, werde auf ewig und binnen kurzem in der Hölle schmoren. Auch die Protestanten arbeiteten mit der Furcht, wie die römische Kirche es getan hatte.

Der theologische – katholische oder protestantische – Begriff des Aberglaubens definierte diesen als Furcht vor Dämonen, die zu exzessiven Ritualen führe und den Menschen dem wahren Gott entfremde. Die Aufklärung deutete diesen Begriff von einem religiösen in einen intellektuellen Irrtum um, wie aus einer Definition in »Zedlers Universallexikon« Mitte des 18. Jahrhunderts ersichtlich ist: »Aberglaube ist ein Irrtum, durch den natürlichen oder menschlichen Dingen etwas Göttliches zugeschrieben wird, das ihnen nicht zukommt, wodurch aber im Gemüt eine unvernünftige Erregung hervorgerufen wird.« Der Aberglaube irrt, weil er Natürliches und Göttliches nicht auseinanderzuhalten vermag und daher verfällt das Gemüt in emotionale Exzesse. Die Vorstellung, Göttliches könne den Dingen innewohnen, öffnet aus der Sicht der Aufklärer die Tür für alle Arten von Aberglauben, aber dieser ist keine Sünde mehr, sondern eine Illusion. Die französische »Enzyklopädie« folgerte schlüssig, der Aberglaube sei »die unglückliche Tochter der Einbildungskraft« (Imagination, Phantasie). Die Natur ist nach Meinung der Enzyklopädisten frei vom Numinosen und nur die Imagination, die Einbildungskraft, füllt sie damit an. Damit war die »unheilige Trinität der Aufklärung« erreicht, die aus »Enthusiasmus, Aberglaube und Imagination« bestand.

Auch wenn die Aufklärung erfinderisch war, indem sie den Aberglauben als »intellektuellen Irrtum« definierte und der Wissenschaft gegenüberstellte, blieb sie doch in den theologischen Vorstellungen befangen, die das Heidentum als Furcht vor Dämonen, Götzenanbetung und eine unendliche Folge ritueller Exzesse imaginierten. Der Grundirrtum, den die Aufklärer der christlichen Kultur austreiben wollten, war in der Tat das »Heidentum«, so Hanegraaff, aber dieses wurde zu einer Schwäche des Verstandes umdefiniert, die seit jeher dazu verleitete, geistige Wesen in die Natur hinein zu imaginieren (dies ist auch die Bedeutung des von Tylor Ende des 19. Jahrhunderts geprägten Begriffs des »Animismus«).

Für christlich orientierte Denker, besonders Protestanten, war diese Wendung der Dinge äußerst attraktiv, weil sie ihnen erlaubte, mit dem wissenschaftlichen Fortschritt gegen den alten Feind zu marschieren, der in ihren Augen schon immer das Christentum verseucht hatte. Die Vorstellung, in der Aufklärung habe die Wissenschaft einen Krieg gegen die Pseudo-Wissenschaft ausgetragen, ist demnach irreführend. Vielmehr setzte sie nur den alten Krieg der christlichen Theologie gegen das Heidentum mit einer mächtigen neuen Waffe fort.

Voltaire genügt als Beispiel. Er bekämpfe nicht in erster Linie das Christentum oder die Religion, sondern die heidnischen Irrtümer, die sich in diese hineingeschlichen hatten. Daher betrachtete er die Astrologie entsprechend der Tradition als Aberglauben, stellte sie aber nicht der Wissenschaft entgegen, sondern der Religion: »Der Aberglaube ist für die Religion, was die Astrologie für die Astronomie ist: die närrische Tochter einer weisen Mutter.« Der Satz lobt bemerkenswerter Weise Wissenschaft und Religion als »weise und intelligent«. Weniger bekannt ist Voltaires Äußerung, wonach alles, was über die »Verehrung eines höchsten Wesens und die Unterwerfung des Herzens unter seine Befehle« hinausgehe, als »Aberglaube« zu bezeichnen sei, der mit dem Fanatismus zusammenhänge. Im übrigen glaubte Voltaire wie die Anti-Apologeten, der im Heidentum geborene Aberglaube sei vom Judentum adoptiert worden und habe die Kirche von Beginn an infiziert.

2. Verdorbene Begriffe: Magie

Von der Magie gibt es laut einer Feststellung von Marco Pasi fast so viele Definitionen, wie Autoren, die über sie geschrieben haben. Aber die meisten dieser Definitionen gehen auf drei einflussreiche Versuche zurück.

1. Intellektualistische Definitionen orientieren sich an Tylor, der Magie als einen Irrtum verstand, der ideelle Analogien mit realen gleichsetze (der Primitive glaube, was in seinem Denken verknüpft sei, müsse auch in der Tatsachenwelt verknüpft sein). Frazer vereinfachte diese Erklärung in einer evolutionistischen Triade: die Menschheit hat sich von der Magie über die Religion zur Wissenschaft hin bewegt. Frazer verstand unter Magie »sympathetische« Magie: Dinge wirken aufeinander aufgrund einer geheimen Verwandtschaft. Beide Definitionen gingen von der Wissenschaft aus, nicht von der Religion. Die Magie setze, so die Annahme, imaginäre Analogien, Korrespondenzen und unsichtbare Kräfte voraus, im Gegensatz zu den Kausalmechanismen des Positivismus.

2. Funktionalistische Definitionen gehen auf Mauss und Durkheim zurück und konzentrieren sich auf Rituale. Für Mauss waren alle Riten magisch, die nicht Bestandteil eines organisierten Kultes sind und für Durkheim war Religion immer Gruppenüberzeugung, während es keine »Kirche der Magie« geben könne. Diese Definitionen gehen von der Religion aus, denn die Handlungen eines Magiers sind für Durkkeim inhärent antireligiös, während Mauss sie als das »Andere« der organisierten Religion definiert.

3. Eine bewusstseinstheoretische Definition geht auf Lévy-Bruhl zurück. Ihr liegt die Unterscheidung zwischen einem Weltbild zugrunde, das Kausalität akzeptiert und einem anderen, das auf der Vorstellung der Partizipation beruht. Anfangs glaubte Lévy-Bruhl, Partizipation sei typisch für primitive Gesellschaften, erkannte aber später, dass sie für alle Gesellschaften konstitutiv ist, auch für moderne. Die (undifferenzierte) Vorstellung hat sich durchgesetzt, Lévy-Bruhl habe Magie und Partizipation als Synonyme betrachtet, was dazu führte, dass viele Autoren behaupteten, die Magie beruhe »auf einer anderen Art von Rationalität«. Auch diese Definition geht von der Wissenschaft aus, als deren Gegenteil sie die Magie beschreibt.

Diese drei Definitionen wurden auf alle möglichen Arten kombiniert, aber in der Regel wurde die zugrunde liegende Trias Magie – Religion – Wissenschaft immer akzeptiert. Doch diese Dreiteilung ist nach Hanegraaff höchst fragwürdig. Die Magie ist als externer Begriff für die wissenschaftliche Beschreibung eines komplexen Bündels höchst unterschiedlicher Erscheinungen unbrauchbar und verschwindet daher auch zunehmend aus der Diskussion. Das neue Misstrauen gegenüber dem Begriff der Magie hat mit dem gewachsenen Misstrauen gegen die großen Fortschrittserzählungen der Moderne zu tun. Man benötigt nicht den Poststrukturalismus, um zu erkennen, dass die meisten Begriffe der Religionsgeschichte durch »normative modernistische Ideologien und implizite Herrschaftsansprüche des Westens« geprägt sind, die in missionarischen und kolonialistischen Mentalitäten wurzeln. Schulbeispiel dafür ist das Nachdenken der Wissenschaftler über die Magie, weil es traditionellen Stereotypen über die Greuel des Heidentums zu akademischen Weihen verholfen hat und als Legitimation dafür diente, nicht-europäische Völker vom Aberglauben zum Christentum, zur Aufklärung und zur Wissenschaft zu bekehren.

Randall Styers hat ebendies in einer bahnbrechenden Untersuchung, gestützt auf eine Fülle von Beweismaterial, gezeigt (»Making Magic«, Oxford 2004). Die Erhebung der Magie zu einer universellen Kategorie, die im Gegensatz zu Religion und Wissenschaft steht, diente dazu, das Projekt der Moderne auszubauen und ihre Weltsicht dem westlichen und nicht-westlichen Publikum zu verkaufen. Hanegraaff bringt sein Erstaunen darüber zum Ausdruck, dass trotz der überwältigenden Beweise für das Gegenteil immer noch jemand an die Existenz eines essentialistisch verstandenen Phänomens der Magie im Unterschied zu Religion und Wissenschaft glaubt. Wenn man einmal einsehe, dass die Magie, von der man glaubt, sie existiere »draußen in der Welt«, nur vorhanden sei, weil man sich entschieden habe, die betreffenden Erscheinungen so zu nennen, dann werde der magische Zirkel durchbrochen. (Ironischerweise wirft Hanegraaff den Gelehrten, die den Begriff der Magie geprägt haben, genau das vor, von dem sie behaupteten, es sei für die Primitiven charakteristisch: den irrigen Glauben, etwas, was im Denken zusammenhänge, hänge auch in der wirklichen Welt zusammen).

Der Begriff der Magie kann demnach schwerlich als Werkzeug für die Erforschung der Phänomene dienen, die er zusammenfassen soll, vielmehr ist er selbst der Untersuchung bedürftig. Er sollte als allgemeine Kategorie nicht mehr verwendet werden. Wir sollten heute nicht mehr versuchen, eine die Geschichte der Magie zu schreiben, sondern eine Geschichte des Selbstverständnisses der Magier und ihrer unterschiedlichen Praktiken im Lauf der Epochen.

Hanegraaff geht auch hier zunächst auf die Wortgeschichte ein. Das griechische Wortfeld (magos, mageia, magikos) stammt aus dem persischen »magu-« , dessen genaue Bedeutung unklar ist. Es scheint einen Träger bestimmter religiöser Aufgaben bezeichnet zu haben. Die Griechen übernahmen es im sechsten Jahrhundert v.Chr. Bei diesen scheint es bald jene negativen Konnotationen angenommen zu haben, die bis dahin mit dem Wort »goes« verbunden waren. Die persische Herkunft des Wortes gewann in der Renaissance an Bedeutung, als manche Autoren versuchten, von Zoroaster eine positiv verstandene Form der Magie herzuleiten, die sich von ihrem dämonischen Gegenstück, der »goetia« unterscheiden sollte. In Griechenland und Rom war das Verständnis von Magie jedenfalls von negativen Konnotationen beherrscht: von den düsteren, bedrohlichen, dämonengetriebenen Praktiken, die man den jeweiligen »Anderen« zuschrieb. Die Magie bildete nicht den Gegensatz zu Religion überhaupt, sondern nur zur normativen religiösen Praxis, so dass sie bald von »superstitio« und »deisidaimonia«, dem Götzendienst und der Unterwerfung unter böse Dämonen nicht mehr unterscheidbar war, besonders im christlichen Mittelalter.

Im 13. Jahrhundert jedoch begann sich die »magia naturalis« von der »dämonischen« Magie abzuheben. Grund war die beginnende Auseinandersetzung mit der reichhaltigen griechischen und arabischen Literatur, die im Orient überlebt hatte, ins maurische Spanien gewandert war und nunmehr in lateinischen Übersetzungen zugänglich wurde. Zu dieser Literatur gehörten viele naturwissenschaftliche Texte, die astrologische und alchemistische Themen behandelten.

Schon 1955 machte der große Historiker Lynn Thorndike darauf aufmerksam, dass moderne Autoren – fehlgeleitet durch ein falsches Bild von Astrologie als Pseudowissenschaft –, blind waren für die Tatsache, dass die Astrologie auf dem Konzept universell gültiger, unveränderlicher Naturgesetze beruhte. Die Antike hatte den Versuch unternommen, gewisse Aspekte der babylonischen Himmelsschau mit der aristotelischen Physik und der hellenistischen Astronomie zu synthetisieren, was zum Modell eines durch Kausalität bestimmten Kosmos führte, in dem die Gestirne alle Veränderungen in der sublunaren Welt verursachten. Die alte griechische Astrologie war nach dem führenden Kenner dieses Gebiets, David Pingree, die »umfassendste wissenschaftliche Theorie der Antike«, die mit Hilfe von mathematischen Modellen Voraussagen über alle Veränderungen in der sublunaren Welt erlaubte.

Als Kunst der Weissagung wurde die Astrologie mit ihrem beseelten und belebten Kosmos in der römischen Antike der »superstitio« und »magia« zugeordnet. Patristische Autoren polemisierten gegen sie, weil sie den Fatalismus lehre und den freien Willen außer Kraft setze. Aber schon von Tertullian wurde sie als eine Form der Magie dem Götzendienst zugeordnet, der von den gefallenen Engeln erfunden worden sei. Mit dem Aufstieg des Christentums zur Staatsreligion begann die Astrologie allgemein als Aberglaube und götzendienerische Magie betrachtet zu werden. Das war der Stand der Dinge, als die mittelalterlichen Gelehrten sich mit diesem verdächtigen Gegenstand zu beschäftigen begannen. Irgendwie mussten sie ihr Interesse rechtfertigen. Glücklicherweise hatte Isidor von Sevilla in Ausführungen über Astronomie zwischen einer »abergläubischen« und einer »natürlichen« Form der Astrologie unterschieden. Von hier war es nicht mehr weit bis zur Einführung einer analogen Unterscheidung in der Magie. Die »magia naturalis« war geboren, nicht als ein Versuch, diese als wissenschaftlich zu deklarieren, sondern um sich vor der theologischen Zensur zu schützen. Wilhelm von Auvergne gehörte im 13. Jahrhundert zu den ersten, die diesen Begriff benutzten. Er verteidigte einen Teil der Magie als legitime Form von Naturstudien, während er gleichzeitig betonte, die heidnische Götzenverehrung, der andere Teil, müsse mit Feuer und Schwert ausgerottet werden. Wilhelm holte auch eine Sentenz des Augustinus aus der Vergessenheit, in der dieser die alten Ägypter verurteilte, weil sie Statuen geschaffen und Seelen himmlischer Wesen in sie hineinbeschworen hatten. Diese Geschichte wird im »Asklepios«, einem Traktat der Hermetischen Schriften erzählt. Bis in die Renaissance spielte diese Schilderung des »Asklepios« in Diskussionen über Astralmagie und die Verwendung astrologischer Symbole oder Talismane eine zentrale Rolle. Wenn Talismane dafür benutzt wurden, Astralmächte und ihre Kräfte auf die Erde herabzuziehen, konnte dies als Götzendienst interpretiert werden. Bezog der Talisman seine Macht aber lediglich aus den natürlichen Kräften der Gestirne, dann war dies eine akzeptable Form der »natürlichen« Magie. Die erlaubte Magie hing von einer naturalistischen Kausalkette ab, die unerlaubte von Zeichen, die mit kosmischen Geistwesen verbunden waren. Die Praktiker der »natürlichen« Magie mussten sicherstellen, dass das, was sie taten, nicht als Anbetung oder Beschwörung dämonischer Astralmächte verstanden wurde.

Allerdings gab es auch alternative, neuplatonische Erklärungsmodelle, nach denen der gesamte Kosmos ein Gewebe aus harmonischen Wirkungen und Gegenwirkungen war, die durch Strahlen des Lichtes vermittelt wurden, so dass Effekte auf der Erde stets natürlich waren, auch wenn ein Magier fälschlicherweise glaubte, mit Astraldämonen im Bunde zu stehen. Der arabische Astronom al-Kindi, der diese Theorie entwickelte, hatte durch sein Werk »De radiis« großen Einfluss auf Marsilio Ficino, der eine eigenständige Auffassung von natürlicher Magie entwickelte. Nach dieser war der gesamte Kosmos von einem universellen Agens durchdrungen, das zwischen Seele und Leib stand, und Wirkungen hervorrief, die man der natürlichen Magie zuschreiben konnte. Natürlich fußte Ficinos einflussreiches Hauptwerk zur Astralmagie auf neuplatonischen Ansichten.

Schon in Ficino tritt die ideelle Komplexität und Vieldeutigkeit der Renaissancemagie zutage: aus vielerlei heidnischen Quellen geschöpft, musste sie das Gemisch aus platonischen und aristotelischen Ansichten, aus dem sie bestand, als kompatibel mit dem Christentum ausweisen und die Theologen davon überzeugen, dass Magie ganz natürlich war und gleichzeitig unternahm sie den Versuch, diese natürliche Magie als höchste religiöse Offenbarung Zoroasters darzustellen.

Die scholastische Differenzierung zwischen natürlicher und ritueller Magie (in die Engel oder Dämonen involviert waren) führte zu einer Reihe von paradoxen Versuchen, ihre Unterschiede systematisch abzuhandeln. Dies begann schon mit Ficino, der sein Verständnis von Astralmagie ausgerechnet am Beispiel der Geschichte aus dem »Asklepios« entwickelte, das Wilhelm von Auvergne als Paradigma der götzendienerischen Magie verurteilt hatte. Verstärkt wurden die Probleme noch durch die Verbindung der Magie mit der Kabbala durch Pico della Mirandola, die zu einer tendenziellen Identifikation beider führte. Agrippa von Nettesheim schließlich setzte die Magie schlichtweg mit der alten Weisheit gleich, die natürlich mit Zauberei, Aberglauben und Dämonenverehrung nichts zu tun habe.

In seiner »Occulta Philosophia« unterschied er drei Formen von Magie: die »natürliche«, die sich auf die sublunare Welt und die Elemente bezieht, die »himmlische«, die die Region zwischen Mond und Fixsternen einbezieht und mit Zahlen und Astrologie zu tun hat und die »zeremonielle«, die mit Engeln und Dämonen jenseits der Fixsternsphäre arbeitet, in der die Kabbala von zentraler Bedeutung ist. Diese Systematisierung fasste alle überlieferten Materialien in einem großen Schema zusammen: Von den auf die Natur bezogenen Künsten aus arabischen Quellen über die religiösen Spekulationen der alten Griechen bis zu den höchsten Offenbarungen des Moses, die unter dem Namen Kabbala firmierten. Agrippa war sich der Tatsache bewusst, dass die Unterscheidung zwischen guter und schlechter Magie immer noch zentral, der Begriff der natürlichen Magie aber nicht mehr ausreichend war, um erstere von letzterer abzugrenzen. Die von Zoroaster abgeleitete Magie hatte unübersehbar mit metaphysischen Dingen zu tun, daher erklärte er die Kabbala, die Moses von Gott offenbart worden sei, zu ihrer eigentlichen Quelle. Der Begriff der »magia naturalis« hatte seine ursprüngliche Bedeutung verloren bzw. war mit dem der »prisca theologia« identisch geworden.

Die Wandlungen der Magie im Lauf der Jahrtausende sind bemerkenswert. Anfangs wurden darunter gewisse verächtliche dämonische Praktiken verstanden, später setzte sie sich als »magia naturalis« erfolgreich von ihren Ursprüngen ab, um am Ende zur höchsten aller Künste und Wissenschaften, zur höchsten Offenbarung Gottes aufzusteigen. Nachdem sie unter Gebildeten des 16. Jahrhunderts diesen Rang erstiegen hatte, wurde sie zum bevorzugten Ziel der Kritiker. Die einen erinnerten an ihre verächtlichen Ursprünge, die anderen meinten, sie solle sich bescheiden mit der Erforschung der Natur zufrieden geben. Und auch wenn sie im 17. und 18. Jahrhundert von ihrem Thron wieder herabsteigen musste und zur Beschäftigung von »Narren« und »Schwindlern« wurde, gibt es bis in die Gegenwart Menschen, die an ihre hohe geistige Mission glauben.

Die vielschichtige Karriere der Magie erklärt, warum ihre Bedeutung so umstritten war, und warum die unterschiedlichsten Parteien das denkbar unterschiedlichste darunter verstanden. Aber gegen Ende des 17. Jahrhunderts begann die Magie als »magia naturalis« in den Diskussionen über Naturerkenntnis eine zentrale Rolle zu spielen und zwar gerade wegen ihrer Vieldeutigkeit. Sie konnte benutzt werden, um die Welt zu entzaubern, weil sie zeigte, dass alles nur ein natürlicher Vorgang war, sie konnte aber auch für die gegenteilige Auffassung herangezogen werden, weil sie zeigte, dass die Natur immer noch von Zauber erfüllt war.

3. Verdorbene Begriffe: das Okkulte

Schon der Fall der Astrologie hat gezeigt, dass etwas, was einst als rational und wissenschaftlich galt, nicht aus wissenschaftlichen, sondern aus theologischen Gründen dem Aberglauben zugeordnet werden konnte. Am Begriff des »Okkulten« lässt sich zeigen, dass dieselbe Zensur, die einst von der Kirche oder Theologie ausgeübt wurde, im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts von der Wissenschaft auszugehen begann.

Am Anfang der Geschichte des Okkulten stand die Überzeugung, es gebe verborgene Kräfte in der Natur, die nicht erklärbar und deshalb mysteriös seien. Für uns haben der Magnet, die Schwerkraft oder die Fähigkeit des Willens, den Körper zu bewegen, scheinbar ihren mysteriösen Charakter verloren, aber noch David Hume vertrat die Ansicht, die Begriffe der »Kraft«, der »Energie« oder des »notwendigen Zusammenhangs« seien mysteriöser als alle anderen. Aus den griechischen Begriffen von »dynamis« (verborgene Kraft) und »energeia« (offenbar werdende, wirkende Kraft), »sympatheia« und »antipatheia« und den »idiotetes arretoi« (entwickelte sich in der Scholastik der lateinische Begriff der »okkulten Qualitäten« (verborgenen Eigenschaften) von Naturgegenständen, der eng mit den substantiellen Formen zusammenhing, jenen ideellen Formen, die dem Stoff der sinnlichen Wahrnehmungswelt seine Eigenschaften geben.

Der Begriff der okkulten Eigenschaften besitzt, wie die neuere Forschung gezeigt hat, für die Geschichte der Wissenschaften eine zentrale Bedeutung. Die an Aristoteles anschließende Naturphilosophie des Mittelalters unterschied zwischen den wahrnehmbaren und unwahrnehmbaren Eigenschaften der Dinge. Viele Naturphänomene, wie magnetische oder elektrostatische Anziehung, die Heilkraft der Pflanzen oder Mineralien, die Einflüsse von Sonne und Mond, konnten mit Hilfe der Lehre von den vier Elementen nicht hinreichend erklärt werden. Ihre unmittelbaren Ursachen waren deswegen verborgen, »okkult«, nicht nur, weil sie nicht wahrnehmbar waren, sondern weil sie sich einer rationalen Erklärung entzogen. Der Grund lag darin, dass sie nur aus ihren Wirkungen erschlossen und nicht direkt beobachtet werden konnten. Dadurch wurden sie für die Scholastik zu einer »black box«, einem notwendigen Bestandteil der theoretischen Begrifflichkeit, der zugleich daran erinnerte, dass Gott der Neugier des Menschen Grenzen gesetzt hatte.

Die »okkulten Qualitäten« spielten eine Hauptrolle bei der Herauslösung der alten Wissenschaften aus dem Gebiet des Aberglaubens und ihrer Legitimierung als natürliche Magie. Sie schienen überzeugend zu erklären, dass viele Naturerscheinungen, die die Ungebildeten für Wirkungen übersinnlicher Kräfte hielten, rein natürlich erklärbar waren. Entgegen dem heutigen Verständnis von »okkult«, waren die okkulten Qualitäten ursprünglich ein Instrument zur Entzauberung der Welt, das der Theologie den Bereich des Wunderbaren entzog und ihn der wissenschaftlichen Forschung zugänglich machte. Theologische Kritiker witterten darin ein trojanisches Pferd, konnte man doch auch Einflüsse der Sterne als okkulte Qualitäten definieren oder solche wundersamen Phänomene wie den bösen Blick, Missgeburten, die angeblich auf Eindrücke der Einbildungskraft zurückgingen oder Fernheilung. Dank der okkulten Qualitäten wurden all diese Phänomene zu legitimen Gegenständen wissenschaftlicher Forschung, mit denen sich die Wissenschaft in der Frühmoderne extensiv und intensiv beschäftigte.

Aus diesen Entwicklungen erklärt sich die Entstehung des Begriffs der »okkulten Philosophie« oder der »okkulten Wissenschaften« nahezu von selbst. In der Renaissance wurde die Idee der »magia naturalis« zu einer religiös aufgeladenen »prisca magia«, einer Art Uroffenbarung der Magie erweitert. Christliche Kabbalisten führten das Geheimnis und die Geheimhaltung in den Diskurs über die alte Weisheit ein. Es ist kein Zufall, dass Agrippa von Nettesheim eine »okkulte Philosophie« verfasste, die das geheime Wissen der Alten der christlichen Welt zugänglich machen wollte. Pico della Mirandola verhalf auch dem Denken in Korrespondenzen zu neuem Ansehen, das alle Gebiete der Welt in geheimen, nicht-kausalen Beziehungen sieht. Es war laut Hanegraaff nahezu unausweichlich, dass die Idee verborgener Kräfte, die geheim in der Natur wirken, mit der Idee der »magia naturalis« zusammenfloss und so erweitert wurde, dass die einstige »black box« der Scholastik zum »bevorzugten Schrein des göttlichen Geheimnisses in der Welt« wurde.

Diese Transformation der Begriffe führte zu einer »Wiederverzauberung« der »magia naturalis«. Der von der Scholastik technisch verstandene Begriff des »Okkulten« näherte sich allmählich seiner heutigen Bedeutung an. Deutlich zeigt sich dies an einem weitgehend unbekannten, aber repräsentativen Autor des 16. Jahrhunderts, der unter anderem Werke über Kryptographie verfasste (Blaise de Vigenère). Solange er über dieses Thema schrieb, verwendete er »okkult« im lexikalischen Sinn von »verborgen«. Aber er sprach auch von den okkulten Qualitäten, von den »am meisten okkulten und intimsten Geheimnissen der Natur«. Er war vermutlich der erste Autor, der im Hinblick auf diese Geheimnisse der Natur auch von »okkulten Wissenschaften« sprach. Er tat dies im Kontext einer Erzählung über die alte Weisheit und beeinflusst von Agrippa. In diesem Zusammenhang bedeutete »okkult« religiöse Geheimnisse, die vor den Uneingeweihten verborgen, aber den Weisen als höheres Wissen offenbart werden. Kabbala, Magie und Alchemie werden von ihm als drei »okkulte und geheime Wissenschaften« bezeichnet, die zu den drei Welten Agrippas in Beziehung standen: die Alchemie zur sublunaren Welt der Elemente, die Magie zur Planetenwelt und die Kabbala zur Fixsternwelt.

Der Begriff der »okkulten Wissenschaften« entstand im Renaissance-Diskurs über die alte Weisheit. Er war nicht nur ein Notbehelf, um eine Vielzahl unterschiedlicher Wissenstraditionen unter einen Begriff zu bringen, sondern zielte von Anfang an auf eine geheime Einheit, die nach damaliger Auffassung auf die alte Weisheit des Hermes Trismegistos zurückging. Magie, Astrologie, Kabbala und Alchemie sollten auf einer tieferen Ebene zusammenhängen, weil sie Ausdruck eines verborgenen allgemeingültigen Wissens über die wahre Beschaffenheit der Welt waren. Manche meinten sogar, die Disziplinen des okkulten Wissens gingen auf Adam zurück. Er habe sie in Hieroglyphenschrift auf steinerne Tafeln geschrieben, die bei der Sintflut verloren gingen. Eine dieser Tafeln mit dem astronomischen Wissen habe Noah nach der Flut wiedergefunden, andere fanden später andere Tafeln. Im Lauf der Zeit spaltete sich also das ursprüngliche Wissen auf und einzelne Menschen eigneten sich Teilkenntnisse davon an: manche wurden Alchemisten, andere Astronomen, andere Magier, andere wiederum Kabbalisten. Aber ursprünglich stammte alles Wissen aus einer Quelle.

So wurden die okkulten Disziplinen zunehmend als Alternative zum gewöhnlichen Wissen betrachtet: während dieses sich an der Oberfläche der Dinge entlang bewegte, drangen sie in das eigentliche Wesen der Natur und des Kosmos ein. Den Gegnern der okkulten Wissenschaften kam dieser Gedanke der Einheit entgegen, weil sie auf diese Weise die verfemten Wissensformen in Bausch und Bogen verwerfen konnten. Auch die heutige Verwendung des Begriffs »okkulte Wissenschaften« verweist als Sammelbegriff für die einzelnen Disziplinen noch auf das Renaissance-Projekt der okkulten Philosophie. Aber wenn die heutige Forschung von »okkult« spricht, erhebt sich die Frage, was damit gemeint ist. Erstaunlicherweise haben sich, so Hanegraaff, nur wenige Historiker mit dieser Frage auseinandergesetzt. In der Regel wird der Begriff unreflektiert verwendet und die Annahme, sie bildeten eine Einheit, impliziert, dass sie das irrationale und abergläubische Gegenbild von Vernunft und Wissenschaft sind. Am deutlichsten brachte dies Brian Vickers 1988 zum Ausdruck. Für ihn beruhen alle Disziplinen des okkulten Wissens auf der Unterscheidung zwischen sichtbaren und unsichtbaren Welten und benutzen Symbole, Analogien und Korrespondenzen, um offenkundig Unzusammenhängendes in Zusammenhang zu bringen. Sie seien von den Griechen als System aus dem Orient importiert und in der Zeit des Hellenismus »kodifiziert« worden. Danach hätten sie unverändert bis in die Gegenwart existiert. Vickers hält diese Resistenz gegen Veränderung für das Hauptmerkmal der okkulten Tradition – und sie ist für ihn ein Zeichen ihrer Unwissenschaftlichkeit. Vickers entgeht jedoch laut Hanegraaff, dass der Gedanke dieser Einheit erst in der Renaissance entstanden ist. Aber entscheidend ist, dass er das Okkulte ohnehin nicht als historisches Phänomen gelten lässt, sondern als Ausdruck einer anthropologischen Konstante betrachtet. Die Homogenität und Widerstandsfähigkeit gegen den Wandel sei Ausdruck einer Mentalität, die sich auch bei nicht-schriftlichen Kulturen finde. Die okkulten Wissenschaften gründen laut Vickers nicht in Experimenten, ja nicht einmal in Ideen, sondern in gewissen vorrationalen Mentalitäten, die auch den »Primitiven« eigen seien. Deswegen veränderten sie sich im Gegensatz zu den Wissenschaften auch nicht. Vickers Theorie ist eine Variation des Erklärungstypus, der auf Lévy-Bruhl zurückgeht, der die Magie aus dem Gegensatz von Partizipation und Kausalität ableitete. Im Unterschied zur Kausalität der rationalen Wissenschaften sollen die okkulten Disziplinen allesamt in einer »Verdinglichung von Symbolen und Analogien« wurzeln, in der Neigung des Menschen also, seine Vorstellungen in die reale Welt zu projizieren und Zeichen mit dem Bezeichneten zu verwechseln. Die Folge ist, dass Vickers jeden Einfluss der okkulten Wissenschaften auf die realen Wissenschaften für denkunmöglich erklärt, im Gegenteil, wirkliche Wissenschaft beruhe gerade auf der Überwindung des okkulten Symbolismus.

Aber neuere Historiker haben diese Erzählung vom Gegensatz zwischen Magie und Wissenschaft inzwischen einer fundamentalen Kritik unterzogen. Sie halten sie für anachronistisch und unhistorisch. Sie weisen darauf hin, dass das Renaissance-Konzept von der Einheit der okkulten Philosophie die Forschung blind gemacht hat für die relative Selbstständigkeit der einzelnen Disziplinen und dass diese Disziplinen keineswegs unveränderlich waren, sondern sich im Lauf der Geschichte in erheblichem Ausmaß gewandelt haben. Im Gegensatz zum verbreiteten Vorurteil, die okkulten Wissenschaften beruhten auf primitivem Denken, auf Begriffsverwirrung und Projektionen und seien insgesamt »vorwissenschaftlich« oder »pseudowissenschaftlich«, weisen diese Historiker darauf hin, dass jede einzelne dieser Disziplinen rationale Modelle der Kausalität entwickelte, auf einem empirischen Studium der Natur beruhte und zur Geschichte der heutigen Wissenschaften wesentliche Beiträge lieferte.

Schließlich ist die Theorie, »die« Magie oder »der« Okkultismus beruhten auf einer Verdinglichung von Ideen, ironischerweise selbst eine Verdinglichung von Ideen. Aus denselben Gründen wie der Begriff der Magie muss daher auch der Begriff der »okkulten Wissenschaften« als Forschungsinstrument verworfen werden. Er wirft eine Fülle unterschiedlicher historischer Phänomene in einen Topf und hindert die Forschung daran, diese Phänomene in ihrer komplexen historischen Entwicklung zu untersuchen. Er unterstellt, die betreffenden Disziplinen hätten sich nicht für empirische Beobachtung und Experimente interessiert und das Kausalprinzip abgelehnt, weil sie in einem vor-rationalen, primitiven Denken befangen gewesen seien, das sie für das genuine Anliegen der Wissenschaft unempfänglich machte. Indem man von »okkulten Wissenschaften« spricht, schließt man diese, trotz aller gegenteiligen historischen Befunde, aus der Geschichte der Wissenschaften aus.

Wenn Vickers »Verdinglichung von Analogien« als Erklärung der okkulten Wissenschaften verworfen werden muss, was haben sie dann gemeinsam und wie lassen sie sich verstehen? Trotz aller Kritik zweifelt niemand daran, dass sie in der hellenistischen Kultur verwurzelt sind, die durchdrungen war vom Glauben an verborgene Korrespondenzen und analogischem Denken. Und eben diese Qualitäten erlebten in der Renaissance einen bedeutenden Aufschwung. Auch die neueren Historiker leugnen dies nicht. Die Aufgabe der Historiker besteht aber laut Hanegraaff darin, diese Qualitäten zu analysieren, die man sowohl im vormodernen Denken als auch in jenem der Renaissance findet, und gleichzeitig nicht in die Gewohnheit zu verfallen, sie gegen die Wissenschaft oder die Wissenschaft gegen sie auszuspielen. Diese Aufgabe ist nicht leicht, da das analogische Denken in der Tat Formen annehmen kann, die allen Gesetzen der Logik und des gesunden Menschenverstandes widersprechen. Eine solche Form liegt laut Hanegraaff vor, wenn Namen und Symbole in bestimmten Zweigen der Magie nicht nur als Zeichen für Wesen verstanden werden, sondern als Verkörperungen dieser Wesen. Die elaborierten Tabellen in Agrippas »okkulter Philosophie«, die Zahlen, Talismanbilder und Engelshierarchien miteinander durch Korrespondenzen verknüpfen, hält Hanegraaff für ein Beispiel eines solch überschießenden analogischen Denkens. Auch die Paradoxa in der kabbalistischen Spekulation, die coincidentia oppositorum des Nicolaus von Kues, oder die Neigung des Paracelsus, Mikroskosmos und Makrokosmos vielfach ineinander zu verspiegeln, führt er als Beispiele an. (Über den Realitätsgehalt solcher Analogien kann man natürlich unterschiedlicher Meinung sein).

Aber die genannten »überschießenden« Ideen wurden laut Hanegraaff nicht von »irgendwelchen unbedeutenden Leuten« entwickelt, sondern von außerordentlich gebildeten Denkern. Sie einfach als Beispiele für Irrationalität, primitives Denken und Narrheit zu verwerfen, mache daher keinen Sinn. Die betreffenden Denker können auch nicht als Angehörige einer okkulten Subkultur marginalisiert werden, denn das waren sie nicht. Vielmehr sind sie Repräsentanten von Denktraditionen, die uns heute fremd geworden sind, von Formen des Denkens, die andere Prioritäten setzten, als die heutige Wissenschaft und Philosophie. Es gibt laut Hanegraaff keinen Grund, die frühmodernen Denkformen als »okkult« zu verunglimpfen, außer unsere Ignoranz. Wenn wir diese Denkformen nicht mehr verstehen, dann nur, weil wir die Fähigkeit verloren haben, ihre Sprache zu verstehen.

4. Alchemie zwischen Wissenschaft und Religion

Die Alchemie war in ihrer Geschichte stets mit Hermes verbunden. Mit dem Aufschwung der Naturwissenschaften im 16. und 17. Jahrhundert gewann diese alte Wissenschaft, die auf einem Studium der Wandlungsprozesse der Natur beruhte, zunehmende Bedeutung. Dass die Alchemie eine eigenständige esoterische Strömung darstellte, kommt auch in Colbergs Doppelnamen zum Ausdruck, der vom »platonisch-hermetischen Christentum« sprach. Der Begriff »Platonismus« deutete auf die Erzählung von der alten Weisheit und »Hermetik« auf die chymische Naturphilosophie, die mit Paracelsus, Weigel, Böhme und den Rosenkreuzern verbunden war. Der Sammelbegriff »okkulte Philosophie« leistete der Vermischung dieser beiden Strömungen Vorschub, so dass sie am Ende kaum mehr zu unterscheiden waren. Eine genauere Untersuchung zeigt jedoch laut Hanegraaff, dass die beiden Strömungen höchst unterschiedliche, möglicherweise sogar inkompatible Denkstile repräsentierten.

Während das platonische Paradigma mit der alten Weisheit und Marsilio Ficino verbunden war, konzentrierte sich das alchymische, das durch Paracelsus an Popularität gewann, auf die Umwandlung der Stoffe. Das platonische ging natürlich auf Plato zurück, das alchymische verband aristotelische Naturphilosophie und paracelsische Gedanken. Das erstere beruhte auf einem hierarchischen Denken, das die empirische Realität aus der Sicht metaphysischer Ideen betrachtete, das letztere ging von der empirischen Naturbeobachtung aus und erweiterte diese zu einer Philosophie über die (Welt)-Seele. Für das platonische Denken war die Idee einer universellen Harmonie leitend, eine eher statische Vision des Ganzen, die jedem Teil seinen Platz in der »Kette der Wesen« zuwies, für das alchymische war die Welt ein dynamischer, dramatischer Prozess, der von der ersten Materie ausging und sich durch Wachstum, Entwicklung und Widersprüche zum Ganzen emporarbeitete. Das platonische Paradigma schloss den Gedanken eines Abstiegs oder Falls ein, der erklären sollte, wie sich die ursprüngliche Welt des Lichtes und der Harmonie in eine Welt voll dunkler Stofflichkeit und Ignoranz gewandelt hatte. Das hermetische Paradigma bevorzugte dagegen Bilder des Aufstiegs, der Geburt und des Wachstums, um zu beschreiben, wie eine ursprünglich dunkle Materie sich zum Licht und zum Göttlichen erhoben hatte. Das erstere war konservativ und rückwärts gewandt, da es sich hauptsächlich auf Autoritäten berief, das letztere war offen für Neues, weil es sich vor allem auf unmittelbare persönliche Erfahrung stützte.

Das platonische Paradigma war in der katholischen Kultur der italienischen Renaissance mit ihrer Weisheitserzählung verwurzelt, das hermetische in der deutschsprachigen Tradition der Naturphilosophie und Pansophie des sechzehnten, siebzehnten Jahrhunderts. Im Lauf seiner Entwicklung erweiterte sich das hermetische Paradigma und schloss auch theosophische Spekulationen mit ein.

Oft wurde im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert versucht, diese beiden höchst unterschiedlichen Paradigmen miteinander zu verschmelzen – letzten Endes vergeblich. Die beiden Paradigmen waren auch mit den beiden verfeindeten Religionen verbunden. Das platonische versuchte, die heidnische Weisheit in die Theologie der einen katholischen Kirche zu integrieren, was den Protestanten als Häresie erschien. Das alchemistische dagegen fand bei letzteren freundliche Aufnahme. Die Verbindung von Luthertum und alchemistischem Denkstil brachte die bedeutendsten Innovationen der abendländischen Esoterik nach dem siebzehnten Jahrhundert hervor: das Rosenkreuzertum und die christliche Theosophie Jakob Böhmes. Die Frage, warum gerade die Alchemie für Lutheraner so attraktiv war, ist noch weitgehend unerforscht. Hanegraaff formuliert dennoch eine Hypothese. Der katholischen Erfahrung standen Bilder zerbrochener Harmonie und verlorener Einheit nahe, während die Protestanten sich als dynamische, verändernde Kraft erlebten. Wie in den Wandlungsprozessen der Alchemie, die von Schmerz und Kampf, Geburt und Tod der Elemente bestimmt waren, hatten auch die Protestanten in ihrer jüngsten Geschichte Kampf und Schmerz erlebt, und der einzelne Protestant konnte sich nicht mehr an Autoritäten anlehnen, sondern musste in sich selbst die Antworten auf seine Gewissensnöte finden. Er musste den Weg zu seiner Wiedergeburt in Christus ganz individuell gehen und dieser Weg war von Schmerzen und Konflikten bestimmt. Daher stellten sich die Lutheraner die Rettung der Seele auch nicht platonisch als Befreiung vom Körper vor, sondern stellten die Wiederauferstehung des Körpers in Form eines Geistleibes in den Vordergrund.

Alchemistische Modelle wurden seit dem sechzehnten Jahrhundert vielfach mit religiösen Themen verknüpft. Die Frage ist jedoch, ob die Alchemie selbst immanent religiös oder spirituell ist. Die Diskussionen über diese Frage waren seit dem II. Weltkrieg durch die Interpretation C.G. Jungs bestimmt, der eben dies behauptete. Aber Hanegraaff hält diese Interpretation für falsch. Die Jungsche Spiritualisierung der Alchemie trage wenig zum Verständnis ihrer historischen Verbindung mit der Religion bei, diese müsse anhand der Quellen untersucht werden. An Jung sei zu Recht kritisiert worden, er habe einem alten Denkmodell, das auf völlig anderen Voraussetzungen beruhte, anachronistisch ein modernes psychologisches Schema übergestülpt.

Aber nicht nur vor Jung, sondern auch vor der sogenannten »Konfliktthese« hat sich der Esoterikforscher laut Hanegraaff in Acht zu nehmen. Diese These, die im 19. Jahrhundert entstanden ist und einen fundamentalen Gegensatz zwischen Wissenschaft und Religion postuliert, beruht auf der Reifizierung begrifflicher Kategorien. Seit den 1980er Jahren gilt sie unter Wissenschaftshistorikern als überwunden. Dennoch findet sie sich noch bei neueren Historikern. Der Grund ist, dass diese Historiker einen Kampf nach zwei Fronten führen: sie verteidigen die Wissenschaftlichkeit der Alchemie gegen die Jungsche Spiritualisierung und gegen die alte Form der Wissenschaftsgeschichte, die diese Alchemie als Pseudowissenschaft betrachtete. Zwar hält Hanegraaff die Charakterisierung der Alchemie als frühmoderne Form der Wissenschaft für berechtigt, warnt jedoch davor, sie deswegen der wirklichen Wissenschaft von heute (im Unterschied zur Religion) gleichzusetzen. Das hätte nämlich zur Folge, dass wesentliche religiöse Ingredienzien der Alchemie von ihr abgesondert würden. In letzter Konsequenz wäre man wieder bei einer (krypto-)essentialistischen Auffassung angelangt, nach der die Alchemie zwar manchmal wie Religion aussehe, aber in Wahrheit Wissenschaft sei.

Die neuere Geschichtsforschung betont gegenüber der früheren, die einer modernistischen Agenda verpflichtet war, die Notwendigkeit, die Alchemie aus ihren Quellen zu erforschen und ist sich der Tatsache bewusst, dass die Naturphilosophie des 17. Jahrhunderts religiöse Ideen enthielt. Aber Hanegraaff hält es für möglich, der Zwickmühle zu entkommen, die vor die Wahl zwischen Essentialismus oder Konfliktthese stellt. Man muss nicht okkultistischen oder Jungschen Ideen zustimmen, wenn man die religiösen Elemente in der Alchemie als solche anerkennt. Und wenn man ihren wissenschaftlichen Charakter betont, muss man deswegen nicht ihre religiösen Anteile marginalisieren. Stattdessen kann man, so Hanegraaff, die Alchemie als kulturelles Phänomen betrachten, das aus gewissen Verfahren besteht, die im Laboratorium betrieben und gleichzeitig Gegenstand von Erzählungen philosophischer oder religiöser Art sein können. Dadurch werden Fragen, wie die, ob die Visionen des Zosimos wesentlich für die Alchemie sind oder nicht, gegenstandslos. Die Tatsache, dass sie zusammen mit Beschreibungen technischer Vorgänge im selben Textkorpus auftreten, ist die wirkliche Herausforderung. Zu dieser radikal historischen und anti-eklektischen Behandlung der Quellen gehört die Einsicht, dass die Alchemie eine Tradition »sich vermehrender Texte« ist, die ständig neue Inhalte in sich aufgenommen und sich im Verlauf ihrer langen Geschichte verändert hat und zwar bis in die Gegenwart. Von diesem Gesichtspunkt aus kann auch die Jungsche Interpretation als ein Kapitel der Geschichte der Alchemie verstanden werden.

Wozu führt dieser nicht-eklektizistische Ansatz? Hanegraaff demonstriert dies anhand der »okkulten Qualitäten«. Die Tatsache, dass sie für das menschliche Denken als unzugänglich galten, führte bereits im 13. Jahrhundert zur Vorstellung von höheren Erkenntniskräften, für die sie erreichbar sein sollten: als solche fasste man die »Inspiration« oder die »göttliche Offenbarung« auf. Alchemisten, denen die Umwandlung der Stoffe nicht gelang, reagierten auf ihre Misserfolge mit Theorien über die kryptische Sprache der alten Autoren, die ihre wahren Ansichten absichtlich verschleiert hätten. Wollte man in der Alchemie zu einer sicheren Erkenntnis gelangen, musste man sich der göttlichen Wahrheit beugen, das heißt, der eucharistischen Theologie der Inkarnation und Auferstehung Christi. Deutlich zeigt sich dies in einem Traktat aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, in dem der Autor (Petrus Bonus) von der Alchemie als einer teils natürlichen, teils übernatürlichen Kunst spricht, sowie von einem verborgenen göttlichen Stein, den finden müsse, wer das große Werk vollenden wolle. Dieser Stein, dem laut Petrus Bonus die alten Weisen die Fähigkeit der Prophetie verdankten, ist dem menschlichen Verstand nicht zugänglich, er kann nur durch Inspiration oder Offenbarung gefunden werden.

Solche Vorstellungen waren für hermetische Enthusiasten der Renaissance mit ihrer Kenntnis des »Corpus Hermeticum« höchst attraktiv. Ludovico Lazzarelli und sein Prophet Giovanni da Correggio sahen in Petrus Bonus den Vermittler eines heiligen Geheimnisses und begannen sich Ende des 15. Jahrhunderts aus religiösen und eschatologischen Motiven im Laboratorium mit Alchemie zu beschäftigen. Im Anschluss an den sogenannten Pseudo-Lullus sahen sie das wahre Ziel der philosophischen Alchemisten, der Söhne des Hermes, darin, den Menschen wieder in seinen Zustand vor dem Sündenfall zurückzuversetzen. Lazzarelli hatte bereits in einem Werk über das »Corpus Hermeticum« (»Crater Hermetis«) genau dies als Ziel der Hermetik formuliert: er wollte die Folgen des Falls durch eine äußere Transformation oder eine innere Wiedergeburt rückgängig machen. Solange die historische Existenz des Hermes Trismegistos noch nicht bezweifelt wurde, lag es nahe, ihm zugeschriebene alchemistische Texte religiös oder eschatologisch zu deuten. Lazzarelli versteht daher Alchemie auch als »magia naturalis« (natürliche Magie), die sich mit der Verschmelzung von Körpern beschäftige, während die »magia celestis« (himmlische Magie)auf die Verschmelzung von Körpern und Seelen abziele und die »magia sacerdotalis et divina« (priesterliche und göttliche Magie) auf die Verschmelzung von Seelen. Für Lazzarelli wird die Alchemie zur ersten Stufe einer kosmischen Umwandlung, die wie eine Himmelstreppe zuletzt zum Göttlichen hinaufführt. Über sein eigenes Buch mit alchymischen Rezepturen sagt er, es führe in das Allerheiligste Gottes, indem es zeige, dass der Himmel auf Erden und Gott in allen Dingen gegenwärtig sei.

Lazzarelli und Correggio sind zwar Randfiguren in der Geschichte der Alchemie, sie zeigen aber, wie früh diese in den religiösen Kontext des alten Weisheitsdiskurses aufgenommen wurde. Auch wenn die Alchemie im Werk Ficinos nur eine untergeordnete Rolle spielte, trugen die wenigen Anspielungen, die in seine Lehre vom belebenden Weltgeist (oder auch der Weltseele – das lateinische »spiritus mundi« ist doppeldeutig) eingebettet waren, nach der selbst Steine und Mineralien eine Seele besaßen, bedeutende Früchte bei späteren Alchemisten. Nachdem die Lehre vom Weltgeist mit dem paracelsischen Begriff des »luftigen Nitrit« verbunden war, spielte sie in der alchemistischen und iatrochemischen Literatur des 17. Jahrhunderts eine zentrale Rolle.

Paracelsus und seine Nachfolger waren die Hauptverantwortlichen für die Weiterentwicklung alchemistischer Vorstellungen zur Naturphilosophie oder Pansophie, die religiös und wissenschaftlich gemeint war. Der Beitrag des Paracelsismus zur Geschichte der Medizin, Chemie und Religion ist unbestritten. Die »chemische Philosophie« spielte in den wissenschaftlichen und religiösen Debatten des 17. und 18. Jahrhunderts eine zentrale Rolle. Paracelsus wurde sogar von manchen Anhängern zum Stifter einer alternativen Religion erhoben, mit der die etablierten Kirchen auf Kriegsfuß standen. Als »Theophrastia Sancta« bezeichnet, wurde sie von ihren protestantischen Gegnern unter dem Etikett »Weigelianismus« bekämpft und als solcher wird sie auch in Colbergs »Platonisch-Hermetischem Christentum« abgefertigt.

Aber die Alchemie war für Protestanten auch attraktiv, wie die Werke von Heinrich Khunrath, die »Fama Fraternitatis« der Rosenkreuzer oder die »Chymische Hochzeit« bezeugen. Zwar kritisierte die »Fama« die »verfluchte Kunst« der Goldmacherei, stellte Christian Rosenkreutz aber zugleich als Meister in der Kunst der Umwandlung der Metalle vor und für die »Chymische Hochzeit« sind alchemistische Vorstellungen über Transmutation und die entsprechende Symbolik natürlich zentral. Dasselbe gilt für die theosophischen und kosmologischen Schriften späterer selbsternannter Rosenkreuzer wie Michael Maier und Robert Fludd.

Auch für Jakob Böhmes Theosophie der Reintegration lieferten die Alchemie und Paracelsus grundlegende Sichtweisen. Zwar spielte die Alchemie des Laboratoriums eine sehr unterschiedliche Rolle, aber selbst Böhme, bei dem sie gar nicht vorkommt, versteht die chymische Transmutation nicht rein metaphorisch als Bild für geistige Vorgänge. Zur platonischen Überbetonung des Ideellen stellte die Inkarnation und das organische Leben mit seinen Wachstumsprozessen bei Böhme ein bedeutendes Gegengewicht dar. Gott selbst wurde aus dem Ungrund als leibliches Wesen geboren, das aus Zorn und Liebe bestand. Böhmes Gott trat als vollkommener Körper aus Licht ins Dasein, als ewige Natur, in der die Liebe die zerstörerische Kraft des Zornes bändigte. Aber durch Luzifer, der als Wesen des Lichtes in die Finsternis gefallen war, fiel auch die ewige Natur in Raum und Zeit auseinander, in unsere Welt des Streits und des Leidens, in der die diabolisch gewordene Finsternis des Zorns sich in einem Kampf auf Leben und Tod mit der göttlichen Liebe befindet. In diese aus Licht und Finsternis gemischte Welt wird der Mensch als sterbliches Wesen geboren. Aber in ihm kann wiederum Christus als Körper des Lichtes geboren werden. Die Reintegration führt zur Erlösung des einzelnen Menschen und der gesamten Natur, der gefallene Leib Gottes wird wieder in eine ewige Welt des Lichtes umgewandelt. Die Theosophie Böhmes ist deutlich anti-idealistisch und auf die Inkarnation hin orientiert, ihr leibfeindlichen Dualismus vorzuwerfen, ist falsch. Böhmes Theosophie lehrt laut Pierre Deghaye, dass »der Teufel ein Idealist ist«, dass er es ist, der den Leib verneint. Natürlich, dies sei hier seitens des Rezensenten ergänzt, spricht Deghaye nur von Luzifer, nicht von Ahriman.

Die Auffassung von der Natur als einem spirituellen Leib, der in göttliches Licht umgewandelt werden kann, war für Denker des 18. Jahrhunderts, die den Rationalismus der Aufklärung als dualistische Häresie ablehnten, die leere Abstraktionen des Verstandes in einer ebenso leeren Welt bewegter Materie herumirren ließ, äußerst anziehend.

Ein nicht-eklektizistisches Verständnis der Alchemie als kulturelles und historisches Phänomen, wird sowohl ihrer wissenschaftlichen als auch ihrer religiösen Dimension gerecht, ohne beide gegeneinander auszuspielen. Aber auch dieser Erklärungsansatz hat seinen Preis. Aus heutiger Sicht scheint klar, dass die Böhmesche Theosophie in alchymischen Ideen wurzelte, aber zu Böhmes Zeiten war dies keineswegs ersichtlich, ebensowenig, wie Böhmes Theosophie nach seinem Selbstverständnis mit Wissenschaft verbunden war. Sie firmierten als religiöse Ideen unter anderen Namen und als sie aus dem Diskurs der Intellektuellen ausgesondert wurden, geschah dies auf dem Feld der Philosophiegeschichte.

Im Gegensatz dazu fand die Ausschließung der Alchemie im Lauf des 18. Jahrhunderts auf dem Feld der Wissenschaft statt. Um dieser Geschichte nachzugehen, reicht es, das Schicksal der alchemistischen Ideen im 17. Jahrhundert zu verfolgen. Damals wurden Chemie und Alchemie noch als Synonyme verwendet, so dass es zu dieser Zeit unmöglich war, die heutigen Grenzlinien zu ziehen. Die Frage ist, wie es zu dieser polemischen Grenzziehung kam und warum sie so erfolgreich war. Erstaunlicherweise haben nur wenige Historiker versucht, diese Frage zu beantworten.

Historiker der Alchemie stehen meist auf Seiten der Alchemie, wenn sie ihre Aussonderung aus der »Wissenschaft« schildern. In der Regel sehen sie die Ursache für diese Ausgrenzung in der Heraufkunft der Experimentalwissenschaften. Aber das ganze Argument ist falsch. Denn, so Hanegraaff scharfsinnig, wenn die Chemie nicht getrennt von der Alchemie existierte, nicht einmal terminologisch, dann gab es auch nichts, was hätte ausgesondert werden können. Da der Dualismus Chemie/Alchemie nach dem Modell des Dualismus Magie/Wissenschaft geformt ist, kann man jenen Gegensatz auch nicht durch diesen erklären, da letzterer selbst eine Fiktion ist.

Einen Hinweis zur Lösung der Frage findet Hanegraaff bei Allen G. Debus, der 1985 einen Streit zwischen einem Paracelsisten und seinem Gegner kommentierte. Während die französischen Lehrbücher der Chemie im 17. Jahrhundert kaum Wert auf die Geschichte ihrer Disziplin legten, kennzeichnete die Paracelsisten das Interesse, sich selbst als Erben einer Tradition darzustellen, die bis auf Hermes Trismegistos oder sogar auf Adam zurückging. Terminologisch gab es im 17. und 18. Jahrhundert keinen erkennbaren Unterschied zwischen »Chemikern« und »Alchemisten«, aber es zeichnete sich ein unterschiedlicher Blick auf das Forschungsgebiet ab. Auf der einen Seite standen »Chemiker«, die sich als Angehörige einer alten Tradition verstanden, die versuchten, durch Studium von Texten und durch Experimente im Laboratorium vergessene Geheimnisse wieder zu entdecken, und auf der anderen solche, die sich in erster Linie als experimentierende Wissenschaftler verstanden und auf die Auseinandersetzung mit der Geschichte ihrer Disziplin verzichteten. Beide betrieben Wissenschaft, aber sie blickten anders auf ihre Tätigkeit und wurden anders wahrgenommen. Die Differenz erinnert an die »zwei Kulturen« von C.P. Snow: die Geisteswissenschaften sind vornehmlich mit Geschichte und Interpretation von Texten befasst, die Naturwissenschaften mit experimentellen Studien an der Natur.

Die erste Gruppe wurde durch den Niedergang der Erzählung von der alten Weisheit diskreditiert und allmählich mit dem Attribut »Alchemisten« ins Abseits gedrängt, während sich aus der anderen allmählich die heutigen »Chemiker« entwickelten. Die letztere Gruppe nahm die Grundannahmen der ersteren zunehmend als Hindernis für den Erkenntnisfortschritt wahr, vor allem ihre Auffassung vom Experiment, das den Zweck hatte, zu prüfen, ob sie die heilige Kunst verstanden hatten. Wenn das Experiment schief ging, musste man von vorne anfangen. Während der erfolgreiche Ausgang die Theorie bestätigte, konnte ein Misserfolg sie nicht wiederlegen. Da das Experiment die Theorie lediglich illustrierte, konnte es die Richtigkeit der Theorie nie in Frage stellen. Die Alten hatten immer recht, was auch immer im Laboratorium geschah.

Ein Licht auf diese allmähliche Differenzierung wirft auch der Diskurs über das Geheimnis und die Geheimhaltung. Dessen Bedeutung hatte seit Pico della Mirandola in den Auseinandersetzungen über die alte Weisheit zugenommen und wirkte sich auch auf die Alchemie aus, die ein Teil dieser Auseinandersetzungen war. Seit dem fünfzehnten Jahrhundert hatten die Alchemisten begonnen, auch alte Monumente, Mythologien und biblische Geschichten als alchymische Allegorien zu interpretieren. Die Alten hatten, so die Annahme, ihre Geheimnisse auf vielerlei Arten verschleiert. Zum Gebrauch von Symbolen und mythologischen Decknamen für chemische Rezepturen kam eine umfangreiche alchemistische Hermeneutik von Architektur und Mythologie hinzu. Des weiteren entwickelten die alchemistischen Techniken der Verschleierung in der Barockzeit eine völlig neue Dynamik, und nahmen, zum Teil unter dem Einfluss der Kabbala, die Gestalt eines eigenständigen Diskurses über Geheimnisse an, der sich vom ursprünglichen Zweck der Codierung chemischer Rezepturen völlig loslöste. Indem die Alchemisten den »obskuren Stil der Philosophen« übernahmen, identifizierten sie sich mit der altehrwürdigen Weisheitstradition. Manche Autoren der Barockzeit entwickelten die Verschleierung und Mystifizierung, mit der sie ihre Leser in ein Labyrinth von Rätseln und Sackgassen führten, zu einer hohen Kunst und ließen sie am Ende ohne Antworten auf ihre Fragen zurück. Die alchemistische Emblematik und der Diskurs der Geheimnisse wurden zum Selbstzweck.

Der Umgang mit Geheimnissen führte zu zwei unterschiedlichen Textsorten, schon bevor es die Unterscheidung zwischen Alchemie und Chemie gab. Die einen behandelten die Chemie als Versuch, die Geheimnisse der Alten unter den Schleiern von Symbolen und Emblemen auszugraben und sie zugleich durch neue Rätsel wieder zu verschleiern, die anderen benutzten eine klare und einfache Sprache, um von ihnen durchgeführte Experimente zu beschreiben. Die ersteren wurden allmählich der Gattung Alchemie zugeordnet, die letzteren der Gattung Chemie. Mit anderen Worten: auch auf dem Gebiet der Naturwissenschaft war es der alte Weisheitsdiskurs, der sich um die Entdeckung der vergessenen Geheimnisse der Vergangenheit bemühte, und nicht, wie of behauptet, die angebliche Irrationalität, Unwissenschaftlichkeit, empirische Fehlerhaftigkeit oder der Aberglaube, der dazu führte, dass bestimmte Forschungsrichtungen dem »Anderen« zugewiesen wurden, über das keine akzeptablen Diskurse geführt werden konnten.

Was von der Akademie als »falsche Wissenschaft« zurückgewiesen wurde, übte dennoch weiterhin auf ein Publikum eine große Faszination aus, dem es nicht um Wissenschaft zu tun war. Diese Faszination führt zu einem weiteren Hauptaspekt der abendländischen Esoterik: der Organisation des Geheimnisses.

5. Die Organisation des Geheimnisses

Wie die Anhänger der alten Weisheit in der Renaissance waren auch die Alchemisten überzeugt, sie müssten die erhabene Weisheit wieder finden, die unter einem Schleier von Bildern und Symbolen verborgen und nahezu vergessen war. Beide betrachteten Hermes Trismegistos als Urheber des verlorenen Wissens und beide glaubten, dieses sei von inspirierten Weisen oder alchymischen Adepten in geheimer Form von einer Generation zur anderen weiter gegeben worden.

Aber vor dem 17. Jahrhundert scheint – laut Hanegraaff – niemand auf die Idee gekommen zu sein, dass die Übermittlung des geheimes Wissens einer gewissen äußeren Organisation bedürfe. Erst in der »Fama Fraternitatis« der Rosenkreuzer taucht 1614 die Idee einer »geheimen Bruderschaft« auf, der genau diese Funktion zugeschrieben wird. Die »Fama« schrieb den »okkulten Wissenschaften« die Aufgabe zu, die Geheimnisse der Natur zu erforschen. Während die Legende der Rosenkreuzer sich auf den Flügeln des Paracelsismus entfaltete, verband sie sich mit den Traditionen der Alchemie. Diese enthielt bereits wunderbare Wandlungserzählungen über geistige Wiedergeburt und Regeneration, die sowohl auf den einzelnen Menschen als auch auf die Gesellschaft angewandt werden konnten. Die Idee der hermetischen Adepten, die ihre Geheimnisse durch eine symbolische Sprache mitteilten, passte wie angegossen auf eine geheime Bruderschaft, die ebendies mit ihrigen eigenen Überlieferungen tat. Von hier war es nicht mehr weit bis zu der Vorstellung, die Mitglieder dieser unsichtbaren Bruderschaft besäßen aufgrund ihrer Meisterschaft in den »okkulten Wissenschaften« außerordentliche magische Kräfte.

Vor dem Hintergrund der wachsenden Spannung zwischen Protestanten und Katholiken, die sich schließlich im 30jährigen Krieg entluden, nahmen die Rosenkreuzer in den Augen mancher Autoren die Gestalt einer protestantischen Verschwörergruppe an, die im Geheimen gegen den Jesuitenorden arbeitete. Noch immer ist die Frage unbeantwortet, wann und wie genau die Legende der Rosenkreuzer zur Begründung von rosenkreuzerischen Organisationen führte, die nach dem Modell dieser Legende aufgebaut waren und ob die Bruderschaft nicht schon zuvor in irgendeiner Form bestanden hatte. Mit der Gründung der Freimaurerei wurde die Idee einer geheimen Bruderschaft jedenfalls historisch nachweisbare Realität.

Die Frage ist jedoch, wann entstand die Freimaurerei? Die traditionelle Erzählung über den Ursprung der Freimaurerei, die Ende der 1980er Jahre gründlich dekonstruiert wurde, wird immer noch gerne erzählt. Danach soll sie als rationalistische und humanitäre Organisation 1717 in Gestalt der Großloge von England begründet worden sein. In Frankreich soll sie ab 1740 durch die Einführung von Hochgraden mit esoterischen Inhalten, die der ursprünglichen Freimaurerei fremd waren, eine Wende zum »Irrationalen« genommen haben. David Stevenson hat 1988 in einer bahnbrechenden Studie nachgewiesen, dass das Jahr 1717 für die Geschichte der Freimaurerei, die bis 1600 zurückverfolgt werden kann, nahezu irrelevant ist (David Stevenson, »The Origins of Freemasonry: Scotland’s Century, 1590-1710«.)

Die Vorgeschichte der Freimaurerei reicht bis ins Mittelalter zurück. Die Gilden der Maurer, deren vornehmste Aufgabe im Bau von Kathedralen bestand, waren damals lokal organisiert und die Maurer reisten von Ort zu Ort ihrer Arbeit nach. Sie gründeten Treffpunkte, sogenannte Logen, in denen sie essen und schlafen konnten. Um festzustellen, ob Fremde ausgebildete Mitglieder der Gilde waren, wurden Erkennungsrituale entwickelt. Bevor sie zur Loge zugelassen werden konnten, wurden die Neuankömmlinge durch praktische Aufgabenstellungen, Fragen zur Legende der Gilde oder mit Hilfe von Passworten geprüft. Nach der Zulassung mussten sie schwören, den Regeln des Handwerks zu folgen und seine Geheimnisse zu wahren.

Die Legende des Maurertums ist für die Geschichte der Freimaurerei von Bedeutung. Sie ist in verschiedenen Fassungen in der sogenannten »Alten Konstitution« enthalten. Hier wird die Maurerei mit der Geometrie, einer der sieben mittelalterlichen freien Künste gleichgesetzt. Diese wurde angeblich von Jabal, einem der Söhne Lamechs erfunden. Dieser hatte die Geheimnisse der Kunst auf einer Säule aufgetragen, welche die Sintflut überstand. Hermarius, ein Enkel des Moses, der in Wahrheit Hermes Trismegistos war, hatte sie wiederentdeckt. Durch ihn verbreitete sich die Kunst auf der ganzen Welt. Abraham und sein Partner Euklid brachten sie den Ägyptern bei, von hier kam sie ins Heilige Land, wo David und Salomo den Tempel von Jerusalem erbauten. Von hier aus verbreitete sie sich weiter und gelangte dank St. Alban auch nach England. Auch andere Gilden besaßen solche Ursprungslegenden, aber die der Maurer drückt besonders den berechtigten Stolz auf eine Kunst aus, der das Mittelalter seine großen Kathedralen verdankte.

Ende des 17. Jahrhunderts verfasste ein schottischer Meister namens William Shaw neue Statuten, die alle Elemente enthielten, die sich auch noch heute in der Freimaurerei finden. Die Symbolik der Freimaurerei entlehnte ihre Sprache aus der hermetischen Philosophie der Renaissance, wie schon Frances Yates 1964 in ihrem Buch über Giordano Bruno feststellte. Dadurch lag ihre Verknüpfung mit den Rosenkreuzern und der Alchemie nahe, besonders als während des 17. Jahrhunderts die Aufnahme von nicht-operativen, also nicht als Maurer tätigen Brüdern, begann. Berühmt ist der Fall von Elias Ashmole, der 1646 initiiert wurde. Ashmole war Antiquar, Autor alchemistischer Bücher und Anhänger einer großen Synthese der okkulten Wissenschaften. Es war nur logisch, dass Ashmole als Alchemist um Aufnahme in die Bruderschaft begehrte, denn wenn die Alchemisten ihre Geheimnisse in der Architektur der Kathedralen verborgen hatten, wie die Legende von Nicolas Flamel behauptete, dann kannten die Maurer möglicherweise diese Geheimnisse.

Die Freimaurerei war bei weitem nicht jene rationalistische und humanistische Vereinigung, als die sie die traditionelle Erzählung ausgibt. Noch Anfang des 18. Jahrhunderts gehörten ihr Rosenkreuzer und Adepten an, die den Orden auf »Hermes Trismegistos, den manche auch Moses nennen«, zurückführten. Viele hielten die Freimaurer daher für Alchemisten. Das ist nicht verwunderlich. Wie auch die Bruderschaft der Rosenkreuzer war der Freimaurerorden streng christlich (Juden, Muslime und Heiden waren ausgeschlossen, Eide wurden auf die Bibel geschworen, Toleranz galt nur für die diversen christlichen Sekten). Freimaurerei und Alchemie wurzelten in mittelalterlichen Künsten und verfügten über ähnliche Ursprungslegenden, die Hermes und Ägypten eine zentrale Rolle zusprachen. Da man die Rosenkreuzer als Hüter des alten geheimen Wissens, besonders der Alchemie, betrachtete, lag es nahe, solche Kenntnisse auch den Freimaurern zuzuschreiben. Und wie die Alchemisten suchten die Freimaurer nach einem verlorengegangenen Wissen, dem »verlorenen Meisterwort« oder dem Geheimnis in dessen Besitz sich Hiram Abiff, der Erbauer des salomonischen Tempels befunden haben sollte. Für viele Uneingeweihte lag daher der Schluss nahe, dass die Freimaurer dasselbe Geheimnis bewahrten, wie die Rosenkreuzer.

Aus diesem Grund ist die Explosion der Hochgrade mit ihren Anspielungen auf okkulte Wissenschaften seit 1740 oder die Alchemie der Gold- und Rosenkreuzer auch keine Verirrung innerhalb der Freimaurerei, sondern eine logische Weiterentwicklung der alten maurerischen Traditionen. Wenn es eine Abweichung von diesen alten Traditionen gab, dann so Hanegraaff, war das die rationalistische, humanistische und deistische Richtung, die die englische Maurerei zu beherrschen begann. Ebenso wie die moderne Chemie sich konstituierte, indem sie Teile ihrer eigenen Geschichte von sich abtrennte, entstand auch die moderne Freimaurerei, indem sie einen Teil ihrer Tradition von sich abspaltete. Bei der ersteren war es die Alchemie, bei der letzteren die Idee der »okkulten Bruderschaft«. Dieser Abspaltungsprozess lässt sich bis auf die Konstitution von Anderson aus dem Jahr 1723 zurückverfolgen, aus der alle Erwähnungen von Hermes Trismegistos gestrichen sind und nur die Bibel als Referenz übrigblieb. Moses trat nun an die Stelle der Ägypter. Die englische Maurerei benötigte zwar weiterhin eine altehrwürdige Legende, hielt aber die hermetische Tradition für überflüssig.

Nachdem erst einmal aus der Legende des Rosenkreuzertums reale initiatorische Organisationen wie die Freimaurerei entstanden waren, konnte deren Existenz in die Vergangenheit zurückprojiziert werden – vorausgesetzt, man geht nicht davon aus, dass die Ursprungslegenden nicht doch irgendeinen historischen Kern enthalten. Hanegraaff jedenfalls geht davon aus, dass die Geschichten der alten Weisheit nun im Sinne der Idee der geheimen Bruderschaften umgeschrieben wurden. Und er hält diesen Vorgang für äußerst bedeutsam. Denn nicht einmal die extremen Gegner des Heidentums, die an eine häretische, vom Teufel inspirierte Gegentradition glaubten, hatten sich vorgestellt, die alte Weisheit sei durch geheime Untergrundorganisationen tradiert worden. Die politischen Implikationen dieser Idee waren enorm: auf einmal waren »okkulte«, geheime Verschwörungen von Menschen vorstellbar, die auf die Umwälzung der bestehenden Ordnung abzielten. Diese Idee sollte für die Art, wie man im 19. und 20. Jahrhundert das »Okkulte« imaginierte von herausragender Bedeutung sein: aus ihr entstanden politisch verhängnisvolle Verschwörungstheorien über Juden, Freimaurer oder Satanisten bis hin zu Dan Browns »Da Vinci Code«.

Im 18. Jahrhundert wurde der Diskurs über geheime Gesellschaften von Initiierten, die hinter den Kulissen der Geschichte ihre eigenen wohlwollenden oder düsteren Absichten verfolgten, zunehmend komplexer. Einige Motive sind für die Geschichte der Esoterik besonders bedeutsam. Zu diesen gehört die Auseinandersetzung über die jüdische Sekte der Essäer. Die ägyptischen Therapeuten wurden fälschlicherweise als ihr Gegenstück identifiziert. Schon Eusebius hatte die Essäer als frühe christliche Mönche gedeutet. Nach der Reformation verteidigten viele katholische Autoren das Mönchstum unter Verweis auf die »christlichen« Essäer, während die Protestanten darauf beharrten, diese seien Juden gewesen. Katholiken erklärten Jesus, Maria, Johannes den Täufer und die Apostel zu Essäern, – eine Identifikation, die bis heute überlebt hat.

Die moderne Phase der Essäerlegende begann mit einem Text von Johann Georg Wachter, der 1707 in einem einflussreichen Text die historisch abenteuerliche Behauptung aufstellte, die Essäer seien Anhänger einer dezidiert natürlichen Theologie auf deistischer Grundlage gewesen, die bis auf das alte Ägypten und die Kabbala zurückgehe. Jesus war nach Wachter ein Essäer und keineswegs von Gott inspiriert, sondern rein menschlicher Erfinder einer neuen Religion. Diese These wurde von Aufklärern wie Voltaire und Friedrich dem Großen aufgegriffen. Der »Essäer Jesus« sollte eine rein deistische Religion begründet haben. So verstanden konnte dieses »ursprüngliche essäische Christentum« von Protestanten und Aufklärern als Waffe gegen dessen Hellenisierung durch die katholische Kirche benutzt werden. 1792 formulierte ein Autor, das Christentum sei reiner Essäismus gewesen, bis zu dem Zeitpunkt, als Paulus mit der Heidenmission begann. Die Vorstellung der Essäer als einer Bruderschaft mit einer vernünftigen, deistischen Religion machte sie für die englischen Freimaurer attraktiv. Schon 1730 wurden sie als Freimaurer »avant la lettre« beschrieben, bald auch als die »wahren« Freimaurer. Aber auch Aufklärer, die keine Freimaurer waren, begannen die Essäer als geheime Bruderschaft zu betrachten, welche die Ideale der Aufklärung vertreten und überall auf der Welt ihre Spuren hinterlassen hatte. Manche Theologen modellierten Ende des 18. Jahrhunderts das Bild der Essäer exakt nach dem Vorbild der zeitgenössischen Freimaurerei, als geheime Bruderschaft mit Passworten, Prüfungsritualen, Einweihungsgraden und weltweiter Verbreitung.

Die Essäer wurden zu Erben der alten Traditionen des orientalisierten Platonismus und mit den Mysterienreligionen der Antike in Verbindung gebracht. Für Freimaurer war der Pythagoräismus wegen der Geometrie von besonderem Interesse. Aber um die Freimaurerei auf antike initiatische Orden zurückführen zu können, musste noch rund ein Jahrtausend überbrückt werden. Hier kamen die Tempelritter ins Spiel.

Da der salomonische Tempel in der maurerischen Symbolik eine zentrale Rolle spielte, lag eine Verknüpfung der Maurerei mit den Tempelrittern nahe. 1736 stellte Andrew Michael Ramsay die Kreuzritter als Vorfahren der Freimaurer dar. Schon vor 1750 führte diese Verknüpfung zur Gründung eines Templerhochgrades, des »Ordens der sublimen auserwählten Ritter«, auf den ein ganzes System von Templermaurerei, die »Strikte Observanz«, folgte, die in Deutschland zwischen 1750 und 1770 den Ton angab. Wer zum inneren Zirkel zugelassen wurde, erfuhr, dass die Tempelritter in der Freimaurerei überlebt hatten und von »unbekannten Oberen« gelenkt wurden. Aus dieser maurerischen Tradition entstanden nichtmaurerische Neutemplervereinigungen, die bis heute existieren.

Die Templer, so die Legende, kamen im Heiligen Land mit geheimen essäischen und pythagoräischen Traditionen in Kontakt. Als Philipp IV. den Templerorden aufrieb, rettete der letzte Großmeister Jacques de Molay dessen Geheimnisse vor dem Untergang. Sie gelangten schließlich nach Schottland, ins Ursprungsland der Maurerei. Seither hatte immer eine ununterbrochene Folge von Großmeistern existiert, auch wenn ihre Namen und Aufenthaltsorte den Uneingeweihten verborgen geblieben waren. Die Zeit war noch nicht gekommen, um die Geheimnisse des Ordens zu enthüllen. Diese Legende, die 1760 das erste Mal auftauchte, enthält alle Elemente einer Erzählung, die in »okkultistischen« Kreisen bis zum heutigen Tag aufrecht erhalten wird. Es handelt sich um eine Variante der Erzählung von der alten Weisheit, die aus dem alten Orient kam. Die Essäer hatten sie aus pythagoräischen Quellen im Heiligen Land entgegengenommen, von hier hatten die Templer sie nach Schottland gebracht. Von dieser Legende einer Verbindung der Pythagoräer über die Essäer und die Templer zu den Freimaurern ging eine sich uferlos vermehrende Zahl von historischen Fantasien und Verschwörungstheorien über geheime Netzwerke und Gesellschaften aus, die das letzte Geheimnis suchen oder in dessen Besitz sind.

Bedauerlicherweise, so Hanegraaff, ist dieses Geheimnis bis heute geheim geblieben. Aber schon sehr früh glaubte man, es habe mit der Alchemie zu tun. Daher auch der legendäre Reichtum der Templer: sie hatten den Stein der Weisen und die Kunst des Goldmachens entdeckt. Daher das starke Interesse an Alchemie bei den Gold- und Rosenkreuzern im 18. Jahrhundert.

Aber das Geheimnis der Alchemie wurde auch religiös interpretiert. Dann bedeutete es eine spirituelle Transformation, die zu einer höheren Erkenntnis führte. Diese christlich-theosophische Deutung führte zur Gründung einer Vielzahl neuer esoterischer und okkulter Organisationen, die das Ziel einer spirituellen Entwicklung verfolgten. Als im 19. Jahrhundert Staat und Kirche getrennt wurden, bildeten diese Organisationen neue religiöse Bewegungen, die in Konkurrenz zu den Kirchen traten. Esoteriker und Okkultisten, die diesem kultischen Milieu angehörten, entwickelten ihre eigenen Ursprungserzählungen.

Gleichzeitig entstand aus der Mythologie der geheimen Gesellschaften ein neues Genre von Verschwörungsliteratur mit politischer Ausrichtung. Für manche stellte die Ankündigung, das geheime Wissen der klandestinen Orden werde zu einer großen gesellschaftlichen und kulturellen Reform führen, eine Bedrohung dar. Abbé Barruel behauptete in seiner »Bibel der geheimen Gesellschaften«, den »Mémoires pour servir à l’histoire du Jacobinisme« am Ende des 18. Jahrhunderts, diese Bedrohung sei mit der französischen Revolution zur historischen Tatsache geworden. Seither haben immer wieder Konservative nach dem Vorbild Barruels die Moderne und die Demokratie als Ergebnis einer dämonischen Verschwörung von Untergrundorganisationen interpretiert. Auch dies ist ein wesentlicher Aspekt der Art, wie »das Okkulte« in der Moderne imaginiert wurde.

Das Konzept der geheimen Organisationen fasst Hanegraaff als drittes Paradigma auf, das um 1700 entstanden ist, um die Existenz des Religiösen und Esoterischen in der abendländischen Welt nach der Aufklärung theoretisch zu bewältigen. Das erste Paradigma war das religionistische, das von einer nicht weiter reduzierbaren, unmittelbaren persönlichen Erfahrung des Heiligen ausging. Das zweite war das Aufklärungsparadigma, das dieses Heilige aufgrund des gesunden Menschenverstandes verwarf. Obwohl beide weder historisch noch empirisch sind, waren sie doch in der akademischen Welt erfolgreich: das aufklärerische seit dem 19. Jahrhundert und das religionistische in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Das dritte nun existiert in zwei Varianten: einer positiven, nach der eine verborgene Kette von Adepten die wahre Weisheit durch die Jahrtausende bewahrt hat, und einer negativen, nach der dunkle, dämonische Bruderschaften durch die Jahrtausende hindurch gegen die bestehende gesellschaftliche und religiöse Ordnung konspiriert haben.

Nimmt man das durch die historische Forschung diskreditierte Gegensatzpaar der apologetischen Erzählung von der alten Weisheit und der anti-apologetischen Erzählung des Protestantismus hinzu, hat man es mit sechs Alternativen zu tun, sich mit dem heidnischen Erbe des Altertums, seiner Beziehung zum Christentum und überhaupt mit der Existenz des »Esoterischen« im Abendland auseinanderzusetzen. Alle spielten in der Geschichte der abendländischen Esoterik seit dem 18. Jahrhundert eine Rolle. Sie wirkten sich in unterschiedlichen Kombinationen auf die Art aus, wie »das Okkulte« bis heute im Westen »imaginiert« wurde. In den folgenden fünf Unterkapiteln geht Hanegraaff dem Einfluss dieser unterschiedlichen Erzählungen auf Populärliteratur und wissenschaftliche Forschung nach.

6. Der okkulte Marktplatz

Aufgrund des Niedergangs der Universitäten Mitte des 17. Jahrhunderts gingen die öffentlichen Bildungsaufgaben zunehmend auf private Organisationen über, die sich an den Bedürfnissen des Marktes orientierten. Am Ende des 17. Jahrhunderts erlebte Europa eine Explosion von Druckerzeugnissen, die im Dienste der Bildung und Aufklärung standen. Zu dieser gehörte auch eine »Manie« der Lexika und Enzyklopädien, die das Publikum bilden und belehren wollten und auf ihre Weise zur Umsetzung der Aufklärungsagenda beitrugen. Dazu kam eine Fülle von gelehrten Zeitschriften, die eine noch bedeutendere Funktion bei der Verbreitung der Aufklärungsideen übernahmen.

Aber die Medienrevolution wirkte sich nicht nur zugunsten der Aufklärungsagenda aus, denn zu den Bedürfnissen des Marktes gehörte auch ein fortbestehendes, ja wachsendes Interesse an esoterischen Themen. Entgegen dem verbreiteten Bild vom Jahrhundert der Aufklärung war Esoterik in allen erdenklichen Formen im 18. Jahrhundert außerordentlich populär. Diese Popularität gipfelte in einer gewaltigen Welle des Illuminismus und Mesmerismus am Ende des 18. Jahrhunderts. Die Nachfrage nach okkulter Literatur setzte sich im 19. Jahrhundert fort. Aber die Autoren, die dieser Nachfrage entsprachen, waren keine Akademiker oder professionellen Intellektuellen mehr, sondern überwiegend Amateurgelehrte und Autodidakten. Zur Selbstverständnis der Gelehrten und Akademiker gehörte es zunehmend, all diese Traditionen aufs schärfste zu verurteilen, als ein Gebiet, das jenseits jeder ernsthaften Diskussion lag. So wie die frühe Kirche die Häretiker benötigte, um ihre orthodoxe Identität zu definieren, und die Protestanten den heidnischen (bzw. katholischen) Gegner, von dem sie sich abgrenzen konnten, so schuf die entstehende akademische Orthodoxie ein reifiziertes »Anderes«, das ihren eigenen Bedürfnissen nach Selbstdefinition entsprach. Die Aufklärer schufen als ihr dunkles Gegenbild den »irrationalen Aberglauben«, der auf Unwissenheit, Leichtgläubigkeit, Vorurteil und schlichter Dummheit beruhte, die Chemiker die Alchemie, die Astronomen die Astrologie, und die Wissenschaftler im allgemeinen die Magie und okkulte Philosophie. So entstand die Kategorie des »Okkulten« als »intellektueller Kehrichthaufen« für verworfenes, zurückgewiesenes Wissen und diese Kategorie hat die Funktion, der Akademie als das radikale »Andere« zu dienen, bis zum heutigen Tag beibehalten.

Die Vorherrschaft von Amateuren im 18. und 19. Jahrhundert wirkte sich nachteilig auf die Qualität der Forschung aus und ließ das Gebiet in den Augen der Akademiker noch unattraktiver erscheinen. Daraus ergab sich ein abwärts führender Teufelskreis: je geringer die Qualität der Druckerzeugnisse, um so geringer das Interesse der Akademiker und je weniger diese über das Gebiet wussten, um so mehr tummelten sich darin die Amateure. Ende des 19. Jahrhunderts war es kaum mehr möglich, irgendwelche verlässlichen Informationen über die Beschaffenheit, die historische Entwicklung oder die kulturelle Bedeutung der hermetischen, magischen oder okkulten Ideen und Traditionen zu erhalten, was die Akademiker nur noch mehr dazu veranlasste, stolz auf ihre Ignoranz zu sein.

7. Literarische Fiktionen

Eine nicht unerhebliche Rolle spielte bei dieser Entwicklung laut Hanegraaff auch die fiktive Literatur. Als zwei herausragende, äußerst einflussreiche Beispiele behandelt er den »Grafen Gabalis«, den der Salongeistliche und Libertin de Villard verfasste und Bulwer-Lyttons Roman »Zanoni«. Das Buch de Villards erschien 1670. Sein Titel spielt auf die »kabbalistische Kunst« des Paracelsus an und handelt von geheimen Gesellschaften, in denen sich Menschen aus allen Gesellschaftsschichten mit Interesse für das Okkulte zusammenfinden. Laut de Villard verfolgt die okkulte Philosophie weitreichende Ziele. Man soll durch sie zum Herrn der Natur werden, die Elemente beherrschen, mit höheren Intelligenzen kommunizieren, Dämonen lenken, Riesen erzeugen, neue Welten erschaffen, mit Gott reden und die Cherubim zu seinen Dienern machen können. Die Hauptfigur, Graf Gabalis, ist ein Adept von hohen Gnaden. Er verspricht dem alter ego des Autors, Einweihung in die hohen Mysterien, vorausgesetzt, dieser führe ein enthaltsames Leben. Dieses Ansinnen erscheint dem Libertin, der nach Einweihung sucht, nicht sonderlich attraktiv. Aber es gibt einen Ausweg: denn die Elementarwesen, die er durch die Einweihung kennenlernen wird, tragen ein großes Verlangen in sich, mit Menschen sexuell zu verkehren. Auf diesem Wege erlangen sie, was ihnen fehlt: eine unsterbliche Seele.

De Villars greift bei seiner Erzählung über die Elementarwesen laut Hanegraaff auf alte Traditionen zurück, die über Knorr von Rosenroth, Trithemius und Psellus bis zu Proklos reichen, besonders aber auf einen pseudo-paracelsischen Text über die »Nymphen, Sylphen, Pygmäen, Salamander und andere Geister«. Die Weisen müssen also auf den Verkehr mit menschlichen Frauen verzichten, dafür stehen ihnen die weiblichen Elementargeister, die viel schöner als die menschlichen Frauen sind, bereitwillig zur Verfügung. Sie haben einen weiteren Vorteil: sie sind nicht eifersüchtig, so dass Männer mit so vielen verkehren können, als ihnen beliebt. Ein wahres Paradies für einen Libertin! De Villars greift auf eine Vorstellung des Agrippa von Nettesheim zurück, nach welcher der Fall des Menschen im Geschlechtsverkehr bestand. Aber er gibt dieser Vorstellung eine neue Wendung. Adam sündigte, weil er mit einem anderen Menschenwesen statt mit Elementargeistern sexuell verkehrte. Hätte er letzteres getan, wäre er nicht gefallen, sondern hätte Heroen und Riesen voller Macht und Weisheit gezeugt. Große Weise wie Zoroaster gingen laut de Villars aus solchen Ehen zwischen Menschen und Elementargeistern hervor.

Der Libertin hält den Ausführungen des Grafen entgegen, diese Elementargeister seien Dämonen und heidnische Gottheiten, aber der Graf entgegnet, dieses Argument sei eine Lüge der Theologen. Die sogenannten gefallenen Engel waren in Wahrheit Elementargeister und die Giganten, die aus ihrer Ehe mit den Menschen hervorgingen, waren die Heroen und Weisen der Vorzeit. Auch die Geschichten über Hexen, Incubi und Succubi seien nichts als tragische Verzerrungen der Wahrheit. Auch hinter den alten Orakeln seien die Elementarwesen gestanden und diese Orakel gebe es noch heute in Paris. Damit spielt der Autor auf die damals weit verbreiteten Praktiken der Divination an.

Nach Hanegraaffs Auffassung ist das Buch de Villars rein fiktional und satirisch. Aber es enthielt alle wesentlichen Elemente, die das populäre Bild des Okkulten im 18. und 19. Jahrhundert bestimmen sollten: Geheime Bruderschaften, die sich mit Magie, Astrologie und Alchemie beschäftigten und Kontakt zu unsichtbaren Geistwesen unterhielten. Im Kern ging es um das Versprechen einer tiefgehenden spirituellen Erneuerung, durch welche die Folgen des Falles aufgehoben und der ursprüngliche Zustand des Menschen wiederhergestellt werden konnte, mit all den überragenden Fähigkeiten, die den paradiesischen Menschen auszeichneten. Aber was de Villars zu den traditionellen Motiven des Platonismus und Paracelsismus hinzufügte, war eine »elektrisierende erotische Vision« mit weitreichenden historischen Fernwirkungen bis ins 20. Jahrhundert. Er sprach von einer oberflächlich christlichen, in Wahrheit heidnischen Religion, die auf einem im wahren Sinne des Wortes intimen Verkehr mit der Natur beruhte. Indem er die Idee des Verkehrs mit den Wesen der Geistwelt erotisierte, schuf er eine perfekte Gegenerzählung zu den zeitgenössischen Berichten über Hexerei. Die Kirche hatte nach de Villars die Wahrheit verdreht, sie hatte die wohlwollenden Geister der Natur zu bösen Dämonen erklärt und jeden Kontakt mit ihnen als Götzendienerei verboten. Den geschlechtlichen Verkehr zwischen Menschen und Geistwesen (succubi und incubi) hatte sie als schlimmste Form moralischer Verworfenheit verurteilt. Aber der Graf behauptete das genaue Gegenteil: für ihn war der normale Geschlechtsverkehr nur eine fleischliche Aktivität, die den Menschen im Zustand des Falles und der Sünde erhielt, während die Ehe mit den Geistern der Natur der Königsweg zur spirituellen Erneuerung war. Hanegraaff erinnert hier nicht an die kluge Bemerkung von Deghaye, dass der Teufel »Idealist« sei, der den Körper verdamme, aber der Leser mag sich daran erinnern.

Die genaue Intention de Villars ist heute nicht mehr zu ermitteln. Bekannt ist auch nicht, in welchen Beziehungen er zu möglicherweise existierenden Bruderschaften stand. Aber schon die erste englische Übersetzung, die 1680 erschien, stellte einen Zusammenhang zwischen dem Grafen Gabalis und den Rosenkreuzern her, die der Übersetzer von sich aus in den Text einfügte. Ende des 17., Anfang des 18. Jahrhunderts wurde das Motiv der Liebe zwischen Menschen und Elementarwesen von vielen weiteren Autoren aufgegriffen und so blieben Leser nicht aus, die die Erzählungen de Villars und dieser anderen Autoren beim Wort nahmen. Im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts waren viele Okkultisten davon überzeugt, de Villars sei ein Initiierter gewesen, der große Geheimnisse im Mantel der Fiktion verbarg. Ende des 19. Jahrhunderts begannen Okkultisten in der Nachfolge H.P. Blavatskys davon zu berichten, sie hätten ihrerseits Elementarwesen gesehen und einzelne experimentierten mit rituellen Techniken, um solche Wesen zu beschwören oder gar mit ihnen in sexuellen Verkehr zu treten.

Hanegraaff sieht den großen Erfolg der Erzählung de Villars in einer Angst vieler Menschen begründet, die Fortschritte der Wissenschaft trieben das Göttliche aus der Welt aus und ließen den Menschen in einem entzauberten Kosmos zurück. Diese Ängste vermochte de Villars mit seiner Botschaft von der Beseeltheit der Natur, wenn auch auf ironisch gebrochene Weise, zu beschwichtigen. Dasselbe gilt laut Hanegraaff für die wichtigste okkulte Erzählung des 19. Jahrhunderts, für Bulwer-Lyttons »Zanoni.« Bulwer-Lytton propagierte eine »panvitalistische Kosmologie mit direktem Bezug auf Elementarwesen als radikale Alternative zum Gespenst« eines geistentleerten Universums. Bulwer-Lytton knüpfte an die von de Villars begründete literarische Tradition an, aber nun, zweihundert Jahre später, war durch eine »Ironie der Geschichte«, die ursprünglich als »humorvolle Satire« gemeinte Erzählung über die Kabbala zum Paradigma einer »okkulten Philosophie« der Natur geworden, die sich gegen die Entzauberung der Welt richtete.

Hier sei eine kritische Bemerkung erlaubt. Bedauerlicherweise behandelt Hanegraaff das Thema »Elementarwesen« nur im Rahmen einer Exegese »fiktionaler« Literatur. Dass es auch außerhalb fiktionaler Literatur – sofern sie tatsächlich rein fiktional gemeint war, was, wie er selbst zugesteht, nicht mit Sicherheit zu sagen ist, weder im Fall de Villars noch im Fall Bulwer-Lyttons – literarische Traditionen über Elementargeister gab, deutet er nur im Vorbeigehen an. Diese Traditionen hängen zwar mit den von ihm erwähnten Autoren Knorr von Rosenroth, Trithemius von Sponheim, Michael Psellus und Proklos zusammen, sie existieren aber auch unabhängig von ihnen, denn mit den Elementarwesen ist ein ganzer Komplex geistiger Wesenskunde verbunden, von der Dämonologie über die Hierarchienlehre bis zu den alten, heidnischen Göttern, ja dem Göttlichen überhaupt. Wenn sich Hanegraaff im Sinne seines nicht-eklektizistischen Methodenideals nicht nur auf fiktive Literatur beschränkt hätte, wäre ihm der Kurzschluss, das einst Fiktionale sei am Ende des 19. Jahrhunderts als »real« missverstanden worden, nicht so leicht gefallen. Die Frage ist doch, sind die Geister, nur weil sie in fiktionaler Literatur vorkommen, deswegen selbst fiktional? Und sind sie immer fiktional, auch wenn sie in »ernstzunehmender« Literatur, etwa im Rahmen des Diskurses über alte Weisheit in Erscheinung treten? Und ist damit auch die gesamte Esoterik letztlich fiktional, die doch zu einem großen Teil aus solchem Reden über Geister besteht? Ob solche weitreichenden Schlüsse aus Hanegraaffs Äußerungen gezogen werden können, lässt sich aufgrund ihrer Kontextbezogenheit nicht sagen. Aber wenigstens sei darauf hingewiesen, dass die Methode der Diskursanalyse, die Hanegraaff praktiziert, dort an ihre Grenzen stößt, wo die Frage auftaucht, worüber eigentlich diejenigen reden, die am Diskurs beteiligt sind. Reden sie nur über die Diskurse der anderen und zerfällt am Ende die Wirklichkeit im endlosen Gerede über das Gerede dieser anderen? Mit anderen Worten: Beginnt die Esoterikforschung nicht erst dort wirklich interessant zu werden, wo sie die Esoterik nicht nur als Diskurs ernst nimmt, sondern auch in ihrem Erkenntnisanspruch, von etwas zu reden, das wirklich ist?

8. Kompendien des zurückgewiesenen Wissens

Noch auf einem anderen Gebiet äußerte sich laut Hanegraaff der Niveauverlust des marginalisierten Diskurses über Esoterik: seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts erschienen reihenweise populäre Kompendien, Sammelsurien des Monströsen und Absonderlichen, die das Publikum zu belehren und zu erheitern versprachen. Sie brauchen hier nicht behandelt zu werden, zeugen sie doch lediglich davon, dass der »Kehrichthaufen« des zurückgewiesenen Wissens fest installiert war und immer mehr Inhalte in sich aufnahm. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts benutzten solche Kompendien bevorzugt den Titel »okkulte Wissenschaften«. Die meisten dieser Kompendien standen dem Okkultismus skeptisch oder ablehnend gegenüber, manche der Herausgeber verteidigten ihn aber auch. So zum Beispiel der englische Autor Ebenezer Sibly, ein englischer Astrologe, der als Arzt tätig war und versuchte, seine Kenntnis der neueren wissenschaftlichen Forschung mit den okkulten Traditionen in Einklang zu bringen.

Hanegraaff bemerkt zum ganzen Genre, wenn es überhaupt etwas zeige, dann dies, dass das »Okkulte« inzwischen jegliche akademische Vertrauenswürdigkeit verloren hatte und zu einem von Trivialliteratur beherrschten Brachland geworden war, das einzig auf die Unterhaltung der Massen abzielte.

9. Geheime Traditionen und Geschichten hinter der Geschichte

Dieses Unterkapitel behandelt einige Autoren des 19. und 20. Jahrhunderts, die sich mit der Geschichte der Alchemie, der Freimaurerei, der Magie und des Okkultismus beschäftigten. Von Interesse sind hier nur zwei dieser Autoren: Alphonse-Louis Constant, bekannt als Eliphas Lévi und Arthur Edward Waite.

Eliphas Lévi war ein gescheiterter Priesterkandidat und pflegte sein ganzes Leben hindurch eine komplexe Beziehung zur Kirche. Seine sozialrevolutionären und sozialistischen Interessen brachten ihn mehrfach ins Gefängnis, aber 1848 wandte er sich mit ganzer Energie dem Okkultismus zu. Das Ergebnis dieser Beschäftigung war eine Reihe von Büchern, unter anderem die »Geschichte der Magie« die 1860 erschien. In ihm stellt Lévi die Kabbala als Schlüssel zu den Geheimnissen aller Religionen und Philosophien dar. Wie Adolph Franck, der führende akademische Kenner der Kabbala zu seiner Zeit, betrachtete Lévi die Kabbala nicht als genuin jüdischen Besitz. Vielmehr war sie für ihn eine direkte Offenbarung des Logos, der die Welt erschaffen hatte. Originell an seiner Deutung ist, dass er Magie und Kabbala nicht als Gegentradition zum Christentum interpretiert, sondern als die geheime Wahrheit des Katholizismus, die sich selbst in einer Art coincidentia oppositorum von Licht und Finsternis zugleich offenbart und verhüllt. Gemäß dem von Lévi postulierten Gesetz des Gleichgewichts kann es keine Wahrheit ohne Irrtum, keinen Begriff Gottes ohne den des Satans geben. Die verborgene Einheit des Göttlichen jedoch offenbart sich in Form der Dreiheit – der Trinität –, welche die Gegensätze – ohne einen von ihnen zu opfern – auf unergründliche Weise miteinander versöhnt. Allein in der absoluten Einheit sind alle Dualitäten aufgelöst. Die Gefahr für den Menschen besteht darin, das Gesetz des Gleichgewichts misszuverstehen, und in einen »manichäischen Dualismus« zu verfallen, in dem der Gegensatz von Gut und Böse verabsolutiert wird. Diese dualistische Lehre zerstört laut Lévi das Gesetz des Gleichgewichts und damit die Einheit des Göttlichen und der Wahrheit. Gegen diese »Häresie aller Häresien« habe die Kirche zu Recht ihre Trinitätslehre verteidigt.

Aus diesem Grundgedanken leitet sich auch die Logik von Lévis »Geschichte der Magie« ab. Diese stamme ebenso wie die Kabbala von Zoroaster. Aber in Wahrheit hätten zwei Personen dieses Namens existiert: der eine war der Offenbarer der Urweisheit, die auch Lévi vertritt, der andere schuf einen materiellen Feuerkult und das Dogma des Dualismus. Der falsche Zoroaster war der Schöpfer des Materialismus und Dualismus, der wahre das Gegenteil. Der wahre Zoroaster lehrte eine »transzendentale Pyrotechnik«, die mit dem unsichtbaren Fluidum des Astrallichtes arbeitete, der falsche begründete den Kult des materiellen Feuers. Lévi schließt sich der These von Gemistos Plethon an, die Chaldäischen Orakel seien von Zoroaster verfasst worden. Abraham empfing die Kabbala von Zoroaster und nahm sie mit, als er Ur verließ. So kam sie zu den Juden. Bevor sie dem Niedergang anheimfiel, rettete sie Moses, indem er sie als inneren Schriftsinn in die Bibel hineinlegte. Aber mit der Geburt des Christus änderte sich laut Lévi alles. Mit ihm wurde die Magie der alten Welt überflüssig, auch die Weisheitsüberlieferung des Judentums. Seither sei das Christentum der wahre Träger der Kabbala, und was von ihr außerhalb des Christentums übrigblieb, habe seine Legitimität verloren. Folglich ist die Geschichte der Magie seit der Begründung des Christentums für Lévi eine Geschichte der Häresien. Die Lehren des falschen Zoroaster lebten im Gnostizismus, im Templerorden, in der Hexerei und schwarzen Magie und schließlich im modernen Spiritismus weiter.

Genauer betrachtet hat Lévi, der oft als Begründer des Okkultismus bezeichnet wird, keine jener Traditionen verteidigt, die von der Kirche mit ihrem universellen Wahrheitsanspruch unterdrückt wurden. Im Gegenteil, er war der Auffassung, allein die katholische Kirche sei die wahre Erbin der Kabbala und wahren Magie. Alle Wettbewerber waren aus seiner Sicht Sektierer. Aber die wahre Natur des Katholizismus blieb ironischerweise selbst seinen Anhängern verborgen: niemand weiß, dass sie der vollkommene, lebendige Ausdruck der Kabbala ist. Daher blieb auch die kabbalistische Apokalypse des Johannes bis zu Lévi unverstanden. Es gibt also laut Lévi keine legitimen geheimen Traditionen oder initiatischen Organisationen, dafür aber eine verborgene, geheime, esoterische Dimension in der exoterischen Kirche, und indem er das Dogma der Magie und Kabbala lehrte, versuchte Lévi seine Leser zu dieser einen (verborgenen) Wahrheit des römischen Katholizismus hinzuführen. Daher enthält seine »Geschichte der Magie« förmliche Unterwerfungserklärungen gegenüber der Kirche und sein späteres Werk »Der Schlüssel zu den großen Mysterien« quillt von Ehrbezeugungen gegen die absolute Wahrheit der hierarchischen Autorität geradezu über.

Die englischsprachige Welt lernte die Werke Lévis durch die Übersetzungen Arthur Edward Waites kennen, der sie allerdings laut Hanegraaff grundlegend missverstand und sie deshalb auch falsch übersetzte. Er konnte das dialektische Verhältnis Lévis zur Kirche nicht erfassen und kam nicht über den Widerspruch zwischen dem Magus, der sich im Besitz des großen Arcanums wähnte und dessen späterer Unterwerfung unter die Autorität der Kirche hinweg. Aber Waites Auffassung war von aufklärerischen Interpretationen abhängig, für welche die große apologetische Tradition, auf die Lévi sich bezog, ein Buch mit sieben Siegeln war.

Waites Missverständnis ist insofern bemerkenswert, als er mit seiner eigenen Auffassung einer »geheimen Tradition« Lévi viel näher stand, als er glaubte. Waite war, mehr als jeder andere Autor in der englischsprachigen Welt, verantwortlich für die Popularisierung der Idee einer »esoterischen Tradition«, die er in einer Fülle von Werken über die verschiedensten Gebiete der Esoterik ausbreitete. Seine enorme Produktivität machte ihn, bei Abwesenheit ernsthafter Konkurrenz, zur alleinigen Autorität für geschichtliche Strömungen, die in irgendeiner Form mit dem Okkulten assoziiert werden konnten und das bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Er hatte nie eine Universität besucht und hatte für seine Erforschung der »Geheimen Tradition« des Westens praktisch keine Vorbilder. In seinen Übersetzungen alchemistischer Quellentexte unterliefen ihm unzählige Fehler, aber sie waren die einzigen, die überhaupt erhältlich waren. Dasselbe gilt für seine Editionen kabbalistischer Quellen.

Doch trotz aller Bücher, die er den äußeren Erscheinungsformen der geheimen Tradition widmete, ist bis heute fraglich, was er sich genau darunter vorstellte. Dies liegt in seinem schwer verständlichen Sprachstil begründet, in seinen permanenten Revisionen früherer Schriften und auch darin, dass er sich nie um eine Synthese der geheimen Tradition bemühte. Eine der wenigen Äußerungen findet sich in seiner Autobiografie: »Ich glaube bis zum heutigen Tag … dass es hinter der Kirche noch eine Kirche gibt, eine Kirche die auf einer höheren Ebene existiert. Diese Kirche besteht aus jenen, die die schimmernde Oberfläche der Doktrin durchbrochen und gefunden haben, was sich dahinter verbirgt. Es ist dies eine Kirche mehrerer Welten, denn manche, die ihr angehören, leben unter uns, andere jenseits der Schwelle der physischen Welt.«

Waite scheint also die geheime Tradition nicht als eine »Bruderschaft« in der physischen Welt betrachtet zu haben, sondern als Gemeinschaft all jener Geister, die sich um eine spirituelle Wiedergeburt bemühten oder diese bereits erreicht hatten, mochten sie nun leben oder bereits tot sein. Von den letzteren, die die Vollendung erreicht hatten, sprach er als einer »Heiligen Versammlung« und glaubte von ihr, sie wirke aus einer geistigen Ebene in die Geschichte hinein, vor allem in die Geschichte all der esoterischen Strömungen, die in seinen Augen der geheimen Tradition angehörten. Und er war überzeugt, dass es in diese heilige Versammlung keine äußerliche Aufnahme gab, denn letztlich konnten sich die Kandidaten nur selbst Eintritt verschaffen.

Waites Verbindung mystischer Überzeugungen mit einem historischen Zugang zu überlieferten esoterischen Materialien übte im 20. Jahrhundert großen Einfluss aus. Selbst heute spielt dieser Ansatz laut Hanegraaff eine große Rolle in der Publizistik, die sich zwischen »esoterischer Religiosität« und »akademischer Forschung« bewegt. Die Grundannahme ist, dass Esoterik nicht auf äußere Organisationen verweist, sondern auf »innere geistige Dimensionen«, die hinter der exoterischen Oberfläche von Traditionen verborgen sind. Diese Vorstellung paralleler Welten war grundlegend für die Weltsicht des viktorianischen Okkultismus und ist es für viele Okkultisten bis heute. Sie erlaubte es dem Okkultisten, nach einer These Tanya Luhrmanns, der Hanegraaff hier folgt, die »Begrenzungen einer entzauberten Welt, die von physikalischen Gesetzen beherrscht wird«, zu akzeptieren, da er sich »mit Hilfe von Ritualen und Symbolen jederzeit vorübergehend in eine magische Welt flüchten konnte, die von den Gesetzen der Imagination beherrscht wird«. Das Verschwinden des Geheimnisses in dieser Welt wird kompensiert durch die Existenz einer magischen Welt voll von »reifizierten Imaginationen«, in der die Gesetze der Wissenschaft und Rationalität keine Geltung haben. Auf diese Weise erhalten die Okkultisten in einer entzauberten Welt Orte der Verzauberung aufrecht.

Diese Argumentation erinnert, dies sei hier angemerkt, doch sehr an die marxistische Auffassung, Religion sei Opium für das Volk und wäre sie das letzte Wort Hanegraaffs zu diesem Thema, müsste man fast den ungeheuren Aufwand bedauern, der von ihm in die Erforschung eines Gebietes gesteckt wird, das dieser reduktionistischen Weltsicht nicht entgegengesetzter sein könnte. Denn könnte man dieselben Effekte, die Luhrmann und mit ihr offenbar Hanegraaff der »Imagination« des Okkultisten zuschreibt, nicht auch mit halluzinogenen Drogen oder anderen psychoaktiven Substanzen erreichen? Und ist der letzte Sinn des Okkultismus bzw. der Esoterik lediglich die Tröstung der Seelen, die ihr trauriges Dasein in einer durch die moderne Wissenschaft entzauberten Welt nicht ertragen und sich zeitweise aus ihr in eine illusionäre Welt »reifizierter Imaginationen« flüchten müssen? Und wie erklärt sich dann die Existenz des »Okkultismus« in einer nicht »entzauberten« Welt, also in der Zeit bis zum Beginn ihrer Entzauberung durch die Aufklärung? Durch mangelnde Aufklärung? Ist die westliche Esoterik also letztlich doch nichts anderes, als der Irrtum der Primitiven, die die Produkte ihrer Vorstellungskraft mit Inhalten der realen Welt verwechseln?

10. Das wüste Land

Wissenschaft und Naturphilosophie, welche die Erzählung von der alten Weisheit ablösten, brachten laut Hanegraaff auch das Zeitalter der Entzauberung mit sich, das Verschwinden alles Geheimnisvollen und Unberechenbaren aus der natürlichen Welt. Dieser historische Prozess ist von absolut zentraler Bedeutung für das Verständnis der Moderne und der Esoterik. Hanegraaff erinnert an die ursprüngliche Bedeutung dieses von Max Weber in die Diskussion eingeführten Begriffs. Nach Weber bedeutet die zunehmende »Intellektualisierung« und »Rationalisierung« der modernen Welt nicht, dass das Wissen über die Lebensbedingungen generell zunimmt. Sie bedeutet vielmehr die Überzeugung, dass, wenn man es wollte, man grundsätzlich alles begreifen könnte, dass es grundsätzlich keine mysteriösen, unberechenbaren Mächte mehr gibt, sondern dass man die Macht über alle Dinge besitzt, weil man sie berechnen kann. Das ist mit »Entzauberung der Welt« gemeint. Man muss nicht mehr wie der »Wilde«, für den jene geheimnisvollen Mächte existieren, auf magische Mittel zurückgreifen, um Macht über die Geister zu erlangen oder zu diesen beten. Technische Instrumente und Berechnungen tun es auch.

Die moderne Naturwissenschaft beruht in der Tat auf der Überzeugung, dass es in der Natur grundsätzlich und per definitionem nichts gibt, was unerklärlich und unberechenbar wäre, was also für immer außerhalb des menschlichen Erkennens und menschlicher Kontrolle läge. Die begriffliche Gestaltwerdung der Esoterik im Verlauf der Aufklärung kann man laut Hanegraaff als Folge des Entzauberungsvorganges sehen, von dem Weber spricht. Als »Abfallhaufen der Ausgrenzung« enthielt sie alles, was als inkompatibel mit einer entzauberten Weltsicht betrachtet wurde, die in der Wissenschaft und Rationalität verwurzelt ist. Aber zur gleichen Zeit wurde dieser Begriff der Esoterik als Gegentradition der Wiederverzauberung reifiziert, von Menschen, die erlebten, dass die Vertreibung des Geheimnisses die Welt jedes tieferen Sinns beraubte. Es ist bedeutsam, dass die berühmte Definition der Esoterik durch Antoine Faivre aus dem Jahr 1991 sich wie eine Definition der Verzauberung liest: in ihr stehen die Korrespondenzen der Kausalität gegenüber, die lebendige Natur einer mechanistischen Weltsicht, Imagination und Meditation mit ihrer vielschichtigen neuplatonischen Kosmologie einem Kosmos, der aus nichts als bewegter Materie besteht und die Transmutation, die spirituelle Wiedergeburt und Reintegration einer Vorstellung des Menschen als rein diesseitsorientierten, intelligenten Tieres.

Der Modernisierungsprozess ist demnach der Schlüssel für das Verständnis der Entstehung der Esoterik als eines Bestandteils der abendländischen Kultur. Die Kernidentität der modernen, nachaufklärerischen Gesellschaft und ihrer Repräsentanten, zu denen die Wissenschaftler gehören, verlangt nach einer negativen Gegenerzählung über die Bewegungen, Verhaltensweisen und Ideen, die dem Verschwinden des Unberechenbaren und Geheimnisvollen aus der Welt widerstreben, ja sie verlangt nicht nur nach einer solchen Gegenerzählung, sie setzt diese geradezu voraus. Die moderne Wissenschaft und Gesellschaft definieren sich als »modern«, indem sie sich von jeder Verbindung mit der Autorität der alten Weisheit abgrenzen. Aus diesem Grund ist die westliche Esoterik weit mehr, als nur ein Sammelsurium von Ideen, Verhaltensweisen und Bewegungen, die vernachlässigt oder übersehen wurden: gerade weil sie als »das Andere der Wissenschaft und Rationalität« gedacht wurde, hat sie die Funktion eines dunklen Gegenbildes angeblicher Rückwärtsgewandtheit, Unwissenheit oder Irrationalität, das die Modere benötigt, um sich selbst in um so strahlenderem Licht als Träger der Wahrheit erscheinen zu lassen. Kurz: Moderne Identitäten implizieren das Okkulte.

Einflussreiche Akademiker des 20. Jahrhunderts revoltierten gegen die Folgen der Entzauberung, indem sie eine neue Art von Wissenschaft vertraten, die auf die Romantik, den Idealismus und den Traditionalismus zurückgriff. Für sie war offensichtlich, dass die Entzauberung die Welt in ein wüstes Land verwandelt hatte, das von den Göttern verlassen war. In ihren Augen las sich die berühmte Prophetie des Asklepios über den Niedergang Ägyptens wie eine Beschreibung des modernen Europa: »Eine Zeit wird kommen … wenn die Götter sich von der Erde in den Himmel zurückziehen werden und Ägypten verwüstet sein wird. Das Land wird von den Göttern verlassen sein … Dann wird dem Menschen, der seines Lebens überdrüssig ist, der Kosmos nicht mehr bewunderungswürdig oder anbetungswürdig erscheinen … Die Finsternis wird dem Licht vorgezogen werden und der Tod dem Leben. Niemand wird mehr zum Himmel aufsehen. Religiöse Menschen gelten dann als verrückt und irreligiöse als weise. Die Wahnsinnigen werden als tapfer gelten, die Schurken als ehrsam … Wie qualvoll wird dieser Rückzug der Götter von der Menschheit sein. Nur die Engel des Bösen werden unter uns bleiben. Sie werden sich mit den Menschen vermischen und sie zu allen Arten des Bösen und der Gewalt drängen: zu Krieg, Raub, Betrug und allem, was dem Wesen der Seele zuwider ist. In jenen Tagen wird die Erde nicht sicher sein und das Meer nicht befahrbar … Jede göttliche Stimme wird verstummt sein. In der Luft wird eine schwere Lethargie liegen. So wird die Welt aussehen, wenn sie alt geworden ist: Abfall von der Religion, Chaos und Verirrung in Bezug auf alles, was gut ist.«

Das »wüste Land«, diese Metapher T.S. Eliots, kann aber nicht nur auf die entzauberte säkulare Welt angewendet werden, sondern auch auf den Zustand der Esoterik im »Zeitalter der Amateure«, als die Esoterik, von allen Gelehrten und Gebildeten verlassen, in jenen desolaten Zustand herabsank, in dem sie nur noch den Bedürfnissen der Masse nach Zerstreuung und seichter Unterhaltung diente. Es ist jenes Zeitalter zwischen der Aufklärung und dem 20. Jahrhundert, als die Esoterik durch eben jene Wissenschaftler wieder entdeckt wurde, die sich nun der Esoterikforschung widmen. Mit diesem Wiederaufstieg der Esoterik als Gegenstand wissenschaftlicher Forschung im 20. Jahrhundert befasst sich das letzte Kapitel des vorliegenden Buches.

Magnetische Geschichte

Seit der Renaissance hat Europa gewaltige Umwälzungen erlebt. All diese Umwälzungen wurden durch Menschen herbeigeführt, die sich von ihren Traditionen abwandten und den Mut hatten, von Grund auf neue Unternehmungen in Angriff zu nehmen. Diese Beobachtung gibt Hanegraaff Gelegenheit, sich über das Verhältnis von Tradition und Innovation in der Esoterik auszulassen. Entgegen einem weitverbreiteten Vorurteil, diese sei statisch und resistent gegen Veränderungen, haben die verschiedenen esoterischen Disziplinen im Lauf der Geschichte eine Fülle von Entwicklungen und Innovationen erlebt, was ja auch die bisherige Untersuchung gezeigt hat. Dennoch: die Vertreter des platonischen Paradigmas sahen sich nicht als Erfinder von etwas Neuem, sondern wollten zur alten Weisheit zurück, zu einer universellen Tradition, den vergessenen Geheimnissen und der verlorenen Einheit. Und auch die mehr prozessorientierten Alchemisten verstanden alle Prozesse als organisches Wachstum, als Aufgehen von Keimen, nicht als Eintritt eines unvorhersehbar Neuen.

Das gilt jedoch laut Hanegraaff für unsere moderne Kultur. Die heutigen säkularisierten demokratischen Massengesellschaften können nicht als Erneuerung von etwas Altem, ja nicht einmal als Weiterentwicklung gedacht werden. Sie stellen einen Bruch mit allem bisher Dagewesenen dar. Entsprechend ist auch unsere Vorstellung der Geschichte nicht zyklisch, sondern linear, in die Zukunft gerichtet, und wir verstehen sie als irreversiblen Prozess mit offenem Ende (in Wahrheit, so müssen wir Hanegraaff hier berichtigen, müsste sie nach dieser Deutung der Moderne diskontinuierlich, sprunghaft sein). Auch wenn wir der Entwicklung der Moderne kritisch gegenüberstehen, so Hanegraaff, zweifeln wir doch nicht daran, dass die Kultur und Gesellschaft vorangeschritten ist zu etwas, was vorher nie existierte und dass sie weiter in eine ungewisse, unvorhersagbare Zukunft voranschreiten wird.

Eine solche Weltsicht kann wegen der Freiheit, die sie impliziert, inspirieren. Sie kann aber auch beunruhigen und Angst hervorrufen. Wenn wir nicht wissen woher wir kommen und wohin wir gehen, ja ob wir überhaupt irgendwohin gehen, scheint die Geschichte sinn- und bedeutungslos, sie beginnt und endet im Nirgendwo und der Mensch ist darin ebenso bedeutunglos. Viele Denker haben laut Hanegraaff versucht, diesen nihilistischen Konsequenzen zu entkommen. Zu ihnen gehören auch die Wissenschaftler und Akademiker, mit denen sich der vierte Teil seines Buches auseinandersetzt, die sich von esoterischen Traditionen inspirieren ließen, um der nihilistischen Tendenz der Moderne ein alternatives Bild der Welt und der Geschichte entgegenzusetzen. Ihre Entwürfe sind für die Entstehung der wissenschaftlichen Esoterikforschung von großer Bedeutung.

Die neuen Sichtweisen, welche die betreffenden Denker entwickelten, waren bestechend, manchmal von beflügelnder Kreativität, aber sie sind als Grundlage für die wissenschaftliche Erforschung der Esoterik nach Hanegraaffs Auffassung leider völlig ungeeignet. Um diese Behauptung zu begründen, wirft er den Blick noch einmal ins 19. Jahrhundert zurück.

Magnetische Geschichte: Romantischer Mesmerismus und Evolutionismus

Die Vorgeschichte der Antinihilisten beginnt mit Franz Anton Mesmer und dem »animalischen Magnetismus«. Dieser ging von der Existenz einer den Kosmos und alle Lebewesen durchdringenden Lebenskraft aus. Krankheiten waren Blockaden im Fluss dieser Lebenskraft und konnten durch bestimmte Techniken wie Handauflegen beseitigt werden. Bei Mesmer durchliefen die Patienten eine dramatische Krise während des Heilungsprozesses, aber sein Schüler, der Marquis de Puységur, entwickelte eine Methode, die die Patienten in Trance versetzte: die Hypnose, die zunächst unter dem Namen künstlicher Somnambulismus bekannt wurde. Die von Mesmer und seinen Nachfolgern entwickelten Techniken und Weltdeutungen stießen eine ganze Reihe von Bewegungen an, die im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts entstanden: vom Spiritismus und Okkultismus seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum amerikanischen »New Thought«. Auch die Entdeckung des Unbewussten steht mit ihnen im Zusammenhang und damit die Psychoanalyse und Tiefenpsychologie.

Der Mesmerismus ging auf anthropologische Theorien zurück, die Anfang des 19. Jahrhunderts von deutschen Medizinern entwickelt wurden (J.Ch. Reil, C.A.F. Kluge). Sie unterschieden zwischen dem Zerebral- und dem Ganglien-Nervensystem. Ersteres war das Organ des Bewusstseins, letzteres Organ der unbewussten Seele. Eine große Zahl von Naturwissenschaftlern und Philosophen übernahm diese Unterscheidung: unter anderen Schubert, Hegel, Ennemoser, Passavant, Kieser, Windischmann und Kerner. Durch das Gangliensystem, so die Auffassung, hatte der Mensch Zugang zur Nachtseite der Natur. Das Zerebralsystem beherrscht das Wachbewusstsein mit seinem rationalen Denken und der diskursiven Sprache, aber das Gangliensystem übernimmt das Nachtleben der Seele im Schlaf, wenn sie ihre hieroglyphische Sprache der Bilder und Träume zu sprechen beginnt. Aber nur in Trance offenbarte das Gangliensystem bzw. das Unbewusste sein volles Potential: die Somnambulen zeigten erstaunliche »psychische« Fähigkeiten, sie übten Fernwirkungen aus, waren hypersensitiv, entwickelten einen sechsten Sinn, konnten in die Zukunft oder hellsehen, nahmen Geister und Engel wahr, sprachen archaische, unbekannte Sprachen und hatten mystische Visionen. Am bekanntesten wurde Friederike Hauffe, die Seherin von Prevorst, durch die Berichte ihres Arztes Justinus Kerner 1829. Zu ihr pilgerten Franz von Baader, Schelling, Görres, Schleiermacher und viele andere.

Die Romantik entwickelte die Theorie der beiden Nervensysteme zu einer umfassenden Gegenerzählung zum Rationalismus der Aufklärung. Kerner sprach vom »harten Glasschädel« des rationalistischen »Tagesbewusstseins«, der es von den Intuitionen einer höheren Welt trenne. Dieser stand die bedeutungsvolle nächtliche Welt der Somnambulen gegenüber, die aus unmittelbarer Erfahrung wussten, dass hinter der brutalen Welt der materiellen Existenz eine andere Welt voller Bedeutung und Empathie stand.

Zwei komplementäre Welten mit spezifischen Erfahrungsformen standen sich gegenüber: die Aufklärung reduzierte alles auf eine kalte Logik und diskursive Prosa, das Nachtbewusstsein drückte sich durch tiefsinnige Symbole und eine poetische Sprache aus. In der Trance erwacht die Seele nach Auffassung der Romantiker in jene umfassendere Welt, aus der sie stammt und die ihre eigentliche Heimat ist. Der Rationalist befindet sich dagegen in einem spirituellen Tiefschlaf. Er lebt in einer künstlichen Trennung von seiner eigenen Seele und ist unfähig die Sprache der Bilder und Poesie zu verstehen. Er glaubt, sein Gehirn und seine Sinne bildeten die ganze Welt ab, und begreift nicht, dass sie ihn in Wahrheit daran hindern, die tieferen Geheimnisse der Natur zu entdecken. Blind für ihre spirituelle Dimension, verwirft er die okkulten Mächte und die außergewöhnlichen Fähigkeiten der Seele als Aberglauben. Aber diese außergewöhnlichen Fähigkeiten sind nichts Wunderbares, sondern durch und durch natürlich, jeder kann sie erwerben. Der erste Schritt besteht darin, den beschränkten Aberglauben des Reduktionismus zu überwinden, der Wissenschaft und Vernunft usurpiert hat.

Die deutschen Romantiker, so Hanegraaff, verteidigten unter Berufung auf neuere wissenschaftliche Theorien und Entdeckungen die wissenschaftliche Überlegenheit einer verzauberten Weltsicht auf paracelsischer und christlich-theosophischer Grundlage. Das Zentrum des Gangliensystems befand sich im »Hypochondrium«, dem Solarplexus, der im 19. Jahrhundert auch als »Herzgrube« bezeichnet wurde. Für Paracelsus und Johann Baptist van Helmont war sie der Sitz des »Archaeus« oder Lebensgeistes. Für Mesmeristen war diese Herzgrube der Sitz der inneren Sinne, durch die von den äußeren Sinnen unabhängige Wahrnehmungen möglich waren. Gegen die kalte rationale Erkenntnis, die sich auf das Gehirn stützte, brachten die Romantiker eine höhere spirituelle »Erkenntnis des Herzens« in Stellung, die mit dem Gangliensystem zusammenhing. Sie erstreckte sich nicht nur auf hellseherische Wahrnehmung, sondern umfasste auch höhere Bereiche der geistigen Welt. Nach dem Vorbild von Paracelsus und Swedenborg wurde das Herz als Abbild der Sonne gedacht, die im Zentrum der Planeten steht, wie das Herz im Zentrum des Organismus und dieses Zentrum des Herzens korrespondierte mit dem unergründlichen göttlichen Licht im Herzen der Schöpfung. Das somnambule Wissen des Herzens war eine Gnosis der göttlichen Welt und diese war der rationalen Erkenntnis des Gehirns und der äußeren Sinne unendlich überlegen.

Indem sie die Rationalität des Tagesbewusstseins als begrenzt und unfähig zu tieferer Erkenntnis interpretierten, hatten die Romantiker eine Argumentationsfigur entwickelt, die alle Prinzipien der Aufklärungsphilosophie und ihres Wissenschaftsbegriffs auf den Kopf stellte. Später sollte C.G. Jung, den Hanegraaff als bedeutendsten Nachfolger der Romantiker im 20. Jahrhundert sieht, ihren Grundgedanken wie folgt formulieren: »Meine Seele kann nicht das Objekt meines Urteilens und Erkennens sein – vielmehr sind mein Urteilen und Erkennen Objekte meiner Seele.« Die damit umrissene Epistemologie hatte zur Folge, dass eine ganze Reihe von Dualismen, die für den Rationalismus der Aufklärung konstitutiv waren, umgedacht werden musste. Ebenso bedeutsam waren die Konsequenzen für die Geschichtsauffassung: alles, was die Aufklärung auf den Kehrichthaufen der Geschichte geworfen hatte – Magie, Weissagung, Hellsehen, Symbole, das Okkulte – wurde zu einer Manifestation der Tiefenkräfte der Seele und zentral für die Entwicklung der Menschheit. Aber da alles, was diesem tieferen Reich der Seele angehörte, universell und zeitlos war, verloren Zeit und Geschichte gegenüber zeitlosen Wahrheiten und äußere Ereignisse gegenüber dem inneren Wesen an Bedeutung.

Die »magnetische Geschichtsschreibung« kam im Werk Joseph Ennemosers über die Geschichte des Magnetismus (1819), das 1844 unter dem Titel »Geschichte der Magie« in revidierter zweiter Auflage erschien, vollumfänglich zur Erscheinung. Er trug eine vollständige Gegenerzählung zur antiapologetischen und aufklärerischen Interpretation der Geschichte der Esoterik vor, eine als hermetisch-platonische Antwort auf Brucker und Colberg.

Die magnetischen Phänomene und somnambulen Zustände waren für Ennemoser zentral für die Bewusstseinsgeschichte der Menschheit. Die Frage nach dem Fortleben des Heidentums im Christentum spielte für ihn keine Rolle mehr, statt dessen standen Naturphilosophie und Wissenschaft im Zentrum. In scharfem Kontrast zum Naturalismus und Positivismus der Aufklärung sah er die Natur als lebendiges Ganzes, das von unsichtbaren »geheimnisvollen und unberechenbaren Mächten« erfüllt ist. Diese Mächte sind weder übernatürlich oder dämonisch (wie die Anti-Apologeten behaupteten) noch illusionär (wie die Aufklärer unterstellten), sondern Erscheinungsformen der inneren Seite der Natur, die sich nur offenbart, wenn das Tagesbewusstsein wenigstens vorübergehend unterdrückt wird. Diese These befand sich im Einklang mit der pietistischen Auffassung von »göttlichen Entzückungen«. Nimmt man das paracelsische und theosophische Fundament des Werkes von Ennemoser hinzu, kann man zu Recht behaupten, es sei die hermetisch-platonische Antwort auf die protestantische Anti-Apologetik.

Ennemoser versteht Magie im Sinne der Renaissance als »magia naturalis«, als »prisca magia«. Sie ist die alte Weisheit, die Summe alles geheimen Wissens, und unterscheidet sich als »wahre göttliche Magie« von der abergläubischen Form der »goetia«, der Zauberei. Das Neue bei Ennemoser ist, dass er diese wahre Magie als eine Äußerung der geheimsten und innersten Kräfte des menschlichen Geistes interpretiert. Die wissenschaftliche Erforschung dieser Magie begann nach Ennemosers Auffassung erst mit Mesmer, daher bezieht sich seine Geschichte auf die Zeit vor Mesmer. Die wichtigsten Erscheinungsformen dieser Kräfte des Geistes sind Visionen, Träume und das Wahrsagen. Magie ist für ihn vor allem eine Erkenntnisform, eine Form der »höheren Erkenntnis«.

Geschichte denkt Ennemoser nach dem Vorbild Herders als Stufengang von Völkern. Sie durchläuft drei Epochen: die alte Welt des Orients, der Ägypter und Israeliten, die Zeit der Griechen und Römer und die germanische Epoche, die mit den alten Germanen und nordischen Völkern beginnt und durch Mittelalter und Renaissance bis in die Neuzeit andauert. Der visionären Gesamtschau erscheint diese Geschichte keineswegs als zufällig, sondern als organische Entwicklung. Sie offenbart ein bedeutungsvolles Drama, sie zeigt, wie die Menschheit ihre eingeborenen Entwicklungsmöglichkeiten allmählich entfaltet: die Bewusstseinsgeschichte verläuft nach einem göttlichen Plan. Wie in Lessings »Erziehung des Menschengeschlechts« ist bei Ennemoser die Menschheitsgeschichte eine Analogie der Individualentwicklung: sie verläuft durch Kindheit und Jugend ins Erwachsenenalter. Eine andere Metapher ist die des Baumes, der aus einem Samen emporwächst und sich immer mehr in seinen Ästen verzweigt. Schließlich spricht er auch von einer Bühne, auf der zu gegebener Zeit ein neues Volk auftritt, das die ihm von der Vorsehung bestimmte Rolle spielt. Ereignisse, die äußerlich kausal wirken, kennt Ennemoser nicht, im Gegenteil: Jedes äußere Ereignis ist Ausdruck einer inneren Notwendigkeit, Individuen sind letztlich wie bei Hegel Werkzeuge, durch die der Weltgeist seine universellen Zwecke verfolgt.

Die ältesten Völker befanden sich im Kindheitszustand, die Menschheit hing noch an der Nabelschnur der Natur, sie lebte in einem kaum bewussten Traumzustand voller Unschuld. Magische Bewusstseinszustände waren alltäglich, weil der innere Sinn des Menschen durch die Reflexion noch nicht beeinträchtigt wurde, das Leben verlief in friedlicher Harmonie mit dem Unendlichen. Das Göttliche war überall in der Natur gegenwärtig und wurde erlebt, die Menschheit stand unter der Leitung einer wohlwollenden Priesterschaft. Gott, die Seher und Poeten drückten sich in der Ursprache der Bilder aus. Zwar gab es auch Aberglauben und Götzenverehrung, aber Glaube, Liebe und Gehorsam standen im Vordergrund.

Da die Magie für Ennemoser eine menschliche Grundfähigkeit ist, muss er sie nicht auf einen bestimmten geschichtlichen Moment zurückführen, aber er entdeckt überall im Orient, in Indien und China ihre Spuren. Er berichtet über ekstatische, visionäre Zustände und über Heilkunst, die von erleuchteten Priestern in Tempeln ausgeübt wurde. Diese Heilkunst fußte auf einer Form von Naturwissenschaft, die laut Ennemoser auch dem Mesmerismus zugrunde lag. Die Geheimlehren über diese Heilkunst befanden sich im Besitz der Priesterschaft, die sie durch Mysterieninitiationen und mythische Erzählungen weitergaben. Ägypten stellte den Höhepunkt der Entwicklung der Magie im ersten Stadium der Menschheitsgeschichte dar und von hier empfingen viele griechische Philosophen ihre Weisheit. Aber die alten orientalischen Kulturen hatten keine Zukunft, weil sie weder Geschichte noch Entwicklung kannten, sie glichen einer Mumie, deren Leib weder wächst noch zerfällt. Doch es gab eine Ausnahme: das israelitische Volk sollte zum Stamm werden, aus dem die Menschheit durch die Jugend ins Erwachsenenalter eintrat. »Das Judentum«, so Ennemoser, »ist der wahre Lebensbaum, durch den der innere Strom der Entwicklung fließt. Alle anderen heidnischen Völker sind Zweige, die vom großen Baum des Lebens abgerissen wurden, – auch wenn sie weiterleben, können sie sich nicht entwickeln. Das Judentum ist das wahre Mysterium, das im Christentum seinen Idealzustand der Heiligkeit und Vereinigung mit Gott erreichte.«

Die Juden entwickelten eine neue Form der Magie, die sich demütig auf die göttliche Gnade verließ und nicht auf den Größenwahn der menschlichen Autonomie. Das Judentum entwickelte sich von innen heraus und nicht unter ägyptischem Einfluss.

Das zentrale Ereignis der Bewusstseinsgeschichte ist für Ennemoser das Erscheinen Christi, durch den das Judentum seine historische Bestimmung erfüllt, die »absolute Religion« hervorzubringen, die nicht mehr auf ein Volk begrenzt ist, sondern die Menschheit in einem umfassenden Bewusstsein zusammenführt. Durch Alexander den Großen, ein weiteres Instrument der Vorsehung, waren die Bedingungen für diese Vereinigung bereits vorbereitet und Alexandria wurde zum Knotenpunkt für die weitere Entwicklung der Magie.

In der Geschichte der Griechen steht der Mythos im Vordergrund, nicht die Philosophie, ihre Kultur ist ihrem Wesen nach poetisch, was gleichbedeutend mit magisch ist. Der Mythos benutzt die Poesie der Natur um über Naturkräfte zu sprechen, Symbole sind urbildliche Repräsentationen des sich selbst offenbarenden Geistes und wahrer als jede Erkenntnis, die aus der Reflexion entspringt. Die wahre Quelle der Poesie ist die Natur, weil sie selbst poetisch ist. In ihren Schöpfungen drückt sich in realen Bildern der Geist Gottes aus. Dieser Stimme Gottes sollte der Mensch Gehör schenken. Allein der treue Beobachter und Verehrer der Natur vermag ihre geheimen Gesetze zu erkennen, während der Rest der Welt sich dem Göttlichen immer mehr entfremdet und in Illusion und Aberglauben versinkt. Daher waren alle großen Naturwissenschaftler laut Ennemoser fromme Menschen, daher verfällt auch der Hellseher, der in seine Trance erwacht, in ekstatische Bewunderung der Natur, so wie in den Anfängen der Geschichte, als Naturweisheit, Poesie und Religion noch eins waren.

In Alexandria nahm das Christentum durch den Neuplatonismus alle magischen Traditionen der »niedergehenden heidnischen Völker« in sich auf. Ennemoser, der diesen Vorgang der Übernahme positiv sieht, integriert die Erzählung der »philosophia perennis« in das neue Rahmenwerk einer von der Vorsehung geleiteten Evolution.

Die Aufgabe der Christenheit bestand darin, die Welt zu »entzaubern« und die wahre Magie wieder herzustellen: aber nicht die Webersche »Entzauberung« ist gemeint, sondern die Befreiung vom bösen Zauber der schlechten Magie. Der wahren Magie ist seine restliche Untersuchung gewidmet: der Geschichte des animalischen Magnetismus in der Epoche der Germanen. Eine große Rolle spielt dennoch ihr Gegenbild: die vielen Formen des mittelalterlichen Aberglaubens, die schließlich in den Hexenverfolgungen gipfeln. In diesen Auseinandersetzungen wird deutlich, dass Ennemoser letztlich eine »wissenschaftliche Agenda« verfolgte. Der Glaube an Hexerei war ein tragischer Massenwahn und in vielen anderen Erscheinungen drückte sich derselbe Wahn aus: in Geisterbeschwörungen, Goldmacherei, in der »Mystagogie« der Rosenkreuzer und Spiegelpropheten. Auch die christlichen Theosophen, die nach ekstatischen Erfahrungen suchten (von John Pordage über Jane Lead bis zu Swedenborg), betrachtet Ennemoser mit gemischten Gefühlen: zwar gehört vieles, was sie taten, der guten Magie an, aber die Gefahren der mystischen Suche sind groß. Die Geschichte der guten Magie in der Neuzeit beginnt mit Paracelsus und van Helmont, verläuft über Agrippa, Fludd, Campanella und endet mit Cagliostro und Swedenborg im 18. Jahrhundert. Aber der Erzmagus, der tiefere Einsichten als alle anderen in das Leben und den Geist der Menschheit erlangt hat, ist für Ennemoser Jakob Böhme. Nun, da Böhme (in der Romantik) wiederentdeckt wurde und Mesmer die Magie auf eine wissenschaftliche Grundlage gestellt hat, wird der Rationalismus der Aufklärung bald vorüber sein. Der alte Orient und das Griechentum sind vergangen, aber »dem deutschen Geist steht noch eine unendliche Zukunft bevor«. Die bisherige Geschichte der Menschheit hat ihn mit allem Nötigen ausgestattet, um eine endlose spirituelle Aktivität zu entfalten. Mit dem deutschen Geist steht die Menschheit am Beginn ihres Erwachsenenalters, er wird die Völker und Zeiten führen und lehren. Und er wird dereinst auch den in Stagnation versunkenen Orient wieder zu neuem Leben erwecken.

Drei Innovationen Ennemosers sind für den weiteren Verlauf der Geschichte der Esoterik (und für die Argumentation Hanegraaffs) von herausragender Bedeutung: 1. dass er den Mesmerismus bzw. Somnabulismus als Schlüssel für die Geschichte der Magie benutzt, 2. dass er eine von der Vorsehung geleitete Evolution postuliert, und 3. dass er eine Form des Religionismus vertritt.

1. Durch das erste unterscheidet er sich von früheren Historikern der Esoterik, die sich auf philosophische und religiöse Ideen konzentrierten und sich mit den Konflikten zwischen »wahrer Religion« und »heidnischen Irrlehren« befassten. Für Ennemoser gibt es keine solchen Konflikte und die Ideen stehen auch nicht im Vordergrund. Ihm geht es darum, zu zeigen, dass es in der ganzen Geschichte der Menschheit immer Magnetismus und Somnambulismus gegeben hat. Durch diese These wurde er zum Pionier einer neuen Form der Esoterikgeschichte. Bereits zehn Jahre nach dem Erscheinen wurde sein Werk ins Englische übersetzt und in der »Entschleierten Isis« Blavatskys ist Ennemoser der am zweithäufigsten plagiierte Autor. Aber er fand auch schon frühere Nachahmer in der englischsprachigen Welt. Zum Beispiel verfasste der Schotte Colquhoun 1851 eine »Geschichte der Magie«, die eine ähnliche Erzählung bietet wie Ennemoser.

Auch in Deutschland wurden Ennemosers Ansätze weiter verfolgt. Ende des Jahrhunderts erschienen die Bücher von Carl Kiesewetter, 1891 die »Geschichte des neueren Occultismus«, 1895 »Die Geheimwissenschaften« und 1896 »Der Occultismus des Altertums«. Kiesewetter wurde, ähnlich wie A.E. Waite in England, mangels Konkurrenz zur Autorität in Sachen Okkultismus. Seine Werke sind voller Gelehrsamkeit und bieten eine Fülle übersetzter Quellen. Er versteht die westliche Esoterik, ebenso wie Ennemoser, nicht mehr als Synkretismus aus Heidentum und Christentum, sondern als Summe historischer Beweise für die geheimnisvollen Kräfte der Natur und des Menschengeistes, die von der Aufklärung vorschnell verworfen worden sind.

2. Ennemosers Werk ist auch als Typus einer neuen Geschichtsschreibung der Esoterik bedeutsam. Es ist weder eine Niedergangserzählung oder eine Erzählung von der zeitlosen alten Weisheit, noch ein Beispiel für Ideengeschichte, das davon ausgeht, man müsse Autoren aus dem Kontext ihrer Zeit und aus den Einflüssen verstehen, die sie bestimmten, wie die Geschichten Bruckers und Colbergs. Im Unterschied zu diesen stellt Ennemoser die Geschichte als teleologischen geistigen Fortschritt durch Evolution dar und lädt den geschichtlichen Wandel mit spiritueller Bedeutung auf. Aber er macht den Fortschritt auch nicht von äußeren Einflüssen abhängig, sondern sieht in ihm das Wirken der göttlichen Vorsehung. Erst mit dem Niedergang der Romantik und des deutschen Idealismus verlor diese Art von Geschichtserzählung ihre Plausibilität, lebte aber im Okkultismus und im New Age bis heute weiter.

3. Was den Religionismus anbetrifft, so fußte dieser auf der Überzeugung, es gebe eine authentische, spirituelle Erfahrung. Wie Gottfried Arnold kritisierte Ennemoser die endlosen, dogmatischen Streitigkeiten der Schulgelehrten mit ihrem Gehirndenken. In der Geschichte kam es nach beiden Autoren nicht auf den toten Buchstaben, sondern auf den lebendigen Geist an, nicht auf die äußeren Lehren, sondern die innere Erfahrung, nicht auf den Verstand, sondern auf das Herz. Arnolds Geschichtserzählung fußte auf der Dualität von Athen (Verstand) und Jerusalem (Glaube) und ihrer Inkompatibilität, diejenige Ennemosers auf einer vergleichbaren Inkompatibilität zwischen dem diskursiven Tagesbewusstsein, das sich auf das Gehirn stützt und dem bildhaften Traumbewusstsein der Seele. So wie Arnold der Überzeugung war, dass der Glaube nichts mit dem Verstand gemein habe, sah auch Ennemoser keine Möglichkeit, die Wahrheiten der Seele in der Sprache des Gehirns auszudrücken.

Daher zogen weder Arnold noch Ennemoser soziale Kontexte, äußere Einflüsse oder andere kontingente Faktoren bei ihrer Geschichtserzählung in Betracht. Aber dennoch behaupteten beide, Geschichte zu schreiben. Mit einem Wort: Ennemoser ist für Hanegraaff ein Beispiel für das Paradigma des Religionismus, aber mit einem bedeutsamen Unterschied: dem Einbezug der Evolution. Für Arnold gab es keine Entwicklung im Christentum, da die absolute Wahrheit keine Geschichte hat. Ennemoser akzeptierte Entwicklung. Zwar waren die Wahrheiten der Natur und der Seele ewig, aber was sich entwickelte, war dieFähigkeit des Menschen, sie zu verstehen. Daher war für Ennemoser Geschichte auch Bewusstseinsgeschichte.

Der Archetyp von Eranos: Carl Gustav Jung und das Unbewusste des Westens

Das folgende Kapitel in Hanegraaffs Buch setzt mit dem Jahr 1930 ein, als in Ascona auf Einladung von Olga Fröbe-Kapteyn jene sommerlichen Zusammenkünfte begannen, die später unter dem Namen »Eranos« in die Geschichte eingehen sollten.

An dieser Stelle muss auf eine bemerkenswerte Lücke in Hanegraaffs Geschichtserzählung aufmerksam gemacht werden. Sie betrifft genau jene Zeit, als sich in Deutschland zwischen 1900 und 1925 unter dem Namen »Anthroposophie« eine Form von Esoterik zu entfalten begann, die den Anspruch erhob, eine wissenschaftliche Erkenntnisform zu sein. Das vorangehende Kapitel endete mit dem Niedergang des Diskurses über Esoterik und seinem Verschwinden in der Trivialliteratur Ende des 19. Jahrhunderts. Danach wurde der Faden der Geschichte von Hanegraaff in der Romantik wieder aufgegriffen, um die nun folgenden Unterkapitel über Eranos und den Beginn der neuen Esoterikforschung vorzubereiten. An die Erzählung vom Niedergang der Esoterik in der Trivialliteratur schließt sich eine Art Aufstiegserzählung an, die das Wiederauftauchen der Esoterik als »Wahrheit der Geschichte« durch die wissenschaftliche Esoterikforschung beinhaltet. Aber diese ganze Konstruktion wird fragwürdig, wenn man das Vakuum, das in Hanegraaffs Untersuchung zwischen 1900 und 1930 klafft, mit der in wissenschaftlicher Form auferstandenen Esoterik füllt, die im Werk Rudolf Steiners zutage getreten ist, die sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts zu einer breiten sozialen und kulturellen Bewegung entwickelt hat, die weit über das New Age hinausgeht.

Hier erhebt sich eine Frage von großer Tragweite: warum ignoriert Hanegraaff die Anthroposophie? Man könnte argumentieren, sie sei für eine Geschichte der Diskurse über Esoterik im Abendland irrelevant, da sie reale Esoterik sein wollte und nicht nur Gerede über sie. Aber das trifft auf den Mesmerismus und Ennemoser ebenfalls zu. Durch die vollständige Ausblendung des geschichtlichen Phänomens Anthroposophie wird die »Wahrheit der Geschichte«, der dieses letzte Kapitel gewidmet ist, eher verschleiert als enthüllt. Aber offenbar hätte eine Auseinandersetzung mit ihr die gesamte Konstruktionslogik der vorliegenden Monografie gesprengt. Denn der Wiederaufstieg der Esoterik als Wissenschaft oder durch die Wissenschaft hätte als Geschichte der Anthroposophie erzählt werden müssen. Es ist in diesem Zusammenhang interessant, dass Hanegraaff mit Ennemosers »Geschichte der Magie« zugleich einen nicht unbeträchtlichen Teil der Geschichtsinterpretation Steiners referiert und dass er im anschließenden Kapitel über C.G. Jung diesen als Figur porträtiert, deren mythifizierte Gestalt nicht geringe Ähnlichkeiten mit dem mythisierten Steinerbild aufweist. Aber die einzigartige Synthese aus Aufklärung und Esoterik, die das Lebenswerk Steiners darstellt, ist ein historischer Gegenstand, den die akademische Esoterikforschung unmöglich schweigend übergehen kann. Ließe sie sich auf die aufgeklärte Esoterik der Anthroposophie ein, wäre allerdings die Frage, welche Rolle ihr dann als »Wissenschaft der Esoterik« überhaupt noch zukäme.

Doch sehen wir zu, wie Hanegraaffs Geschichte des esoterischen Diskurses im 20. Jahrhundert weitergeht!

Die Eranoskonferenzen fanden von 1933 bis 1988 statt, als Jan Ritsema, der Nachfolger der 1962 verstorbenen Gründerin, sie beendete. Die Beiträge der Konferenzen erschienen in den »Eranos«-Jahrbüchern. Die Geschichte von Eranos lässt sich in zwei Phasen gliedern, die Zeit bis zum II. Weltkrieg und die Zeit danach. In der ersten Phase war C.G. Jung unbestritten die führende Gestalt. Neben ihm wirkten mit: Heinrich Zimmer, Friedrich Heiler, Jakob Wilhelm Hauer, Martin Buber, Louis Massignon, Walter F. Otto und Karl Kerényi. In der zweiten Phase traten bedeutende Naturwissenschaftler wie Adolf Portmann und Erwin Schrödinger dazu. Ihren Höhepunkt erlebten die Konferenzen in den 1950er und 1960er Jahren unter der Mitwirkung herausragender Religionswissenschaftler: Gershom Scholem, Henry Corbin, Mircea Eliade, D.T. Suzuki, Gilles Quispel, Erich Neumann, Gerardus von der Leeuw, Raffaelo Pettazoni, Ernst Benz, Paul Tillich, Gilbert Durand, James Hillmann und Antoine Faivre.

Was Eranos kennzeichnete, war die Bereitschaft, »Mythen und Symbole Ernst zu nehmen, und deren Bedeutung für die Geschichte und die moderne Kultur zu untersuchen«. Sie standen in Zusammenhang mit einer Reihe weiterer Gegenstände, die eines gemeinsam hatten: sie alle gehörten jener Kategorie von Themen an, die von der Aufklärung ausgegrenzt und auf den Kehrichthaufen der Geschichte geworfen worden waren. Durch diese Verengung des Weltbildes war es nahezu unmöglich geworden, über Mythen oder Symbole zu sprechen, ohne Themen zu berühren, die mit Mystik, Esoterik, Magie oder dem Okkulten zusammenhingen. Die nachaufklärerische Neigung, alles, was Wissenschaft und Rationalität angeblich entgegengesetzt war, in einen Topf zu werfen, hatte allerdings eine paradoxe Folge: der gesamte Bereich ließ sich begrifflich kaum mehr fassen, da seine Bestandteile viel zu disparat waren. Eranos beschäftigte sich mit einem Gegenstandsgebiet, zu dem alles gehörte, was sich durch seine Widerständigkeit gegen die aufklärerische Rationalität und das moderne Wissenschaftsverständnis auszeichnete.

Die führenden Mitwirkenden schienen von Empfindungen der Dringlichkeit und intellektuellen Verantwortung bewegt, was manchmal zu missionarischen Beschwörungen der »Krise der modernen Welt« führte. Worin bestand diese Krise? Die Aufklärung und der Positivismus, so die Eranos-Auffassung, waren einem gravierenden Fehlurteil erlegen, als sie glaubten, Mythen, Magie und das Irrationale würden verschwinden, wenn sie diese auf den Kehrichthaufen der Geschichte würfen. Der naive Glaube an die Rationalität, die Zivilisation und den Fortschritt waren jedoch durch die Katastrophe der beiden Weltkriege zertrümmert worden. Dieses Trauma hatte viele Gelehrte zu einem neuen Nachdenken über Modernisierung, Zivilisation und Fortschritt bewegt. Zu ihnen gehörte auch C.G. Jung.

Jung war der Ansicht, das »Andere« der westlichen Rationalität werde niemals verschwinden, weil seine Quelle das »Unbewusste« sei. Die primitiven oder wilden Energien des persönlichen und kollektiven Unbewussten konnten eine gewisse Zeit unter die Schwelle des Bewusstseins gedrängt werden, aber die unterdrückten Energien konnten jederzeit wieder ausbrechen und alles in Trümmer schlagen. Manche Zeitgenossen Jungs, wie Klages, Schuler oder George, sehnten diesen Moment geradezu herbei, weil sie den Rationalismus und die bürgerliche Gesellschaft verabscheuten. Ihre Gegner im linken Spektrum wie Horkheimer und Adorno identifizierten den Mythos und das Irrationale mit gefährlicher Regression und Barbarei, kamen aber am Ende zur Einsicht, dass diese Mächte nicht zerstört werden könnten, weil sie zur Dialektik der Aufklärung gehörten. Zwischen diesen beiden Extremen gab es Denker, die den Mythos als zutiefst ambivalent betrachteten, wie zum Beispiel Thomas Mann, der in ihm die Quelle des Lebens und der Kreativität sah, zugleich aber auch eine dämonische Macht des Todes und der Zerstörung, wenn er auf Kosten der »Humanität« zur Entfaltung gebracht werde.

All diesen Intellektuellen der Zwischenkriegszeit war gemeinsam, dass sie die Existenz von etwas anerkannten, das die Aufklärung übersehen, ignoriert oder unterschätzt hatte: dass weder der Einzelne noch das Kollektiv vom Verstand allein leben können. Wenn das zutraf, welche Rolle sollte dann dem Mythos, dem Symbol und dem Irrationalen im modernen Leben zugewiesen werden?

Das war laut Hanegraaff die Grundfrage von Eranos. Die Antworten waren sehr unterschiedlich. Während Jung eine Integration der bewussten und unbewussten Schichten der Seele befürwortete, erklärte Corbin der Moderne den Krieg. Hanegraaff interessiert die Frage, welchen Einfluss die Eranosgemeinde auf die Art hatte, wie das Gebiet des Esoterischen nach dem II. Weltkrieg begrifflich Gestalt annahm. Jung als dominierender Figur der ersten Phase in der Eranosgeschichte gilt daher zunächst seine Aufmerksamkeit.

Jung wurde als »spätgeborener Romantiker« bezeichnet, Hanegraaff sieht ihn als Nachfolger des Mesmerismus, des Paracelsismus und der christlichen Theosophie. Dies werde schon deutlich, wenn man das erste Kapitel seines Buches »Wandlungen und Symbole der Libido« (1912) lese. Hier charakterisiert Jung zwei Arten des Denkens, so, wie die Romantiker die Tagseite und die Nachtseite des Bewusstseins beschrieben hatten. Die Nachtseite wird von Jung nicht als etwas beschrieben, was vollkommen jenseits der rationalen Tagseite liegt, sondern als eine andere Art von Rationalität. Das träumerische und assoziative Denken herrschte im Altertum vor und führte zur Mythologie, nicht zur Wissenschaft. Dieselbe Art des Denkens praktizieren auch Kinder und Primitive. Jung zieht eine Parallele zwischen Ontogenese und Phylogenese. Der einzelne Mensch rekapituliert in seiner Bewusstseinsentwicklung die Entwicklungsphasen der Menschheit: daher sind die Träume ein Königsweg nicht nur zum Verständnis des Unbewussten, sondern auch unserer kulturellen Vergangenheit. Gewöhnlich wird diese Theorie der Rekapitulation mit Haeckel in Verbindung gebracht, aber bereits Ennemoser vertrat genau diese Auffassung, sie war Bestandteil der Romantik. Die Ansicht, der Mythos sei »der Traum der Völker« und »der Traum der Mythos des Einzelnen«, war eine naheliegende Folgerung.

Wenn also die Traumdeutung der Schlüssel zur Heilung des Individuums ist, dann ist die Mythendeutung ein Weg zur Heilung des Kollektivs. Wenn Gesundung bedeutet, die »Materialien des Unbewussten« Erst zu nehmen und ins Bewusstsein zu integrieren, dann ist es für die europäischen Volker überlebenswichtig, ihr kollektives Unbewusstes nicht zu unterdrücken, sondern zu integrieren. Wer diese Integration unterlässt, entwickelt unweigerlich Pathologien. Die Bilder und Erzählungen unserer Träume beruhen auf denselben grundlegenden Strukturen wie die Mythen und Symbole der Menschheit im allgemeinen: den Archetypen. Die Parallele zum Entwicklungsdenken Ennemosers ist nicht zu übersehen. Das Bewusstsein der Menschheit entwickelt sich von früheren zu späteren Kulturstufen, die europäische Bewusstseinsform ist die derzeit höchste, reifste. Das heißt aber aus der Sicht Jungs nicht, und das ist das neuartige an seiner Deutung, dass sie auch die gesündeste ist. Denn im Verlauf der Reifung werden die früheren Formen des Bewusstseins vom rationalen Bewusstsein abgespalten und das letztere vereinseitigt sich. Die Folge ist eine neurotische Kultur, die jederzeit von Eruptionen der unterdrückten libidinösen Energie bedroht ist.

Jung war mit der Literatur des romantischen Mesmerismus zutiefst vertraut, im Gegensatz zu seinen heutigen Interpreten, die von diesem Kontinent des Denkens so gut wie nichts wissen. Denn genau dieser Kontinent ist es, der laut Hanegraaff erst ein Verständnis der Jungschen Weltsicht ermöglicht, insbesondere erklärt er die bleibende Faszination, die das Okkulte auf Jung ausübte. Jung wusste, dass die hysterischen und somnambulen Patienten der französischen Psychiater dieselben Fähigkeiten und Symptome zeigten, wie sie bereits von Kerner und anderen Romantikern beschrieben worden waren. Ihm war auch klar, dass der moderne Spiritismus aus der Tradition des Mesmerismus hervorgegangen waren, dass er dieselben Techniken benutzte und zu denselben Trancezuständen führte, wie jener. Daher konnte ihm Freuds Forderung, er solle an seiner Sexualtheorie als »Bollwerk gegen die schwarze Schlammflut des Okkultismus« festhalten, nur grotesk erscheinen. Freud schien unter »Okkultismus« all das zu verstehen, was die Religion und Philosophie über die Psyche in den letzten hundert Jahren dank dem Mesmerismus gelernt hatten. Jungs Beschäftigung mit dem Okkultismus war zentral für sein Verständnis der Psychologie. Sein Ziel war es, die Psychologie als Grundwissenschaft für alle anderen Wissenschaften zu etablieren. Voraussetzung dieser Idee war die romantische Sicht auf die Seele als eines Reservoirs mysteriöser Kräfte.

Daraus erklärt sich das laut Hanegraaff »merkwürdige Paradox«, dass Jung, der in seiner Autobiografie wie ein Initiierter erscheint, immer darauf beharrte, empirischer Wissenschaftler zu sein. (Die unausgesprochene Parallele zu Steiner wird hier besonders offensichtlich). Die Mesmeristen betonten, sie erforschten Tatsachen des Bewusstseins, die der natürlichen Welt angehörten, und nichts mit Wundern oder dem Übernatürlichen zu tun hätten. Wenn sich jemand aus der Sicht der Romantiker der Sünde gegen den Empirismus schuldig gemacht hatte, dann die Ideologen der Aufklärung, die die Phänomene des Mesmerismus und Somnambulismus schlichtweg leugneten oder als Schwindel und Einbildung abtaten. Auch Jung verschrieb sich wie William James einem radikalen Empirismus, der keine apriorischen Annahmen darüber macht, was Tatsachen sind und was nicht. Daher interpretierte er auch seine ungewöhnlichsten Visionen empirisch, nicht als Kontaktaufnahme zu übernatürlichen Wesen, sondern als Beweis für die Tatsache, dass die Natur eine Nachtseite besitzt, die er als »das Unbewusste« bezeichnete. Diese Nachtseite sei, so Jung, von der Aufklärung als Gegenstand wissenschaftlicher Forschung zu Unrecht verworfen worden.

Was bedeutete all dies für den Umgang von Eranos mit der Religion und für die Erforschung der Esoterik? Jung war überzeugt, die Psychologie werde zur Grundlage aller anderen Wissenschaften werden, auch zur Grundlage der Geschichtswissenschaft. Auch in dieser Beziehung gibt es eine bemerkenswerte Parallele zu Ennemoser. Dieser war überzeugt, der Mesmerismus sei die neue revolutionäre Wissenschaft, Jung wies der Psychologie diese Stellung zu. Die Nachtseite Mesmers wurde bei Jung zum Unbewussten. Beide untersuchten die Tatsachen des Bewusstseins bei gegenwärtigen Patienten und in der Geschichte, indem sie die Berichte der Vergangenheit nach Beweisen für vergleichbare Phänomene und Erfahrungen durchforsteten. Das Ergebnis war dasselbe: Alles, was von der Aufklärung auf den Kehrichthaufen der Geschichte geworfen worden war, rückte wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Aber beide plädierten dafür, dieses Gebiet neu zu verstehen: als Äußerungen der Seele und ihrer geheimnisvollen Kräfte. Und als solchen sollte ihnen eine zentrale Bedeutung für das Verständnis der Kultur und Zivilisation zukommen, da diese Erzeugnisse ebendieser Kräfte waren.

Aber Hanegraaff sieht zwei Unterschiede zwischen Ennemoser und Jung. Ennemoser dachte in den Kategorien der christlichen Heilsgeschichte, für ihn gipfelte die Entwicklung der Menschheit im Erscheinen Christi und der »absoluten Religion«. Für Jung dagegen gab es eine verborgene Spannung zwischen den tieferen, heidnischen Schichten des Unbewussten und den höheren, die sich durch das »Judäochristentum« auf ihm abgelagert hatten. Die Probleme der Moderne konnten daher auch als unbewusste Auseinandersetzung zwischen dem christlichen Bewusstsein und dem heidnischen Unterbewusstsein interpretiert werden. Diese Verknüpfung des Unbewussten mit dem Heidentum und des Bewusstseins mit dem Christentum war neu. Dadurch kehrte das alte Motiv der Apologeten und Antiapologeten wieder in die Diskussion zurück.

Und der zweite Unterschied bestand darin, dass Jung die Lücke des »dunklen Mittelalters« in Ennemosers Geschichtsbild mit der Alchemie ausfüllte. Sie stellte für ihn die historische Verbindung zwischen der Gnosis und dem Neuplatonismus der Antike und der modernen Psychologie dar. Die Gnosis erschien ihm als Suche nach der Individuation, als Suche nach dem wahren Selbst, nach der »inneren Sonne«. Das Bild der inneren Sonne hat weniger mit der Gnosis zu tun, in der es nicht vorkommt, als mit der romantischen Vorstellung der Herzgrube und dem Herzen in Swedenborgs spiritueller Anthropologie. Die Gnosis repräsentierte für Jung die Nachtseite des Denkens, die sich den Rätseln des Daseins intuitiv und mit der Sprache der Bilder näherte, im Gegensatz zum Rationalismus, der sich der diskursiven Sprache bediente.

Daher konnte die Gnosis als das Unbewusste der christlichen Orthodoxie erscheinen, ihre reiche Mythologie und Symbolik war für Jung Ausdruck der unterdrückten Nachtseite der Religion. Und im Mittelalter hatte die Alchemie die Rolle der Gnosis übernommen.

Aus Hanegraaffs Sicht besteht das Grundproblem der Jungschen Weltdeutung nicht darin, dass er die gnostische oder alchymische Symbolik als Ausdruck unbewusster Prozesse auffasste, sondern darin, dass er sie und mit ihm viele, die ihm folgten, als Methode der Geschichtserkenntnis missverstand. Die Psychologie suche nach allgemeinen Gesetzen des seelischen Lebens und wenn sie behaupte, diese Gesetze auf die kollektive Psyche und ihre geschichtliche Entwicklung anwenden zu können, dann reduziere sie die einzigartigen geschichtlichen Ereignisse auf ebendiese Gesetze. Im Gegensatz dazu gehe es in der Geschichte aber gerade nicht um solche allgemeinen Gesetze, sondern um das, was aus den Quellen über singuläre Ereignisse empirisch eruierbar sei. Geschichte befasse sich mit Singularitäten, Psychologie, wenn sie nach allgemeinen Gesetzen strebe, mit Universalien. Daher ist Jungs Psychologie in den Augen Hanegraaffs geradezu eine »Antithese zur historischen Methode«. Zwar glaubte er im allgemeinen an eine Entwicklung des menschlichen Bewusstseins, aber er interessierte sich nicht für die Erforschung konkreter geschichtlicher Ereignisse. Vielmehr fahndete er nach den psychischen Strukturen und Vorgängen, die all diesen Ereignissen zugrunde lagen. Hanegraaff, der sich als Historiker versteht, sieht darin eine Verdammung seiner Profession zu Sklavendiensten für den Psychologen, der die geschichtlichen Daten, die der Historiker sammle, lediglich dazu benutze, seine allgemeinen Theorien zu illustrieren. Dass die Geschichtswissenschaft fundamentaler als die Psychologie sein könnte, weil sie zu zeigen vermag, wie sich bestimmte Psychologen durch bestimmte kontingente historische Umstände und ihre individuelle Reformulierung der Geschichte gegenüber anderen durchsetzten, liegt laut Hanegraaff außerhalb der Denkmöglichkeiten der Jungschen Psychologie.

Die Inkompatibiltät der Jungschen Psychologie mit den Prinzipien der Geschichtsforschung ist laut Hanegraaff heute unbestritten. Dennoch haben nach dem II. Weltkrieg nicht wenige Historiker der Alchemie seine Deutungen übernommen. Jung schien nicht nur den Schlüssel für die Interpretation eines Forschungsgebietes gefunden zu haben, das von der herrschenden Geschichtswissenschaft verachtet wurde, er schien auch seine Bedeutung für den modernen Menschen erschlossen zu haben.

Die Jungsche Interpretation eröffnete nicht nur der Alchemieforschung neue Perspektiven, sondern auch der Esoterikforschung. Dabei spielte seine Theorie der Synchronizität eine zentrale Rolle. Sie bot eine Alternative zum Denken in Kausalitäten und stellte die grundlegenden Annahmen der cartesischen und newtonschen Weltsicht in Frage, indem sie diese durch eine psychologische Reinterpretation von Analogien und Korrespondenzen ersetzte. Damit machte sie den »magischen Aberglauben«, den die Aufklärung verworfen hatte, wieder salonfähig. Die Jungsche Psychologie stellte einen Generalangriff auf die Grundlagen des Positivismus des 19. Jahrhunderts dar. Die Theorie der Synchronizität liest sich wie eine Rehabilition der »magia naturalis« der Renaissance, die mit Hilfe der modernen Psychologie neu gedeutet und mit der Quantentheorie versöhnt wird. Die modernste Form der Physik und die Tiefenpsychologie taten sich zusammen, um den Positivismus als Aberglauben zu entlarven und die Wiederkehr der Magie als Wissenschaft zu verkündigen.

Aus der Sicht Hanegraaffs besteht die Bedeutung Jungs darin, dass er die romantische Idee einer Geschichte der magischen Nachtseite der Natur und ihrer experimentell erforschbaren Erscheinungsformen aufgriff, um diese in Begriffen der modernen Psychologie als Geschichte des von der westlichen Kultur unterdrückten Unbewussten zu reformulieren. Daraus resultierte eine höchste attraktive Erzählung mit einer eigenständigen Logik. Es ist die Erzählung einer esoterischen Gegentradition, die immer als der verborgene Schatten der herrschenden Kultur gegenwärtig war, von der Gnosis und den antiken Mysterienkulten, über die Alchemie und andere okkulte Wissenschaften bis zu Paracelsus, der romantischen Naturphilosophie und der modernen (Jungschen) Psychologie. Die Vertreter der offiziellen Lehre hatten immer versucht, diese Gegentradition zu unterdrücken, waren letztlich aber nie erfolgreich, weil diese Gegentradition, ebenso wie das Unbewusste, das versteckte Geheimnis ihrer eigenen Existenz und zugleich die Quelle war, aus der sich ihr Leben spies. Die positiven Religionen waren ein Produkt ihrer Zeit und der historischen Umstände, aber in ihrem Untergrund gab es immer ein Substrat, eine Art objektives Heidentum, das in Symbolen und Mythen zum Ausdruck kam und in der ewigen Suche des Menschen nach Selbsterkenntnis, nach Gnosis wurzelte.

Eranos und der Religionismus: Scholem, Corbin, Eliade

Die Bedeutung der Eranoskonferenzen liegt laut Hanegraaff in einem spezifischen Zugang zur Religion, der von vielen Wissenschaftlern gesucht wurde, die sich seit den 1960er Jahren mit hermetischen und okkulten Traditionen zu beschäftigen begannen. Diesen spezifischen Zugang hält Hanegraaff für »religionistisch«. Er beinhaltet das aus seiner Sicht »unmögliche« Projekt einer »Geschichte der Wahrheit«, den Versuch, aus historischen Quellen eine ewige universelle Wahrheit zu destillieren. (Die Gegenposition, dass jede historische Quelle einen Aspekt der universellen Wahrheit enthält, ließe sich gegen Hanegraaff durchaus mit vernünftigen Argumenten vertreten). Die Hauptfiguren von Eranos bäumten sich laut Hanegraaff gegen die Endlichkeit von Zeit und Geschichte, gegen den Wandel und die Veränderung auf, sie lehnten die nihilistische Behauptung ab, alles sei vergänglich und sinnlos und ende in Auflösung und Tod.

Aber es gab im Eranoskreis unterschiedliche Auffassungen über das Verhältnis von Zeit und Ewigkeit. Auf der Seite der Zeit stand Gershom Scholem, der die kritische Philologie und Geschichtsforschung verteidigte, und nur selten Einblick in seine tieferen Motive gewährte. In einem Brief an seinen Verleger schrieb er einmal, die Geschichte möge am Ende eine Illusion sein, aber ohne diese Illusion werde der Mensch unter den Bedingungen der Zeitlichkeit nie zu einem Einblick in die übergeschichtliche Wirklichkeit gelangen. Der »sonderbare, konkave Spiegel der philologischen Kritik« erlaube es dem heutigen Menschen, einen Zipfel jener »mystischen Totalität« zu erfassen, die in dem Moment ungreifbar werde, in dem sie in der Zeit erscheine. Immer habe er in der Hoffnung gelebt, dass der »Vorhang der Geschichte« für einen Moment aufgehen und aus der Illusion von Entwicklung die Wahrheit hervorleuchten möge.

Wie alle anderen führenden Figuren von Eranos war auch Scholem überzeugt, dass die metaphysische Wahrheit nicht in der äußeren Geschichte zu finden sei, dass der Historiker, solange er Historiker bleibe, sie nicht zu finden vermöge. Aber während Corbin oder Eliade mit ihrem christlichen Hintergrund die Geschichte als Gefängnis oder Albtraum betrachteten und den Historismus als ihren Erzfeind, war Scholem als Zionist von der Notwendigkeit einer geschichtlichen Existenz überzeugt. Denn in der Geschichte lebt für den Juden die messianische Hoffnung, sie ist die Voraussetzung, die das Erscheinen des Messias vorbereitet. Aber gleichzeitig macht die Einsicht, dass das Ewige nicht in der Zeit erscheinen kann, die messianische Hoffnung zu einer Erwartung des Unmöglichen. Unter diesen Umständen muss der Historiker es wagen, in den Abgrund der Geschichte hinabzusteigen, mit nichts als der verzweifelten Hoffnung, dass wider alles Erwarten das Transzendente dennoch eines Tages in die Geschichte einbrechen könnte. In der Zwischenzeit sind die Juden in die Geschichte verbannt, geleitet allein von Mythen und Symbolen, die einen flüchtigen Blick auf das Ewige erlauben, das sie enthüllen und – indem sie es enthüllen – sogleich wieder verbergen. Scholem kann man nach all dem als Historiker betrachten, der die Versuchung des Religionismus empfand, aber ihr nicht unterlag.

Auf der anderen Seite des Spektrums stand, als erklärter Anti-Historiker, Henri Corbin (zu Corbin siehe auch: »Geistleib und Himmlische Erde«). Zwar verachtete er das Quellenstudium nicht, sondern verbrachte einen Großteil seines Lebens mit diesem zu, aber er übernahm die Sichtweise seiner Quellen (iranischer und islamischer Mystiker und Theosophen) und stellte sie radikal der »Krankheit«, »Profanierung«, »Korruption«, ja »satanischen Verkehrung« des historischen Reduktionismus gegenüber. Er nahm nicht die Haltung eines Historikers, sondern eines Phänomenologen in der Tradition Husserls und Heideggers ein. Sichtbare Phänomene können laut Corbin nie die Ursache anderer Phänomene sein. Das, was sie hervorruft, ist unsichtbar. Was immer in der empirischen Welt erscheint, hat seine Ursachen in einer überempirischen Welt. Jede Geschichte, die in der sichtbaren Welt stattfindet, ist daher nach Corbin die Imitation von Ereignissen, die zuerst im Himmel, in der Seele stattfinden, daher kann der Ort der heiligen Geschichte auch nicht auf Erden gefunden werden. Wenn Corbin von Esoterik sprach, dann meinte er diese spirituelle Sicht auf die Welt. Daher ist es laut Hanegraaff müßig, Corbins Werk aus Sicht einer kritischen Geschichtsforschung zu beurteilen. Er war an »historischer Wahrheit« schlicht nicht interessiert – was immer dieser Begriff auch bedeuten mag. Dass er sich für historische Äußerlichkeiten nicht interessierte, geht deutlich aus seinem Text »Das Bild des Tempels im Konflikt mit profanen Normen« hervor, den er kurz vor seinem Tod bei einem Eranostreffen vortrug. Hier sprach er über die Beziehung zwischen der christlichen Urgemeinde und den Essäern, den Templern und der Gralslegende, dem Illuminismus der Templermaurerei und Swedenborgs »Neuem Jerusalem«. Um diese Beziehung verstehen zu können, müsse man sich jenseits des Werdens und der historischen Kausalität positionieren, jenseits der Normen der Chronologie, der archivalisch belegbaren Abhängigkeiten und Dokumente. Das Bild (die »imago«) des Tempels existiere auf einer anderen Ebene der Realität, in einer »imaginalen« Welt (nicht zu verwechseln mit imaginär), die ihren irdischen Manifestationen dem Wesen nach vorausgehe. Und deswegen ist es dieses imaginative Bild, dieses Urbild, das seine historischen Erscheinungsformen hervorbringt und nicht umgekehrt. »Historische Kausalität« (was auch immer darunter zu verstehen ist) ist also per definitionem irrelevant. Daher erkläre Corbin die von ihm hergestellten »historischen« Beziehungen auch »ex cathedra«, wie Hanegraaff formuliert, als immun gegen jegliche historische Falsifikation. Mit demselben Argument erledige sich auch jeder Versuch, die Abhängigkeit Corbins von zeitgenössischen Esoterikern aufzuzeigen. Durch Corbin sprach, nach seiner eigenen Auffassung, die überhistorische Wahrheit und jeder Einwand gegen sie war daher gegenstandslos.

Corbin begriff nach Auffassung Hanegraaffs vermutlich den tiefen Gegensatz zwischen »Geschichte« und »Wahrheit« mehr als jeder andere seiner Mitstreiter. Dieser Konflikt betrifft den Kern jedes Studiums der Religion und der westlichen Esoterik. Hanegraaff legt deshalb größten Wert darauf, diesen Widerspruch verständlich zu machen. Zwei Formen des Denkens stehen sich gegenüber, die in sich konsistent sind, aber sich gegenseitig ausschließen. Beide können von ihren jeweiligen Voraussetzungen her die andere als Irrtum erweisen. Aber weil sie keinerlei gemeinsamen Maßstab besitzen, ist es unmöglich, zu entscheiden, welche von beiden wahr oder falsch ist. Am Ende bleibt nur die Wahl zwischen der einen oder der anderen.

Scholem entschied sich für die Geschichtsforschung und akzeptierte, dass die Wahrheit zu einem Schimmer der Hoffnung am Rande des menschlichen Erfahrungshorizonts verblasste. Corbin wählte den beschwerlichen Pfad der Metaphysik und wurde zu einem »Fremdling im Okzident«, indem er die Partei einer geistigen Welt ergriff, die für nahezu alle Zeitgenossen unbegreiflich geworden war. Corbin war nicht weniger dogmatisch als die Hautvertreter des Traditionalismus, René Guénon oder Frithjof Schuon, zu denen er eine komplexe Beziehung unterhielt. Er verwarf ebenso wie diese die moderne Welt mit ihren Grundlagen und beanspruchte für seine eigene Weltsicht, sie sei die einzig wahre.

Scholem opferte die »Wahrheit« im Interesse der Geschichte, Corbin opferte die Geschichte im Interesse der »Wahrheit«.

Die dritte große Gestalt im Kreis von Eranos, Mircea Eliade repräsentiert nach Hanegraaff dagegen das ungelöste Paradox des Religionismus als solchen: was er als Geschichte der Religion bezeichnete, war in Wahrheit ein Versuch, die Geschichte hinter sich zu lassen. Eliade spezialisierte sich nicht auf ein bestimmtes Forschungsgebiet, wie Scholem oder Corbin. Er war Generalist und bezog seine Kenntnisse aus sekundären Quellen. Er war auch in seinem Herzen kein Gelehrter, sondern ein Poet. Deshalb interessierte er sich auch wenig für Methodenfragen und es ist aus Hanegraaffs Sicht mehr als ironisch, dass ausgerechnet sein Werk zum Gegenstand intensiver methodologischer Debatten auf dem Feld der Religionswissenschaften wurde.

Aber was Eliade verständlich macht, ist gerade dieser Mangel an Methodenreflexion. Was ihn antrieb, war nicht die Überzeugung, die richtige Methode der Erkenntnis gefunden zu haben, sondern das tiefe Bedürfnis, der menschlichen Existenz in der Geschichte einen Sinn abzugewinnen. In seiner obsessiven Aktivität als Schriftsteller spiegelt sich laut Hanegraaff sein Bewusstsein der Vergänglichkeit und des Todes. Vorübergehende Befreiung von diesem Bewusstsein boten lediglich besondere Momente der Gnade. Eliade war zeit seines Lebens auf der Suche nach solchen Momenten, die er in der verlorenen Kindheit, den Zeiten der Vergangenheit, der kosmischen Religion oder dem Paradies suchte. Der Begriff des »illud tempus«, der primordialen Zeit, der für sein Werk zentral ist, die Vorstellung einer Zeit, die von den Mythen beschworen wird, ist im Grunde der paradiesische Zustand des Bewusstseins, der die Kindheit auszeichnet. Wenn Eliade vom »Terror der Geschichte« sprach, meinte er damit nicht eine bestimmte Form des Historismus, sondern die schmerzliche Erfahrung, dass im Alltag des Erwachsenen die Dinge einfach passieren, ohne eine tiefere Bedeutung zu haben. Sein nach dem II. Weltkrieg verfasster »Mythos der ewigen Wiederkehr« ist eine zutiefst persönliche Antwort auf den Terror und die Grausamkeit der Geschichte. Er betont darin, dass der Mensch sich gegen die nihilistische Auffassung zur Wehr setzen müsse, alle was geschehe, sei gut, nur weil es eben geschehe.

Eliade behauptete aber nie, geschichtliche Ereignisse hätten eine Bedeutung und im Gegensatz zu Corbin oder Scholem entwickelte er nie eine präzisere Idee der metahistorischen Wirklichkeit. Seine fortlaufenden Bezugnahmen auf das »Heilige« bleiben merkwürdig unbestimmt. Im Grunde postulierte er nur, dass etwas Absolutes existieren müsse, weil die Alternative der Nihilismus und die Verzweiflung wäre. So gesehen, erscheint sein Werk als lebenslanger Versuch, sich ebendieser Verzweiflung zu erwehren. In Mythen und Ritualen der zyklischen Wiedergeburt sah er ein Gegenmittel zur Endlichkeit der Ereignisse in einer endlos fortlaufenden Zeit, in der Vorstellung einer nicht weiter erklärbaren Realität des Religiösen ein Gegenmittel zum historischen Reduktionismus, in ekstatischen Techniken und dem imaginativen Wiedereintritt in die archaische und primordiale Welt eine Befreiung aus dem Gefängnis der Zeit. Aber in all dem suchte er nicht nur für sich persönlich eine Erlösung von der Last der Vergänglichkeit, sondern sah darin auch eine notwendige Therapie für die gesamte Moderne.

Bei seiner Suche nach einem Ausweg aus der historischen Welt tauchte Eliade in eine Fülle esoterischer Strömungen unter. Okkultisten spielten in seiner Jugend eine Rolle bei der Erweckung seines Interesses an vergleichender Religionswissenschaft, Alchemie faszinierte ihn ebenfalls, in Italien beschäftigte ihn die Renaissance und eine Vielzahl weiterer zeitgenössischer esoterischer Strömungen findet Erwähnung in seinen Werken. Nach dem II. Weltkrieg verkehrte er in Paris mit Alchemisten, Gurdijeff-Anhängern und Neognostikern. Aber weitaus bedeutender war der Einfluss, den die Traditionalisten Guénon, Coomaraswamy und Evola auf ihn ausübten. Er suchte zwar diesen Einfluss zu verschleiern, aber nicht wenige seiner Ideen stammen aus dem Traditionalismus: das Symbol des »Zentrums«, der Begriff der »Reintegration«, sein Verständnis der »Archetypen«, in dem er sich nicht Jung anschloss, sondern Coomaraswamy.

Die zwei wichtigsten Kapitel des »Mythos der Reintegration« haben sich als nahezu wörtliche Zitate eines Textes von Coomaraswamy erwiesen. Dennoch wurde Eliade nie zu einem überzeugten Traditionalisten. Er glaubte weder an eine »primordiale Tradition«, noch an eine initiatische Überlieferungskette des traditionellen Wissens oder einen zyklischen Niedergang, und vor allem sah er in traditionalistischen Glaubenssätzen keine metaphysischen Wahrheiten, sondern Ausdrucksformen eines grundlegenden menschlichen Bedürfnisses, des Bedürfnisses nach Einheit und Wiedereingliederung in das Leben des Kosmos.

Eliade entfaltete besonders in den 1960er Jahren eine enorme Wirkung, was dafür spricht, dass seine Therapeutika von vielen Menschen als heilsam empfunden wurden. Seine Interpretationen von Religion sollten über die sogenannte Chicagoer Schule zur dominierenden Sichtweise in den Religionswissenschaften werden. Seine Popularität fiel mit einem Aufschwung Jungs und weiterer Eranos-Autoren in den USA zusammen. Während in Europa all die Themen, die diese Autoren behandelten, der politischen Tabuisierung zum Opfer fielen, erlebten sie in den USA zur gleichen Zeit einen grandiosen Aufschwung. Hier blühte der Geist von Eranos, zusätzlich gefördert von Autoren wie Joseph Campbell und dem Psychologen James Hillman.

Aber bis in die 1970er Jahre spielten die Strömungen der westlichen Esoterik in den Gesprächen von Eranos keine besondere Rolle. Das änderte sich erst mit dem Auftreten von Antoine Faivre. Scholem hatte sich mit der »Esoterik« des Judentums und Corbin mit jener des Islam beschäftigt, aber niemand hatte sich um die Esoterik des Christentums gekümmert. Dies sollte Faivre tun.

Was verstanden Scholem und Corbin unter Esoterik?

Scholem sah einen scharfen Gegensatz zwischen der kabbalistischen Denkform, die von einem mythischen Universum erfüllt war und dem geschichtsgesättigten Bewusstsein des Rabbinertums. Er vertrat die Ansicht, dieses mythische Universum sei aus dem Heidentum über die Gnosis in das Judentum eingedrungen. Er betrachtete die jüdische Esoterik als Einbruch des nicht-jüdischen mythischen Bewusstseins in das essentiell historische Bewusstsein des Judentums. Aber genau in diesem Synkretismus erblickte er das lebendige Herz, das es dem Judentum ermöglicht hatte, bis in die Gegenwart zu überleben. Die Essenz der jüdischen Esoterik war also nicht spezifisch jüdisch, sondern universell.

Corbin dagegen betrachtete die Esoterik schlicht als die verborgene Wahrheit des Islam, die allein Mystikern und Visionären zugänglich war, nicht aber dem Historiker. Beide Denker vertraten also die Ansicht, die lebendige Essenz, das eigentliche Wesen der monotheistischen Religionen, sei nicht in ihren äußeren, historischen, doktrinären Erscheinungsformen zu finden, sondern durch eine universelle Erfahrung, die von Mythen, Symbolen und religiöser Imagination bestimmt war und letztlich auf eine höhere Erkenntnis göttlicher Mysterien, auf Gnosis abzielte. Diese innere esoterische Dimension betrachteten sie als das wahre Geheimnis der exoterischen Religion. Genau diese Auffassung sollte auch Antoine Faivres Verständnis von Esoterik in der christlichen Kultur des Abendlandes bis in die 1990er Jahre bestimmen.

Corbin und Scholem wollten nicht nur die Lücken der herkömmlichen Geschichtsschreibung füllen, wenn sie sich mit vernachlässigten Strömungen des Islam und des Judentums beschäftigten. Sie wollten auch eine Antwort auf die Frage geben, was im Islam oder Judentum von bleibendem Wert und welche Wahrheit in ihnen enthalten sei. Aus Hanegraaffs Sicht verbarg sich also hinter der historischen Forschung noch ein anderes Projekt normativer Natur, das Mythos und Mystik weit höher schätzte, als Gesetz und Lehre. Aber solche normativen Urteile – so Hanegraaff – mögen sich für Philosophen oder Theologen ziemen, einem Historiker stehen sie nicht zu. Denn die historischen Quellen enthalten keine direkten Aufschlüsse über Wahrheit oder Werte, sie zeigen nur eine Fülle unterschiedlicher, widersprüchlicher menschlicher Meinungen über sie. Dem Historiker steht es nicht zu, sich zum Richter über diese Ansprüche aufzuschwingen und die eine oder andere Partei zu bevorzugen. Er muss sich eines »methodischen Agnostizismus« befleißigen, der allein die Unparteilichkeit gewährleistet. Sobald er die eine oder andere Auffassung als wertvoller betrachtet, endet die wissenschaftliche Geschichtsforschung und die eklektische beginnt.

Selbst Scholem entging aus Hanegraaffs Sicht nicht ganz dieser Versuchung. Noch mehr werden in den Schriften Corbins die »esoterischen« Dimensionen der Religion auf Kosten der exoterischen doktrinären aus einer Randposition in deren Mitte geschoben, ungeachtet der Tatsache, dass die letzteren den Glauben und die Lebensformen der meisten Muslime bestimmt haben. Nach Hanegraaffs Auffassung kann man die esoterischen Dimensionen einer Religion aber nur dann zu ihrem wahren Kern erklären, wenn man die Unterscheidung zwischen Wesen und Erscheinung zugrunde legt, nach der die große Mehrheit der Gläubigen das wahre Wesen ihrer Religion nicht kannte, sondern nur einige wenige Mystiker – und die Wissenschaftler, die sie studieren. Ein solcher Essentialismus ist, so Hanegraaff, »Glaube« und nicht »Wissenschaft«. (Nebenbei bemerkt beruht Hanegraaffs Unterscheidung zwischen wahrer und falscher Wissenschaft auf einem ebensolchen Essentialismus – das Wesen wahrer Wissenschaft besteht demnach darin, den Essentialismus auszuschließen, was den Anspruch auf Pluralität und Neutralität eliminiert; so gesehen ist dem Essentialismus nicht zu entkommen, auch wenn man behauptet, ihm abgeschworen zu haben.)

Wie dem auch sei, nach Hanegraaffs Ansicht führt der Essentialismus in der Esoterikforschung zu einem kryptophilosophischen oder kryptotheologischen Verfahren, das sich fähig glaubt, über die Geschichte hinauszugehen und ein »höheres Wissen« zu erlangen, das Einsichten in die wirklichen Geschehnisse vermittelt. Vieles von dem, was seit den 1960er Jahren als Esoterikforschung ausgegeben wurde, steht – so könnte man Hanegraaffs Argument auch formulieren –, unter diesem »Essentialismusverdacht«. Die betreffenden Publikationen wären dann nicht Wissenschaft, sondern »Religionismus«. Als klassisches Beispiel eines solchen Religionismus betrachtet Hanegraaff in der Tat Eranos.

Wenn Eranos die dominierende Erscheinungsform des Religionismus im 20. Jahrhundert war, dann war die »kritische Theorie« der Frankfurter Schule die Haupterscheinungsform des Aufklärungsparadigmas. Die kritische Theorie hat die Art, wie die deutschen Intellektuellen nach dem II. Weltkrieg die Esoterik betrachteten, tiefgehend beeinflusst. Die Geschichte dieses Einflusses ist noch weitgehend unerforscht. Jedenfalls ist klar, dass die Grundpositionen der kritischen Theorie zur Magie und dem Okkulten keinerlei Originalität beanspruchen können, sondern direkt aus jener Kategorie des »Kehrichthaufens« entstammen, den die Aufklärung geschaffen hat. Die einzige Innovation der Frankfurter Schule bestand darin, dass sie einen engen Zusammenhang zwischen dem sogenannten Irrationalismus und dem Faschismus herstellte. Mythos, Symbol, Mystik, Gnosis und Esoterik bargen per definitionem gefährliche politische und moralische Implikationen.

Georg Lukács entwickelte dieses Argument in seinem Werk »Die Zerstörung der Vernunft« paradigmatisch. Für ihn gab es einen zwingenden Zusammenhang zwischen Vernunft und historischem Fortschritt. Aus dieser Sicht konnte es keine Geschichte der Esoterik geben, denn der Irrationalismus existiert nicht unabhängig von dem, was er verneint, er muss immer eine Form der Reaktion sein und ist untrennbar von reaktionärer Politik. Durch Horkheimer und Adorno wurde diese Denkfigur nach dem II. Weltkrieg unter linksgerichteten Intellektuellen dominant. Jedes Studium von esoterischen oder okkulten Themen unterlag praktisch einem Tabu oder konnte nur im Namen der Ideologiekritik betrieben werden. Selbst der Versuch, diese Gegenstände aus rein historischem Interesse zu untersuchen, unterlag dem Ideologieverdacht und wurde als Ausdruck von Sympathien für den ewigen Feind der Vernunft und des Fortschritts interpretiert.

Auch wenn das religionistische und das aufklärerische Paradigma vordergründig als größte denkbare Gegensätze erscheinen, haben sie nach Hanegraaffs Auffassung mehr gemeinsam als es scheint. Schon im 17. Jahrhundert, als sie das erste Mal in Erscheinung traten, beruhten sie auf ideologischen Axiomen, nicht auf Empirie. Daher weisen sie auch schwerwiegende Defizite auf und eignen sich nicht als methodologische Grundlage für die historische Forschung.

Das antiapologetische Gegenmodell zu beiden hätte sich zu einem Modell des akademischen Studiums der Esoterik entwickeln können, aber sein Potential kam nie zur Entfaltung, weil das gesamte Forschungsgebiet nach Brucker aus der Philosophiegeschichte ausgegliedert wurde und das Aufklärungsparadigma die Herrschaft übernahm. Die Folge war ein Niedergang der historischen Gelehrsamkeit auf diesem Gebiet und das wüste Land am Ende des 19. Jahrhunderts.

Eranos war der erste Versuch im 20. Jahrhundert, diesen Zustand zu ändern, entwickelte sich aber zur Vorhut einer neuen Form des Religionismus, der sich mit Geschichte befasste, um sich von ihr befreien zu können. Die kritische Theorie verlängerte die unhistorische Ideologie des Aufklärungsparadigmas und erstickte die historische Forschung im Keim, indem sie diese Forschung politisch verdächtigte. Zwei Jahrhunderte lag die historische Erforschung der esoterischen Traditionen des Abendlandes deshalb brach. Die Situation änderte sich erst, als die antiapologetische Tradition unter der Fahne der hermetischen Tradition in den 1960er Jahren durch Frances A. Yates in die Akademie zurückkehrte.

Die Rückkehr der Historiker: Von Peuckert und Thorndike zu Frances Yates

Ungeachtet des Niedergangs der esoterischen Diskurse am Ende des 19. Jahrhunderts gab es immer auch Historiker, die in aller Stille ihrem Kerngeschäft nachgingen und Quellen studierten. Während »das Esoterische« in einem Meer von Trivialität versank, beschäftigten sie sich mit Hermetik, Astrologie und Alchemie. Die von Reitzenstein, Bousset und anderen begonnene Arbeit gipfelte in der Publikation von Festugières »La révélation d’ Hermes Trismégiste« Mitte des 20. Jahrhunderts. Daneben befassten sich Historiker am Warburg-Institut mit den esoterischen Traditionen in der Zeit nach der Antike. Diese Arbeit führte schließlich zu den bahnbrechenden Veröffentlichungen von Frances A. Yates. Unabhängig davon leistete ein einzelner, zu Unrecht vergessener deutscher Autor beträchtliche Arbeit: Will-Erich Peuckert. Er war nach Hanegraaff der erste, der den von Colberg und Brucker entwickelten Forschungszugang wieder aufgriff, und versuchte, die vergessene Welt des »hermetisch-platonischen Christentums« aus den Quellen zu rekonstruieren.

In den Autoren der Renaissance sah er die Begründer einer neuen Tradition der »Magie«, und verfolgte diese Tradition im Paracelsismus, der christlichen Theosophie und der Naturphilosophie weiter. Er verfasste eine Reihe von Monografien zu Paracelsus, Sebastian Franck, Jacob Böhme und den Rosenkreuzern, darunter die Bücher »Pansophie«, »Gabalia« und »Das Rosenkreutz«.

Der Konflikt zwischen »heidnischer« Philosophie und biblischem Christentum spielte für Peuckert jedoch keine Rolle. Er interpretierte das Aufkommen der neuen magischen Tradition, insbesondere ihre Fortentwicklung im deutschen Sprachraum, als Folge eines Konfliktes zwischen bäuerlicher Kultur und bürgerlicher Welt. Wie die Romantiker dachte er in Kategorien organischer und teleologischer Kulturentwicklung, historische Epochen betrachtete er wie Lebewesen, die danach streben, ihre inneren Anlagen zur Entfaltung zu bringen. Die magische Weltsicht sah er in der bäuerlichen Lebenswelt des Mittelalters verwurzelt, aber anstatt dass diese bei der Heraufkunft der neuen bürgerlichen Welt verschwand, begann sie zu Beginn der Moderne erst richtig aufzublühen.

Für die dabei entstehende spirituelle Weltsicht prägte er den Namen »Pansophie«. Sie nahm seiner Auffassung nach ihren Ausgang in der Renaissance und entwickelte sich zur vollen Reife in Deutschland in der Naturphilosophie des Paracelsus und der christlichen Theosophie Jacob Böhmes und lebte bis ins 18. Jahrhundert fort. In Goethes »Faust« sah Peuckert ihren archetypischen Ausdruck. Die Pansophie war für ihn eine spezifisch deutsche Schöpfung, sie entfaltete die von Plato beschriebenen zwei Flügel der Seele, den Flügel des Denkens, das die Geheimnisse der Natur ergründet und den Flügel der mystischen Kontemplation, die sich zu einer unmittelbaren Erkenntnis des Göttlichen emporschwingt. Im deutschen Sprachraum wurden aus den beiden Flügeln zwei Lichter: das Licht der Natur und das Licht der Gnade und zwei Bücher, das Buch der Natur und das Heilige Buch, die Bibel. Wie ein roter Faden zieht sich diese Unterscheidung zweier Erkenntniswege durch Peuckerts Schriften und dient als Leitfaden zur Anordnung einer Fülle historischen Materials. Trotz der unbestritten wissenschaftlichen Qualität seiner Arbeiten wurden diese so gut wie ignoriert. Dieser Rezeptionsmangel ist nach Hanegraaff auf die Tabuisierung der esoterischen Forschungsgebiete nach dem II. Weltkrieg in Deutschland zurückzuführen. Obwohl der Volkskundler Peuckert durch das NS-Regime nicht korrumpiert worden war, das ihm bereits 1935 die Lehrerlaubnis entzogen hatte, beschäftigte er sich mit Themen, die mit dem Vorwurf des Irrationalismus belastet waren. Der Rationalismus hatte aus der Sicht der progressiven Intellektuellen die Esoterik »überwunden« und das »völkische« Denken die Volkskunde vollständig kontaminiert. Alles, was auch nur im entferntesten in diese Richtung wies, wurde einem postulierten »Urfaschismus« zugeordnet. Was zu einer genuinen Tradition wissenschaftlicher Esoterikforschung hätte werden können, war aufgrund gesellschaftlicher Ächtung eine Totgeburt.

Etwas anders, wenn auch nicht unbedingt besser erging es dem amerikanischen Historiker Lynn Thorndike, dessen Lebenswerk die achtbändige »Geschichte der Magie und der Experimentalwissenschaften« war, die von 1923 bis 1958 erschien. Dieses nahezu erschöpfende enzyklopädische Werk beruhte auf gründlicher, gewissenhafter Archivarbeit und auch wenn manches darin überholt ist, besitzt es doch einen bleibenden Wert. Aber die Reaktion auf Thorndike war symptomatisch. Schon 1924, beim Erscheinen der ersten beiden Bände, erteilte der Doyen der amerikanischen Wissenschaftsgeschichte, George Sarton, ihm in einer hochemotionalen Attacke eine vernichtende Abfuhr, die mehr über die kollektiven Vorurteile aussagte, in denen Sarton befangen war, als über die Qualität des Werkes.

Die Rezension ist laut Hanegraaff ein Paradebeispiel für die Reifizierung der begrifflichen Kategorien »Magie« und »Wissenschaft«, deren absolute Unvereinbarkeit behauptet wurde. Während Sarton in der Wissenschaft ein fortschreitendes Unternehmen der Wissensakkumulation sah, das auf Rationalität und Skepsis beruht, hielt er die Magie für vollkommen irrational und statisch. Von einer »Geschichte der Magie« zu sprechen, sei deshalb ein Widerspruch in sich. Man könne höchstens eine Geschichte des Krieges zwischen Wissenschaft und Magie schreiben, aber Thorndike tue genau das Gegenteil. Er behaupte, der Magier sei der Vorfahre des modernen Wissenschaftlers, Vernunft die Frucht der Unvernunft und Wahrheit die Frucht von Aberglauben und Okkultismus.

Und in der Tat war Thorndike Pionier einer neuen, unparteiischen Form der Geschichtsschreibung, welche die von Sarton beschworene Urdualität aufweichte und schließlich im Verlauf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu ihrem Untergang führen sollte.

Die durch Thorndike angestoßene Revolution bestand in Folgendem. Er sah zwischen Magie und Wissenschaft keine antithetische, sondern eine konstruktive Beziehung, die Magie war ein der Entwicklung fähiges historisches Phänomen, das von Wissenschaftshistorikern Ernst genommen werden musste. Die Unterscheidung zwischen Magie und Experimentalwissenschaft wurde um so fragwürdiger, je genauer man hinsah. Die Folge war, dass Wissenschaftshistoriker die Magie nicht nur Ernst nehmen, sondern auch zu Historikern der Magie werden mussten. Das Mittelalter erschien nicht mehr als dunkles Zeitalter, sondern als Epoche, in der sich die Wissenschaften weiter entwickelt hatten. Je mehr das Mittelalter als Zeitalter der Experimentalwissenschaft erschien, umso deutlicher wurde auch, dass die Magie in der Neuzeit weiter existierte und dass viele »Helden« des wissenschaftlichen Fortschritts ihr zutiefst verbunden waren.

Thorndike war kein Parteigänger der modernen Wissenschaft, sondern ein an Kontext und Komplexität interessierter Historiker. Er wollte nicht die Moderne und den Fortschritt gegen das Gespenst des Irrationalismus verteidigen, sondern die Vergangenheit gewissenhaft beschreiben. Diese methodischen Grundsätze führten ihn zu einem für Historiker typischen Relativismus, der Sarton zutiefst beunruhigte.

Während Peuckert und Thorndike die Magie noch als ein Überbleibsel der Geschichte betrachteten, änderte sich dies schlagartig mit den Publikationen von Frances A. Yates ab den 1960er Jahren. Sie vertrat genau jene Ideen, die Sarton noch als Gefahr erschienen waren: dass der Magier der Vorfahr des heutigen Wissenschaftlers und die Vernunft ein Kind der Unvernunft sei. Zwar sah sie das Mittelalter immer noch als dunkle Zeit, aber statt ihm die Magie und der Renaissance die Wissenschaft zuzuordnen, sah sie in der Magie sowohl rückwärts als auch vorwärts gewandte Elemente. Ja, sie hielt die Magie sogar für den Schlüssel zum Verständnis der Renaissance. Der dunklen, schmutzigen Form der Magie des Mittelalters stellte sie die neue, lichte, vernunfterfüllte Magie der Renaissance gegenüber, welche ihrer Auffassung nach die italienischen Humanisten vertreten hatten. Die Magie war mit einem Mal eine eigenständige intellektuelle Tradition voller Innovationskraft, die möglicherweise zur modernen Wissenschaft führte. Zwar hielt sie immer noch am Gegensatz zwischen beiden fest, aber in Wahrheit untergrub ihre Forschung diese Dualität. Ihre Arbeit zerstörte die Grundbegriffe, die bisher für die historische Forschung wegleitend gewesen waren und zwang die Historiker dazu, die Standarderzählungen von der Entstehung der modernen Wissenschaft neu zu schreiben.

Yates arbeitete seit 1936 am Warburg-Institut in London, dessen Mitarbeiter Saxl, Panofsky, Cassirer, Klibansky und Wind schon länger die Geschichte der Bilder und Symbole in die allgemeine Geschichte zu integrieren versuchten. »Giordano Bruno und die Hermetische Tradition« war das erste ihrer einflussreichen Bücher (1964), durch die sie das sogenannte Yates-Paradigma etablierte. Ein Teil ihres Erfolges erklärt sich aus ihrem Stil, der Staunen und Begeisterung weckt und sie selbst als Außenseiterin erscheinen lässt, die grundlegende Annahmen der herrschenden Lehre in Frage stellt. Diese Haltung traf den Zeitgeist der 1960er Jahre, und brachte die Gefühlslage einer sich damals entwickelnden Gegenkultur zum Ausdruck.

Das Yates-Paradigma behauptete, es habe eine hermetische Tradition gegeben, und diese sei eine bisher vernachlässigte Dimension der modernen Geistes- und Kulturgeschichte. Diese Tradition sei lebendig, vielschichtig und folgte ihren eigenen Gesetzen. Sie sei eine Tradition, die von Magie, persönlicher Erfahrung und der Macht der Imagination beherrscht war, die eine verzauberte, ganzheitliche Weltsicht vertrat, die Natur als Lebewesen betrachtete, das von geistigen Energien erfüllt ist und dem Menschen eine zentrale, optimistisch gedeutete Rolle in der Welt zuwies. Sie erschien wie eine tief in der europäischen Geschichte verwurzelte Gegenkultur, die mit jener verwandt war, nach der die 68er-Generation sich sehnte.

Die Erzählung von Yates entbehrte auch nicht der Tragik: Bruno starb auf dem Scheiterhaufen, die rosenkreuzerischen Hoffnungen gingen im 30-jährigen Krieg unter, und Casaubon versetzte dem Fundament der Hermetik den Todesstoß. Aber den Lesern der 1960er- und 70er Jahre erschien es so, als habe die magische und verzauberte Weltsicht der Renaissance eine Schlacht gegen das kirchliche und wissenschaftliche Establishment verloren, aber nicht den Krieg, den diese Leser selbst fortzusetzen gewillt waren. Yates demaskierte die gängigen Erzählungen über den wissenschaftlichen Fortschritt als ideologische Konstrukte und setzte eine bessere Erzählung von der Wiederverzauberung der Welt dagegen.

Aber dieses Paradigma hielt der historischen Kritik doch nicht stand. Die von Yates beschriebene hermetische Tradition hatte – in der Form wie sie von ihr geschildert wurde – nie existiert. Hermes Trismegistos war nur einer von vielen alten Weisen das Diskurses über alte Weisheit und er war nicht einmal der wichtigste. Plethon und Ficino sprachen vielmehr von einer Tradition des Zoroaster. Und der einzige, der explizit an eine hermetische Tradition glaubte, Lodovico Lazzarelli wurde von Yates aus ihrer Geschichte hinausgeschrieben, weil er nicht zu ihr passte. Zwar ist die Rezeption der Hermetika in der Renaissance wichtig für das Verständnis der letzteren, aber diese Rezeption begründete keine hermetische Tradition. Zudem hatte Yates behauptet, die hermetische Tradition sei durch und durch magisch gewesen und habe den Menschen dazu aufgefordert, die Welt zu verändern. Das Fatale ist nur, dass das »Corpus Hermeticum« praktisch keinen Text enthält, der explizit magisch ist. Daher berief sich Yates auch nicht auf die von Ficino übersetzte Textsammlung, sondern auf den sogenannten Asklepios, der allerdings schon das ganze Mittelalter hindurch bekannt. Die damit in Verbindung stehenden magischen Motive waren für die Renaissance nicht neu und was für diese neu war, war nicht magisch. Zwar kommt der Magie für die Renaissance zweifellos eine große Bedeutung zu, aber es hat laut Hanegraaff keinen Sinn, diese Magie als »hermetisch« zu bezeichnen. Daher muss das Yates-Paradigma, die Erzählung von der hermetischen Tradition, verabschiedet werden. Sie wird der Komplexität der Quellen nicht gerecht und lässt ein falsches Bild entstehen. Besonders problematisch ist die Gegenüberstellung des finsteren Mittelalters und eines Zeitalters des Lichtes, das mit der Renaissance angebrochen sei, die Verdinglichung der Hermetik als eigenständiger Tradition, die magische Natur dieser Hermetik und ihre angebliche Deutung des Menschen als autonomer Gestalter der Welt.

Der von Yates entwickelte Begriff der Hermetik dominierte die wissenschaftliche Diskussion bis in die 1990er Jahre. Erst unter dem Einfluss von Antoine Faivre begann sich dies zu ändern.

Antoine Faivre, Henry Corbin und die Esoterikforschung

Antoine Faivre, 1934 in eine katholische Familie geboren, studierte deutsche und nordamerikanische Literatur und wurde 1961 während seines Militärdienstes in Algerien zu einem überzeugten Christen. In dieser Zeit begann er, sich in die illuministischen und theosophischen Strömungen Deutschlands im 18. Jahrhundert zu vertiefen. Seinen Doktortitel erwarb er durch Studien über Niklaus Anton Kirchberger und Karl von Eckarthausen. Einen entscheidenden Wendepunkt in seinem Leben stellte seine Begegnung mit Eranos und der Einfluss von Henry Corbin und Gilbert Durant ab 1969 dar. Corbin betrachtete er danach lange Zeit als eine Art spirituellen Lehrer, dem er seine wesentlichen Einsichten in die »Wahrheit« der Geschichte verdanke. 1969 wurde er zum Professor an der Sorbonne ernannt und gleichzeitig in die Nationale Großloge der Freimaurer aufgenommen. Von einem Jesuiten, einem Freund seines Vaters, wurde er in den martinistischen Rektifizierten Schottischen Ritus eingeführt, ein christliches Hochgradsystem mit ritterlicher Symbolik, das Jean-Baptiste Wilermoz 1778 begründet hatte. 1973 führte er seine Freunde Corbin und Durand in dieses System ein. In diesem Jahr trat er auch das erste Mal als Redner in Eranos auf. 1974 gehörte er zu den Mitbegründern eines »spezifisch französischen und militant religionistischen« Ablegers der Eranos-Idee: der »Universität des Heiligen Johannes von Jerusalem«.

Diese Universität war die Idee Henri Corbins, ein Versuch, sein Verständnis von Esoterik zu gesellschaftlichem Leben zu erwecken. Corbin sah sich als Nachfolger der christlichen Theosophen Jakob Böhme, Friedrich Oetinger und Emanuel Swedenborg. Seine Initiation in den Rektifizierten Ritus und dessen inneren Kreis, die »Wohltätigen Ritter der Heiligen Stadt«, erfüllten ihn mit Begeisterung. Er war von der neutemplerischen Symbolik des Ritus verzaubert, die auf Martines de Pasqually zurückging, und sein Verständnis dieser Richtung der Freimaurerei, der Gralsmythologie, der inneren Kirche und des heiligen Jerusalem verdankte sich der Symbolik dieses Ritus. Es besteht ein innerer Zusammenhang zwischen dem von den »Wohltätigen Rittern« angestrebten Ziel, der Schau des himmlischen Jerusalem und Corbins Forschung über das »Bild des Tempels«.

Die »Universität des Heiligen Johannes« sollte ein internationales Zentrum für Studien in vergleichender Religionswissenschaft sein, das sich auf die drei Buchreligionen konzentrierte und der Wiederbelebung der »traditionellen Forschungen und Wissenschaften im Okzident« dienen sollte. Wie in der »Gegenuniversität« von Eranos fanden jährliche Treffen statt, aus denen von 1975 bis 1988 Publikationen hervorgingen. Was die Universität einzigartig machte, war die spezifische Verbindung akademischer Gelehrsamkeit, eines expliziten Bekenntnisses zu christlich-theosophischem und illuministischem Gedankengut und verwandten esoterischen Glaubenssätzen. Von Anfang an ließ Corbin keinen Zweifel an der religiösen und spirituellen Zielsetzung der Universität und ihrer Abneigung gegen die Übel der modernen Welt. Die Universität unterstand dem Schutz einer Priorei, die zum »Souveränen Orden des Heiligen Johannes von Jerusalem« gehörte, einer der vielen Neutempler-Vereinigungen, die behaupten, das Erbe der Tempelritter von Malta zu wahren. Und sie sollte die »einzigartige Souveränität des Geistes« verteidigen. Nach Corbin sollte sie die sichtbare Widerspiegelung einer inneren Kirche sein. Corbins glaubte, die Schätze der spirituellen Wissenschaften lägen immer noch in Bibliotheken vergraben, ohne Institutionen, die sie hätten heben können. Die Universität sollte die wahre Esoterik durch eine Diskussion unter Akademikern zur Erscheinung bringen. Allerdings setzte dies voraus, dass die Akademiker selbst eine geistige Wiedergeburt durchliefen, also die herkömmliche Form des wissenschaftlichen Arbeitens veränderten. Die Mitwirkenden sollten sich ganz in den Dienst des spirituellen Lebens stellen, so wie früher die Kreuzritter im Dienst des wahren Glaubens gestanden hatten. Corbin und Faivre waren stets überzeugt, ihr Glaube an die innere Kirche und ihre theosophischen und freimaurerischen Überzeugungen ließen sich mit dem Glauben der Kirche vereinbaren.

Vor 1969 unterschied sich Faivres Begriff der Esoterik nicht von den gängigen französischen Definitionen, die zwischen einer inneren (esoterischen) und einer äußeren (exoterischen) Dimension von Wissen unterschieden. Er war vor allem an einer Definition des Illuminismus interessiert und hob Motive wie die innere Kirche, den Mythos des Falls und der Wiederherstellung und die Natur als Netz von Entsprechungen hervor.

In seiner ersten Publikation über christliche Esoterik im Jahr 1972 rang er mit den Schwierigkeiten einer Definition von Esoterik. Sein Vorschlag war, jeden Denker, ob christlich oder nicht, als Esoteriker zu betrachten, der drei Ideen vertrat: das analogische Denken, eine Theosophie und die Idee einer inneren Kirche. Die Theosophie war zentral für diese Definition und unter ihr verstand er illuministische Strömungen, die im Paracelsismus, der christlichen Kabbala und Jakob Böhme wurzelten.

Ein Jahr zuvor hatte Faivre schon in der Zeitschrift »Annales« versucht, sein Programm in die Tat umzusetzen, ein Programm, das die Grenzen der bloßen Historiographie verlassen sollte, um zu einem wirklichen Verständnis von Esoterik vorzudringen. Hier zeigen sich die Einflüsse von Corbin und Eliade. Faivre interpretierte alchemistische Texte als Ausdruck einer tieferen Weltsicht und stimmte Eliade zu, der behauptet hatte, die historische Perspektive allein reiche nicht aus, um spirituelle Tatsachen zu verstehen.

In seinem Werk »Die Esoterik im 18. Jahrhundert« betonte er, das esoterische Denken sei durch eine kontradiktorische Logik gekennzeichnet. Ihm liege eine andere Art von Rationalität zugrunde, die sich des analogen Denkens in Mythen und Symbolen bediene, nicht der aristotelischen Logik, die für Philosophie und Theologie maßgeblich sei. Die Theosophen und Esoteriker würden deshalb so schlecht verstanden, weil sie sich ihrer eigenen Sprache bedienten oder der unangemessenen Sprache der Philosophen und Theologen. Er versuchte, sich von zwei Formen des Dogmatismus abzugrenzen, von der traditionalistischen Esoterik und dem rationalistischen Reduktionismus. Die Esoterik stellte er als eine Art mittleren Bereich dar, der zwischen den dualistischen Traditionen der ekstatischen Mystik und der Kirchenlehre stehe. Er erklärte, das Werk Eliades, Corbins Begriff der »imaginalen Welt« und die schöpferische Imagination stünden seinem Verständnis von Esoterik am nächsten.

Ein Jahr später, in seinem ersten Beitrag zur Universität des Heiligen Johannes, interpretierte Faivre die gesamte Entwicklung des abendländischen Geistes aus einer tiefgehenden Scheidung zwischen dem analogischen Denken und der aristotelischen Logik, die im späten Mittelalter stattgefunden hatte. Entscheidend war, dass die Logik vom ausgeschlossenen Dritten nicht nur auf die geschaffene, sondern auch auf die göttliche Welt angewandt wurde. In der Folge entwickelte sich das aristotelische Denken zu einem intoleranten Schulmeister, der jedes abweichende Verständnis der Wirklichkeit für unvollkommen erklärte und der Begriff der Esoterik entwickelte sich zu einer Kategorie der Exklusion. Die Unterdrückung des analogischen Denkens führte zu einem künstlichen Gegensatz, der nurmehr zwei Extreme zuließ: einen abstrakten Idealismus, der sich auf die göttliche Essenz bezog und ein Denken über das sichtbare Universum, das von jedem geistigen Gehalt entkleidet war, das schließlich in den Materialismus führte. Ausschlaggebend für diese Entwicklung war der Sieg des (lateinischen) Averroismus über das Denken Avicennas. Diesen Gedanken hatte Faivre von Corbin übernommen. Gegen diese herrschende Strömung wehrte sich das analogische Denken in der Renaissance in Form der christlichen Kabbala und des Paracelsismus, später auch in der Naturphilosophie der Romantik.

Faivres Beitrag mündete in ein leidenschaftliches Plädoyer für die Remythologisierung der Welt und eine Neubewertung der kreativen und partizipatorischen Imagination. In diesem Vortrag und weiteren Publikationen der 1970er Jahre äußerte sich Faivre dezidiert als Christ und setzte sich wie andere Mitwirkende von Eranos und der Universität des Heiligen Johannes gegen die Entsakralisierung der Welt zur Wehr. Er verurteilte alle Formen des Reduktionismus und sprach dem Mythos einen Primat gegenüber der Geschichte, der Metaphysik gegenüber der Physik, den Korrespondenzen gegenüber der Kausalität, dem analogen Denken gegenüber der aristotelischen Logik und dem Bild gegenüber den Begriffen zu. Zu dieser Zeit verstand sich Faivre, nach Hanegraaffs Auffassung, als christlicher Theosoph, der zutiefst besorgt war über die Umwertung der Werte, die er für die Krise der modernen Welt verantwortlich machte.

Aber dieser explizite Religionismus wurde vom Eranoskreis nicht goutiert und trat in den folgenden Jahren bei Faivre in den Hintergrund. Er begann sich von Eranos als einem elitären und autoritären Zirkel zu distanzieren, aber seine religionistischen Überzeugungen gab er nicht auf. 1979 erhielt er den Lehrstuhl an der Pariser Sorbonne, der der »Geschichte der esoterischen und mystischen Strömungen im modernen und zeitgenössischen Europa« gewidmet war. Corbin stand im Hintergrund dieser einzigartigen Einrichtung. 1964 hatte er für einen vakanten Lehrstuhl die Widmung »Geschichte der christlichen Esoterik« vorgeschlagen, um ihn auf die Interessen François Secrets zuzuschneiden. Dieser erhielt zwar den Lehrstuhl, hatte selbst aber nicht die Absicht, den Zielsetzungen Corbins zu folgen. 1979 wurde der Titel des Lehrstuhls verändert, er sollte nicht länger nur dem Christentum gewidmet sein, sondern dem europäischen Geistesleben von der Renaissance bis in die Gegenwart und von »esoterischen Strömungen« in der Mehrzahl war jetzt die Rede, um nicht den Anschein des Essentialismus zu erwecken.

Illuminismus, christliche Theosophie und Naturphilosophie blieben Faivres Hauptforschungsgebiete bis 1992. Aber er bemühte sich darum, diese Gebiete in einem breiteren Rahmen zu verorten. Er sah nun die Esoterik als eine Bewegung gegen die »Entsakralisierung des Kosmos«. Entgegen der Spaltung zwischen geistiger und sinnlicher Welt, die der Aristotelismus vorgenommen hatte, betonte die Esoterik die Doppelbewegung der Inkarnation des Geistes und der Spiritualisierung des Leibes, die in einer mittleren Ebene der Wirklichkeit stattfinden sollte, die für die Imagination zugänglich war. Auch diesen Begriff einer mittleren, imaginativen Welt hatte Faivre von Corbin übernommen, setzte aber andere Akzente. Corbin gab der geistigen Dimension den Vorzug und setzte tendenziell die Realität der körperlichen Welt herab, während Faivre die Realität der Natur betonte, die für ihn in der Mitte zwischen den reinen Abstraktionen und der bloßen Materie stand. Corbin wählte Swedenborg zu seinem Vorbild, Faivre Paracelsus.

Auch das Buch »Zugang zur abendländischen Esoterik« aus dem Jahr 1986 zeugte noch von seiner religionistischen Grundeinstellung. Hier unterschied er zwischen einer Esoterik im engeren Sinn, als einer Haltung der Innerlichkeit, die nach einer erlösenden Erkenntnis suche, und einer Esoterik im weiteren Sinn, die theosophische Betrachtungen über die Mysterien des Göttlichen, den Menschen und das Universum hinzufüge und dadurch die erstere zu einer Philosophie der Natur erweitere.

Bis in die 1980er Jahre spielte »die Esoterik« im landläufigen Sinn keine Rolle in Faivres Denken. Das änderte sich erst, als er seit Anfang 1980 eine Reihe von Gastvorlesungen in Kalifornien hielt, wo er unter Studenten und Professoren, die grundsätzlich links eingestellt waren, einer völlig neuen Form von (New-Age-)Esoterik begegnete. Faivre verliebte sich, wie viele, in San Francisco und die Universität Berkeley. Durch seine Erfahrungen in Kalifornien begann die »populäre« Esoterik in seine Werke einzudringen. Dies führte auch zu einer Erweiterung seines Esoterikbegriffs. In diesen Jahren versuchte Faivre seinen Zuhörern die Welt der christlichen Esoterik und romantischen Naturphilosophie nahezubringen und stellte Hermes als »antitotalitären Gott« dar. Gegen die Herrschaft leerer Abstraktionen und der flachen Pseudophilosophie der Geschichte brachte er die Remythologisierung der Welt in Stellung, die für ihn mit Hermes verbunden war.

Aber in den späteren 1980er Jahren empfand Faivre zunehmend die Spannung zwischen seinem religionistischen Engagement und den Anforderungen der akademischen historischen Forschung. Je mehr er selbst international wirkte, um so stärker erlebte er die Befremdung, die seine persönliche Mischung aus historischer und philosophischer Gelehrsamkeit und spiritueller Mission hervorrief, besonders in Deutschland. Außerdem erlebte er auf den jährlichen Konferenzen der amerikanischen »Akademie für Religion« den dogmatischen Antimodernismus und die Intoleranz einer Gruppe von Perennialisten, Erfahrungen, durch die er die französische Laizität neu schätzen lernte.

In seinem Werk »Die Esoterik« von 1992 schlugen sich all diese Erfahrungen nieder. Es markiert das Ende seiner religionistischen Epoche und den Beginn der Esoterikforschung im akademischen Sinn. Von einem neutralen Standpunkt aus geschrieben, war dieses Buch die erste Publikation, die das gesamte Gebiet der westlichen Esoterik von der Renaissance bis zur Gegenwart abdeckte und auf einer gründlichen Quellenkenntnis beruhte. In seiner Einleitung versuchte er das Gebiet der Esoterik als Gegenstand der akademischen Forschung zu umreißen. Das hatte es bis dahin noch nie gegeben. Er diskutierte unterschiedliche Forschungsansätze und stellte seinen eigenen Zugang als einen Vorschlag dar, der offen sei für Kritik und Verbesserungen. In der Einleitung zu diesem Buch stellte er erstmals seine Definition der Esoterik als »Denkform« dar, die durch ein Ensemble von Motiven gekennzeichnet sei: Korrespondenzen, lebendige Natur, Imagination und Mediation, Transmutation sowie Konkordanz und Transmission. Diese Definition hatte natürlich ihre Vorgeschichte. Die Korrespondenzen waren für das Denken in Analogien unverzichtbar. Die Imagination stammte aus dem Werk Corbins, aber indem Faivre sie mit der lebendigen Natur verknüpfte, entfernte er sich vom Doketismus, dem Corbin zuneigte und band sie an die Inkarnation zurück, die für die Naturphilosophie der Romantik zentral war. Am neuartigsten war die Transmutation, die Wandlung, ihr Hintergrund war die Alchemie und der Paracelsismus. Sie verlieh dem ganzen »System« des esoterischen Denkens eine bemerkenswerte Dynamik. Aber auch alle früheren Elemente seiner verschiedenen Definitionen von Esoterik spielten weiterhin eine Rolle, wenn auch nicht mehr als Bestandteil einer Polemik gegen die Moderne.

Faivre hat stets betont, dass die vier ersten Motive für die Esoterik zentral und unverzichtbar sind. Dadurch blieb für ihn die Tradition einer auf die Inkarnation zentrierten christlichen Theosophie der Kern jeder Esoterik. Dies führt unweigerlich zum Schluss, dass Faivres Definition der Esoterik im Grunde im christlichen und religionistischen Begriff einer »wahren Esoterik« wurzelt und weiterhin die antidoketische, antiidealistische und antidualistische Perspektive aufrecht erhält. Dies führt zu Ausschließungen. Die doketische Esoterik Swedenborgs passt nicht in diese Definition, auch nicht der reine Idealismus des Guénonschen Traditionalismus, oder der gnostische Dualismus des »Lectorium Rosicrucianum«. Außerdem, so Hanegraaff, definiert Faivre Esoterik als eine Weltsicht des verzauberten Kosmos, die sich gegen die Säkularisierung der Welt richtet, was die Frage aufwirft, ob sie auf die säkularisierte Form der Esoterik anwendbar ist, die im 19. Jahrhundert entstand. Die Definition der Esoterik ,die Faivre vorlegte, ist begrenzt und daher für die Forschung heute nicht mehr verbindlich.

Im letzten Unterkapitel schildert Hanegraaff, wie eine neue Generation von Historikern die Esoterikforschung in den Akademien salonfähig machte, indem sie diese zunehmend mit rein historischen und empirischen Methoden zu erforschen begann. Mit empirisch ist hier nicht etwa die »spirituelle« Erfahrung gemeint, sondern das historische Quellenstudium. Inzwischen führte dieser Forschungsansatz, den Hanegraaff auch als »methodologischen Agnostizismus« bezeichnet, zur Begründung einer Reihe von Lehrstühlen. Für diesen Agnostizismus sind persönliche Überzeugungen des Historikers irrelevant. Er hat seinen Gegenstand neutral zu erforschen, ob er nun an die Existenz dessen glaubt, wovon die Esoteriker reden oder nicht. Die mögliche Existenz oder Nichtexistenz der »esoterischen« Gegenstände liegt jenseits des empirischen Horizontes des Historikers. Er kann lediglich beschreiben, analysieren, interpretieren oder gar zu erklären versuchen, aber nicht darüber urteilen, ob die Autoren, die er erforscht, recht oder unrecht hatten. Diese Haltung schließt nach Hanegraaffs Auffassung sowohl den Religionismus als auch jede Art von Reduktionismus aus. Faivre hat sich zur Freude Hanegraaffs inzwischen dem methodologischen Agnostizismus angeschlossen und seine religionistischen Überzeugungen hinter sich gelassen. Was Hanegraaff hier schildert, ist die Durchsetzung eines neuen Paradigmas der Forschung in den Verhandlungen einer Diskursgemeinschaft. Ohne Zweifel ist er der Überzeugung, das beste mögliche Paradigma habe sich durchgesetzt, da es so etwas wie eine geistige Impfung gegen alle möglichen Krankheiten des Denkens darstellt, zu denen der Religionismus ebenso gehört wie der Reduktionismus. Dass der methodologische Agnostizismus selbst eine Form des Reduktionismus sein könnte, scheint Hanegraaff nicht in den Sinn zu kommen.

Restitutio ad integrum

Das Schlusskapitel seines Buches widmet Hanegraaff einigen grundsätzlichen Erörterungen. Zu diesen gehört die etwas verwunderliche Frage: gibt es überhaupt eine Esoterik? Oder existiert diese nur als Gegenstand der »kollektiven Imagination«, der Einbildung? Gibt es den »verborgenen Kontinent« der Esoterik wirklich (wohlgemerkt: nicht den Kontinent der esoterischen Gegenstände) oder sollten wir nicht besser fragen, warum wir bis heute an seine Existenz glauben müssen? Hanegraaff erkennt in diesen Alternativen den alten Gegensatz von Nominalismus und Realismus, den er aber nicht für so absolut hält, wie oft behauptet wird.

Alle Historiker der Esoterik haben ihren Gegenstand aus ihren persönlichen Voraussetzungen heraus ideell konstruiert und in ihren Ideenbildern spiegeln sich nicht nur ihre persönlichen Eigenarten, sondern auch die der Zeiten, in denen sie gelebt haben. Keiner dieser Historiker kann laut Hanegraaff für sich beanspruchen, eine Beschreibung der Esoterik als empirischer Tatsache »draußen in der Welt« geliefert zu haben. Ihre Gedankenbilder bilden nicht etwas ab, was draußen vorhanden ist, sondern das, was sie sich gedacht haben. Aber dennoch: sie haben ihre Bilder nicht zufällig konstruiert. Es gibt gewisse Gemeinsamkeiten, die den Diskurs über Esoterik insgesamt charakterisieren, und trotz der unterschiedlichen Einstellungen der Historiker beziehen sie sich alle auf eine Reihe von Strömungen, die nicht zufällig unter dem Begriff »Esoterik« zusammengefasst werden, sondern deswegen, weil sie spezifische Eigenschaften haben, die zu ihrer Natur und ihren Inhalten gehören. »Irgendetwas« gibt es »dort draußen« in der Welt – und über dieses Etwas haben die Historiker immer geredet. Worin besteht dieses »Etwas«, das die Konstruktion der Esoterik veranlasst hat?

Wie ein roter Faden zieht sich die Auseinandersetzung mit dem Heidentum durch den Diskurs über Esoterik im Abendland. Ohne diese Auseinandersetzung würde es nach Hanegraaffs heute keine »westliche Esoterik« geben. Die Weisheit der Heiden war der Kern der Erzählung von der »alten Weisheit« in der Renaissance, mit ihr setzten sich die katholischen und protestantischen Polemiker auseinander, die das Heidentum aus dem Christentum austreiben wollten, ebenso die Denker der Aufklärung, die sie der Lächerlichkeit preisgaben. Der polemische Diskurs führte zur Konstruktion eines »platonisch-hermetischen Christentums«, des ausgegrenzten »Anderen« des wahren Glaubens und des Rationalismus, und nachdem dieses »Andere« aus der Auseinandersetzung der Gebildeten vollständig ausgeschlossen war, wurde es im Verlauf der letzten zweihundert Jahre auf den »Kehrichthaufen« der Geschichte geworfen.

Dieses Heidentum wurde nach Hanegraaff von den modernen Esoterikforschern in einem erstaunlichen Maß missachtet. Zwar wurde die Bedeutung seiner einzelnen Strömungen anerkannt, aber als solches spielte es bei der Konstruktion des Forschungsfeldes keine Rolle. Der blinde Fleck ist verständlich. Denn die ersten Akademiker, die sich wieder mit diesem ausgegrenzten Wissen zu beschäftigen begannen (von Ennemoser bis Faivre), taten dies meist von einem »religionistischen« Standpunkt aus. Dieser Standpunkt neigt dazu, die Esoterik als die Erscheinungsform eines nicht weiter erklärbaren Heiligen zu betrachten, was die Untersuchung seiner Entstehung und der möglichen Einflüsse unterschiedlicher Quellen erschwert.

Die einzigen, die das Heidentum Ernst genommen haben, waren die protestantischen Anti-Apologeten Thomasius, Colberg und Brucker. Sie verbanden die Methode der kritischen Geschichtswissenschaft mit einem Interesse an den vielfältigen Einflüssen der heidnischen Weisheit auf das Christentum. Das war laut Hanegraaff genau der richtige Ansatz. Wäre diese Forschungstradition weiterentwickelt worden, sähe es heute in der Esoterikforschung anders aus.

Thomasius hob am Heidentum zwei Elemente hervor: den Glauben, die Welt sei gleichewig mit Gott und den Glauben, der Mensch könne zu einer Erfahrungserkenntnis seiner eigenen göttlichen Natur gelangen. Diese beiden Elemente können auch heute der wissenschaftlichen Analyse der Esoterik zugrunde gelegt werden.

Die Gleichewigkeit der Welt mit Gott kann zu Dualismus oder Pantheismus führen, meist aber tritt sie in der Esoterik in der Form eines Panentheismus auf, den man auch als »Kosmotheismus« bezeichnen kann. Laut Assmann ist dieser Kosmotheismus, die Vorstellung, Gott sei in der Welt, die ihn in tausend Bildern verberge und zugleich enthülle, der wahre Gegensatz des Monotheismus. Frances A. Yates bezeichnete ersteren als die »Religion der Welt«. Als logischer Gegensatz des Monotheismus, für den Gott strikt von der Schöpfung getrennt ist, konnte dieser Kosmotheismus nie wirklich in das Judäochristentum integriert werden. Aber als zentraler Bestandteil der heidnischen Philosophie, die von den Kirchenvätern in das christliche Denken aufgenommen wurde, konnte er auch nicht völlig ausgeschlossen werden. Die Entstehung der Esoterik ist auf einen tiefen Konflikt zwischen diesen beiden Denkmodellen zurückzuführen. Ihre logische Unvereinbarkeit führte zu einer Reihe endloser Versuche, die durch diese Unvereinbarkeit aufgeworfenen Probleme zu lösen.

Die Annahme eines inneren Erfahrungsweges, der zur Erkenntnis Gottes und zur Erlösung führt, war mit dem Kosmotheismus logisch verbunden. Da das Göttliche auch in der Seele wohnte, galt es dieses zu entdecken und zu entwickeln, um zur Erkenntnis des Kosmotheos zu gelangen. In der Esoterik ging es nicht um den Anspruch auf ein »höheres«, elitäres Wissen, sondern darum, dass eine unmittelbare Erkenntnis des Göttlichen möglich sei – letztlich für jeden Menschen.

Diese beiden Elemente sind in esoterischen Diskursen auf die eine oder andere Art stets enthalten, auch wenn durch sie allein keine Definition des Esoterischen möglich ist. Esoteriker haben in der Regel kein kompaktes Programm des »Kosmotheismus und der Gnosis« vertreten, sondern versucht, einen kulturellen Raum zu verhandeln, in dem sie angesichts der Übermacht von Monotheismus und Rationalismus überleben konnten. Es gab keine esoterische Verschwörung, sondern Esoteriker, die versuchten, ihre Kompromissformen der Spiritualität vor den Gegnern zu retten, die sie als das radikal »Andere« vollständig ausgrenzen wollten, während sie selbst sich immer als »zugehörig« verstanden. Letztlich erscheint die Esoterik nicht deswegen als relativ abgegrenztes Gebiet, weil sie tatsächlich eine scharf umrissene Gegenkultur gebildet hätte, sondern weil sie von ihren Gegnern als solche konstruiert wurde.

Diese polemische Konstruktion fand im 17. und 18. Jahrhundert statt und ist von der Konstruktion der Identität der Moderne nicht zu trennen. Das kulturelle Erinnerungsbild der Esoterik wurde während des 18. Jahrhunderts als das polemische »Andere« der Moderne geschaffen, die sich in diesem Prozess der Abgrenzung selbst konstruierte. Der Diskurs über die alte Weisheit in der Renaissance folgte der Grammatik der Einschließung: das heidnische »Andere« konnte durch die Erzählungen der »philosophia perennis« und der »prisca theologia« als zum Christentum gehörig verstanden werden. Die protestantischen und aufklärerischen Polemiker folgten einer Grammatik der »Orientalisierung«, sie definierten ihre eigene Identität durch die Ausgrenzung des »Anderen«. Aber diese Logik der Ausgrenzung verkehrt sich allzuleicht ins Gegenteil, weil das Verdrängte besonders starke Sehnsüchte hervorruft. Die bloße Andersartigkeit kann dem Anderen eine exotische Attraktivität verleihen, die nicht im Sinne der Erfinder der Ausgrenzung war. So konnten die Romantiker das, was die Aufklärer als »schlecht« ausgeschlossen hatten, wieder als »gut« einschließen, indem sie sich gegen die seelenlose Wissenschaft und den flachen Rationalismus der Aufklärung stellten. Diese Umkehrung lag dem Mesmerismus und der romantischen Rede von der »Nachtseite« der Natur zugrunde, die schließlich zur Jungschen Psychologie und zu den Versuchen der esoterischen Wiederverzauberung der Welt im 20. Jahrhundert führte. Im Verlauf dieser Entwicklung wurde aus dem Kehrichthaufen der Geschichte wieder eine positiv besetzte Kategorie.

Hanegraaff hält es aus wissenschaftlichen Gründen für erforderlich, den kollektiven Gedächtnisverlust, der weite Teile der Geschichte des abendländischen Geistes betrifft, rückgängig zu machen und die ideologischen Verzerrungen dieser verdrängten Inhalte zu beheben. Er stützt sich bei dieser Argumentation auf Jan Assmann und seinen Begriff der »Gedächtnisgeschichte«. Während die gewöhnliche Geschichte behauptet, »zu berichten, was geschah«, erforscht die Gedächtnisgeschichte, wie wir das »Geschehene« erinnern. Neben die Geschichte muss also eine Gedächtnisgeschichte treten, die erforscht, wie die spezifischen Erzählungen über die Vergangenheit entstanden sind, die den Inhalt der herkömmlichen Geschichte bilden. Ein Hauptproblem unserer kollektiven Erinnerung besteht darin, dass sie in hohem Grade selektiv sein muss, um kommunizierbar zu sein, Vergessen ist für sie genau so wichtig, wie Erinnern. Das kollektive Gedächtnis unterscheidet kaum zwischen Fakten und Fiktionen, so dass letztere leicht für erstere gehalten werden.

Die von Hanegraaff vorgelegte Untersuchung versteht sich als Beispiel einer solchen Gedächtnisgeschichte. Sie erweist die beträchtliche diskursive Macht gedächtnisgeschichtlicher Konstruktionen, die in hohem Ausmaß die Phänomene konstruieren, von denen sie behaupten, sie würden sie beschreiben, weil die unterdrückte Komplexität die Einfachheit und Überzeugungskraft der Erzählungen stören würde. Die »westliche Esoterik« ist so gesehen ein »imaginatives Konstrukt im Bewusstsein der Intellektuellen und des Publikums« und keine »historische Realität« im eigentlichen Sinn des Wortes. Aber sie verweist auf religiöse Tendenzen und Weltsichten, die real existiert haben und von den Parametern erfasst werden, die erstmals vom protestantischen Anti-Apologeten Jacob Thomasius formuliert wurden. Diese Parameter hängen mit der Dynamik der monotheistischen Religionen und ihrer Berufung auf Glaube und Vernunft zusammen. Mit anderen Worten: der Kosmotheismus und die Gnosis entstehen, weil das Göttliche als getrennt von der Welt und unzugänglich für die menschliche Vernunft vorgestellt wird.

Die Methode der Gedächtnisgeschichte muss laut Hanegraaff »anti-eklektisch« sein, sie muss den Kanon der modernen wissenschaftlichen Kultur in Frage stellen. Indem sie dies tut, muss sie die Tatsache anerkennen, dass das kulturelle Erbe des Abendlandes weitaus reicher ist, als die Lehrbücher glauben machen. Man kann Marsilio Ficino oder Pico della Mirandola nicht auf ein paar Fußnoten reduzieren, es ist unmöglich Astrologie und Alchemie aus der Geschichte der Wissenschaften auszuschließen, man kann das 18. Jahrhundert nicht zu einem »Jahrhundert der Vernunft« erklären, indem man stillschweigend die Überfülle an Beweisen ignoriert, dass es zugleich ein Jahrhundert des »Illuminismus« und der Theosophie war, man kann den Okkultismus nicht als Überbleibsel des Irrationalen abwerten, der keinerlei Bedeutung für die Kultur der Moderne habe, und man kann auch nicht die gegenwärtigen Formen der Esoterik als irrationalen Unsinn oder Bedrohung der Demokratie abtun. All diese Haltungen beruhen auf systematischer Selektion, sie alle wollen nur anerkennen, was in ihr jeweiliges ideologisches Programm passt, während sie alle historischen oder empirischen Tatsachen ignorieren, die dieses Programm gefährden könnten.

Auch die anti-eklektische Geschichtsschreibung verzichtet nicht auf Auswahl. Jeder Historiker muss eine Auswahl treffen, wenn er eine Geschichte erzählen will. Aber entscheidend ist, dass sie ein Gegengift gegen die Forderung darstellt, die Historiker müssten ihre Auswahl aufgrund normativer, doktrinärer philosophischer Urteile treffen.

Die Geschichte der Esoterik sollte eine klare wissenschaftliche Agenda verfolgen: die vielen weißen Flecke auf der Landkarte unserer Geschichte zu erforschen, so dass sie in den weiteren Rahmen der Geschichte des abendländischen Geistes integriert werden können. Beim Verfolg dieses Projektes wird sich das angeblich Fremdartige möglicherweise in einen normalen Bestandteil der abendländischen Kultur verwandeln, und was früher als »Kosmotheismus« oder »Gnosis« verworfen wurde, wird sich als legitime Möglichkeit erweisen, die Natur zu betrachten und nach Erkenntnis zu suchen. Wie Kunst oder Poesie werden diese Erkenntnisformen als eigenständige Wege betrachtet werden, sich mit dem Menschsein in der Welt auseinanderzusetzen, mögen sie sich auch noch so sehr von den gängigen akademischen Routinen unterscheiden.

Die Konsequenzen dieser Agenda hält Hanegraaff für beträchtlich. Wenn es zutrifft, dass die Esoterik das »Andere« ist, durch dessen Ausschließung die abendländische Identität konstruiert wurde, dann hängen beide voneinander ab und können nicht unabhängig voneinander existieren. Wenn die herrschenden Bilder des »Anderen« sich als Vereinfachungen oder Verzerrungen erweisen, dann müssen auch die spiegelbildlichen Selbstbilder einer Revision unterzogen werden. Wie wird das Abendland also sein Selbstbild und seine grundlegenden Werte definieren, wenn es dem ausgestoßenen Feind seiner Imagination im Fleisch begegnet ist und ihn als Familienmitglied aufnimmt? Werden wir ihm erlauben, uns zu verändern, oder wird er uns verändern, ohne dass wir es bemerken?

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