suche | spenden | impressum | datenschutz
Anthroposophie / Erweiterungen / Quellen der Esoterik / Annie Besant – Schülerschaft

Der Pfad der Schülerschaft

Vier Vorträge, gehalten zum 20. Geburtstag der Theosophischen Gesellschaft in Adyar, Madras. 27. 28., 29. und 30. Dezember 1895. Zweite Auflage. Benares. The Theosophical Publishing Society 1899

Übersetzung: Lorenzo Ravagli




1. Erste Schritte

KARMA-YOGA. Reinigung

Brüder, – als ich das erste Mal vor zwei Jahren in dieser Halle sprach, richtete ich euren Blick auf die Entstehung des Kosmos als Ganzes, auf die Stufen seiner Evolution, die Formen der großen Aufeinanderfolge der Erscheinungen. Letztes Jahr sprach ich über die Entwicklung des Selbstes, mehr über das Selbst des Menschen, als das Selbst im Kosmos, und versuchte zu zeigen, wie das Selbst durch all seine Hüllen Erfahrungen sammelte und die Herrschaft über seine niederen Werkzeuge erlangte – stets ging es um den Menschen und das Universum, das Individuum und den Kosmos, die nach einer Vereinigung mit dem Selbst suchten, mit dem, woraus sie stammten. Aber manchmal sagten Zuhörer zu mir, als sie über diese erhabenen Themen sprachen: »Was haben sie für eine Bedeutung für das Leben des Menschen auf der Erde, wo wir von den Notwendigkeiten der sinnlichen Welt umgeben sind, und ständig vom Gedanken an das eine Selbst abgelenkt werden, ständig von unserem Karma gezwungen werden, uns an den vielfältigen Geschehnissen zu beteiligen?

Was für eine Bedeutung haben da die höheren Lehren über die Leben des Menschen und wie können sich die Menschen erheben, damit das höhere Leben auch für sie möglich wird?«

Diese Frage werde ich versuchen, dieses Jahr zu beantworten. Ich werde versuchen, zu zeigen, wie ein Mensch in der sinnlichen Welt, der in seine Familienangelegenheiten verstrickt ist, dem soziale Verpflichtungen auferlegt sind, und all die vielen Aktivitäten im weltlichen Leben, sich trotzdem auf die Vereinigung vorbereiten und die ersten Schritte auf dem Pfad gehen kann, der ihn zu dem Einen führt. Ich werde versuchen, für euch die ersten Stufen des Pfades zu beschreiben, so dass ihr, wenn ihr in dem Leben, das ein jeder führen mag, und an dem Punkt beginnt, an dem die meisten von euch im Augenblick stehen, ein Ziel erkennen könnt, das erreichbar ist, einen Pfad, der beschritten werden kann – den Pfad, der hier im Leben der Familie, der Gemeinschaft, des Staates beginnt, aber jenseits alles Denkens endet und den Pilger in jene Heimat führt, die auf ewig die seinige ist.

Dies ist das Thema dieser vier Vorträge, dies die Schritte, von denen ich hoffe, dass ihr sie mit mir zusammen gehen werdet; und damit wir unser Thema richtig verstehen, lasst uns für einen Augenblick den Gang der Evolution, ihre Bedeutung und ihr Ziel betrachten, so dass uns die Vogelperspektive auf das Ganze instand setzt, dieses Ganze richtig einzuschätzen und die Folgerichtigkeit der einzelnen Schritte zu verstehen, die wir nacheinander gehen müssen.

Wir wissen, dass das Eine zum Vielen geworden ist. Wenn wir in die uranfängliche Dunkelheit zurückblicken, die alles verhüllt, können wir aus dieser Dunkelheit ein Flüstern hören – ein Flüstern: »Ich will mich vervielfältigen«. Durch diese Vervielfältigung nimmt das Universum Gestalt an und die Individuen, die in ihm leben. In diesem Willen zur Vervielfältigung, in diesem Willen des »Einen, das kein Zweites neben sich hat« zur Vervielfältigung erkennen wir den ursprünglichen Keim des Kosmos. Und wenn wir diesen Ursprung des Kosmos und dessen Komplexität erkennen, die Mannigfaltigkeit, die aus der ursprünglichen Einfachheit hervorgeht, dann erkennen wir auch, dass in all diesen Erscheinungen etwas Unvollkommenes sein muss, und dass genau die Begrenzung, die eine Erscheinung möglich macht, auch davon zeugt, dass es weniger als das Eine ist und daher seinem Wesen nach unvollkommen. Daraus verstehen wir, dass es Unterschiede geben muss, eine unüberschaubare Mannigfaltigkeit unterschiedener Lebewesen. Und wir beginnen zu begreifen, dass die Vollkommenheit des sichtbaren Universums gerade in dieser Verschiedenheit besteht; dass es eine unendliche Mannigfaltigkeit geben muss, wenn es mehr als das Eine geben soll, damit dieses Eine, das wie eine mächtige Sonne ist, die ihre Strahlen in alle Richtungen sendet, diese Strahlen überallhin senden kann und in der Totalität dieser Strahlen die vollkommene Erleuchtung der Welt liegt. Je zahlreicher, je erstaunlicher, je vielfältiger die Gegenstände, um so treuer, wenn auch immer noch unvollkommen, wird das Universum seinen Ursprung abbilden.

Der erste Schritt in der Evolution des Lebens wird also darin bestehen, Vielheit zu erzeugen, voneinander gesonderte Existenzen hervorzubringen – scheinbar abgesonderte Existenzen – so dass diese von außen betrachtet als viele erscheinen, auch wenn wir, wenn wir ihr Wesen erfassen, erkennen, dass das Selbst in allen Eines ist.

Wenn wir dies erkennen, dann verstehen wir, dass beim Prozess der Vervielfältigung und Individualisierung das einzelne Individuum zu einem schwachen und begrenzten Spiegelbild des Selbstes wird. Und wir beginnen auch zu verstehen, worauf dieses Universum hinzielt, warum diese vielen Individuen sich entwickeln mussten, warum diese Absonderung ein notwendiger Teil in der Evolution des Ganzen sein musste.

Denn wir beginnen zu erkennen, dass das Ziel des Universums die Entwicklung des Logos eines anderen Universums ist, der mächtigen Devas, die die Führer aller kosmischen Kräfte dieses künftigen Universums sein werden und der göttlichen Lehrer, deren Aufgabe darin bestehen wird, die kindliche Menschheit eines weiteren Kosmos zu erziehen.

In all diesen Welten individueller Existenzen vollzieht sich heute ein ständiger Entwicklungsprozess, durch den ein Universum für ein künftiges seinen Logos, seine Devas, seine ersten Manus und all jene großen Einen schafft, die für den Aufbau, die Erziehung, Leitung und Belehrung dieses noch ungeborenen Universums erforderlich sind. So sind die Universen miteinander verbunden, so folgt Manvantara auf Manvantara, so sind die Früchte des einen Universums die Keime des folgenden. Inmitten all dieser Mannigfaltigkeit entwickelt sich eine viel umfassendere Einheit, die der Umriss des ungeborenen Kosmos, die Macht sein wird, die diesen künftigen Kosmos lenken und leiten wird.

Und da erhebt sich die Frage – und ich weiß, dass sie sich vielen stellt, denn sie wurde mir sowohl im Osten als auch im Westen immer wieder gestellt – warum so viel Schwierigkeiten in der Entwicklung, warum so viel offensichtliche Fehlschläge, warum müssen die Menschen so oft in die Irre gehen, bevor sie den richtigen Weg finden, warum müssen sie dem Bösen nachlaufen, das sie herabzieht, anstatt dem Guten zu folgen, das sie erhebt? War es dem Logos unseres Universums, den Devas, die seine Helfer sind, den großen Manus, die kamen, um die kindliche Menschheit zu leiten, denn nicht möglich, so zu planen, dass es bei der Ausführung nicht solche offensichtlichen Fehler geben würde? War es ihnen nicht möglich, so zu lenken, dass die Straße gerade und direkt sein würde, statt so umständlich, so verworren?

Und hier kommt der Punkt, der die Evolution der Menschheit so schwer begreiflich macht, wenn man nicht deren Ziel im Auge hat. Es wäre in Wahrheit leicht gewesen, eine vollkommene Menschheit zu erschaffen, diese mit ihren aufdämmernden Kräften so zu leiten, dass diese Kräfte sich kontinuierlich auf das ausgerichtet hätten, was wir das Gute nennen und sich nie dem zugewendet hätten, was wir das Böse nennen.

Was aber wäre die Bedingung eines so einfachen Weges gewesen? Der Mensch hätte ein Automat sein müssen, der von einer überwältigenden Kraft bewegt wird, die ihm ein unausweichliches Gesetz auferlegt, dem er nicht zu entweichen vermocht hätte. Die mineralische Welt unterliegt einem solchen Gesetz. Die Anziehungskräfte, die Atom an Atom binden, gehorchen einer solchen überwältigenden Notwendigkeit. Aber wenn wir höher steigen, sehen wir, wie die Freiheit stufenweise zunimmt, bis wir im Menschen eine spontane Kraft, eine Freiheit der Wahl sehen, bei der es sich wirklich um die aufdämmernde Erscheinung Gottes, des Selbstes handelt, die sich selbst durch den Menschen zu offenbaren beginnt.

Und das Ziel, das angestrebt wurde, bestand nicht darin, Automaten zu schaffen, die blindlings einem abgesteckten Weg folgen, sondern ein Spiegelbild des Logos selbst zu schaffen, eine mächtige Ansammlung weiser und vollkommener Menschen, die das Beste wählen, weil sie es erkennen und verstehen, die das Schlechte verwerfen, weil sie aus Erfahrung gelernt haben dass es ihnen nicht angemessen ist und zu welchen Sorgen es führt.

So dass im künftigen Universum – so wie unter all den großen Einen, die das heutige Universum leiten –, eine Einheit sein sollte, die aus der Übereinstimmung Einzelner hervorgeht, die aufgrund ihrer Erkenntnis und Wahl wieder eins geworden sind, die sich auf ein gemeinsames Ziel hinrichten, weil sie das Ganze kennen, die mit dem Gesetz übereinstimmen, weil sie gelernt haben, dass das Gesetz gut ist, die sich entscheiden, mit dem Gesetz übereinzustimmen, nicht aufgrund eines äußeren Zwangs, sondern aufgrund einer inneren Zustimmung.

Und so wird in diesem künftigen Universum ein Gesetz existieren, wie auch in unserem gegenwärtigen, das herrschen wird aufgrund der Möglichkeiten Derer, die das Gesetz sind, aufgrund der Einheit Ihrer Absichten, der Übereinstimmung Ihrer Erkenntnis, der Einheit ihrer Macht – nicht ein blindes und unbewusstes Gesetz, sondern eine Gemeinschaft von Lebewesen, die das Gesetz sind, da sie göttlich geworden sind. Es gibt keinen anderen Weg, um dieses Ziel zu erreichen, durch den sich der freie Wille der Vielen sich wieder in der einen großen Natur und dem einen großen Gesetz vereinigen kann, außer jenen, in dem aus Erfahrung gelernt wird, in dem sowohl Gut als auch Böse erlebt wird, Fehlschlag sowohl als auch Triumph. Auf diese Weise werden die Menschen zu Göttern, und aufgrund der Erfahrung, die hinter ihnen liegt, wollen, denken, fühlen sie dasselbe.

Nun haben die göttlichen Lehrer und Führer dieser Menschheit, um dieses Ziel zu erreichen, viele Kulturen ersonnen, die alle auf das eine Ziel ausgerichtet sind, das sie vor Augen hatten.

Ich habe keine Zeit, zur großen Zivilisation der vierten Rasse zurückzukehren, die der Geburt der mächtigen arischen Rasse vorausging. Ich kann beiläufig erwähnen, dass es eine große Zivilisation gab, die geprüft wurde, die eine Zeit lang unter ihren göttlichen Herrschern blühte; dann zogen diese göttlichen Herrscher ihren unmittelbaren Einfluss zurück – so wie eine Mutter ihr kleines Kind loslässt, das gerade laufen lernt, um zu sehen, ob es ohne ihre Unterstützung selber aufrecht gehen, seine eigenen Glieder benutzen kann – ebenso haben sich die göttlichen Führer und Herrscher in die Dunkelheit zurückgezogen, um zu sehen, ob die kindliche Menschheit, die ihre ersten Schritte machte, gehen oder stolpern würde.

Und diese kindliche Menschheit stolperte und fiel, und die große Zivilisation – so mächtig sie auch in ihrer vollkommenen sozialen Ordnung war, so ruhmreich sie in ihrer Stärke und der Weisheit war, mit der sie geformt wurde – zerfiel in Stücke wegen der Selbstsucht der Menschen, zerfiel in Stücke wegen der noch nicht gezügelten, niederen Instinkte der Menschheit.

Ein weiterer Versuch musste folgen und die große arische Rasse wurde ins Dasein gerufen – erneut mit göttlichen Herrschern, mit göttlichen Führern, mit einem Manu, der ihr das Gesetz gab, ihre Kultur schuf, ihre Politik umriss, mit den Rischis, die sich um ihn sammelten, die seine Gesetze umsetzten und die kindliche Kultur leiteten; so wurde der Menschheit erneut eine Form gegeben, erneut wurde der Menschheit ein Vorbild gegeben, auf das hin sie sich entwickeln sollte.

Und einmal mehr zogen die großen Lehrer sich für eine Weile zurück, um die Menschheit ihre eigene Stärke erproben zu lassen, um zu überprüfen, ob sie alleine gehen konnte, selbstverantwortlich, vom Selbst im eigenen Inneren geleitet, statt von äußeren Offenbarungen. Und erneut war das Experiment, wie wir wissen, weitgehend ein Fehlschlag. Erneut, wie wir erkennen, wenn wir zurückblicken, sehen wir diese ursprünglich göttliche Zivilisation schrittweise in die Degeneration verfallen wegen der immer noch nicht bezwungenen niederen Natur des Menschen, erneut für eine Weile herabsinken unter den unbezwungenen Leidenschaften der Menschheit.

Wenn wir in das vergangene Indien zurückblicken, sehen wir seine vollkommene Verfassung, seine wunderbare Spiritualität, und wir können sein Herabsinken Jahrtausend für Jahrtausend verfolgen, während die führenden Hände sich aus der sichtbaren Welt zurückziehen, und einmal mehr schwankt und fällt die Menschheit beim Versuch zu gehen.

Wir erkennen, wie in jedem dieser Fälle bei der Verwirklichung des göttlichen Ideals versagt wurde. Wir betrachten unsere heutige Welt und wir sehen, wie die niedere Natur des Menschen über das göttliche Ideal triumphiert hat, das zu Beginn der arischen Rasse entworfen wurde. Wir sehen, wie es in jener Zeit das Ideal das Brahmanen gab, das man als das Ideal einer Seele umschreiben könnte, die sich der Befreiung annähert, die nicht mehr nach den Früchten der Erde verlangt, die nicht mehr nach den Freuden des Fleisches begehrt, die sich nicht mehr nach Reichtum, Macht, Einfluss oder irdischen Vergnügungen sehnt, als das Ideal eines armen, aber weisen Menschen; während wir heute oft genug Menschen finden, die den Namen eines Brahmanen tragen, aber nicht arm und weise, sondern reich und unwissend sind. An dieser Kaste könnt ihr eines der Zeichen des Niedergangs erkennen, durch welchen die alte Verfassung zerfiel; und ähnliches sieht man auch an den vier anderen Kasten.

Lasst uns nun betrachten, wie die großen Lehrer sich vorstellten, dass der Mensch durch Erfahrung lernen sollte, sich durch seinen eigenen freien Willen für das Ideal zu entscheiden, das ihm vorgesetzt wurde und von dem er sich abwandte, wie die großen Lehrer versuchten, die unvollkommene Menschheit zu dem vollkommenen Ideal emporzuführen, das zu Beginn der Menschheitsgeschichte offenbart wurde, und aufgrund der Schwäche und Kindlichkeit der Menschen im Verlauf der Evolution nicht verwirklicht wurde.

Damit dieses Ziel im Laufe der Zeitalter erreicht werden konnte, erhielten die Menschen Unterricht in dem, was man als Karma-Yoga bezeichnet – Yoga, oder Vereinigung, durch Handeln. Das ist die Art des Yoga, die auf den weltlichen Menschen zugeschnitten ist, der involviert ist in die Aktivitäten des Alltags. Genau durch diese Aktivitäten, durch die Übung, die sie ihm abverlangen, sollen die ersten Schritte zu Vereinigung unternommen werden. Und so wurde für die Schulung des Menschen dieser Karma-Yoga geschaffen.

Achtet auf die Verbindung der Worte Handeln und Vereinigung. Handeln so ausgeführt, dass Vereinigung daraus entspringen kann. Man muss sich daran erinnern, dass unsere Handlungen uns trennen, voneinander absondern, dass wir durch all diese sich verändernden und vielfältigen Aktivitäten auseinander getrieben und in unserer Absonderung gehalten werden. Es scheint also geradezu ein Paradox, wenn von einer Vereinigung durch Handeln gesprochen wird, einer Vereinigung durch das, was stets die Trennung herbeigeführt hat. Aber die Weisheit der göttlichen Lehrer entsprach der Aufgabe der Versöhnung, der Erklärung des scheinbaren Paradoxons. Verfolgen wir die einzelnen Schritte der Erklärung und sehen wir, worum es sich handelt.

Der Mensch hastet hektisch, hastet in jede Richtung unter dem Einfluss der drei Energien der Natur, der drei Gunas. Wer den Körper bewohnt, gerät unter ihre Herrschaft. Sie wirken! Sie sind aktiv, sie schaffen das sichtbare Universum und er identifiziert sich mit diesen Aktivitäten. Er glaubt zu handeln, während in Wahrheit sie handeln. Er glaubt aktiv zu sein, während sie in Wahrheit die Ereignisse bewirken. Indem er in ihnen lebt, durch sie blind wird, durch die Illusionen, die sie erzeugen, vergisst er sich selbst, und wird da und dorthin gezogen, da und dorthin getrieben, durch die Ströme hinweggetragen, und so ist die Aktivität der Gunas alles, was er sieht; offensichtlich ist er unter diesen Umständen nicht geeignet für die höheren Formen des Yoga. Offensichtlich liegen die höheren Stufen des Pfades jenseits seiner Möglichkeiten, solange diese Illusionen nicht wenigstens teilweise überwunden sind.

Man muss also damit beginnen, diese Gunas zu verstehen, sich von den Geschehnissen der sichtbaren Welt zu unterscheiden. Und die große Schrift des Yoga, wie sie genannt werden kann, die Schrift dieses Karma-Yoga, wurde durch Shri Krishna auf dem Kurushektra-Feld erneut verkündet, als er diese Form des Yoga Arjuna unterrichtete, dem Krieger, der in der Welt leben, in ihr kämpfen, den Staat lenken, und an all diesen äußeren Aktivitäten Anteil nehmen sollte; hier finden wir die ewig gültige Lektion für Menschen, die in dieser Welt leben, wie sie sich schrittweise über die Gunas erheben und auf diesem Weg sich mit dem Höchsten vereinigen können.

Wir können also sagen, dass in der Übung und Regelung der Aktivitäten dieser Gunas der erste Schritt des Karma-Yoga besteht.

Wie ihr wisst, gibt es drei Gunas, Sattva, Rajas und Tamas, die drei Gunas, aus denen alles, was uns umgibt, besteht und auf vielfältigste Weise zusammengefügt ist. Hier bewegt sich alles in den unterschiedlichsten Richtungen. Sie müssen ins Gleichgewicht gebracht werden; sie müssen unterworfen werden. Der Bewohner des Körpers, der Herr des Körpers, muss zum beherrschenden Meister werden und sich selbst von den Gunas unterscheiden. Das muss zuerst erreicht werden; ihre Funktionen müssen durchschaut werden, ihre Aktivitäten kontrolliert und gerichtet werden. Man kann sich nicht so ohne weiteres über sie erheben – eben so wenig, wie ein Kind die Tätigkeiten eines Erwachsenen ausüben kann. Kann die Menschheit in ihrem unausgereiften und unvollkommenen Zustand den vollkommenen Yoga erreichen? Nein, es ist nicht einmal weise, es zu versuchen; denn wenn das Kind versucht, die Tätigkeiten des Erwachsenen auszuüben, wird es dabei nicht nur versagen, es wird bei seinen Bemühungen auch seine Kräfte überfordern, und das Resultat wird nicht nur in der Gegenwart, sondern auch in der Zukunft ein Misserfolg sein. Denn die Aufgabe, die seine Kräfte übersteigt, wird diese Kräfte vermindern und zerstreuen. Sie müssen ausgebildet werden, bevor sie eingesetzt werden können und das Kind muss zum Mann werden, bevor es die Taten eines Mannes vollbringen kann.

Betrachten wir für einen Augenblick die Funktion von Tamas – also von Dunkelheit, Trägheit, Nachlässigkeit usw. Was für eine Funktion könnte all dies haben, wenn es der menschlichen Entwicklung dienen soll? Welche Bedeutung kommt diesem speziellen Guna beim Wachstum des Menschen, bei der Befreiung seiner Seele zu? Der besondere Nutzen dieses Gunas, der Nutzen, dem es im Karma-Yoga dient, besteht darin, dass es als Kraft wirkt, gegen die gekämpft werden muss, die überwunden werden muss, so dass in diesem Kampf Stärke entwickelt wird, Willenskraft durch die Anstrengung, Selbstkontrolle und Selbstdisziplin in der Auseinandersetzung mit ihm. Es kann in der Entwicklung des Menschen denselben Zweck haben, wie der Schlagstock oder die Hantel beim Athleten. Er kann an ihnen seine Muskeln ausbilden, bis er etwas findet, an denen er ihre Stärke zur Anwendung bringen kann. Der Athlet kann seine Muskeln nicht stärken, wenn es keine Gewichte gibt, die er heben kann, um an ihnen seine Stärke auszubilden. Nicht das Gewicht an sich hat einen Wert, sondern der Zweck, dem es dient, und wenn jemand seine physischen Muskeln, die Armmuskeln stärken will, dann kann er das am besten, wenn er einen Schlagstock oder eine Hantel benutzt und täglich seine Muskeln an der ihm Widerstand leistenden Kraft übt. Auf eben diese Art spielt Tamas, Nachlässigkeit oder Dunkelheit, bei der Entwicklung des Menschen eine Rolle; er muss sie überwinden, er entwickelt im Kampf seine Stärke; die Muskeln der Seele werden stark, wenn er seine Nachlässigkeit überwindet, die Trägheit, die Indifferenz, die tamasische Eigenschaft seiner Natur.

Und so werdet ihr finden, dass für die Überwindung dieses Gunas die Riten und Zeremonien der Religion eingerichtet wurden, die zum Teil dem Zweck dienen, dem Menschen bei der Überwindung der Trägheit und Faulheit und Arbeitsscheu seiner niederen Natur zu helfen, indem sie ihm auferlegen, zu bestimmten Zeiten bestimmte Pflichten zu erfüllen – ob er nun zu diesen Zeiten dazu geneigt ist oder nicht, ob er sich nun aktiv oder müde fühlt – indem sie ihm bestimmte Pflichten zu bestimmten Zeiten auferlegen, wird er gezwungen, die Faulheit und Achtlosigkeit und Verbohrtheit seiner niederen Natur  zu überwinden und sie dazu zu bringen, dem Pfad zu folgen, den der Wille ihr vorschreibt.

Ebenso, wenn wir Rajas betrachten: wir werden finden, dass die Aktivitäten des Menschen im Karma-Yoga auf bestimmte Wege geleitet werden, denen zu folgen ich nun vorschlage, so dass ihr sehen könnt, wie diese Art von Aktivität, die in unserer heutigen Welt so sehr wirksam ist, die sich in jeder denkbaren Richtung manifestiert, die zu Hast, Betriebsamkeit und unablässigen Anstrengungen führt, Dinge des niederen Lebens, materielle Erscheinungen, materielle Ergebnisse zu erreichen, – wie diese Aktivität schrittweise gelenkt, geübt und gereinigt werden kann, bis sie die wahre Manifestation des Selbstes nicht länger verhindern kann.

Das Ziel des Karma-Yoga besteht darin, an die Stelle der Selbstbefriedung die Pflicht zu setzen; der Mensch handelt, um seine niedere Natur zu befriedigen; er handelt, weil er etwas haben will; er handelt, um der Früchte willen; er handelt aufgrund von Wünschen, um der Belohnung willen. Er arbeitet, weil er Geld will, damit er genießen kann. Er arbeitet, um Macht zu erlangen, damit er das niedere Selbst befriedigen kann. All diese Aktivitäten, diese Rajas-Qualitäten, dienen seiner niederen Natur.

Um diese Aktivitäten zu üben und zu regeln, damit sie den Zielen des höheren Selbstes dienen, wird der Mensch aufgefordert, die Pflicht an die Stelle der Selbstbefriedigung zu setzen, die Arbeit zu vollbringen, weil er sie als seine Pflicht betrachtet, das Rad des Lebens zu drehen, weil es seine Aufgabe ist, dies zu tun, so wie Shri Krishna es getan hat. Er handelt nicht, weil er etwas in dieser Welt oder in irgendeiner anderen gewinnen könnte, sondern er handelt, weil ohne sein Handeln die Welt aufhören würde zu existieren, er handelt, weil ohne sein Handeln das Rad sich nicht länger drehen würde.

Und jene, die den Yoga vollenden, müssen in seinem Geist handeln, für das Ganze und nicht für den Teil, um den göttlichen Willen im Kosmos zu verwirklichen und nicht um des Vergnügens der Sonderexistenz willen, die sich einbildet, unabhängig zu sein, wenn sie in Wahrheit ein Mitarbeiter Seines Willens sein sollte.

Dieses Ziel soll erreicht werden, indem die Sphäre dieser Aktivitäten schrittweise verändert wird. An die Stelle der Selbstbefriedigung soll die Pflicht treten, und religiöse Riten und Zeremonien haben die Aufgabe, den Menschen schrittweise zu jenem wahren Leben zu führen, um das es geht. Jede religiöse Zeremonie ist nichts als ein Weg, um den Menschen zum wahren, höheren Leben zu führen. Jemand meditiert bei Sonnenaufgang und Sonnenuntergang, aber am Ende wird sein ganzes Leben zu einer einzigen Meditation. Er meditiert eine Stunde, um sich selbst auf die ständige Meditation vorzubereiten. Alle schöpferischen Tätigkeiten sind das Ergebnis von Meditation und ihr werdet euch erinnern, dass alle Welten durch Tapas geschaffen werden. Damit also der Mensch diese mächtige und schöpferische Kraft der Meditation erreichen kann, damit auch er diese göttliche Macht ausüben kann, muss er durch religiöse Zeremonien zu ihr hinerzogen werden, durch Phasen der Meditation, indem er Tapas ergreift und wieder loslässt. Zeitlich begrenzte Meditation ist ein Schritt zur Erlangung der andauernden Meditation; man benötigt einen Teil des täglichen Lebens, um das ganze Leben zu durchdringen, und der Mensch soll sie täglich praktizieren, damit er allmählich sein gesamtes Leben mit ihr zu durchdringen vermag.

Die Zeit wird kommen, in der es für den Yogi keine festgesetzte Stunde der Meditation mehr gibt, weil sein gesamtes Leben eine einzige Meditation ist. Welchen äußeren Aktivitäten er auch nachgehen mag, er meditiert; und er sitzt immer zu Füßen seines Herrn, mögen auch sein Geist und sein Körper in der Welt der Menschen aktiv sein. Und so verhält es sich mit allen anderen Aktivitäten; zuerst lernt der Mensch, sie als ein Opfer der Pflicht zu erbringen, als Abzahlung einer Schuld der Welt gegenüber, in der er lebt – als Rückzahlung dessen, an all die unterschiedlichen Teile der Natur, was er aus ihnen genommen hat. Und später wird das Opfer mehr als die Rückzahlung einer Schuld; es wird zu einer freudigen Gabe all dessen, was der Mensch geben kann. Das teilweise Opfer ist die Schuld, die bezahlt wird, das vollkommene Opfer ist die Gabe des Ganzen. Ein Mensch gibt sich selbst, mit all seinen Aktivitäten, mit all seinen Kräften, indem er nicht länger einen Teil seiner Besitztümer als Abzahlung gibt, sondern alles, was er ist, als freiwillige Gabe. Und wenn diese Stufe erreicht ist, dann ist der Yoga vollendet und die Lektion des Karma-Yoga verstanden.

Betrachtet als eine Stufe zu diesem Ziel die fünf täglichen Opfer, die wenigstens dem Namen nach euch allen vertraut sind, und versteht, was der Anordnung dieser Opfer zugrunde liegt. Ein jedes ist die Rückzahlung einer Schuld, die Anerkennung einer Schuld, in der der Mensch als abgesondertes Individuum gegenüber seiner gesamten Umgebung steht. Und wenn ihr sie für den Augenblick eine nach der andern betrachtet, wie oberflächlich auch immer, so werdet ihr erkennen, in welch tiefem Sinn ein jedes die Abzahlung einer solchen Schuld ist.

(1) Nehmt das erste: das Opfer an die Devas. Warum wird dieses Opfer von uns verlangt? Weil der Mensch lernen muss, dass sein Körper der Erde und den Intelligenzen, die das Naturgeschehen lenken, durch das die Erde ihre Früchte hervorbringt, durch die sie die Nahrung des Menschen erzeugt, etwas schuldig ist; wenn er seinen Körper ernährt, schuldet sein Körper etwas, als Rückzahlung der Schuld, einen Ausgleich für das, was ihm von jenen kosmischen Intelligenzen, den Göttern, gegeben wurde, die die Kräfte der niederen Welt lenken. Und so wurde dem Menschen beigebracht, sein Opfer ins Feuer zu gießen. Warum? Der Satz, der als Erklärung gegeben wurde, lautet: »Agni ist der Mund der Götter«, und die Menschen wiederholen diesen Satz und versuchen nie, seine Bedeutung zu verstehen, oder hinter die Oberfläche des exoterischen Namens der Gottheit auf ihre Aufgabe in der Welt zu blicken. Die wirkliche Bedeutung, die dem Satz zugrunde liegt, ist natürlich, dass überall um uns herum unzählige Wesen bewusst und unbewusst an der Natur arbeiten, eine Hierarchie unzähliger Wesen, einer Armee mit vielen Divisionen gleich, deren Haupt eine große kosmische Gottheit bildet; so dass unter der Gottheit als Herrscher des Feuers, der Luft, des Wassers und der Erde eine große Zahl niedrigerer Götter steht, die die unterschiedlichen Arbeiten der Naturkräfte in der Welt vollbringen – des Regens, der schöpferischen Kräfte der Erde, der fruchttreibenden Wirkkräfte unterschiedlichster Art. Und dieses erste Opfer nährt die untergeordneten Kräfte, gibt ihnen Nahrung durch Feuer; und das Feuer wird Mund der Götter genannt, weil es auflöst, weil es das Feste und Flüssige umwandelt, es in Dampf verwandelt, in feinere Stoffe, und auf diese Weise in die ätherische Substanz überführt, die zur Nahrung der niederen Reiche der Elementarwesen wird, die die Befehle der kosmischen Götter ausführen. Und auf diese Weise bezahlt der Mensch seine Schulden an sie, und als Antwort darauf, fällt in den niederen Regionen der Atmosphäre der Regen und die Erde wird fruchtbar und erzeugt Nahrung für den Menschen. Ebendies meinte Krishna, als er den Menschen bat, »die Götter zu nähren, auf dass die Götter den Menschen nährten«. Diesen niederen Nahrungszyklus muss der Mensch verstehen lernen. Zuerst empfing er es als religiöse Lehre; danach kam die Zeit, als er diese als Aberglauben betrachtete, den inneren Zusammenhang nicht verstand und nur die äußeren Erscheinungen sah; dann aber folgt das tiefere Verständnis, wenn die Wissenschaft, die zunächst zum Materialismus tendiert, durch umfassendere Untersuchung zur Anerkennung der spirituellen Welt gelangt. Die wissenschaftliche Erkenntnis beginnt in wissenschaftlichen Begriffen zu sagen, was die Rischis in spirituellen Begriffen ausdrückten, dass der Mensch die niederen Kräfte der Natur durch seine eigenen Handlungen beherrschen und dirigieren soll, und auf diese Weise rechtfertigt das wachsende Wissen die alten Lehren, rechtfertigt vor dem Intellekt, was der spirituelle Mensch durch unmittelbare Intuition, durch das Auge des Geistes, erkennt.

(2) An zweiter Stelle steht das Opfer an die Ahnen. Die Anerkennung dessen, was der Mensch jenen verdankt, die vor ihm in diese Welt kamen, die Abzahlung einer Schuld, die er jenen schuldet, die vor ihm in dieser Welt gearbeitet haben, die Dankbarkeit und Verehrung, die wir jenen schulden, die teilweise diese Welt für uns vorbereiteten, und Verbesserungen schufen, deren Erbe wir antreten. Dieses Opfer ist eine Dankesschuld, die wir jenen erbringen müssen, die uns in der Evolution unmittelbar vorangegangen sind, die ihren Teil während ihres Lebens auf der Erde auf sich genommen haben und uns die Ergebnisse ihrer Arbeit hinterlassen haben. Weil wir die Früchte ihrer Arbeit pflücken, zahlen wir die Schuld unseres Dankes zurück. Und daher ist dies eines der täglichen Opfer, die Anerkennung der Dankesschuld jenen gegenüber, die uns vorausgegangen sind.

(3) Darauf folgt, natürlich, das Opfer der Erkenntnis, des Studiums, damit wir durch das Studium der heiligen Worte befähigt werden, jenen zu helfen, die weniger wissen, als wir selbst und in ihnen jenes Wissen entwickeln, das notwendig ist, damit auch in ihnen sich das Selbst manifestieren kann.

(4) Viertens, das Opfer an den Menschen, die Abzahlung der Schuld gegenüber der ganzen Menschheit an bestimmte stellvertretende Menschen, die Gaben an bestimmte einzelne Menschen, als Anerkennung der Tatsache, dass die Menschen sich alle gegenseitig in der physischen Welt liebevolle Taten schulden, all die Unterstützung, die Brüder einander zuteil werden lassen können. Das Opfer an den Menschen ist die formelle Anerkennung dieser Pflicht, und indem wir jene nähren, die hungern, und jenen Gastfreundschaft entgegenbringen, die ihrer bedürfen, während wir konkret einen Menschen nähren, nähren wir ideell und der Intention nach die gesamte Menschheit; wenn wir dem einen Menschen, der an unsere Tür klopft, Gastfreundschaft erweisen, öffnen wir die Tür unseres Herzens für die Menschheit als Ganzes und indem wir einen nähren und schützen, helfen und schützen wir der Menschheit als Ganzes.

(5) Und ebenso mit dem letzten Opfer, jenem an die Tiere. Der Hausvorstand soll Futter für vorbeikommende Tiere auf den Boden legen. Mit diesem Opfer anerkennt ihr eure Schuld gegenüber der niederen Welt, eure Pflicht, zu helfen, zu nähren und zu erziehen. Das Opfer an die Tiere soll uns deutlich machen, dass wir als Erzieher, als Lenker, als Helfer der niederen Kreaturen hier sind, die auf der Leiter der Evolution unter uns stehen. Jedesmal, wenn wir uns durch Grausamkeit, durch Rauigkeit, durch Brutalität jeder Art gegen sie versündigen, versündigen wir uns gegen Ihn, der in ihnen wohnt und deren niedrigere Manifestationen auch sie sind. Und damit wir das Gute im Tier erkennen, damit wir verstehen, dass Shri Krishna auch im niedrigeren Tier ist, wenn auch verhüllter als im Menschen, wurden wir gebeten, auch den Tieren Opfer zu bringen, nicht ihrer äußeren Form, sondern dem ihnen einwohnenden Gott. Die einzige Möglichkeit, ihnen zu opfern, besteht darin, dass wir ihnen Liebe, Mitleid, Freundlichkeit entgegenbringen, indem wir sie erziehen, um sie in ihrer Entwicklung voranzubringen, und nicht indem wir sie durch jene Brutalität und Grausamkeit zurückstoßen, die wir überall um uns herum erleben.

So wurden dem Menschen durch diese äußeren Riten und Zeremonien die inneren spirituellen Wahrheiten beigebracht, die sein Leben durchdringen sollten. Und wenn die fünf Opfer vorbei waren, sollte er in die Welt gehen und weiter auf andere Art Opfer bringen, indem er seine alltäglichen Pflichten erfüllte. Und sein tägliches Leben, das mit diesen fünf Opfern begann, setzte sich gesegnet in das äußere Leben fort. Je mehr die Sorglosigkeit gegenüber den fünf Opfern zunahm, um so mehr nahm auch die Sorglosigkeit gegenüber der Pflicht in diesem äußeren Leben zu. Nicht als ob diese Opfer auf alle Zeiten notwendig wären, denn es kommt die Zeit, in der der Mensch über sie hinauswächst. Aber denkt daran: er wächst nur über sie hinaus, wenn sein ganzes Leben zu einem einzigen lebendigen Opfer wird! Und bis er soweit ist, sind diese formalen Anerkennungen der Pflicht um des Heiles alles Lebens willen notwendig.

Bedauerlicherweise werden diese Pflichten im heutigen Indien weitgehend missachtet, nicht, weil die Menschen über sie hinausgewachsen wären, oder weil sie bereits ein so reines, vergeistigtes und erhabenes Leben führen würden, dass sie dieser niederen Übungen und ihrer ständigen Ermahnung nicht mehr bedürften; sondern weil sie sorglos und materialistisch geworden und so sehr vom Ideal ihres Manu abgefallen sind. Sie verweigern die Mächten, die über ihnen stehen, jede pflichtgemäße Anerkennung, und deshalb vernachlässigen sie auch ihre Pflichten den Menschen gegenüber.

Betrachten wir als nächstes das tägliche Leben – die Pflichten des Individuums in der Welt. Wo auch immer: wir werden in eine bestimmte Familie geboren, aus der sich unsere Familienpflichten ableiten. Wir werden in eine Gemeinschaft geboren, aus der sich unsere Gemeinschaftsverpflichtungen ableiten. Wir werden in ein Volk geboren, aus dem sich unsere Verpflichtungen gegenüber diesem Volk ableiten. Jedem Menschen werden durch die Umstände seiner Geburt gewisse Pflichten auferlegt, die, unter dem guten Gesetz, unter karmischer Leitung, jedem die Stelle zuweisen, an der er arbeiten, den Schauplatz, an dem er lernen kann. Daher heißt es, jeder Mensch solle seine eigenen Pflichten erfüllen, sein eigenes Dharma. Besser du erfüllst deine eigene Pflichten, so unvollkommen auch immer, als du versuchst das höhere Dharma eines anderen zu erfüllen. Denn das, worin du geboren bist, ist das, was du brauchst; das, worin du geboren bist, ist deine weisheitsvollste Übung. Erfülle deine Pflichten, ohne auf das Ergebnis zu schielen, dann wirst du die Lektion des Lebens lernen, und du wirst den Pfad des Yoga beschreiten. Zuerst wird man natürlich wegen der Früchte handeln; wir handeln, weil wir einen Wunsch nach der Belohnung verspüren. Und auch hier verstehen wir die frühe Unterweisung, als die Menschen gelehrt wurden, um der Ergebnisse in der Welt von Svarga [einer paradiesähnlichen Zwischenwelt zwischen den Reinkarnationen] willen zu handeln. Der kindliche Mensch wird durch die Belohnung angetrieben; Svarga wird ihm vorgehalten als etwas, das er durch seine Arbeit erreichen kann; wenn er seine religiösen Riten und Pflichten erfüllt, stellt er den mit ihnen verbundenen svargischen Ausgleich sicher. Und auf diese Weise wird er dazu verführt, Moralität zu praktizieren, ebenso wie ihr ein Kind dazu verführt, seine Lektionen zu lernen, indem ihr es belohnt oder es für seinen Fleiß lobt. Wenn aber das Handeln im Sinne des Yoga ausgeübt wird, und nicht um eine Belohnung zu erlangen, weder in dieser, noch in einer anderen Welt, dann muss es aus reinem Pflichtbewusstsein geschehen.

Betrachten wir einen Augenblick die vier großen Kasten und was für einen Zweck sie eigentlich erfüllen sollten.

(1) Der Brahmane sollte lehren, damit es eine Aufeinanderfolge weiser Lehrer gab, die die Evolution der Menschheit leiten konnten. Er sollte nicht für Geld lehren, nicht für Macht, nicht für irgendetwas, das er um seiner selbst willen erhielt; er sollte lehren, um sein Dharma zu erfüllen, und er sollte sich Wissen aneignen, um es an andere weiter zu geben. So würde es in einer gut organisierten Gesellschaft stets Lehrer geben, die unterrichten konnten, die fähig wären, selbstlos und ohne selbstsüchtige Absichten zu leiten und zu raten; so würde er nichts für sich selbst gewinnen, aber er würde alles für die Menschen gewinnen. Auf diese Weise würde sein Dharma erfüllt und seine Seele befreit.

(2) Darauf folgte der Yoga, der zu den in der Welt aktiven Menschen passte, die regierten und richteten, die Übung der herrschenden Klasse, der Kshatriyas. Da gab es den Menschen, der herrschen sollte. Warum? Nicht, um sich selbst durch die Macht zu befriedigen, sondern um der Gerechtigkeit willen, um dem armen Mann das Gefühl der Sicherheit zu geben, und um den reichen Mann daran zu hindern, andere zu tyrannisieren, damit Fairness und unparteiisches Urteil in der Welt der ringenden Menschen herrschten. Denn inmitten dieser Welt des Kampfes, dieser Welt des Ärgers und Streits, in der die Menschen versuchen, die Selbstsucht statt des Gemeinwohls zu belohnen, müssen sie darüber belehrt werden, dass Gerechtigkeit walten muss, dass, wenn der starke Mann seine Stärke missbraucht, der gerechte Herrscher diese ungerechte Anwendung der Stärke ahnden wird, dass auf dem Schwächeren nicht herumgetrampelt wird, dass der Schwächere nicht unterdrückt wird. Und die Pflicht des Königs war es, Gerechtigkeit unter den Menschen herzustellen, damit alle Menschen zum Thron als der Quelle der göttlichen Gerechtigkeit blicken konnten. Das ist das Ideal des göttlichen Königtums, das Ideal des göttlichen Herrschers. Rama kam, um es zu lehren, Shri Krishna kam, um es zu lehren; aber die Menschen waren so beschränkt, dass sie die Lektion nicht lernten. Der Kshatriya nutzte seine Stärke, um sich selbst zu belohnen und andere zu unterdrücken, eignete sich ihren Reichtum an und nutzte ihre Arbeit für seinen persönlichen Vorteil. Er verlor das Ideal des göttlichen Herrschers, der die Gerechtigkeit verkörperte in der ringenden Welt der Menschen. Aber er hätte dieses Ideal zum Ziel seines Lebens machen sollen, und seine Pflicht sollte es sein, das Land zu verwalten, es um des Wohles des ganzen Volkes willen zu verwalten und nicht zu seinem eigenen Vorteil. Ebenso, wenn seine Pflicht die des Soldaten war. Das Volk sollte seine Aufgaben in Frieden erfüllen. Arme und harmlose Menschen sollten sicher und zufrieden in ihren Häusern leben und die Früchte ihrer Arbeit genießen. Der Händler sollte seinen Aufgaben in Frieden nachgehen. All die unterschiedlichen Berufungen sollten ohne Furcht ausgelebt werden, sicher vor Aggressionen. Und so wurde dem Kshatriya gelehrt, wenn er kämpfen müsse, dann solle er ein Verteidiger der Hilflosen sein und sein Leben hinopfern, damit sie ihr Leben in Frieden leben könnten. Er sollte nicht kämpfen, um etwas dadurch zu gewinnen. Er sollte nicht um Landbesitz kämpfen. Er sollte nicht um Macht oder Herrschaft kämpfen. Er sollte als eiserner Wall um das Volk stehen, so dass sich jeder Angriff an seinem Körper brechen würde, und innerhalb der von ihm gesicherten Grenzen sollten alle Menschen in Frieden, in Sicherheit und in Glück leben. Wenn er dem Yoga innerhalb der Pflichten des Kshatriya folgen wollte, sollte er sich selbst als Diener des göttlichen Willens betrachten, und daher lehrte Shri Krishna, Er habe alles vollbracht, und Arjuna habe lediglich seine Taten in der Welt der Menschen wiederholt. Und wenn der göttliche Akteur in jeder einzelnen Handlung des Menschen erkannt wird, kann er sein Handeln als Pflicht ohne Verlangen vollbringen, und es verliert seine die Seele bindende Macht.

(3) Ebenso der Vaishya, dessen Aufgabe es war, Reichtum zu erwerben. Er sollte dies nicht um seiner selbst willen tun, sondern um das Volk zu unterstützen. Er sollte reich sein, damit jede Aktivität, die des Reichtums bedurfte, diesen Reichtum vorfand und durch ihn ermöglicht werden konnte. Sodass es überall Häuser für die Armen geben würde, überall Gasthäuser für die Reisenden, überall Krankenhäuser für Menschen und Tiere, überall Tempel für den Dienst an den Göttern, und überall den Reichtum, der erforderlich war, um diese Aktivitäten eines vollkommenen nationalen Lebens zu unterstützen. Und so bestand sein Dharma in der Ansammlung des Reichtums um des allgemeinen Wohls willen und nicht um der Selbstbefriedigung willen. Auf diese Weise konnte auch er dem Yoga folgen, und sich durch den Karma-Yoga auf ein höheres Leben vorbereiten.

(4) So auch der Shudra, der sein Dharma um dieses allgemeinen Wohl willen zu erfüllen hatte. Seine Aufgabe bestand darin, die große Hand des Volkes zu sein, die ihr das zur Verfügung stellte, wessen sie bedurfte und die all die dienenden äußeren Aktivitäten vollbrachte. Die Erfüllung seines Yoga bestand darin, seinen Pflichten freudig nachzugehen, sie auszuüben um ihrer selbst willen, und nicht um der Belohnung willen, die er vielleicht erhielt.

Als erstes handeln die Menschen um des Eigennutzes willen, und machen damit ihre Erfahrungen; danach lernen sie aus Pflicht zu handeln, und so beginnen sie in ihrem täglichen Leben den Yoga zu praktizieren; zuletzt handeln sie, um ein freudvolles Opfer zu bringen, für das sie keine Belohnung verlangen, sondern in dem sie alles, was sie besitzen, um ihrer Aufgaben willen einsetzen. Und auf diese Weise wird die Vereinigung erreicht.

Wir verstehen, was mit Reinigung gemeint ist, wenn wir diese Stufen des Eigennutzes, des Handelns aus Pflicht und der freiwilligen Hingabe als Opfer betrachten. Es sind die Stufen des Pfades der Reinigung.

Wie aber soll eine solche Reinigung zu den höheren Stufen führen, zum Anfang der Schülerschaft, auf die alle Aktivitäten am Ende vorbereiten sollen? Alles am Menschen muss gereinigt werden, der Körper ebenso wie der Geist. Über die Reinigung des Körper habe ich keine Zeit zu sprechen, aber ich darf daran erinnern, dass nach den Lehren der Bhagavad Gita diese Reinigung durch Mäßigung erreicht wird und nicht durch selbstquälerische Askese, nicht durch Marterung des Körpers und Dessen, der in ihm wohnt, wie Shri Krishna sagt.

Yoga wird erreicht durch gemäßigte Selbstkontrolle, durch freiwillige Erziehung der niederen Natur, durch schlichte Wahl des reinen Pfades in der Ernährung, durch Pflege und Mäßigung aller physischen Aktivitäten, was zu einer schrittweisen Erziehung und Regelung und Mäßigung führt, bis der ganze Körper unter die Kontrolle des Willens und des Selbstes gebracht ist. Dafür wurde das Leben im ehelichen Hausstand angeordnet; denn die Menschen sind für das harte zölibatäre Leben nicht geeignet, von einigen wenigen vielleicht abgesehen. Nicht jeder ist ein Brahmacharya. Durch das Leben in der Ehe wurden die Menschen dazu erzogen, ihre sexuellen Leidenschaften zu kontrollieren und zu mäßigen, nicht sie auszuradieren – was für die vielen unmöglich ist, und wenn es mit unweiser Energie versucht wird, oft zu einer Gegenreaktion führt, die eine solche Person in die schlimmste Lasterhaftigkeit führt – nicht durch eine einzige Anstrengung, die zu töten und auszumerzen versucht, sondern durch eine schrittweise Erziehung in Maßen, und durch die Entsagung in der Ehe, durch welche die niedere Natur langsam zur Mäßigung gebracht und an die Kontrolle durch die höhere gewöhnt wird, aus ihrer Überaktivität herauserzogen und dem Einen unterworfen wird. Hier kommt dieses Karma-Yoga ins Spiel. In der Ehe muss man schrittweise Selbstkontrolle lernen, man muss sich mäßigen, die niedere Natur der höheren unterwerfen, sie Tag für Tag erziehen, bis sie dem Willen vollkommen unterworfen ist. Auf diese Weise reinigt man den Körper und macht sich für die höheren Pfade des Yoga geeignet.

Dann müssen auch die Leidenschaften der niederen Natur allesamt gereinigt werden. Nehmen wir als Beispiel – ich möchte drei Beispiele geben, so dass ihr es auf euer eigenes Leben übertragen könnt – die Leidenschaft des Zorns (Wut, Ärger) und sehen wir, wie sie im Karma-Yoga bearbeitet werden kann, damit aus ihr eine positive Eigenschaft wird. Zorn ist eine Energie, eine Energie die aus dem Menschen strömt und ihre Objekte sucht. Man sieht diese Energie in unentwickelten und unerzogenen Menschen als Leidenschaft, die sich in vielen brutalen Formen zeigt, die Opposition niederwirft, sich nicht um die angewandten Methoden kümmert, wenn sie alles aus dem Weg räumt, was der angestrebten Belohnung des eigenen Willens im Weg steht. Es handelt sich um eine ungezügelte und destruktive Energie der Natur, die derjenige, der Karma-Yoga betreibt, mit Sicherheit überwinden muss.

Wie aber soll er diese Leidenschaft des Zorns unterwerfen und erziehen? Er befreit sich für den Anfang von dem persönlichen Element. Wenn ihm ein persönliches Unrecht widerfährt, übt er sich darin, es nicht nachzutragen. Dies ist eine Pflicht, die vielen von euch auferlegt ist. Jemand behandelt euch schlecht; jemand tut euch Unrecht. Was sollt ihr tun? Ihr könnt eurem Ärger freien Lauf lassen und ihn schlagen. Er hat euch betrogen: ihr versucht ihn ebenfalls zu übervorteilen. Er hat euch verletzt: ihr versucht ihn ebenfalls zu verletzen. Er hat euch hintergangen: ihr versucht ihn ebenfalls zu hintergehen und ihm Unrecht zu tun. Und so wächst die Leidenschaft des Zorns und man sieht Zerstörung überall, wo eigentlich Gemeinschaft zwischen Menschen sein sollte.

Wie soll man diese Leidenschaft reinigen? Jeder der großen Lehrer des Karma-Yoga kann auf diese Frage Antwort geben, der lehrte, wie Handeln in der Welt der Menschen im Interesse des Selbst benutzt werden kann.

Ihr erinnert euch vielleicht daran, dass zu dem zehnfältigen System der Pflichten, das Manu begründet hat, auch die Vergebung von Unrecht gehört. Ihr erinnert euch vielleicht an die Lehren des Buddha, der sagte: »Hass hört niemals durch Hass auf, sondern nur durch Liebe.« Ihr erinnert euch vielleicht, dass der christliche Lehrer dieselbe Ansicht vertrat, als er sagte: »Lasst euch nicht vom Bösen überwältigen, sondern überwindet das Böse durch Gutes.« Das ist Karma-Yoga.

Vergebt das Unrecht; beantwortet Hass mit Liebe; überwindet das Böse durch Gutes. Auf diese Weise löscht ihr das persönliche Element aus; ihr werdet nicht länger zornig sein, weil euch Unrecht widerfahren ist; ihr werdet das persönliche Element weggeläutert haben, und der Zorn in euch wird nicht mehr von dieser niedrigen Art sein. Aber immer noch kann eine höhere Art des Zorns zurückbleiben. Ihr seht, wie einem Schwachen Unrecht widerfährt: ihr empfindet Zorn gegen den Täter; ihr seht, wie ein Tier misshandelt wird, ihr seid zornig gegen die Person, die grausam ist; ihr seht, wie ein armer Mann unterdrückt wird: ihr empfindet Zorn gegen den Unterdrücker.

Unpersönlicher Zorn – viel edler als der andere, und eine notwendige Stufe in der Entwicklung des Menschen; es ist viel besser und edler gegen einen Übeltäter Zorn zu empfinden, als mit unbewegtem Gleichmut vorüberzugehen, weil ihr kein Mitleid mit dem Leidenden empfindet, der betroffen ist. Dieser höhere, unpersönliche Zorn ist edler als Indifferenz, aber er ist nicht das Höchste. Auch er muss verwandelt werden, und er muss in die Eigenschaft verwandelt werden, dem Starken und dem Schwachen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen; mit Einfühlung sowohl dem Übeltäter als auch dem Misshandelten gegenüber; einer Einfühlung, die erkennt, dass er sich selbst mehr verletzt, als die Person, der er Unrecht tut; die Mitleid mit ihm empfindet, ebenso wie mit der misshandelten Person; die alle einschließt, den Übeltäter und den Misshandelten, in eine einzige Empfindung von Liebe und Gerechtigkeit. Wer auf diese Weise die Leidenschaft des Zornes gereinigt hat, beendet das Unrecht, weil es seine Pflicht ist, dies zu tun, und ist freundlich gegenüber dem Übeltäter, weil auch ihm geholfen werden muss, weil auch er erzogen werden muss; auf diese Weise wird der Ärger, der wegen eines persönlichen Unrechts zurückschlug, zur Gerechtigkeit, die alles Übel beendet und den Starken wie den Schwachen in gleichem Maß sichert und beschützt. Das ist die Reinigung in der Welt der Handlungen, dies die Richtung der täglichen Bemühungen, durch die die niedere Natur gereinigt wird, damit die Vereinigung erreicht werden kann.

Betrachten wir die Liebe. Sie kann in ihrer niedrigen Form auftreten – als animalische Leidenschaft zwischen den Geschlechtern in ihrer niedrigsten und ärmlichsten Form, die sich überhaupt nicht um die Charaktereigenschaften desjenigen kümmert, von dem sie sich angezogen fühlt, die sich nicht für die Schönheit der geistigen und moralischen Natur interessiert; die sich allein für die physische Schönheit interessiert, die physische Anziehung und den physischen Genuss. Das ist Leidenschaft in ihrer niedrigsten Form. Einzig und allein das Selbst wird gesucht.

Diese wird gereinigt durch den Menschen, der dem Karma-Yoga in eine Form der Liebe folgt, die sich selbst für den Geliebten opfert; er erfüllt die Familienpflichten, er kümmert sich um seine Frau und seine Kinder und tut sein Bestes bei Aufopferung seiner eigenen Neigungen, seiner eigenen Muße und seiner eigenen Belohnung; er arbeitet, damit es der Familie besser geht, er arbeitet, damit die Bedürfnisse der Familie gestillt werden können; in ihm sucht die Liebe nicht mehr nur ihr eigenes Vergnügen, sondern sie sucht den Geliebten zu helfen, und das Übel das den Geliebten droht, auf sich zu nehmen, damit sie beschützt und bewahrt und behütet sind; indem er dem Karma-Yoga folgt, reinigt er seine Liebe von den selbstsüchtigen Elementen, und die animalische Leidenschaft für das andere Geschlecht wird zur Liebe für den Ehegatten, zum Vater, zum älteren Bruder, zum Verwandten, die ihre Pflicht erfüllt, sich um das Wohl der Geliebten kümmert, damit ihr Leben besser und glücklicher wird.

Und dann kommt die letzte Stufe, wenn die Liebe, die vom Selbst gereinigt ist, sich auf alle bezieht. Sie richtet sich nicht nur auf den engen Kreis der Familie, sondern sieht in jedem, dem sie begegnet, eine Person, die der Hilfe bedarf, in jedem Hungernden einen Bruder, der genährt werden muss, in jeder Frau, die allein gelassen wurde, eine Schwester die beschützt werden muss. Wenn er jemandem begegnet, der einsam ist, wird ein so gereinigter Mann zum Vater und Bruder und Helfer dieses Menschen, nicht weil er ihn persönlich liebt, sondern weil er ihn ideell liebt, und weil er versucht, um der Liebe willen zu geben und nicht einmal, weil er wiedergeliebt werden will. Die höchste Liebe, die Liebe, die aus dem Karma-Yoga erwächst, verlangt nichts zurück für das, was sie gibt; sie sucht keine Belohnung; sie verlangt keine Anerkennung; sie wirkt auch im Verborgenen; ja, sie freut sich mehr, wenn sie im Verborgenen und unerkannt wirken kann, als wenn sie anerkannt und gerühmt wird. Und die höchste Reinigung der Liebe besteht darin, wenn sie absolut göttlich wird, wenn sie gibt, weil es zu ihrem Wesen gehört, Freude zu verbreiten, wenn sie nichts für sich verlangt, sondern nur andere zu erfreuen versucht.

Ebenso verhält es sich mit der Habgier. Die Menschen suchen nach Gewinn, um des Genusses willen; sie verlangen nach Gewinn, um durch ihn Macht zu erlangen; sie streben nach Gewinn, um durch ihn erhöht zu werden. Sie reinigen diese erste Form der Habgier; und sie beginnen nach Gewinn zu streben, der der Familie zugute kommt, der die Lage der Familie verbessert, der sie vor Leiden, Entbehrung und Hunger schützt; auf diese Weise verlieren sie etwas von ihrer Selbstsucht. Dann gehen sie weiter. Sie verlangen nach Macht, damit sie diese um des allgemeinen Wohls willen einsetzen können, sie versuchen, sie zu erweitern, damit sie noch mehr Menschen Gutes tun können, als nur der Familie, dass sie einer größeren Gemeinschaft dienen können; und zuletzt, wie bei der Liebe, lernen sie, zu geben, ohne belohnt zu werden. Sie lernen, nach Wissen und Macht zu verlangen, nicht um sie für sich zu behalten, sondern um sie weiterzugeben, nicht um sie zu genießen, sondern nur, um sie zu verschenken. Und auf diese Weise wird die Selbstsucht im Feuer verzehrt.

Habt ihr euch jemals gefragt, warum der, dessen Name Mahadeva ist, in einer Feuergrube haust? Eine merkwürdige Behausung für den Allmächtigen, mögen Menschen gedacht haben. Eine befremdliche Umgebung für Ihn, der die Reinheit selbst ist. Was sich unter dem Symbol der Feuergrube verbirgt, ist das menschliche Leben; und in dieser Feuergrube, in der Shiva wohnt, werden alle niedrigen Dinge des Menschenlebens vom Feuer verzehrt. Wenn Er nicht darin wohnt, dann bleiben diese irdischen Dinge zurück, um zu verfaulen, um zu zerfallen, um zu einer Quelle der Gefahr zu werden, um Krankheiten und Verfall überall zu verbreiten. Aber in der Feuergrube, in der er wohnt, die sein Feuer nach allen Seiten erfüllt, wird alles Selbstsüchtige, alles Persönliche verbrannt, alles, was der niederen Natur angehört; aus diesen verjüngenden Flammen erhebt sich der triumphierende Yogi, der alle persönlichen Eigenschaften abgeworfen hat; denn das Feuer des Herrn hat all seine niederen Leidenschaften verbrannt, und nichts bleibt zurück, das zerstören oder Krankheit verbreiten könnte. Deshalb wird Er auch der Zerstörer genannt – der Zerstörer des Niedrigen, damit die Verjüngung geschehen kann; denn aus Seinem Feuer wurde die Seele ursprünglich geboren und aus dieser Feuergrube aufersteht das gereinigte Selbst.

So führen diese ersten Stufen hinauf zur wahren Schülerschaft, dazu, dass wir den Guru finden, ins Innerste des Tempels, in das Allerheiligste, wo der Guru der Menschheit seinen Sitz hat. Dies sind die ersten Schritte, die ihr tun könnt, dies ist der Weg, auf dem ihr euch voran bewegen könnt. Menschen seid ihr, die in der Welt leben und die durch weltliche Bande gebunden sind, Menschen die am sozialen und politischen Leben Anteil haben; und doch verlangt ihr in der Tiefe eures Herzens nach dem wahren Yoga und der Erkenntnis des ewigen, nicht nur des vergänglichen Lebens. Denn im Herzen eines jeden, wenn ihr nur bis auf dessen Grund geht, findet ihr diese Sehnsucht nach tieferer Erkenntnis, nach einem edleren Leben als jenem, das ihr heute führt.

Ihr mögt so erscheinen, als liebtet ihr die Dinge der äußeren Welt, und ihr liebt sie mit eurer niederen Natur; aber im Herzen eines jeden wahren Hindu, der nicht vollkommen von seinem Glauben und seinem Land abgefallen ist, lebt immer noch diese innere Sehnsucht nach etwas mehr als den Dingen dieser Erde, ein zartes Verlangen, vielleicht nur aufgrund der alten Traditionen, dass Indien edler sein sollte als es heute ist, und sein Volk seiner Vergangenheit würdiger. Hier ist der Weg, den ihr beschreiten müsst: keine große Nation, solange die Individuen nicht groß sind; kein mächtiges Volk, wenn die Individuen elend und arm und selbstsüchtig sind. Ihr müsst da anfangen, wo ihr heute steht, im Leben, das ihr führt und wenn ihr diesen Leitlinien folgt, die ich in groben Zügen skizziert habe, dann werdet ihr die ersten Schritte in Richtung des Pfades machen.

Lasst mich damit schließen, dass ich daran erinnere, wohin dieser Pfad führt, auch wenn ich euch mit ihm in den folgenden Stunden noch näher bekannt machen muss.

Das Ziel des Pfades ist die Vereinigung – der Karma-Yoga, den wir betrachtet haben, ist Vereinigung durch Handeln. Es gibt weitere Schritte, die wir gehen müssen, aber was heißt »Vereinigung«? Ihr erinnert euch an die Merkmale, die Shri Krishna genannt hat, die einen Mann auszeichnen, der sich von den Gunas befreit hat, die Merkmale des Mannes der sie hinter sich gelassen hat, und der sich bereit gemacht hat, den Nektar der Unsterblichkeit zu trinken, den Mann der bereit ist, das Höchste zu erkennen, sich mit dem Erhabensten zu vereinigen. Er nimmt nichts wirkendes wahr, als die Gunas. Er weiß, was hinter ihm liegt. Er sieht, wie die Gunas wirken; er sehnt sich nicht nach ihnen, wenn sie nicht da sind, er stößt sie nicht zurück, wenn sie da sind. Er ist inmitten von Freunden und Feinden ausgeglichen, ausgeglichen inmitten von Lob und Tadel, selbstverantwortlich, betrachtet alle Dinge mit neutralem Auge, den Klumpen Erde, das Stück Gold, Freund und Feind. Er ist gleich zu allen, denn er hat die Gunas hinter sich gelassen, und wird von ihrem Spiel nicht mehr verführt. Das ist das Ziel, dem wir zustreben. Das sind die ersten Schritte auf dem Pfad, der hinüberführt. Bevor diese Schritte nicht gemacht sind, kann kein weiterer erfolgen; aber wenn diese nach und nach ausgeführt werden, kann man den Anfang des wahren Pfades sehen.


2. Bedingungen der Schülerschaft

Kontrolle des Denkens. Meditation. Charakterbildung.

Brüder, – das Unterthema das ich heute Morgen zu erörtern habe, sind die Bedingungen der Schülerschaft.

Lasst mich damit beginnen, dass ich eure Aufmerksamkeit auf die Frage der Wiedergeburt lenke und darauf, wie ein Mensch begreifen kann, was unter Schülerschaft zu verstehen ist und wie er diese frei als künftigen Pfad in seinem Leben wählen kann. Ihr werdet euch an meine gestrigen Ausführungen erinnern, in denen ich den unterschiedlichen Stufen des Handelns nachgegangen bin: wie ein Mensch zunächst wegen der Befriedigung seiner eigenen niederen Natur handelt, die immer nach den Früchten verlangt, wie er dann langsam in der Praxis des Karma-Yoga lernt, nicht um der Früchte für das niedere Selbst willen zu handeln, sondern weil die Handlung getan werden muss, und wie er sich auf diese Weise mit dem Gesetz identifiziert und bewusst an den großen Weltaufgaben teilzunehmen beginnt. Dann habe ich auf eine weitere Stufe hingedeutet, auf der das Opfer nicht nur als Pflicht dargebracht wird, sondern als freudige Gabe von allem, was ein Mensch besitzt. Es ist klar, wenn man diese Stufe anstrebt, wenn jemand nicht nur arbeitet, weil die Arbeit getan werden muss, sondern weil er alles in den Dienst des Höchsten stellen möchte, was er ist und besitzt, dass es dann möglich wird, die Fesseln der Begierde zu sprengen und sich selbst von der Wiedergeburt zu befreien.

Denn eben die Begierde ist es, die den Menschen zur Wiedergeburt zieht; der Wunsch, die Dinge zu genießen, die nur hier genossen werden können, die Dinge zu erwerben, die nur hier erworben werden können. Jeder, der sich irgendein irdisches Ziel setzt, der ein irdisches Objekt zu seinem Ziel macht, ist offensichtlich von der Begierde gefesselt.

Und so lange er nach dem begehrt, was die Erde ihm geben kann, muss er zu ihr zurückkehren; solange es irgend eine Freude, irgendein Objekt des vergänglichen Lebens auf der Erde gibt, die die Macht besitzen, ihn anzuziehen, solange besitzen sie auch die Macht, ihn zu fesseln. Jede Anziehung, jedes Verlangen bindet die Seele und bringt sie an den Ort zurück, an dem dieses Verlangen seine Befriedigung finden kann.

Der Mensch ist so göttlich, so gottähnlich in seinem Wesen, dass selbst diese von ihm ausströmende Energie, die wir als Wunsch oder Verlangen bezeichnen, in sich selbst die Kraft besitzt, ihre Erfüllung herbeizuführen. Was er verlangt, das erlangt er, was er verlangt, das gibt ihm die Natur früher oder später, wenn die Zeit reif ist; so dass der Mensch, wie schon oft gesagt wurde, der Schmied seines eigenen Schicksals ist, und was immer er vom Universum verlangt, das erhält er. Er muss natürlich die Befriedigung des Verlangens in jenem Teil des Universums suchen, auf den sich das Verlangen richtet.

Wenn er also nach den Dingen der Erde verlangt, muss er auf die Erde zurückkehren, damit seine Begierden befriedigt werden können. Und so ist ein Mensch auch an die Wiedergeburt gebunden durch jeden dieser Wünsche, die ihre Befriedigung in den zeitlichen und vergänglichen Welten auf der anderen Seite jenseits Todes finden; jene Welten, die vergänglich sind, jenseits der Schwelle des Todes, führen, wie wir wissen, alle zurück zur Wiedergeburt hier auf der Erde; wenn also die Wünsche eines Menschen auf die Freuden des Svarga fixiert sind, wenn er nach den Früchten seines Lebens in irgendeiner anderen, ebenfalls vergänglichen Welt Ausschau hält – angenommen, er versagt sich die irdischen Freuden, um der Freuden von Svarga willen –, dann sind jene Freuden die Früchte seiner Arbeit auf der Erde, und diese Früchte wird er zum angemessenen Zeitpunkt erhalten. Insofern Svarga selbst aber vorübergehend ist, hat er für sich bloß jenen Pfad gewählt, der als »Pfad des Mondes« bezeichnet wird, den Pfad, der zur Wiedergeburt führt – ihr erinnert euch, dass es heißt, »der Mond ist das Tor von Svarga« – und aus Svarga kommt der Mensch zurück auf die Erde. Auf diese Weise bindet das Verlangen – ob es in dieser oder einer anderen, ebenso vergänglichen Welt befriedigt wird – die Seele an die Wiedergeburt, und daher kommt es, dass geschrieben steht, »erst wenn die Fesseln des Herzens gesprengt sind«, kann die Seele Befreiung erlangen.

Nun kann die Befreiung (in einem Zeitalter) schlicht und einfach durch die Zerstörung des Verlangens erreicht werden. Ohne irgendeine sehr hohe Entwicklung, ohne eine erhabene Stufe der Entwicklung der Seele, ohne die Entfaltung all der göttlichen Möglichkeiten, die im menschlichen Bewusstsein verborgen liegen, ohne jene großen Höhen zu erreichen, auf denen die Lehrer und Helfer der Menschheit stehen, vermag der Mensch, wenn er dies wünscht, eine Befreiung zu erlangen, die durch und durch selbstisch ist, die ihn tatsächlich aus der Welt des Wandels erhebt, die tatsächlich die Fesseln sprengt, die ihn an die Welten von Geburt und Tod binden, die aber auf keine Weise seinen Brüdern hilft, die deren Fesseln nicht sprengt und sie nicht befreit; dies ist eine Befreiung nur für den Einzelnen, nicht für das Ganze, eine Befreiung, durch die der Einzelne sich von der Menschheit verabschiedet und sie in ihrem Ringen sich selbst überlässt.

Ich weiß, dass viele Menschen in ihrem Leben keinen höheren Gedanken fassen; dass viele nur nach dieser Befreiung suchen, sich nicht um andere sorgen, und nur selbst aus dieser Welt flüchten wollen. Dies kann, sage ich, relativ leicht erreicht werden. Man muss nur die Vergänglichkeit der irdischen Dinge einsehen, die Wertlosigkeit der scheinbar so erstrebenswerten Dinge, um die sich ein weltlicher Mensch Tag für Tag abmüht. Aber trotz allem ist diese Befreiung nur vorübergehend, vielleicht für die Dauer eines Manvantaras; danach kommt die Rückkehr. So dass die Seele, die auf diese Weise von der Welt befreit ist und so weit es diese Erde betrifft, befreit bleibt, doch in einem künftigen Zyklus zurückkehren muss, um weitere Schritte auf die wahrhaft göttlichere Bestimmung des Menschen zuzugehen, die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins in Richtung Allbewusstsein nämlich, das benötigt wird, um zu erziehen, zu helfen, und die künftigen Welten zu lenken.

Ich wende mich also den weiseren und gütigeren Seelen zu, die, wenn sie die Fesseln des Verlangens sprengen, dies nicht tun, um sich aus den Schwierigkeiten des irdischen Lebens zu befreien, sondern um jenem höheren und edleren Pfad zu folgen, der als Pfad der Schülerschaft bezeichnet wird, um jenen Großen Einen zu folgen, die der Menschheit den Weg bereitet haben; diese Seelen suchen nach den Lehrern, die bereit sind, jene anzunehmen, die sich selbst für die Schülerschaft qualifizieren, denen es nicht nur um die Selbsterlösung geht, nicht bloß darum, den Sorgen zu entfliehen, sondern darum, Helfer und Lehrer und Retter der Menschheit zu werden, um der Welt im Ganzen das zurückzugeben, was der Einzelne von den Lehrern empfangen hat, die vorangegangen sind.

Von dieser Schülerschaft sprechen alle großen Schriften der Welt. Der Guru, den man finden kann, der die Menschen unterrichtet, ist eines der Ideale aller höchsten und am weitesten entwickelten Seelen, die in dieser äußeren Welt das Göttliche zu realisieren versucht haben. Nehmt eine beliebige Schrift zur Hand, und seht euch an, wie diese Idee in ihr zum Ausdruck gebracht wird. In allen Upanischaden wird der Guru erwähnt, und die Aufmerksamkeit des potentiellen Schülers wird darauf gelenkt, ihn zu suchen und zu finden. Das möchte ich euch heute morgen erläutern; die Bedingungen der Schülerschaft; was getan werden muss, damit eine Schülerschaft möglich wird; was erreicht werden muss, bevor die Suche nach dem Guru Aussicht auf Erfolg haben kann; was in der Welt, im gewöhnlichen Leben des Menschen getan werden muss, indem man dieses Leben als Schule benutzt, als einen Ort des vorbereitenden Lernens, als einen Ort, der den Menschen vorbereitet, damit er die Füße der großen Lehrer berühren kann, die ihn zur wahren Wiedergeburt führen werden – der Wiedergeburt, die in allen exoterischen Religionen durch die eine oder andere äußere Zeremonie symbolisiert wird, die ihre Heiligkeit dem verdankt, was sie symbolisiert und nicht sich selbst.

Im Hinduismus findet ihr den Ausdruck »zweimal geboren«, was einschließt, dass der Mensch nicht nur von seinem irdischen Vater und seiner irdischen Mutter abstammt, sondern auch die wahre zweite Geburt erlebt hat, die der Seele durch den Guru zuteil wird.

Diese wird symbolisiert – leider nur symbolisiert in zu vielen Fällen heutzutage – durch die Initiation, die durch den Familienguru oder den Vater dem Sohn zuteil wird, wenn er zu dem wird, was in der äußeren Welt als »zweimal geborener« Mensch bezeichnet wird.

Aber in alter Zeit – und ebenso noch heute – gab es und gibt es eine wahre Initiation, die das Urbild dieser äußeren Zeremonie ist; es gibt eine reale, wahre Initiation, die nicht nur in eine exoterische Kaste hineinführt, sondern in eine wahrhaft göttliche Geburt; die durch einen mächtigen Guru erteilt wird; die auf den Großen Initiator zurückgeht, den Einen Initiator der Menschheit. Wir lesen von diesen Initiationen in der Vergangenheit, wir wissen dass sie aber auch in unserer Gegenwart existieren. Die gesamte Geschichte zeugt davon, dass es sie wirklich gibt.

Es gibt Tempel in Indien, unter denen sich die Orte dieser alten Initiationen befinden, Orte, die den Menschen unbekannt sind, die vor den Augen der Menschen heute verborgen sind, die aber trotzdem dort sind, die trotzdem jenen zugänglich sind, die sich als würdig erwiesen haben, sie zu erreichen.

Und nicht nur in Indien findet man solche Orte. Auch das alte Ägypten besaß seine verborgenen Initiationsräume, und mächtige Pyramiden stehen im einen oder anderen Fall über diesen alten Plätzen, die heute den Augen der Menschen verborgen sind. Die späteren Initiationen, die in Ägypten stattfanden, jene, von denen ihr in der Geschichte Griechenlands oder in der Gesichte Ägyptens selbst lesen könnt, jene, von denen ihr gehört habt, dass der eine oder andere große Philosoph sie durchlaufen hat – sie fanden in den äußeren Gebäuden statt, die den Menschen bekannt waren, die die wahren Tempel der Initiation verbargen.

In diese gelangte man nicht durch äußeres Wissen, sondern unter Bedingungen, die seit Urzeiten existiert haben und die heute ebenso real existieren wie damals; denn ebenso, wie die gesamte Geschichte von der Realität der Initiation zeugt, zeugt sie auch von der Realität des Initiierten.

Am Ausgangspunkt jeder großen Religion stehen Menschen, die mehr als gewöhnliche Menschen waren, Menschen, die den Menschen die Schrift gaben, Menschen, die die Umrisse der exoterischen Glaubensformen schufen, Menschen, die ihre Zeitgenossen aufgrund ihrer spirituellen Weisheit weit überragten, einer Weisheit, die sie von Gnade erfüllt sein ließ und einer spirituellen Erkenntnis, aufgrund dessen, was sie sahen und die von dem, was sie sahen, Zeugnis ablegten; denn es gibt eine Sache, die wir oft schon erwähnt haben, die für all diese großen Lehrer von Bedeutung ist.

Sie argumentieren nicht, sie verkünden; sie diskutieren nicht, sie stellen fest; sie erreichen ihre Ergebnisse nicht durch logische Prozesse, sondern durch spirituelle Intuition; sie treten auf und sprechen mit einer Autorität, die sich selbst rechtfertigt, indem sie spricht, und die Herzen der Menschen erkennen die Wahrheit ihrer Lehre, selbst wenn sie die Verständnismöglichkeiten ihres Intellekts übersteigt.

Denn im Herzen eines jeden Menschen wohnt ein spirituelles Prinzip, das jeder göttliche Lehrer anspricht, und dieses Prinzip antwortet auf die Wahrheit der spirituellen Verkündigung, auch wenn die intellektuellen Augen nicht scharf genug sind, die Realität dessen zu erkennen, was der Geist zu sehen vermag.

Diese großen Gurus also, die wir in der Geschichte als die größten Lehrer finden, ebenso wie jene, die wir als die größten Philosophen anerkennen, sie sind die Initiierten, die zu mehr als Menschen geworden sind; solche Initiierten existieren heute genauso wie zu allen Zeiten.

Wie sollte der Tod jene berühren, die Leben und Tod hinter sich gelassen haben, die Meister der niederen Natur? Sie haben sich im Lauf der Jahrtausende, die hinter ihnen liegen, über die Menschheit hinaus entwickelt, manche aus der gegenwärtigen Menschheit, manche aus einer Menschheit, die der unsrigen vorausgegangen ist. Manche von ihnen kamen aus anderen Welten, von anderen Planeten, als die Menschheit noch in ihrem Kindheitsstadium war; andere wuchsen heran, als die Menschheit alt genug war, um ihre eigenen Initiierten hervorzubringen, Gurus aus unserer eigenen Rasse, die der Menschheit, der sie selbst angehören, weiterzuhelfen vermögen. Wenn dieser Pfad beschritten und dieses Ziel erreicht ist, hat der Tod keine Macht mehr über einen solchen Menschen, es ist ausgeschlossen, dass er einmal aufhören könnte, zu existieren; die Tatsache, dass wir sie in der Geschichte finden, ist der beste Beweis dafür, dass sie auch in unserer Gegenwart existieren; allein das würde schon ausreichen, ihre Existenz zu beweisen, und wir bedürften nicht der von Jahr zu Jahr zunehmenden Zeugnisse derer, die Sie gefunden haben und die Sie kennen, die von Ihnen unterrichtet werden und zu Ihren Füßen Ihre Lehren empfangen. Denn in unserer heutigen Zeit und in unseren Tagen findet einer nach dem anderen diesen alten Pfad wieder; in unserer Gegenwart, ja in unseren Tagen, findet einer nach dem anderen diesen schmalen Pfad, der so scharf wie eine Rasierklinge ist, der zum Tor der Schülerschaft führt und den Durchgang durch dieses Tor ermöglicht; und so wie einer nach dem andern diesen Pfad findet, vermag ein Zeuge nach dem anderen in unseren Tagen die Wahrheit der alten Schriften zu beschwören und indem sie sich auf diesen Pfad begeben, können sie ihn Schritt für Schritt abschreiten.

Im Augenblick muss es uns aber darum gehen, die Bedingungen kennenzulernen, die erfüllt sein müssen, damit man durch das Tor zum Pfad hindurch gelassen wird.

 

(1) Kontrolle des Geistes oder des Denkens

Nun, die erste dieser Bedingungen muss in beträchtlichem Ausmaß erfüllt werden, bevor Schülerschaft in irgendeinem Sinn möglich sein soll. Sie wird als Kontrolle des Geistes, des Denkens, bezeichnet, und meine erste Aufgabe besteht nun darin, euch sehr genau zu erklären, was Kontrolle des Geistes bedeutet, was der Geist ist, der konktrolliert werden muss und wer es ist, der ihn kontrolliert.

Denn ihr müsst bedenken, dass für die Mehrzahl der Menschen der Geist den Menschen repräsentiert. Wenn er von »sich selbst« spricht, dann meint er damit seinen Geist [»mind« – sein Bewusstsein, sein Denken]. Wenn er »Ich« sagt, identifiziert er dieses »Ich« mit seinem Geist, der bewussten Intelligenz, die weiß; und wenn er sagt, »Ich denke, ich fühle, ich weiß«, dann werdet ihr feststellen können, wenn ihr der Bedeutung dieser Worte genau nachgeht, dass er nicht über die Grenzen seines Wachbewusstseins hinausgeht. Das ist es meistens, was er meint, wenn er »Ich« sagt.

Sicherlich wissen jene, die sorgfältig studiert haben, dass ein solches »Ich« eine Illusion ist; aber auch wenn ihnen dies als Gedanke vielleicht klar ist, wenden sie diese Einsicht in ihrem alltäglichen praktischen Leben doch nicht an. Sie mögen dieser These als Philosophen zustimmen, aber sie leben in ihrem täglichen Leben doch nicht danach.

Um zu genau verstehen, worin diese Kontrolle des Geistes besteht, und wie wir sie erreichen können, lasst uns für einen Moment das betrachten, was wir als »Selbstkontrolle« im gewöhnlichen Leben bezeichnen; und wir werden sehen, wie wenig ausreichend diese Selbstkontrolle im Vergleich zu jener ist, die eine der Bedingungen der Schülerschaft darstellt.

Wenn wir von jemandem sagen, er kontrolliere sich selbst, er beherrsche sich selbst, dann meinen wir, dass sein Geist stärker ist als seine Leidenschaften; wenn ihr also die niedere Natur, die Leidenschaften und Emotionen auf der einen Seite und die intellektuelle Natur, den Geist, den Willen, das Denkvermögen und die Urteilskraft auf der anderen betrachtet, dann sind die letzteren stärker als die ersteren; ein solcher Mensch vermag im Augenblick der Versuchung, wenn seine Leidenschaften angesprochen werden, zu sagen: »Nein, ich werde dem nicht nachgeben; ich werde den Leidenschaften nicht erlauben, mich fortzureißen, ich werde meinen Sinnen nicht erlauben, mein Selbst zu überwältigen; diese Sinne sind bloß die Pferde, die meine Kutsche ziehen; ich aber bin der Wagenlenker, und ich werde ihnen nicht erlauben, auf der Straße des Verlangens entlang zu galoppieren«; von einem solchen Menschen sagen wir, er beherrsche oder kontrolliere sich selbst. Das ist die gewöhnliche Bedeutung des Wortes, und wahrlich, diese Selbstkontrolle ist eine bewundernswerte Eigenschaft. Sie ist eine Stufe, die jeder Mensch erreichen muss.

Der unkontrollierte und ungezügelte Mensch, der den Sinnen vollständig unterworfen ist, muss sich wirklich äußerst anstrengen, bevor er auch nur diese Fähigkeit der weltlichen Selbstkontrolle erreicht hat; aber viel, viel mehr als das ist erforderlich. Wenn wir über einen willensstarken und einen willensschwachen Menschen reden, dann meinen wir meistens, dass der mit dem starken Willen unter den gewöhnlichen Umständen der Versuchung seinen Weg durch seine Vernunft und sein Urteilsvermögen finden wird, sich selbst durch die Erinnerung an seine Erfahrungen und die Schlüsse, die er aus ihnen zieht, führen wird; dann sagen wir, er habe einen starken Willen; er ist nicht den Umständen ausgeliefert, er wird nicht von seinen Impulsen getrieben, er ist nicht wie ein Schiff, das von den Strömungen des Flusses umhergetragen oder von den Winden da und dorthin getrieben wird. Er ist eher wie ein Schiff, das von einem Kapitän kontrolliert wird, der seine Pflicht kennt, der die Strömungen und die Winde benutzt, um es in die Richtung zu steuern, in die er strebt, der das Ruder des Willens benutzt, um das Schiff auf jenem Kurs zu lenken, den er selbst bestimmt hat. Und es ist wahr, dass in diesem Unterschied zwischen dem starken und dem schwachen Willen etwas vom Wachstum der Individualität zum Ausdruck kommt; je mehr der Mensch reift, und die Individualität mit ihm, je mehr kommt diese Reife in der Macht der inneren Führung zum Ausdruck. Ich erinnere mich daran, dass H.P. Blavatsky in einem ihrer Artikel, der von der Individualität handelt, davon spricht, man könne ihr Vorhandensein im Menschen und ihre Abwesenheit im Tier erkennen, wenn man beobachtet, wie der Mensch und das Tier sich in gewissen äußeren Umständen verhalten. Wenn ihr eine Anzahl wilder Tiere in ähnliche äußere Umstände bringt, dann werden sie sich alle mehr oder weniger gleich verhalten. Ihr Verhalten ist durch die äußeren Umstände bedingt; das einzelne Tier wird durch sein Verhalten nicht die äußeren Umstände verändern, es wird nicht das eine gegen das andere abwägen, um sich dann für den Weg zu entscheiden, den es gehen will; sie verhalten sich alle ähnlich. Wenn ihr das Wesen des Tieres kennt, und wenn ihr die Umstände kennt, dann werdet ihr aus eurer Kenntnis des Verhaltens von einem oder zweien dieser Tiere auf das Verhalten aller schließen können, die derselben Art angehören. Und das zeigt deutlich die Abwesenheit von Individualität. Aber wenn ihr eine Anzahl von Menschen betrachtet, dann könnt ihr nicht voraussagen, dass sie sich auf die gleiche Weise verhalten werden; denn aufgrund der jeweils unterschiedlichen Individualität werden sich auch ihre Handlungen in denselben Umständen unterscheiden. Ein Individuum unterscheidet sich vom anderen, deswegen handelt es anders; es hat seinen eigenen Willen, deswegen trifft es eine andere Wahl; der Willensschwache ist weniger individuell, er ist weniger entwickelt, er ist auf der Straße der Evolution nicht so weit vorangeschritten.

Dies einmal vorausgesetzt, kann der Mensch einen Schritt weitergehen, als nur die niedere Natur durch die höhere zu kontrollieren, und er kann vielleicht etwas von der schöpferischen Kraft seines Denkens zu entdecken.

Das schließt mehr als das alltägliche Denken ein; es schließt eine gewisse Kenntnis der Philosophie ein. Wenn er zum Beispiel die großen Schriften der Hindus studiert hat, dann wird er sich aus ihnen eine deutliche Vorstellung von der schöpferischen Kraft des Denkens angeeignet haben, aber im Augenblick, wo er das entdeckt hat, wird er auch erkennen, dass etwas hinter dem steht, was er als Denken oder Bewusstsein bezeichnet; denn wenn es eine schöpferische Kraft des Denkens gibt, wenn der Mensch durch seinen Verstand Gedanken erzeugen kann, dann muss es etwas geben, das erzeugt, und dieses Etwas verbirgt sich hinter dem Verstand, der die Gedanken erzeugt.

Die schlichte Tatsache, dass es eine solche schöpferische Kraft des Denkens gibt, dass der Mensch fähig ist, sein eigenes Bewusstsein und das Bewusstsein anderer durch diese kreative Macht zu beeinflussen und zu erziehen, zeigt zur Genüge, dass etwas hinter dem denkenden Bewusstsein steht, etwas, das von ihm unterschieden oder abgetrennt werden kann, etwas, das dieses Bewusstsein als sein Instrument benutzt.

Und dann beginnt dem Studenten, der sich um Selbsterkenntnis bemüht, zu dämmern, dass er mit etwas umgehen muss, mit dem es äußerst schwierig ist, umzugehen, und dass Gedanken auftreten, ohne dass man sie gerufen hat, dass sie ins Bewusstsein treten, ohne dass man das selbst gewollt hat; wenn er beginnt, die Tätigkeit des Bewusstseins zu untersuchen, dann stellt er fest, dass Gedanken in sein Bewusstsein strömen, die er nicht eingeladen hat; er findet sich selbst von Ideen besessen, von denen er wünschte, sie sähen ganz anders aus. Alle Arten von Fantasien tauchen in seinem Bewusstsein auf, die er gerne aus ihm entfernen würde; aber er ist hilflos, er kann sie nicht loswerden. Er sieht sich gezwungen, auf Gedanken herumzukauen, die sein Bewusstsein beherrschen und die sich weder seinen Wünschen noch seiner Autorität unterwerfen. Und er beginnt diese Gedanken zu beobachten; er beginnt zu fragen: Wo kommen sie her? Wie entstehen sie? Wie können sie kontrolliert werden? Und er beginnt langsam zu erkennen, dass viele Gedanken, die in seinem Bewusstsein auftauchen, ihren Ursprung im Bewusstsein anderer Menschen haben, und dass er nach seiner eigenen Gedankenart aus der äußeren Gedankenwelt die Gedanken anderer anzieht; dass er umgekehrt das Denken anderer durch die Gedanken beeinflusst, die er selbst hervorgebracht hat, und er beginnt zu begreifen, dass seine Verantwortung weitaus größer ist, als er je geträumt hat. Er dachte bisher, er würde das Denken anderer nur beeinflussen, wenn er spricht, dass er das Handeln anderer nur beeinflusst, wenn er selbst handelt; aber je mehr er der Sache nachgeht, um so mehr beginnt er zu verstehen, dass es eine unsichtbare Kraft gibt, die vom denkenden Menschen ausströmt und das Denken anderer beeinflusst.

Die heutige Wissenschaft berichtet uns ebenfalls davon; sie hat durch viele Experimente herausgefunden, dass Gedanken zwischen Gehirnen hin und her gehen können, ohne dass Worte gewechselt oder Nachrichten niedergeschrieben werden, und dass es im Gedanken etwas gibt, was greifbar, was beobachtbar ist, etwas, wie eine Schwingung, die anderes in Schwingung versetzt, auch wenn kein Wort ausgesprochen wird, keine gestaltete Rede erklingt. Die Wissenschaft hat entdeckt, dass Gedanken auch ohne Worte von Mensch zu Mensch gesandt werden können, dass ohne jegliche äußere Kommunikation – oder wie Professor Lodge sagte, ohne materielle Mittel der Kommunikation, wobei »materiell« hier physisch bedeutet – ein Geist den anderen zu beeinflussen vermag.

Wenn dem so ist, dann beeinflussen wir uns alle gegenseitig durch unsere Gedanken, ohne zu sprechen oder zu handeln; denn der Gedanke, den wir erzeugt haben, geht in die Welt hinaus, um das Denken anderer zu berühren; ihre Gedanken wiederum kommen zu uns, um unser eigenes Denken zu berühren, und wir beginnen zu erkennen, dass das Denken nur einen sehr kleinen Teil des Lebens der Menschen in Anspruch nimmt, und dass wir das bloße Empfangen von Gedanken anderer schon als Denken bezeichnen und meist mit dem wirklichen Denken verwechseln. Tatsächlich ist das Bewusstsein des Menschen wie ein Haus, ein Rasthaus, durch das Reisende hindurchgehen und in dem sie einmal übernachten; die meisten Menschen haben ein Bewusstsein, das nicht mehr ist, als das. Die Gedanken kommen und gehen. Die Menschen tragen recht wenig zu den Gedanken bei, die sie empfangen. Sie nehmen sie auf, beherbergen sie, lassen sie wieder ziehen. Was wir aber stattdessen tun sollten, ist willentlich zu denken, mit Absicht zu denken, um das zu erreichen, was wir uns selbst als Ziel setzen.

Warum sollte diese Kontrolle des Bewusstseins, diese Gedankenkontrolle, dieses Anhalten des Denkens, diese Weigerung, die Gedanken anderer zu beherbergen, so wertvoll sein? Warum sollte sie eine Bedingung der Schülerschaft sein?

Weil der Mensch, wenn er Schüler wird, einen Zuwachs an geistiger Macht erlangt; weil seine Individualität reift, zunimmt, mächtiger wird; weil jeder Gedanke, den er denkt, lebendiger und energieerfüllter wird und die äußere Welt um so stärker beeinflusst. Der Mensch kann durch Gedanken töten; er kann Krankheiten durch Gedanken heilen; er kann die Massen durch Gedanken beeinflussen; er kann eine sichtbare Erscheinung durch Gedanken erzeugen, die andere blenden und auf Abwege zu führen vermag.

Da dem Gedanken mit dem Wachstum der Individualität eine solche Macht zuwächst, da Schülerschaft das schnelle Wachstum und die Reifung der Individualität bedeutet, so dass der Mensch in wenigen Leben erreicht, was er sonst nur in Jahrtausenden erreichen könnte, ist es notwendig, dass er lernt, seine Gedanken zu kontrollieren, bevor er diese zusätzliche Macht erlangt, dass er alles Böse in ihnen erkennen kann, dass er nichts in sich eindringen lässt, außer was rein, wohlwollend und nützlich ist.

Die Kontrolle des Bewusstseins durch das Selbst ist also eine Bedingung der Schülerschaft, weil der Mensch, bevor er die zusätzliche Macht, die aus der Lehre des Guru entspringt, Kontrolle über das Instrument erlangt haben muss, das die Gedanken erzeugt, so dass es tut, was er will, und nichts ohne seine volle Zustimmung erzeugt.

Ich weiß, dass die Menschen das als schwierig empfinden werden. Sie werden sagen: Worum handelt es sich bei dieser Individualität, die ständig wächst? Worum handelt es sich bei dieser Individualität, die den Willen und die Macht der Gedankenkontrolle entwickelt, die, wie du sagst, nicht der denkende Geist ist, sondern größer als dieser Geist?

Lasst mich ein Bild aus der äußeren Welt benutzen, um euch eine Vorstellung davon zu geben, wie diese Individualität entsteht und wächst. Stellt euch vor, ihr tretet in eine Umgebung voll mit Wasserdampf ein, dass diese Umgebung aber so heiß ist, dass das Waser dampfförmig bleibt, unsichtbar, so dass euch der Ort leer erscheint; da ist nichts, würdet ihr sagen, nur leere Luft. Ihr wisst wohl, wenn ein Chemiker einen Teil dieser Luft nehmen würde, die so mit Dampf angefüllt ist, und sie einschließen und langsam abkühlen würde, aus dieser Leere einen feinen Nebel oder wolkenartige Gebilde hervorzaubern könnte, und dieser feine Nebel würde langsam dichter und dichter werden, bis schließlich, je mehr die Atmosphäre abgekühlt ist, sich dort, wo vorher nichts zu sehen war, ein Tropfen Wasser bilden würde. Nun, dies mag als eines jener groben sinnlichen Bilder dienen, durch das die Entstehung der Individualität illustriert werden kann.

Aus diesem Unsichtbaren, dem Einen, aus dem alles hervorgeht, erscheint, wie eine feine Wolke, die sichtbar wird, ein feiner kondensierender Nebel, der sich selbst vom unsichtbaren Dampf in seiner Umgebung loslöst, der sich mehr und mehr verdichtet, bis er zum individuellen Wassertropfen wird, den wir als Einheit erkennen; aus dem, das Alles ist, kommt das Abgegrenzte und Unterschiedene; seiner Natur nach eins mit dem All, in seinem Wesen dasselbe, aber durch seine Bedingungen getrennt und auf diese Weise aus dem Ganzen heraus individualisiert.

Und die individuelle Seele des Menschen ist eine solche Individualisierung aus dem Einen Selbst, und sie wächst und gedeiht durch Erfahrung. Sie wächst, nimmt zu und entwickelt sich, indem sie wiedergeboren wird, Leben für Leben, Epoche für Epoche, hunderte Male in dieser Welt. Und was wir als Geist bezeichnen, ist lediglich eine kleine Ausstülpung dieser Individualität in die stoffliche Welt.

So wie die Amöbe, die nach Nahrung sucht, einen Teil von sich ausstülpt und ein kleines Partikelchen des Nahrungsstoffes in sich aufnimmt, und den ausgestülpten Teil, der dieses Partikelchen enthält, wieder in ihre Substanz aufsaugt, um sich so zu ernähren, so stülpt die Individualität einen kleinen Teil von sich in die Welt – die physische Welt – aus, um Erfahrung als Nahrung für sich zu sammeln, und diese Ausstülpung bei dem, was wir als Tod bezeichnen, mit der gesammelten Erfahrung wieder einzusaugen und durch sie ihr Wachstum zu fördern.

Und der Geist ist diese Ausstülpung in die physische Welt, er ist ein Teil der Individualität, der Seele; das Bewusstsein, das du bist, ist größer als dein Geist; das Bewusstsein, das du bist, ist größer, als das, was du als den Intellekt kennst. Deine gesamte Vergangenheit, all die Erfahrungen, die du gesammelt hast, sind im Bewusstsein angesammelt. All das Wissen, das du dir angeeignet hast, ist in dem Bewusstsein, das du wirklich bist, aufbewahrt. Bei deiner Geburt stülpst du einen kleinen Teil deiner selbst aus, um neue Erfahrungen zu sammeln und das Angesammelte zu vermehren: – noch mehr Bewusstsein; diese nimmt die Seele, um durch sie zu wachsen, in sich auf und in jedem Leben versucht sie aus ihrem umfassenderen Bewusstsein heraus jene Ausstülpung ihrer selbst zu beeinflussen; was wir als Stimme des Gewissens bezeichnen, ist nichts als dieses größere Selbst, das zum niederen Selbst spricht und versucht, das niedere Selbst in seiner Unwissenheit durch die Weisheit des höheren Selbstes, die es in all seinen Leben angesammelt hat, zu leiten.

Aber wir wissen, mit diesem niederen Selbst, unserem Geist, ist eine Schwierigkeit verbunden. Erinnert ihr euch an das, was Arjuna zu Shri Krishna sagte, als er über diese Kontrolle des niederen Manas sprach, von der wir gerade reden? Ihr erinnert euch, wie er zu seinem göttlichen Lehrer sagte, dieses Manas sei so ruhelos; »Manas ist sehr ruhelos«, sagte er, »O Krishna; es ist ungestüm, stark und schwer zu zügeln; ich glaube, es ist so schwer zu zügeln, wie der Wind«. Und das ist wahr; jeder, der versucht, den Geist zu bändigen, weiß wie schwer es ist. Jeder, der versucht, Manas zu kontrollieren, weiß, wie ruhelos, ungestüm und stark es ist und wie schwer es sich zügeln lässt. Aber erinnert ihr euch, was der Gesegnete Herr Arjuna antwortete, als er sagte, es sei so schwer zu zügeln, wie der Wind? Seine Antwort war: »Ohne Zweifel ist Manas schwer zu zügeln und ruhelos, O mächtig Gewappneter; aber es kann gezügelt werden durch ständige Übung und Gleichmut.«

Es gibt keinen anderen Weg. Ständige Übung: niemand kann das für dich übernehmen; kein Lehrer kann es an deiner Stelle tun. Du selbst musst es tun, und bevor du diese Arbeit nicht selbst in Angriff nimmst, wirst du auch nie den Guru finden können.

Es ist nutzlos zu jammern und zu wünschen, wenn man nicht jene Schritte unternimmt, die in den Schriften aller großen Lehrer beschrieben sind, und uns anleiten wollen, den Weg zu ihren Füßen zu finden. Da ist ein mächtiger Lehrer, ein Avatar, der beschreibt, was getan werden muss und sagt, es möge getan werden. Und wenn ein Avatar sagt, es möge getan werden, dann meint er, es könne getan werden, von jenen, die es wirklich wollen; denn er kennt die Kräfte derjenigen, die er zu sehen vermag und die er als der Erhabene in diese Welt geführt hat; und wenn er uns sein göttliches Wort gibt, dass die Eroberung möglich ist, sollten wir es dann wagen, zu behaupten, wir könnten es nicht tun, so als wollten wir den Gott, der spricht, der Lüge bezichtigen?

Wie also soll es getan werden? »Durch ständige Übung«, sagt der Herr; das heißt, in eurem täglichen Leben, in eurem geschäftigen Leben sollt ihr damit beginnen, diesen euren ruhelosen Geist zu erziehen und ihn eurem Willen zu unterwerfen.

Versucht für einen Augenblick, konzentriert an etwas zu denken. Ihr werdet erleben, wie eure Gedanken wegfliegen. Was sollt ihr tun? Führt sie wieder zu jenem Punkt zurück, auf den ihr sie konzentrieren wollt. Wählt einen Gegenstand und denkt klar und folgerichtig über ihn nach. Erinnert euch, dass ihr einen gewaltigen Vorteil bei dieser Übung des Geistes habt; ihr besitzt die alten Hindutraditionen, ihr besitzt das physische Erbe, das unter diesen Bedingungen geformt wurde, und die Übung in eurer Jugend, die euch an diese Beherrschung eurer geistigen Tätigkeit bereits gewöhnt haben sollte.

Es ist für einen im Westen geborenen Menschen erheblich schwieriger als es für euch sein sollte, diesen ruhelosen Geist zu bezwingen, weil im Westen die Kontrolle des Geistes nicht gelehrt wurde, weil diese dort nicht so wie hier Bestandteil der religiösen Erziehung ist und die Menschen es gewohnt sind, von einem Gegenstand zum nächsten zu flattern. Die Gewohnheit – um ein triviales Beispiel zu nehmen – des ständigen Zeitungslesens, vielleicht drei oder vier Zeitungen am Tag, ist etwas, was die Kontrolle des Geistes äußerst erschwert. Ihr flattert von einem Gegenstand zum nächsten; hier wirbelt eine Reihe von Telegrammen den Geist nach England, nach Frankreich, nach Spanien, nach Kamtschatka, nach Neuseeland, nach Amerika; wenn ihr diese Spalte oder halbe Spalte gelesen habt, dann findet ihr andere Neuigkeiten. Berichte über die Aktivitäten bekannter Leute. Berichte über Theateraufführungen, über Gerichtsverhandlungen. Hier eine Schiffsregatta, dort ein Wettrennen zwischen Menschen; hier Nachrichten über Sport oder Athletik, und so weiter. Ihr alle kennt das Kunterbunt der Zeitungen. Die Menschen wissen nicht, welchen Schaden sie sich dadurch zufügen, dass sie die Energien des Geistes bei der regelmäßigen Lektüre dieser trivialen und unbedeutenden Dinge verschwenden. Es gibt Menschen in England, die jeden Tag ein halbes Dutzend Zeitungen lesen; das bedeutet mehr, als dass sie nur im Augenblick die Kraft ihres Geistes zerstreuen; denn wenn ihr diese Kräfte Tag für Tag zerstreut, dann gewöhnt ihr euch an diese Zerstreuung und ihr könnt dann euer Denken nicht mehr auf eine Idee konzentrieren. Darüberhinaus verschwendet man Zeit, die man auf höhere Gegenstände verwenden könnte. Ich will damit nicht sagen, dass ihr als Menschen dieser Welt nicht wissen solltet, was in ihr vorgeht; aber es reicht völlig, eine Tageszeitung zu nehmen, die sich mit den wichtigeren Vorgängen der äußeren Welt befasst, und sie einige Minuten ruhig zu lesen; wenn ihr zu lesen versteht, dann reicht dies für diese äußeren Angelegenheiten.

Um diese moderne Neigung zur Zerstreuung zu bekämpfen, solltet ihr es euch zur täglichen Gewohnheit machen, folgerichtig zu denken und eure Aufmerksamkeit für eine gewisse Zeit einem Gegenstand zuzuwenden; lest ernsthaft jeden Tag einen Teil eines Buches, das von den gewichtigeren Dingen des Lebens handelt, vom Ewigem statt vom Zeitlichen; konzentriert euren Geist darauf, solange ihr lest. Erlaubt ihm nicht, herumzuwandern, sich zu zerstreuen. Wenn er fortspaziert, bringt ihn zurück, und setzt ihn erneut vor dieselbe Idee, und auf diese Weise werdet ihr euren Geist stärken, ihr werdet beginnen, ihn zu zügeln, und durch ständige Übung werdet ihr lernen, ihn zu kontrollieren, und ihn den Pfad entlang führen, den ihr für wünschenswert haltet. Selbst in weltlichen Angelegenheiten ist diese Eigenschaft von großem Nutzen. Ihr bereitet euch nicht nur auf das größere Leben vor, das vor euch liegt, sondern auch in den alltäglichen Dingen ist derjenige, dessen Denken konzentrierter ist, erfolgreicher; der, der folgerichtig, klar und bestimmt zu denken vermag, der wird sich auch in der niederen Welt durchsetzen können. So werdet ihr diese ständige Übung eures Geistes sowohl in dieser unwichtigen Welt als auch in bedeutenderen Angelegenheiten nützlich finden. Und dann werdet ihr schrittweise jene Kontrolle lernen, die eine der Bedingungen der Schülerschaft ist.

 

(2.) Meditation

Wenn ihr euren Geist auf diese Weise übt, werdet ihr vielleicht auch einen weiteren Schritt unternehmen – die Meditation. Meditation ist die vorsätzliche und formgerechte Übung des Geistes in Konzentration und Sammlung der Gedanken auf einen Gegenstand.

Ihr müsst dies jeden Tag tun, denn wenn ihr es jeden Tag tut, dann werdet ihr durch etwas unterstützt, was man als Automatismus des Körpers und des Geistes bezeichnet. Was ihr jeden Tag tut, wird zur Gewohnheit; was täglich getan wird, wird nach einiger Zeit ohne Anstrengung getan; was zu Anfang schwer ist, wird leicht durch ständige Übung.

Nun kann man Meditation sowohl als Hingabe [devotional] wie auch als Aktivität [intellectual] üben, und der Weise, der sich auf die Schülerschaft vorbereitet, wird auf beide Arten meditieren.

[Die englische Unterscheidung ist schwer wiederzugeben bzw. nachzuvollziehen. Gemeint ist einerseits die fortgesetzte Hingabe an das höhere Ideal durch die sich der Meditierende an dieses Ideal angleicht – »devotional«. Andererseits die planmäßige Ausbildung gewisser Charaktereigenschaften durch Selbsterziehung – »intellectual«. Besant geht zuerst auf die eine Form der Meditation ein, weiter unten, unter 3., auf die zweite].

Er wird seinen Geist konzentrieren, seine Gedanken sammeln, auf das göttliche Ideal richten, auf den jetzt noch unbekannten Lehrer, den er dereinst zu finden hofft; und wenn er sich dieses vollkommene Ideal ständig vor Augen hält, wird er seinen niederen Geist in der Stunde der Meditation diesem Ideal zuwenden und wird mit gesammelten und nicht abschweifenden Gedanken zu ihm aufstreben. Je mehr der Geist wächst, um so leichter wird dies für ihn; und je mehr er in der Meditation zu diesem Ideal aufschaut, um so mehr beginnt es sich in ihm zu spiegeln, wird er zu einem kleinen Abbild dieses Ideals.

Dies ist eine der schöpferischen Kräfte des Geistes – der Mensch wird zu dem, worüber er nachdenkt; und wenn er täglich über das vollkommene Ideal des Menschseins nachdenkt, wird er allmählich diesem vollkommenen Ideal entgegenwachsen. Dann wird er nach und nach feststellen, wenn er seinen Geist beständig auf dieses Ideal richtet, wenn er zu ihm hinaufstrebt, und danach verlangt, mit ihm in Kontakt zu kommen, dass während der Zeit der Meditation der niedere Geist friedvoller wird, dass er in einen Ruhezustand versinkt, dass die äußere Welt aus dem Bewusstsein entschwindet, und dass das tiefere Bewusstsein aus seinem Inneren aufleuchtet – das höhere Bewusstsein, das der Individualität –, und er wird erleben und erkennen, was er ist.

Denn wenn der niedere Geist auf diese Weise zur Ruhe gekommen und seine Ruhelosigkeit bezwungen ist, dann wird er wie zu einem ruhigen See, der von keinem Wind bewegt wird, von keinerlei Strömungen durchzogen ist. Ein solcher See ist wie ein Spiegel; auf dessen glatter, ruhiger, unbewegter Oberfläche scheint die Sonne des Himmels herunter, und spiegelt sich im stillen Wasser; so auch bildet sich das höhere Bewusstsein im Spiegel des ruhiggestellten, niederen Geistes ab.

Und dann erkennt der Mensch, nicht mehr aufgrund von Autorität, sondern aus eigener Erfahrung, dass er mehr ist als der Geist, den er als Intellekt zur Erscheinung gebracht hat, dass sein Bewusstsein umfassender ist, als das vorübergehende Bewusstsein des Geistes; dann wird es für ihn möglich, sich mit dem Höheren zu identifizieren, und – vielleicht nur für einen kurzen Moment – einen Blick auf die Majestät des Selbstes zu werfen.

Denn erinnert euch daran, dass euch die großen Schriften stets lehren, dass ihr das Höhere und nicht das Niedere seid. Was bedeutet es, wenn es im Chandogyupanischad und anderswo heißt: »Du bist Brahma«, »Das bist Du« oder wenn der Buddhist sagt: »Du bist Buddha«? Was damit gemeint ist, wird solange nicht zu einer Bewusstseinstatsache für euch, sosehr ihr es intellektuell auch verstehen mögt, bis ihr den niederen Geist durch Meditation zu einem Spiegel gemacht habt, in dem sich der höhere spiegeln kann; dann, auf einer höheren Stufe der Meditation, werdet ihr selbst bewusst das Höhere werden, und dann werdet ihr wissen, was all jene großen Lehrer mit dem berühmten Satz sagen wollten, der uns versichert, der Mensch trage das Göttliche in sich.

Wenn man dies täglich übt, in der täglichen Meditation, Monat für Monat, Jahr für Jahr, dann durchdringt dieses Bewusstsein das ganze Leben und wird zu einem Dauerzustand, der die zeitlich begrenzten Erfahrungen ablöst. Zuerst ist es auf die Dauer der Meditation begrenzt, dann geht es über auf das Leben des Alltags.

Ihr mögt einwenden: Wie kann ich mir dessen bewusst sein, wenn ich mit der äußeren Welt beschäftigt bin? Wie kann ich das Bewusstsein des Höheren behalten, wenn das Niedere voll aktiv ist? Wisst ihr es wirklich nicht, wo ihr euch doch vor dem Altar niederbeugt, und euren Körper benutzt, um Blumen zu opfern, während der Geist auf die Gottheit selbst konzentriert ist? Wohl ist die äußere Aktivität des Körpers da, aber euer Denken ist nicht auf die Blumen gerichtet, die ihr opfert, sondern auf die Gottheit, der ihr das Opfer bringt; die Hände erfüllen ihre Pflicht und opfern die Blumen auf vollkommene Art, auch wenn der Geist seine Gedanken auf das Göttliche selbst konzentriert. Ebenso mögt ihr in der äußeren Welt des Menschen die Blumen der Pflicht opfern in einem Leben ständiger Aktivität, der täglichen Arbeit; ihr mögt diese Blumen mit dem Körper und dem Geist opfern, eure Pflicht bis zum Äußersten erfüllen, aber ihr selbst werdet unentwegt in der Meditation und Anbetung ruhen.

Lernt erst euer höheres Bewusstsein von eurem niederen zu trennen, euch selbst von eurem Geist, und ihr werdet schrittweise die Kraft erlangen, geistige Aktivitäten auszuführen, ohne euer »Ich« in ihnen zu verlieren; der Geist wird vollkommen mit seinen Pflichten beschäftigt sein, während das Selbst in erhabener Höhe verweilt. Ihr werdet euer inneres Heiligtum nie verlassen, wie geschäftig euer äußeres Leben auch sein mag. Auf diese Weise bereitet man sich auf die Schülerschaft vor.

 

(3.) Charakterbildung

Es gibt eine weitere Stufe, die wir hier ins Auge fassen müssen, jene, die ich als die intellektuelle Seite der Meditation bezeichnete, die es mit der schrittweisen und bewussten Bildung des Charakters zu tun hat.

Erneut wende ich mich der großen Abhandlung des Karma-Yoga zu, den Lehren des Shri Krishna in der Bhagavad Gita. In der sechzehnten Rede findet ihr die lange Liste von Eigenschaften, die ein Mensch in sich entwickeln muss, so dass er in Zukunft mit ihnen geboren wird. Sie werden als »göttliche Eigenschaften« bezeichnet und Arjuna wird gesagt: »Du bist mit göttlichen Eigenschaften geboren, O Pandava.« Nun, damit ihr in künftigen Leben mit diesen Eigenschaften geboren werdet, müsst ihr sie in diesem Leben ausbilden; wenn ihr sie in das Leben zurückbringen sollt, müsst ihr sie schrittweise in aufeinanderfolgenden Leben ausbilden und der weltliche Mensch, der wissen will, wie er seinen Charakter bilden soll, kann nichts anderes tun, als dass er sich diese Reihe von Eigenschaften vornimmt, die göttlichen Eigenschaften, die in der Schülerschaft gefordert werden, und sie eine nach der anderen in seinem täglichen Leben entwickelt, indem er sich der Meditation und Aktion hingibt.

 

a. Reinheit

Reinheit ist zum Beispiel eine dieser Eigenschaften. Wie soll sich jemand Reinheit anerziehen? Indem er in seiner morgendlichen Meditation sich auf diese Idee der Reinheit konzentriert, und sich darüber klar wird, was darunter zu verstehen ist. Keine Unreinheit darf in seine Gedanken eindringen; keine Unreinheit in seine Handlungen, er muss rein sein in der dreifachen Äußerung seiner Handlungen, Worte und Gedanken. Das ist das dreifache Band der Pflicht, an das ich euch früher erinnert habe, das die drei Teile der Brahmanas repräsentieren. Am Morgen denkt er über die Reinheit nach, als etwas das wünschbar ist, das er verwirklichen muss; und wenn er in die Welt hinausgeht, trägt er die Erinnerung an diese Meditation in sich. Er beobachtet seine Handlungen; er erlaubt keiner unreinen Handlung, seinen Körper zu beflecken; er begeht den ganzen Tag über keine unreine Handlung, weil er unablässig jede seiner Handlungen beobachtet und darauf achtet, dass auch nicht der Hauch einer Unreinheit sie berührt. Er achtet auf seine Worte. Er spricht kein unreines Wort; er berührt in seiner Rede keinen unreinen Gegenstand; er erlaubt seiner Zunge nicht, durch eine unreine Vorstellung befleckt zu werden. Jedes seiner Worte ist rein, so dass er sie alle auch in der Gegenwart seines Meisters aussprechen könnte, dessen Auge das leiseste Anzeichen von Unreinheit sieht, das ein gewöhnliches Auge übersehen würde. Er wird auf jedes Wort achten, dass es das reinste ist, das er auszusprechen vermag und er wird niemals sich oder andere durch ein einziges Wort oder eine gemeine Äußerung mit unreiner Bedeutung beschmutzen. Seine Gedanken werden rein sein. Er wird niemals einem unreinen Gedanken erlauben, in seinen Geist einzudringen, oder falls er doch eintritt, wird er sofort wieder hinausbefördert; im Augenblick, in dem er eintritt, wird er hinausbefördert; und da er weiß, dass er nicht hätte in seinen Geist gelangen können, wenn es in diesem nicht etwas gäbe, was ihn angezogen hat, reinigt er seinen eigenen Geist, so dass auch kein unreiner Gedanke eines anderen in ihn eintreten kann. So achtet er auf diesen einen Punkt während des ganzen Tages.

 

b. Wahrhaftigkeit

Und dann wird er ebenso die Wahrheit in seine Morgenmeditation aufnehmen; er wird über die Wahrheit nachdenken, über ihren Wert für die Welt, für die Gesellschaft, für seinen eigenen Charakter; und wenn er in die Welt hinausgeht, wird er niemals eine Handlung ausführen, die einen falschen Eindruck erweckt, er wird nie ein Wort aussprechen, das eine falsche Vorstellung vermittelt. Er wird nicht nur nicht lügen, er wird nicht einmal ungenau sein, denn auch das ist eine Unwahrheit. Das, was du erlebt hast, ungenau wiederzugeben, kommt dem Aussprechen einer Lüge gleich. Jede Übertreibung oder jedes Ausmalen einer Geschichte, alles, was nicht vollkommen mit den Fakten übereinstimmt, so weit sie ihm bekannt sind, alles, was auch nur den Schatten der Unwahrheit an sich trägt, darf von dem, der Schüler werden will, nicht benutzt werden. Und ebenso muss er in seinem Denken wahr sein. Jeder Gedanke muss so wahr wie möglich sein, von keinem Schatten der Lüge berührt, der seinen Geist beschmutzen könnte.

 

c. Mitgefühl

Ebenso das Mitgefühl. Er wird morgens über das Mitgefühl meditieren, und tagsüber wird er versuchen, es umzusetzen; er wird seinen Mitmenschen jede denkbare Form der Güte erweisen; er wird seiner Familie, seinen Freunden und Nachbarn alle denkbaren Dienste erweisen. Wo immer er Mangel sieht, wird er versuchen, ihn zu beseitigen; wo immer er Sorge sieht, wird er versuchen, sie zu beheben; wo immer er Elend sieht, wird er versuchen, es zu lindern. Er wird das Mitgefühl ebensosehr leben, wie er es denkt, und es so zu einem Teil seines Charakters machen.

 

d. Standhaftigkeit, Seelenstärke

So auch mit der Standhaftigkeit. Er wird über den Adel des tapferen Mannes nachdenken, den keine äußeren Umstände niederdrücken oder erheben können, den Mann, der sich nicht über Erfolg freut oder Misserfolg ärgert, der nicht von der Gnade der Umstände abhängig ist, heute traurig, weil die Dinge ihm Widerstand leisten, morgen fröhlich, weil ihm alles wie von selbst von der Hand geht. Er wird versuchen, stets er selbst zu sein, immer ausgeglichen und stark; wenn er in die Welt hinausgeht, wird er das üben; wenn Unannehmlichkeiten ihn heimsuchen, wird er an das Ewige denken, wo es keine Unannehmlichkeiten gibt; wenn er Geld verliert, wird er an den Reichtum der Weisheit denken, der ihm nicht genommen werden kann; wenn ein Freund ihm vom Tod entrissen wird, wird er daran denken, dass keine lebendige Seele stirbt und dass der Körper, der stirbt, nur das Kleid ist, das weggeworfen wird, wenn es abgetragen ist, um ein neues anzuziehen, und dass er seinen Freund wiederfinden wird.

 

e. Selbstbeherrschung, Friedfertigkeit, Furchtlosigkeit

Und ebenso mit all den anderen Tugenden der Selbstbeherrschung, der Friedfertigkeit, der Furchtlosigkeit – all diese Eigenschaften wird er meditieren und praktizieren. Nicht alle auf einmal. Kein Mensch in dieser Welt hätte Zeit genug, über sie alle jeden Tag zu meditieren; aber nehmt sie euch eine nach der anderen vor, und bildet sie eurem Charakter ein. Arbeitet unablässig daran: scheut euch nicht, Zeit darauf zu verwenden. Arbeitet unablässig daran: scheut euch nicht, Zeit und Mühe darauf zu verwenden. Alles, was ihr hier ausbildet, bildet ihr für die Ewigkeit aus, und ihr könnt ruhig in der Zeit geduldig sein, wenn die Ewigkeit vor euch liegt. Alles, was ihr gewinnt, gewinnt ihr für immer. Meditation oder Praxis allein reicht nicht aus für die Bildung des Charakters. Beides muss zusammenwirken; beide müssen einen Teil des täglichen Lebens sein, und auf diese Weise wird ein edler Charakter geformt.

Ein Mann, der sich so selbst erzogen hat, der das Äußerste getan hat, das ihm möglich ist, der Zeit und Gedanken und Mühe darauf verwendet hat, sich darauf vorzubereiten, den Lehrer zu finden, der wird den Lehrer auch wirklich finden; oder besser, der Lehrer wird ihn finden und sich seiner Seele offenbaren.

Denn stellt ihr euch in Blindheit und Unwissenheit vor, dass diese Lehrer verborgen bleiben möchten? Glaubt ihr, in Illusion gehüllt, dass sie sich willkürlich vor den Augen der Menschen verbergen, um die Menschheit in ihrem hilflosen Stolpern sich selbst zu überlassen, dass sie nicht bereit sind, zu helfen und zu führen? Ich sage euch, so sehr ihr auch für einen Moment euren Lehrer finden wollt, um so viel mehr, tausendfach mehr, begehrt der Lehrer danach, euch zu finden, damit er euch helfen kann. Wenn sie ihre Blicke über die Menschheit schweifen lassen, sehen sie, dass so viele Helfer gebraucht und so wenige gefunden werden. Die Masse versinkt in Unwissenheit; Lehrer werden für sie gebraucht und sie gehen zu Myriaden unter; niemanden gibt es, der ihnen helfen würde.

Die großen Lehrer brauchen Schüler, die in der niederen Welt leben, und die, durch die Lehrer ausgebildet, in die Welt der Menschen gehen, um den Leidenden zu helfen, den verdunkelten Geistern Erkenntnis zu bringen. Immerzu sehen sie auf die Welt herab, ob sie nicht eine einzelne Seele finden, die bereit und willens ist, ihre Hilfe anzunehmen; immerzu sehen sie auf die Welt herab, damit sie augenblicklich zu den Seelen kommen können, die bereit sind, sie zu empfangen, die die Türen ihrer Herzen nicht vor ihnen verschließen. Denn unsere Herzen sind gegen sie verschlossen und verriegelt, so dass sie nicht eintreten können. Sie wollen nicht einbrechen und mit Gewalt eindringen. Wenn jemand sich für seinen eigenen Weg entscheidet und die Türen verschließt, wird kein anderer den Schlüssel umdrehen; wir sind eingeschlossen in unsere weltlichen Wünsche; wir sind eingeschlossen, weil wir nach den Dingen der Erde greifen; wir sind eingeschlossen durch die Schlüssel der Sünde und Gleichgültigkeit und Trägheit; und der Lehrer steht da und wartet, bis das Tor aufgetan wird, damit er die Schwelle überschreiten und unseren Geist erleuchten kann.

Sagt ihr: Wie können sie unter den Myriaden von Menschen die eine Seele erkennen, die für sie arbeitet und sich selbst auf ihr Kommen vorbereitet? Die Antwort auf diese Frage wurde einst in Form eines Bildes gegeben; ein Mann steht auf dem Gipfel eines Berges und sieht über die angrenzenden Täler, und er sieht ein einzelnes Licht, das aus einer kleinen Hütte leuchtet, weil das Licht sich von der Dunkelheit der umgebenden Welt abhebt. Ebenso leuchtet auch die Seele, die sich bereit gemacht hat, in der Finsternis der umgebenden Welt und zieht die Aufmerksamkeit des Beobachters auf dem Gipfel des Berges durch ihr eigenes Licht auf sich. Ihr müsst eure Seele zum Leuchten bringen, damit der Lehrer sie sehen kann. Er steht da und hält Ausschau, aber ihr müsst das Zeichen geben, damit er euer Lehrer werden und euch auf dem Weg führen kann. Wie groß die Not ist, werdet ihr vielleicht am Ende der verbleibenden Arbeit verstehen, die noch vor uns liegt, wenn ich die Aufgaben des Schülers beschreibe und was er wirklich tun muss: aber lasst mich an diesem Morgen mit diesem Bild aufhören: dass der Lehrer Ausschau hält, wartet und euch finden möchte, dass ihn danach verlangt, euch zu unterrichten, dass ihr die Macht besitzt, ihn zu euch heranzuziehen, dass nur ihr allein ihn zu euch führen könnt. Er mag an die Tür eures Herzens klopfen, aber ihr müsst das Wort aussprechen, das ihm erlaubt, einzutreten; und wenn ihr dem Pfad folgen würdet, den ich heute Morgen vor euch umrissen habe, wenn ihr Schritt für Schritt Gedankenkontrolle, Meditation, Charakterbildung üben würdet, dann würdet ihr das dreifache Wort aussprechen, das es dem Lehrer erlaubt, sich selbst zu offenbaren. Wenn dieses Wort in der Stille des Herzens ausgesprochen wird, dann erscheint der Meister in ihm und die Füße des Gurus sind gefunden.


3. Das Leben des Schülers

Der Prüfungspfad. Die vier Initiationen

Vorbemerkung des Übersetzers:

Besant greift in diesem Vortrag den Weg des Jnana-Yoga, des Yogas der Erkenntnis, mit seinen vier »Sadhana Chatushtayas« – den »vier Mitteln der Erlösung« auf, nachdem sie im vorhergehenden Vortrag den Karma-Yoga der Vorbereitungsstufe zugeordnet hat. Diese Mittel der Erlösung sind die folgenden:

1. Viveka, die Unterscheidung zwischen Realem und Unrealem;

2. Vairagya, Gleichgültigkeit gegenüber den irdischen und himmlischen Freuden;

3. Shad-Sampat, die sechsfältige Tugend: Sama, Dama, Uparati, Titiksha, Sraddha und Samadhana; die Bedeutung dieser sechs Tugenden:

a. Sama ist der Gleichmut oder die Ruhe des Geistes, die durch die Auslöschung der Wünsche entsteht.

b. Dama ist die Kontrolle der Sinne durch den Geist.

c. Uparati ist die Sättigung; sie lässt den Geist gegenüber sinnlichen Genüssen gelichgültig werden. Dieser Geisteszustand stellt sich ein, wenn Viveka, Vairagya, Sama und Dama praktiziert wird.

d. Titiksha ist die Beständigkeit. Der Schüler muss die Gegensätze von Hitze und Kälte, Schmerz und Lust  usw. klaglos ertragen.

e. Sraddha ist der intensive Glaube an das Wort des Gurus, an die Schriften des Veda und an das eigene höhere Selbst. Es handelt sich nicht um einen blinden Glauben, sondern um einen auf Einsicht, Beweis und Erfahrung gestützten Glauben, also wohl besser Vertrauen. Diese Art des Glaubens ist dauerhaft, vollkommen und unerschütterlich. Er vermag alles zu erreichen (der Glaube versetzt Berge).

f. Samadhana ist die Sammlung des Geistes auf Brahma, und die Vermeidung aller Abschweifung in der Sammlung. Der eist ist inmitten von Schmerzen und Mühsal frei von Angst. Er bleibt unbeugsam, gelassen  und gleichmütig, inmitten von Freude und Leid. Der Schüler kennt keine Zuneigung oder Abneigung mehr. Er hat die größte innere Stärke erreicht und genießt den ungetrübten Frieden des Geistes, aufgrund der Übung von Sama, Dama, Uparati, Titiksha und Sraddha.

4. Mumukshutva, der intensive Wunsch nach Befreiung oder Erlösung aus dem Kreislauf von Geburt und Tod mit den sie begleitenden Übeln des Alters, der Krankheit, der Enttäuschung und der Sorge.

Der vorliegende Vortrag zeigt deutlich die Ausrichtung der Esoterik der Adyar-Theosophie auf die indischen Traditionen. Diese Ausrichtung war es, die Steiner im Mai 1905 in seiner Rezension der deutschen Übersetzung zu folgenden Bemerkungen veranlasste: »Annie Besants Vorträge sind für das indische Volk gesprochen. Sie geben den Pfad der Jüngerschaft für dieses Volk an. Nun ist zwar die Wahrheit eine Einige, und der höchste Gipfel der Erkenntnis und des Lebens ist auch für alle Zeiten und alle Völker ein Einiger. Dennoch darf man nicht glauben, dass der Pfad der Jüngerschaft seiner Form nach ganz derselbe sein kann für den Menschen des gegenwärtigen Europa wie für den Inder. Das Wesen bleibt dasselbe; die Formen ändern sich auch auf diesem Gebiete. Deshalb muss es nur naturgemäß gefunden werden, dass in den Artikeln dieser Zeitschrift ›Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?‹ manches anders gesagt ist, als man es in den für das indische Volk gehaltenen Vorträgen Annie Besants angegeben findet. Der Weg, der in dieser Zeitschrift geschildert wird, ist derjenige, welcher in Anpassung an das Leben im Abendlande, an die Entwickelungsstufe des europäischen Menschen, als der richtige sich herausgebildet hat in den Geheimschulen Europas seit dem vierzehnten Jahrhunderte [Steiner deutet hier auf die Rosenkreuzerschule]. Und der Europäer kann nur Erfolg haben, wenn er diesen ihm durch seine eigenen Geheimlehrer vorgezeichneten Weg wandelt. Er kann den Weg des Indiertums gar nicht kopieren. Denn die Indier sind die Nachkommen eines ganz anderen Volksstammes als die europäischen Menschen. Ihre körperliche und seelische Eigentümlichkeit ist eine andere. In der Welt ist eben alles in der Entwickelung. Und es muss auch die Geheimschulung diesen Weg der Entwickelung gehen. Nur das Zerrbild eines Schülers könnte es geben, wenn eine europäische Seele dieselben Yogawege wandeln wollte, die einstmals das von den heiligen Rischis geleitete indische Volk wandelte. Dieses selbst aber muss sich auf seine eigenen Wege wieder besinnen, wenn es vorwärts kommen will. – Das eben will ja gerade die theosophische Weltbewegung erreichen, dass ein jegliches Volk, ein jeglicher Teil der Menschheit die Wahrheit suche auf seinen Wegen. Wir wären recht schlechte Theosophen, wenn wir die indischen Lehren so ohne weiteres der ganz anders gearteten europäischen Menschheit aufpfropfen wollten. Das darf nicht in bezug auf die äußeren Lehren und auch nicht in bezug auf die Geheimschulung zur Jüngerschaft geschehen.

Damit ist nicht gesagt, dass es unnütz für die Europäer wäre, dasjenige kennenzulernen, was für Indien das Angemessene ist. Die Stufe, auf welcher der Europäer steht, ist gerade diejenige, die ihm notwendig macht, alles verstandesmäßig kennenzulernen. Der Verstand muss, um vorwärts zu kommen, vergleichen und das Eigene an dem Fernerliegenden messen. Er muss hinhorchen auf das, was den Menschenbrüdern im fernen Osten zu ihrem Heile gesagt wird. Deshalb, nicht weil in Europa dasselbe gemacht werden könnte, hat man solche Bücher wie das vorliegende mit Befriedigung zu begrüßen. – Aber es ist auch notwendig zu wissen, dass in Europa Wissende und Geheimforscher seit Jahrhunderten bemüht sind, denjenigen die rechten Wege zur heutigen Jüngerschaft zu weisen, die hinhören können und vor allem hinhören wollen auf sie. – Die Zeichen der Zeit sprechen es deutlich aus, dass auch in Europa die Zahl derjenigen immer größer werden wird, welche sich ›im Herzen sehnen nach wahrem Yoga‹. Denn auch für die europäischen Völker gilt, was Annie Besant so treffend gegen den Schluss des ersten Vortrags ausspricht: ›Es gibt keine große Nation ohne große Individualitäten, kein mächtiges Volk, wenn die einzelnen niedrig, arm und selbstsüchtig in ihrem Leben sind.‹« (GA 34)

***

Es ist eine schwierige Aufgabe, meine Brüder, die heute morgen vor uns liegt. In den beiden vorausgehenden Vorträgen habe ich mich mit dem Leben des Menschen in der Welt befasst, und gezeigt, wie er in diesem gewöhnlichen Leben sich schrittweise auf die höheren Stufen der Entwicklung vorbereiten kann; wie er sich selbst zu einem schnelleren Fortschritt, einem schnelleren Fortkommen heranerziehen kann.

Heute aber müssen wir das gewöhnliche Leben des Menschen hinter uns lassen – nicht so sehr im Hinblick auf die äußeren Gegebenheiten, dafür um so mehr hinsichtlich des inneren Lebens.

Denn die Stufen des menschlichen Fortschritts, mit denen wir uns jetzt beschäftigen müssen, die ihn aus dem Leben dieser Welt in höhere Regionen führen, sind klar und deutlich unterschieden; es sind jene Stufen, die ihn von der gewöhnlichen Menschheit zur göttlichen Menschheit führen. Und insofern, als sie uns von der gewöhnlichen Erfahrung entfernt, insofern ist unsere Aufgabe schwieriger, sowohl für euch als Zuhörer, als auch für mich als Vortragende. Denn in diesen höheren Dingen kommen auch höhere Fähigkeiten ins Spiel; und jene werden diesen erhabenen Lehren am besten folgen können, die wenigstens bis zu einem gewissen Grad sich um die Reinigung des Lebens und die Ausbildung des Charakters bemüht haben, mit denen wir uns die beiden vergangenen Vormittage gedanklich beschäftigt haben.

Ich führte euch gestern bis zu dem Punkt, an dem ein Mensch, der sich um die Erhebung seines Lebens, die Kontrolle der Gedanken bemüht und auf die Schülerschaft vorbereitet hat, die Aufmerksamkeit eines großen Lehrers, eines Gurus auf sich zieht, so dass er nun die ersten Schritte der Schülerschaft in Angriff nehmen kann. Und es sind diese ersten Schritte, die wir uns diesen Morgen anschauen wollen. Wie umfassend das Thema auch sein mag, ich muss versuchen, das gesamte Leben des Schülers, des Chelas, diesen Morgen zu beschreiben.

 

[a – Prüfungspfad]

Die ersten Stufen bilden das, was man den »Prüfungspfad« genannt hat, das heißt, die Stufe der Prüfung, im Unterschied zu der Stufe der anerkannten Schülerschaft. Auf dem Prüfungspfad können wir zwar gewisse Stufen und die Aneignung gewisser Eigenschaften unterscheiden, sie sind aber nicht so deutlich voneinander abgegrenzt, wie die Stufen des eigentlichen Pfades – also der Schülerschaft im eigentlichen und wahren Sinn des Wortes.

 

[b – der Pfad der wahren Schülerschaft]

 

Auf dem wirklichen Pfad, auf dem der Schüler nicht nur von seinem Meister als solcher anerkannt wird, sondern auch seinen Meister erkennt und anerkennt, auf diesem Pfad lassen sich deutlich vier Stufen unterscheiden, die auch unterschiedliche Namen haben und durch unterschiedliche Initiationen voneinander abgegrenzt sind.

 

[ zu a.]

 

Auf dem Prüfungspfad sind die Stufen wohl erkennbar, sie sind aber nicht so klar voneinander abgegrenzt. Sie laufen eher nebeneinander her, als dass sie aufeinander folgen. Vom Schüler auf dem Prüfstand, wie wir jemanden nennen können, der am Anfang des Pfades steht, wird nicht erwartet, dass er alles, was er übt, bereits vollkommen beherrscht. Es wird erwartet, dass er sich bemüht, aber vollkommene Beherrschung wird nicht von ihm verlangt. Es genügt, wenn er sich ernsthaft bemüht, wenn er wirkliche Anstrengungen unternimmt, wenn er standhaft bleibt und sein Ziel nicht aus den Augen verliert. Viel Nachsicht – wie wir in menschlichen Angelegenheiten sagen – wird geübt, wegen der menschlichen Fehlbarkeit, Schwäche und dem Mangel an Einsicht, die seine Fortschritte noch immer behindern. Die Prüfungen denen er begegnet, die er überstehen muss, sind drei Prüfungen, denen man im gewöhnlichen Leben begegnet, Erschwernisse jeder denkbaren Art, über die ich gleich einiges sagen werde, aber es handelt sich nicht um die Prüfungen des eigentlichen Pfades.

Die Stufen des Prüfungspfades sind, wenn ich mich richtig erinnere, vor einigen Jahren durch einen Brahmanen, der damals in England weilte und Mitglied der Theosophischen Gesellschaft ist, durch Mohini Mohun Chatterji aus Kalkutta aus den bekannten Hindutraditionen heraus dargestellt worden; er erzählte von diesen vorbereitenden Stufen, die der Mensch durchlaufen und bestehen muss, bei denen ihm sein Lehrer bis zu einem gewissen Grad beisteht, größtenteils, ohne dass ihm das bewusst ist – d.h., so weit es sein Wachbewusstsein betrifft; dem Chela scheint es, als würde er sich alleine auf dem Pfad bewegen und nur auf seine eigene Kraft und Ausdauer angewiesen sein. Ich muss nicht betonen, das es sich dabei um eine Illusion handelt, die auf seiner eigenen Blindheit und seiner Unwissenheit beruht, denn die Augen seines Lehrers ruhen auf ihm, auch wenn er in seinem Wachbewusstsein davon nichts weiß, und ihm kommt jederzeit Hilfe aus den höheren Welten zu, Hilfe, die sich in seinem Leben zeigt, auch wenn dies für sein Wachbewusstsein nicht deutlich sein mag.

Und nun werden wir sehen, wie die Eigenschaften, mit denen wir uns bereits beschäftigt haben, und die wir bisher der Vorbereitung zugeordnet haben, auf dem Prüfungspfad eine deutlichere Form annehmen.

 

[I. – Viveka, Unterscheidung]

Die erste Eigenschaft ist das Ergebnis der Erfahrungen, durch die er hindurchgegangen ist; sie erwecken und bilden in ihm aus, was man VIVEKA, die Unterscheidung nennt.

Die Unterscheidung zwischen dem Realen und dem Unrealen, zwischen dem Ewigen und dem Vergänglichen.

Bevor diese Fähigkeit erscheint, ist er durch seine Unwissenheit an die Erde gebunden, und weltliche Dinge üben auf ihn ihre ganze verführerische Wirkung aus. Seine Augen müssen geöffnet werden, er muss den Schleier der Maya durchstoßen, zumindest so weit, um die irdischen Dinge nach ihrem wahren Wert bemessen zu können, denn aus Viveka wird die zweite Eigenschaft geboren –

 

[II. –Vairagya – Gleichgültigkeit]

 

VAIRAGYA. Ich habe bereits angedeutet, dass der Mensch sich darin üben muss, bei seinen Handlungen nicht auf die Früchte zu sehen. Er muss lernen, sein Handeln als Pflicht zu sehen, ohne fortwährend auf irgendeinen persönlichen Vorteil zu hoffen. Es dürfte nötig sein, diese Haltung durch mehrere Leben hindurch zu üben, bevor die nächste Forderung an den Menschen herantritt, die er zu einem beträchtlichen Ausmaß erfüllen muss, bevor die Initiation möglich ist, die Forderung nämlich, dass er gegenüber irdischen Dingen entschieden gleichgültig wird.

Diese Gleichgültigkeit gegenüber irdischen und weltlichen Dingen, Vairagya, ist die zweite der Eigenschaften, die sich der Schüler auf dem Prüfungspfad aneignen muss.

Er hat Viveka entwickelt, und, wie wir gesehen haben, bedeutet dies die Unterscheidung zwischen dem Realen und dem Unrealen, zwischen dem Vergänglichen und dem Dauernden. Und je mehr sich die Realität und die Dauerhaftigkeit sich seinem Geist fühlbar machen, um so unausweichlicher ist es, dass die weltlichen Dinge ihre Anziehungskraft verlieren und dass er ihnen gegenüber gleichgültig wird. Wenn man die Wirklichkeit sieht, wird das Unwirkliche so unbefriedigend; wenn das Dauernde erkannt wird – und sei es nur für einen Augenblick – scheint das Vergängliche so wenig erstrebenswert; auf dem Prüfungspfad verlieren alle Gegenstände um uns herum ihre Anziehungskraft, und der Mensch muss sich nicht mehr anstrengen, um sich von ihnen abzuwenden; er bedarf keiner besonderen Willensanstrengung mehr, um nicht nach den Früchten seiner Arbeit zu begehren. Die Gegenstände besitzen für ihn keine Anziehungskraft mehr; die Wurzel der Wünsche verkümmert stufenweise und diese Gegenstände, wie es in der Bhagavad Gita heißt, wenden sich vom enthaltsamen Bewohner des Körpers ab. Es ist nicht so, dass er sich willentlich von ihnen abwendet, vielmehr verlieren sie die Macht, ihn noch irgendwie zu befriedigen. Die Gegenstände der Sinne ziehen sich von ihm zurück, und zwar wegen der Anstrengungen, von denen wir bereits gesprochen haben, die er bereits auf sich genommen hat.

Wenn er so die Vergänglichkeit der Gegenstände durchschaut, ist es nur natürlich, dass aus der Gleichgültigkeit gegenüber den Gegenständen ebenso selbstverständlich erwächst, wonach er so lange gestrebt hat, die Gleichgültigkeit gegenüber den Früchten nämlich; denn die Früchte sind ja nichts anderes als weitere Gegenstände. Die Früchte haben Teil an der Vergänglichkeit und Unwirklichkeit, die er erkennt, wenn er das Reale und Dauernde gesehen hat.

 

[III. – Shatsampatti – die sechs geistigen Eigenschaften]

 

Dann muss die dritte Eigenschaft auf dem Prüfungspfad erworben werden; SHATSAMPATTI, die sechsfache Gruppe der geistigen Eigenschaften oder Fähigkeiten, die sich im Leben des Schüler-Kandidaten zeigen, wenn wir dieses Wort gebrauchen dürfen.

Er hat sich lange darum bemüht, seine Gedanken in der Art zu beherrschen, die uns vertraut ist. Er hat all die Methoden praktiziert, von denen wir gestern gesprochen haben, er hat sich um Selbstkontrolle bemüht, um eine meditative Bewusstseinsverfassung und um die Bildung seines Charakters.

 

[1 – Shama – Kontrolle des Geistes]

 

Diese Methoden haben ihn darauf vorbereitet, dass sich nun im wirklichen Menschen – denn wir reden über den wirklichen Menschen, und nicht über die illusionäre Erscheinung – Shama [Shad-Sampat 1], die Kontrolle des Geistes zeigt, diese entschiedene Beherrschung der Gedanken, dieses entschiedene Verständnis der Wirkungen des Denkens und seiner Beziehung zur umgebenden Welt, die er durch sein eigenes Denken im Guten und Bösen beeinflusst. Durch die Erkenntnis dieser Macht seiner Gedanken, durch die er das Leben der anderen Menschen und die Entwicklung der Menschheit fördern oder beeinträchtigen kann, wird er innerhalb der Welt, der er selbst angehört zu einem aktiven Mitwirkenden am menschlichen Fortschritt und am Fortschritt aller Wesen, die sich entwickeln. Und diese Beherrschung des Denkens – die nun eine ausgeprägte Eigenschaft seines Geistes ist – bereitet ihn, wie wir sehen werden, auf die vollständige und wahrhafte Schülerschaft vor, in der jeder seiner Gedanken zu einem Werkzeug seines Meisters werden soll, wo vergleichsweise ohne Anstrengung der Geist sich jenen Spuren entlang bewegt, die der Wille ihnen vorgezeichnet hat.

 

[2 – Dama – Kontrolle der Sinne und des Körpers]

 

Aus dieser Beherrschung der Gedanken, die nun weitgehend erreicht ist, folgt unausweichlich Dama [Shad-Sampat 2], die Kontrolle der Sinne und des Körpers, die wir auch als Beherrschung des Verhaltens bezeichnen können. Habt ihr bemerkt, dass die Dinge, wenn wir sie vom okkulten Standpunkt aus betrachten, sich spiegelbildlich gegenüber dem Standpunkt der Erde darstellen? Weltliche Menschen denken mehr an das Verhalten als an ihr Denken. Der Okkultist denkt mehr an sein Denken als an sein Verhalten. Wenn das Denken richtig ist, wird das Verhalten unweigerlich rein sein; wenn das Denken beherrscht wird, wird das Verhalten unweigerlich kontrolliert und beherrscht sein. Die äußere Erscheinung oder Handlung ist nur die Übersetzung des inneren Gedankens, der in der Welt der Formen die Gestalt annimmt, die wir als Handeln bezeichnen; aber die Erscheinungsform hängt vom inneren Leben ab, die Form hängt von der inneren Kraft ab, die sie formt. Die Welt des Arupa [des Formlosen] ist die Welt der Ursachen, die Welt der Formen [Rupa] ist nur die Welt der Wirkungen; und daher wird, wenn wir den Gedanken beherrschen, das Verhalten ebenfalls unter unserer Herrschaft stehen, da es der natürliche und unausweichliche Ausdruck unserer Gedanken ist.

 

[3 – Uparati – Toleranz]

 

Die dritte geistige Eigenschaft, die den inneren Menschen auszeichnet, ist Uparati |Shad-Sampat 3], was man vielleicht am besten mit einer großherzigen, edlen und nachhaltigen Toleranz übersetzt – ich verwende dieses Wort im weitesten Sinn, den man ihm geben kann – Toleranz allem gegenüber, was uns umgibt, ist eine Form erhabener Geduld, die zu warten versteht, die zu verstehen vermag und daher von niemandem mehr verlangt, als er zu geben vermag.

Auch dies ist wiederum die Vorbereitung auf eine klar unterschiedene Stufe der eigentlichen Schülerschaft. Diese Haltung des Menschen, diese tolerante Haltung, vermag gegen jeden und alles Nachsicht zu üben, sie betrachtet alle Menschen nicht von außen, sondern von innen, sie sieht ihre Hoffnungen, ihre Wünsche und Motive, und nicht nur die groben Fehldeutungen, welche die Erscheinungen der äußeren Welt oft genug bereithalten. Nun lernt der Schüler Toleranz gegenüber allen Formen von Religion, Toleranz gegenüber allen Arten von Gebräuchen, gegenüber den unterschiedlichen Traditionen der Menschen. Er versteht, dass es sich um vorübergehende Phasen handelt, aus denen der Mensch am Ende herauswächst, und er ist nicht so unvernünftig, dass er von der kindlichen Menschheit jene Weite, jenen Atem, jenen Sinn würdevoller Geduld erwartet, die für die Menschheit im Erwachsenenalter charakteristisch sind, nicht aber für ihre frühen Entwicklungsstufen. Diese Haltung des Geistes muss unablässig gepflegt werden, wenn man sich der Initiation nähern will, und wir müssen diese Toleranz durch Einsicht in die Wahrheit erlangen und wir müssen die Wahrheit erkennen, die unter dem Schleier der irreführenden Erscheinungen verborgen ist.

Habt ihr bemerkt, wie sich durch all dies der aufdämmernde Sinn für das Wirkliche hindurchzieht, diese große Veränderung, die sich im Menschen abspielt, der sich auf den Prüfungspfad begibt? Er lässt sich nicht mehr von Erscheinungen verführen, wie das früher der Fall war. Je reifer er wird, um so deutlicher sieht er die Realität und befreit sich so schrittweise von der Illusion. Er wirft die Abhängigkeit von den Gegenständen ab und er erkennt die Wahrheit, wie auch immer ihre illusionäre Erscheinungsform sein mag.

 

[4 – Titiksha – Duldsamkeit, Beständigkeit]

 

Der nächste Punkt in seiner geistigen Haltung ist Titiksha [Shad-Sampat 4], Duldsamkeit, ein geduldiges Ertragen von allem, was kommt, die vollständige Abwesenheit von Groll oder Verbitterung.

Ihr erinnert euch, wie ich eure Aufmerksamkeit auf diese Duldsamkeit gelenkt habe, als etwas, wonach wir streben müssen, darauf, wie ein Mensch sich allmählich von dem Gefühl der Verletzung befreien muss, wie er stattdessen Liebe, Mitgefühl und Verzeihen üben muss, – und das Ergebnis dieser Schulung des Geistes ist diese entschiedene und dauerhafte geistige Haltung. Der innere Mensch befreit sich so vom Groll – von der Verbitterung gegenüber allem, gegen Menschen, gegen die Umstände, gegen alles, was ihn im Leben umgibt. Warum? Weil er die Wahrheit sieht und das Gesetz kennt und daher weiß: Was für Umstände auch immer ihn umgeben mögen, sie sind ein Ausfluss des guten Gesetzes. Er weiß: Was immer die Menschen ihm zufügen mögen, sie sind die unbewussten Handlanger des Gesetzes. Er weiß: Alles, was ihm im Leben begegnet, wurde von ihm selbst in der Vergangenheit bewirkt. Und daher besteht seine Haltung in der völligen Abwesenheit von Groll. Er erkennt die Gerechtigkeit, daher kann er sich über nichts mehr ärgern, denn nichts kann ihn berühren, was er nicht verdient hat; nichts kann seinen Weg kreuzen, was er nicht in seinen früheren Leben dort hingestellt hat. Und so können keine Leiden oder Freuden ihn von seinem Pfad abbringen; seine Richtung kann durch nichts mehr, was ihm begegnet, geändert werden. Er sieht den Pfad und geht auf ihm entlang; er sieht das Ziel und strebt ihm entgegen. Er folgt nicht länger krummen und ungewissen Wegen, dahin und dorthin und überall hin; sondern sicher, stetig folgt er dem Pfad, den er gewählt hat. Die Verlockungen des Genusses können ihn nicht ablenken; Schmerz kann ihn nicht ablenken. Müdigkeit, Nichtigkeit und Leere können ihn nicht entmutigen, keine Verheißungen, von wem auch immer, können ihn ablenken, er hört nur auf die Stimme des Guru, zu dessen Füßen er strebt. Unfähigkeit, abzuirren, starke Duldsamkeit – wahrlich! das sind Eigenschaften, die er auf seinem Prüfungspfad benötigt.

Denn ich habe von den Prüfungen gesprochen, die seinen Weg säumen, und ihr solltet leicht verstehen können, warum diese Schwierigkeiten auftreten müssen. Der Mensch, der den Prüfungspfad betreten hat, möchte innerhalb weniger Leben erreichen, wozu der weltliche Mensch hunderte von Leben benötigt. Er ist wie ein Mann, der den Gipfel des Berges erreichen will, aber sich weigert, der Spur zu folgen, die sich in Spiralen langsam den Berg hinauf windet. Er sagt: »Ich gehe direkt hinauf, ich werde meine Zeit nicht auf diesem gewundenen, ausgetretenen Pfad verschwenden, der mich so viel Zeit kosten wird, diesem langsamen Weg, auf dem man leicht und bequem vorankommt, der von unzähligen Füßen breitgetreten ist. Ich werde die kürzere Route nehmen, den schnelleren Pfad, ich werde den Berg auf dem direktesten Weg erklimmen. Egal, wie schwierig es ist, ich werde den Berg erklimmen. Gleichgültig, was für Hindernisse im Weg liegen, ich werde gehen; es mag dort Schluchten geben – ich werde sie überqueren; es mögen Felswände sein – ich werde über sie klettern; es mögen Hindernisse und Felsen in meinem Weg liegen – ich werde irgendwie über sie hinüberkommen oder sie umgehen; aber hinauf auf diesen Berg, das will ich«. Was wird das Ergebnis sein? Er wird auf seinem Weg tausendfach mehr Schwierigkeiten vorfinden. Die Zeit, die er gewinnt, muss er mit der Mühsal bezahlen, die es ihn kostet, sein Ziel zu erreichen.

Wer sich auf den Prüfungspfad begibt, gleicht dem Menschen, der den kürzesten Weg zum Gipfel wählt und er ruft sein gesamtes vergangenes Karma auf sich herab, von dem er sich weitgehend befreien muss, bevor er bereit für die Initiation ist.

Die großen Herren des Karma, die das karmische Gesetz verwalten – die mächtigen Intelligenzen hoch über uns, die unser Verstand nicht fassen kann, die unsere Vernunft nicht begreift, die als Bewahrer des Karma bezeichnet worden sind, jene Intelligenzen, welche die Aufzeichnungen des Akasha hüten, in denen alle vergangenen Gedanken und Taten des Menschen aufgezeichnet sind – sie kennen die Geschichte jeder einzelnen Individualität.

Vor ihrem allsehenden Auge liegt die Lebensgeschichte jedes einzelnen Menschen offen da, und diese Geschichte, die vor ihren Augen liegt, muss weitgehend aufgearbeitet werden, bevor die Portale der Initiation durchschritten werden können. Und wer den Prüfungspfad betritt, wer freiwillig aus eigenem Willen seinen Fuß auf diesen Pfad setzt, der ruft in dem Augenblick, in dem er dies tut, die großen Herren des Karma an, sie mögen seine Geschichte, die gegen ihn spricht, ausgleichen, und ihm die karmische Schuld offenbaren, die er ausgleichen muss.

Ist es daher verwunderlich, wenn sich die Schwierigkeiten vor ihm auftürmen? Das Karma, das in hunderten Leben hätte abgearbeitet werden können, muss in einigen wenigen ausgeglichen werden, vielleicht in einem einzigen, und daher ist es natürlich schwierig, auf diesem Pfad voranzukommen. Schwierigkeiten in der Familie tauchen auf, geschäftliche Probleme türmen sich, Mühsale des Geistes und des Körpers suchen ihn heim; ist es daher verwunderlich, wenn ich gesagt habe, er benötige Standhaftigkeit, um auf diesem Prüfungspfad voranzukommen, damit er nicht zurückweiche oder entmutigt werde? Man könnte glauben, alles verschwöre sich gegen ihn. Er könnte glauben, der Meister habe ihn aufgegeben. Warum muss das Schlimmste ihn heimsuchen, wo er doch sein Bestes gibt? Warum müssen all diese Schwierigkeiten und Leiden ihn heimsuchen, wo er doch ein besseres Leben führt als je zuvor? Es scheint so ungerecht, so hart, so grausam, dass er nun vom Schicksal härter als jemals zuvor geprüft wird, obwohl er ein edleres Leben führt, als er es je zuvor versucht hat. Er muss dieser Prüfung standhalten, er muss sich weigern, einem einzigen Gedanken an Ungerechtigkeit Eintritt zu gewähren. Er muss sich sagen: »Es war meine eigene Entscheidung, ich habe mein Karma herausgefordert; was Wunder, wenn nun von mir verlangt wird, es auszugleichen?« Wenigstens kann ihn der Gedanke ermutigen, dass die Schuld, die er einmal bezahlt hat, für alle Zeiten bezahlt ist, dass er, was überstanden ist, niemals mehr ertragen muss. Jede karmische Schuld, die er abträgt, wird für immer aus seinem Lebenskonto getilgt. So kann er denken, wenn die Krankheit ihn niederwirft, dass es gut ist, wenn er sich von soviel Mühsal befreien kann; wenn Schmerz und Angst ihn peinigen, denkt er, dass es gut ist; er antwortet: »Es wird hinter mir liegen und nicht mehr vor mir.« Und so kommt es, dass er inmitten all der Sorgen Freude empfindet, dass er inmitten der Entmutigung voller Hoffnung ist, dass er inmitten des Schmerzes guten Mutes ist, denn der innere Mensch ist mit dem Gesetz ausgesöhnt, er ist mit der Antwort zufrieden, die seine Frage erhalten hat. Gäbe es keine Antwort, würde dies bedeuten, dass seine Stimme die Ohren der Großen Einen nicht erreicht hat, es würde bedeuten, dass sein Gebet ungehört zur Erde zurückgefallen ist; denn diese Qualen sind die Antwort auf seine Bitte.

 

[5 – Sraddha – Vertrauen]

 

So erlangt er inmitten dieses Ringens, dieser Schwierigkeiten, dieser Anstrengungen die fünfte geistige Eigenschaft: Sraddha [Shad-Sampat 5], den Glauben, oder wir sollten sagen, das Vertrauen – das Vertrauen in den Meister und sich selbst.

Ihr könnt verstehen, inwiefern dies ein Ergebnis eines solchen Ringens ist. Ihr könnt verstehen, wie durch dieses Ringen Vertrauen entstehen muss, so wie die Blüte sich unter dem Einfluss von Sonne und Regen öffnen muss. Er hat gelernt, seinem Guru zu vertrauen, denn hat er ihn nicht durch diese ganzen dornigen Pfade geleitet und ihn auf die andere Seite gebracht, wo das Tor der Initiation sich vor ihm auftut? Und er hat sich selbst vertrauen gelernt – nicht seinem niederen Selbst, dessen Schwäche er überwunden hat, sondern seinem göttlichen Selbst, dessen Stärke er zu erkennen beginnt. Denn er versteht, dass jeder Mensch göttlich ist, er versteht, dass er das, was sein Guru heute ist, in den Leben, die noch kommen werden, selbst werden wird. Und er empfindet Vertrauen in die Macht des Meisters, ihn zu lehren und zu führen, in die Weisheit seines Meisters, ihn zu lenken und zu unterrichten; und er empfindet Vertrauen in sich selbst, obgleich demütig, so doch stark, das Vertrauen auf seine eigene Göttlichkeit, die es ihm ermöglicht, sein Ziel zu erreichen; das Vertrauen darauf, dass bei aller nötigen Anstrengung, die noch vor ihm liegt, bei allen Schwierigkeiten, die es noch zu überwinden gilt, die Kraft, die in ihm ist, eins ist mit Brahman, und dass er jeder Schwierigkeit, jeder Prüfung standhalten wird.

 

[6 – Samadhana – Gleichgewicht]

 

Die sechste geistige Eigenschaft ist Samadhana [Shad-Sampat 6], Gleichgewicht, Gelassenheit, Friede des Geistes, jenes Gleichgewicht und jene Beharrlichkeit, die aus der Aneignung der vorhergehenden Eigenschaften resultiert.

 

[IV. – Mumuksha – das Verlangen nach Emanzipation]

 

Mit dieser Eigenschaft ist der Prüfungspfad durchschritten, der Schüler-Kandidat steht vor dem Tor, und ohne weitere Anstrengung erscheint die vierte Eigenschaft: MUMUKSHA, das Verlangen nach Emanzipation, der Wunsch nach Befreiung, der ihn, seine langen Anstrengungen krönend, zu einem Adhikari, einem Menschen macht, der bereit für die Initiation ist.

Er wurde geprüft und für gut befunden: sein Unterscheidungsvermögen ist groß, seine Gleichgültigkeit ist keine flüchtige Abneigung, die auf eine vorübergehende Enttäuschung zurückgeht, sein geistiger und moralischer Charakter ist erhaben – er ist bereit für die Initiation. Nichts weiter wird verlangt, er ist bereit, vor das Angesicht des Meisters zu treten, dem Leben gegenüberzutreten, nach dem er so lange gesucht hat.

Achten wir darauf, bevor wir unsere Hand an die Tür der Initiation legen, dass jede Eigenschaft des Prüfungspfades eine Vorbereitung für das ist, was nun bevorsteht, dass es sich um moralische und geistige Eigenschaften handelt.

Moralische und geistige Eigenschaften sind die Eigenschaften, die verlangt werden – nicht sogenannte Kräfte, nicht eine abnorme psychische Entwicklung, nicht die sogenannten Siddhis [magische Fähigkeiten des Yogi wie Telepathie, Levitation, Translokation usw. – siehe dazu weiter unten].

Diese Siddhis werden in keiner Weise verlangt oder gefordert. Jemand mag einige dieser Siddhis erlangt haben und doch nicht bereit für die Initiation sein; was er aber unbedingt benötigt, sind die moralischen Eigenschaften. Diese werden mit einer Unerbittlichkeit verlangt, an der nichts etwas ändern kann – mit einer Unerbittlichkeit, die, nebenbei gesagt, ein Ergebnis der Erfahrung ist. Denn die großen Gurus mit ihrer reichen menschlichen Erfahrung haben sie Schritt für Schritt seit Myriaden von Jahren geübt. Sie wissen sehr genau, dass die Voraussetzungen wirklicher Schülerschaft im Geist und im moralischen Charakter liegen und nicht in der Entwicklung psychischer Fähigkeiten; diese werden am richtigen Ort und zur richtigen Zeit ausgebildet. Aber um als Schüler angenommen zu werden, müssen der Geist und die Moral dem Blick des Gurus standhalten; die genannten Eigenschaften sind die, die er verlangt, und diese müssen ihm seine Schüler überreichen, bevor er ihnen die zweite Geburt zuteil werden lässt, die er allein gewähren kann.

Und achten wir ebenfalls darauf, dass diese Eigenschaften Erkenntnis und Demut einschließen – das Wachstum der Erkenntnis, auf dass der Mensch sehend werde, und das Wachstum der Demut, ohne die der Pfad nicht beschritten werden kann. Und daher steht in den Upanischaden geschrieben, dass Erkenntnis ohne Demut nicht genügt, dass Demut allein nicht genügt; Erkenntnis muss mit Demut vermählt sein, denn sie sind die beiden Flügel, durch die der Schüler sich erhebt.

 

[zu b.]

 

Nun kommen wir zum eigentlichen Pfad.

 

Über die großen Initiationen, welche die Stufen des Pfades bilden, nachdem der Chela von seinem Guru angenommen worden ist und wenn der Guru es auf sich nimmt, seinen Schüler zu leiten, zu belehren und zu beschützen – über diese großen Initiationen haben manche Lehrer von Zeit zu Zeit gegenüber der äußeren Welt gewisse Andeutungen fallen lassen, und wir finden diese Andeutungen an vielen Orten, Andeutungen, die durch die Erfahrungen derjenigen bestätigt werden, die durch das Tor gegangen sind, Andeutungen, die etwas vertieft werden dürfen, nicht zur Befriedigung eitler Neugier, sondern zur Schulung derjenigen, die sich gerne auf diesen großen Schritt nach vorne vorbereiten möchten. Was über sie gesagt werden kann, muss notgedrungen unvollständig sein; nur Bruchstücke dieser großen Mysterien können in der Welt der Menschen enthüllt werden. Viele Fragen werden in euch entstehen, wenn ich diese Andeutungen aufgreife und sie zu einem zarten, aber zusammenhängenden Ganzen verwebe. Viele Fragen werden sich erheben, auf die es nicht weise wäre, Antworten zu geben. Das alleinige Ziel dieser Erläuterungen ist, wie ich gesagt habe, nicht, die Neugier zu befriedigen, es geht nicht darum, dass einige Fragen gestellt werden und diese eine nach der anderen beantwortet werden; die Andeutungen, die gegeben werden, sind für jene gedacht, die es Ernst meinen, für jene, die wissen wollen, damit sie sich vorbereiten können, für jene, die verstehen wollen, damit sie das Angestrebte erreichen können. Und daher werden diese Andeutungen von Zeit zu Zeit gegeben, solche bruchstückhaften Mitteilungen, die für die unmittelbare Anleitung ausreichen, aber die eitle Neugier und die weltliche Wissbegier nicht befriedigen.

Zwei mächtige Lehrer ragen in der Geschichte heraus, die über diesen Gegenstand mehr Wissen verbreitet haben, als alle anderen – jeder von ihnen war der Lehrer einer Weltreligion – weltweit nicht im Sinne eines Gebietes, sondern weltweit im Sinne der Bedeutung für die Seelen, die bereit sind, sie zu empfangen.

Der eine dieser großen Lehrer war der Begründer des Buddhismus, der Herr (oder Meister) Buddha; der andere was Shri Shankaracharya, der für den Hinduismus leistete, was Buddha für jene Länder tat, die jenseits seiner Reichweite lagen, als er seine exoterische Religion [des Hinduismus] begründete.

Was den Pfad anbetrifft, so sind ihre Lehren identisch, wie die Lehren eines jeden dieser großen Eingeweihten es sein müssen. Ein jeder von ihnen verkündete dieselben Stufen; ein jeder grenzt die Stufen durch bestimmte Initiationen voneinander ab, welche die nachfolgenden von den vorausgehenden unterscheiden. In der Lehre selbst besteht vollkommene Übereinstimmung, lediglich die Form, in der sie zum Ausdruck gebracht wird, unterscheidet sich, weil die Lehre dem einen oder anderen Glauben angepasst wird. Dies ist ein weiterer Grund, warum die Menschen die Wahrheit suchen müssen, die sich in den unterschiedlichen Erscheinungsformen verbirgt, weil sie sich sonst über die Formen streiten, statt die Identität zu erkennen, die hinter den äußeren Etiketten liegt, die nicht mehr als Namen sind.

Vier unterschiedliche Stufen gibt es, und eine jede ist durch eine Initiation gekennzeichnet.

 

Nun, Initiation bedeutet eine Erweiterung des Bewusstseins, die durch die Vermittlung des Gurus bewirkt wird, der stellvertretend für den einen großen Initiator der Menschheit handelt und in dessen Namen die zweite Geburt ermöglicht.

Diese Erweiterung des Bewusstseins ist das Zeichen der Initiation, denn sie gibt uns das in die Hand, was als »Schlüssel der Erkenntnis« bezeichnet wird; sie eröffnet dem Initiierten neue Bereiche der Erkenntnis und der Macht, sie legt ihm den Schlüssel in die Hand, der die Tore der Natur öffnet. Wozu? Damit er der Welt als Ganzer besser dienen kann; damit seine Kraft zu dienen zunimmt; damit er sich jenem kleinen Häuflein von Menschen anschließen kann, die sich der Menschheit geweiht und das niedere Selbst überwunden haben, die nichts anderes wollen, als dem Meister und der Menschheit zu dienen; die wissen, dass der Dienst am Meister und an der Menschheit ein und dasselbe ist; die mit der Welt und allem, was sie zu bieten hat, abgeschlossen haben; die sich auf immer in den Dienst der Großen Einen gestellt haben, auf dass sie ihre Werkzeuge seien, die Kanäle, durch die sie ihre Hilfe und ihre Gnade auf uns herabströmen lassen.

Und zwischen diesen einzelnen großen Initiationen müssen gewisse Dinge – Wandlungen des inneren Menschen – erreicht werden, aber mit einem großen Unterschied gegenüber den Wandlungen, die wir bisher betrachtet haben. Wenn ein Mensch initiiert ist, dann muss er alles vollkommen tun, nicht länger unvollkommen; jede Errungenschaft ist vollkommen errungen, jede Kette endgültig abgestreift. Nicht länger wird das Unvollkommene geduldet; er kann nicht weiterschreiten, bis die Anforderungen der jeweiligen Stufe vollkommen erfüllt sind. So dass wir hier diese absolute Entschiedenheit finden, die es sonst nirgends im Leben gibt, die Notwendigkeit, dass jede Stufe abgeschlossen ist, bevor wir die nächste besteigen können. Nichts Halbfertiges, keine unabgeschlossenen Arbeiten werden hier akzeptiert. Wie lange es auch dauern mag, die Arbeit muss absolut abgeschlossen werden, bevor der nächste Schritt getan werden kann. Technisch wurde das als das »Abwerfen der Fesseln« bezeichnet, bestimmter Eigenschaften, die noch immer die Seele binden. Am Ende des Pfades liegt Jivanmukti; wer ihn zurückgelegt hat, hat jene Stufe erreicht, auf der das Leben frei ist, so dass jede Fessel vollkommen abgeworfen werden muss, damit den lebenden Menschen nichts mehr bindet.

 

[i – Der in den Strom eingetreten ist – der Wanderer]

 

Die erste große Initiation macht den Menschen zu jemandem, den Shri Shankaracharya als »Parivrajaka« bezeichnet – und Buddha als »Srotapatti«.

Die buddhistische Bezeichnung, die in der Regel in Pali wiedergegeben wird, bedeutet »der, der in den Strom eingetreten ist«, der sich von der Welt losgelöst hat. Er gehört nicht länger dieser Welt an, auch wenn er in ihr lebt; er hat hier keinen Ort, nichts kann ihn halten. Genau dieselbe Idee bringt auch das Wort »Parivrajaka« zum Ausdruck, »ein Mann, der herumwandert«, der keine Heimat, keine Wohnstätte besitzt; der nicht unbedingt körperlich herumwandert, oder im physischen Sinn wohnungslos ist – wie es heute exoterisch verstanden wird –, sondern der Mensch, der in seinem inneren Leben sich von der Welt gelöst hat, der in dieser vergänglichen Welt keinen festen Platz oder Aufenthaltsort hat, für den in dieser Welt kein Ort besser als ein anderer ist. Er kann hierhin oder dorthin oder überall hin gehen, wo sein Meister ihn auch hinsenden mag. Kein Ort vermag ihn festzuhalten, kein Ort hat die Macht, ihn zu binden; er hat die Fesseln des Ortes abgestreift. Und deswegen heißt er der »Wanderer«. Ich weiß natürlich, ebenso wie ihr, dass diese Stufe heute in einem rein exoterischen Sinn verstanden wird; ich aber verstehe sie innerlich, im Sinne der Großen Einen, die sie offenbart haben. Wir wissen wahrlich, wie vieles sich seit damals geändert hat; wie das, was damals im Leben eine Realität darstellte, zu einem bloßen Wort, zu einer bloßen Erscheinung geworden ist. Aber mir liegt sehr daran, dass ihr die vier Stufen des Pfades in dem Sinne versteht, wie von ihnen im Hinduismus gesprochen wird, von denen manche glauben, sie seien bloß vom Herrn Buddha geoffenbart worden, wo er doch lediglich den alten schmalen Pfad erneut verkündet hat, den alle Initiierten der Einen Loge gegangen sind, gehen und gehen werden.

Lasst mich also die Realität betrachten. Der Mensch, der den Strom überquert hat, hat die Welt, wie ich gesagt habe, endgültig hinter sich gelassen – er will nichts mehr von ihr, außer dass er ihr dienen kann. Er verlangt nichts mehr von ihr, außer dass er in ihr den Auftrag seines Meisters erfüllen kann. Das ist das Zeichen der ersten großen Initiation – des Menschen, der wiedergeboren ist.

 

Zum größten Teil geschieht diese Wiedergeburt außerhalb des Körpers, aber im Wachzustand; d.h. der Mensch wird im allgemeinen mit vollem Bewusstsein in seinem Astralleib initiiert, während der physische Körper in einem Trancezustand zurückbleibt; in einzelnen Fällen wird der Schüler initiiert, ohne dass dem Wachbewusstsein erlaubt ist, die Initiation bewusst zu begleiten.

Aber in beiden Fällen kann dieser Vorgang niemals zurückgenommen werden; der Mensch wird niemals mehr so sein, wie zuvor. Das Kleinkind, das in die Welt geboren wird, mag für eine gewisse Zeit kein Bewusstsein der neuen Welt haben, die es umgibt, aber es kann nicht in den Leib seiner Mutter zurückkehren und wieder so sein, als wäre es nicht durch die Geburt hindurch gegangen. Ebensowenig kann der Initiierte, der diese zweite Geburt erlebt hat, jemals wieder so werden, als hätte er diese Geburt nicht erlebt, und wieder am Leben der äußeren Welt teilnehmen, so wie jene, die diese zweite Geburt nicht erlebt haben. Er mag in seinem weiteren Fortschreiten zurückbleiben, er mag langsam vorankommen, er mag länger brauchen, um die Fesseln abzustreifen, die ihn noch binden; aber er kann nicht wieder in den Zustand des Nichtinitiierten zurück, der Schlüssel kann nie mehr aus seiner Hand gleiten. Er ist in den Strom eingetreten; er hat sich von der Welt gelöst; er muss weiter gehen, wie langsam auch immer, wie viele Leben auch immer er dafür benötigt.

Die Frage wurde aufgeworfen, wie viele Leben zwischen diesem Schritt und der endgültigen Befreiung, der Erreichung von Jivanmukti liegen. Ich erinnere mich, dass Swami T. Subba Row, der hier zu einer Reihe von Freunden über die Vorstellung gesprochen hat, dass auf dieser Stufe der Schülerschaft sieben Leben verbracht werden müssten, die vollkommen wahre und bedeutende Bemerkung gemacht hat: »Es mögen sieben oder siebzig Leben sein, es mögen sieben Tage oder sieben Stunden sein«. Das heißt: das Leben der Seele wird nicht nach den Jahren oder der Zeit der Sterblichen bemessen; alles hängt von ihrer Energie, ihrer Stärke, ihrem Willen zum Weiterschreiten ab. Jemand mag seine Zeit verschwenden oder sie zu seinem Vorteil nutzen, und abhängig davon wird der Fortschritt sein, den er macht.

Aber auf dieser Stufe, die mit der ersten großen Initiation beginnt und mit der zweiten endet, gibt es drei unterschiedliche Dinge, von denen der Mensch sich vollkommen befreien muss, bevor er durch das zweite Tor schreiten kann.

[a – Zerstörung der Illusion des persönlichen Selbstes]

Das erste ist die Zerstörung der Illusion des persönlichen Selbstes. Die Persönlichkeit muss zerstört werden; nicht länger nur konktrolliert, nicht länger nur eingeschränkt, nicht länger nur in Schach gehalten; sondern zerstört, für immer abgetötet.Die Illusion eines selbstständigen persönlichen Selbstes muss aufgegeben werden.

Der Schüler muss erkennen, dass er mit allen anderen Selbsten eins ist, denn das Selbst aller ist eines. Er muss erkennen, dass überall um ihn herum, in Menschen, Tieren und Pflanzen, in Mineralen und in den elementarischen Formen des Lebens alles eins ist. Die Illusion der Persönlichkeit muss abgeschüttelt werden. Bedenkt, wie die Erweiterung des Bewusstseins dabei hilfreich ist; wie die Erkenntnis des wahren Selbstes es ermöglicht, sich des falschen zu entledigen; wie die Erkenntnis des Realen das Unreale zum Verschwinden bringt; und so wird die Illusion des persönlichen Selbstes absolut getötet. Warum? Weil die Augen geöffnet sind und durch die Illusion hindurchblicken; so wird er frei und wirft die Fessel ab, die als die »Täuschung des Selbstes« bezeichnet wird.

[b – Befreiung vom Zweifel]

Und er muss sich von allem Zweifel befreien.

Das ist das zweite Hindernis das seinem Weiterschreiten im Weg steht. Aber er muss den Zweifel in einem sehr bestimmten Sinn ablegen – er muss ihn durch Erkenntnis überwinden. Nicht länger sind die Dinge der unsichtbaren Welt für ihn etwas, worüber er spekuliert; nicht länger sind die großen Wahrheiten der Religion für ihn bloß philosophische Ideen. Sie werden zu erlebten Tatsachen. Nicht länger darf er Fragen in seinem Geist bewegen, wie dies oder jenes wohl sein mag. Es gibt gewisse fundamentale Wahrheiten des Lebens, über die er nicht länger zweifeln darf.

Bevor er einen Schritt weitergehen kann, muss er – jenseits aller Möglichkeit der Frage – absolut überzeugt sein von der großen Wahrheit der Reinkarnation und des Karmas; er muss felsenfest von der großen Wahrheit der Existenz der göttlichen Menschen, der Jivanmuktas, der Gurus der Menschheit überzeugt sein. Darüber dürfen keinerlei Zweifel zurückbleiben; das heißt, er darf nicht mehr bloß ein theoretisches Wissen haben, sondern sein Wissen muss real und praktisch werden, so dass kein Schatten des Zweifels jemals wieder seinen Geist verdunkeln kann; die einzige Position, die so sicher ist, ist jene, wo wirkliche Erkenntnis an die Stelle der bloßen Spekulation tritt, wo die absolute Berührung mit der Realität die Irrtümer, die durch die Illusionen der äußeren Welt entstehen, unmöglich macht.

[c – Befreiung vom Aberglauben]

Die letzte der drei Fesseln, die auf dieser Stufe vollkommen abgeworfen werden muss, ist der Aberglaube.

Macht euch klar, was das bedeutet, und dann werdet ihr umfassend verstehen, warum sowohl Shri Shankaracharya als auch Buddha für diese Stufe der Schülerschaft genau die Namen geprägt haben, die sie verwendeten. Im technischen Sinn (in dem ich dieses Wort jetzt natürlich benutze) bedeutet Aberglaube: die Abhängigkeit von äußerlichen sektiererischen Riten und Zeremonien um des spirituellen Beistands willen. So weit es ihre äußere Form betrifft, anerkennt der Mensch die Wahrheit, die unter der Form verborgen ist, und soll in ihr Wahrheit enthalten sein, dann hängt der Wert der äußeren Form von ihrer Anpassung an diese Welt des Unwissens und der Illusion ab. Der Schüler hat sich über die exoterischen Formen und Zeremonien erhoben. Aber ihr seid mit dieser Idee aus eurem täglichen Leben vertraut. Der Sannyasin [Schüler] soll ein Mensch sein, der sich über diese Dinge erhoben hat, von dem sie nicht länger verlangt werden. Und warum nicht? Weil man davon ausgeht, dass er die Realität berührt hat, weil man davon ausgeht, dass er diese Dinge nicht länger braucht, bei denen es sich um die Sprossen der Leiter handelt, die der Mensch erklimmen muss; sie sind auf den früheren Stufen notwendig – vergesst das nicht – das ist eine Frage der Reife. Wenn ihr auf das Dach des Hauses klettern wollt, dann müsst ihr die Treppe oder eine Leiter benutzen, und töricht würde jemand sein, der sagte: »Ich will weder die Treppe noch die Leiter benutzen«, es sei denn, ein solcher Mensch hätte solche Kräfte und besäße ein solches Wissen um die Naturgesetze, dass er imstande wäre, die Polarität seines Körpers zu verändern und sich mittels der Levitation in die Luft zu erheben – durch die Aktivität des Willens allein, statt durch die vergleichsweise grobe und langsame Methode, Stufe um Stufe zu erklimmen. Für so jemanden ist die Treppe natürlich überflüssig, weil er sich aus eigener Willenskraft erheben und das Dach des Hauses ohne die langsame Methode des Hinaufsteigens erreichen kann. Daraus folgt aber nicht, dass die Treppe nutzlos ist; es folgt nicht, dass ein anderer das Dach des Hauses erreichen kann, wenn er sich weigert, die Treppe zu benutzen. Und zu viele Menschen heutzutage, die unfähig sind, sich aus eigener Kraft zu erheben, weigern sich, die Treppe zu benutzen und vergessen, dass die Treppe der niederen Formen so lange notwendig ist, als der Wille nicht so weit entwickelt ist, dass er sich aus eigener Kraft zu erheben vermag.

Und das veranlasst mich, etwas über den »wahren Sannyasin« zu sagen. Schon vor fünftausend Jahren wurde dieses Wort ohne Bezug zur Realität benutzt. Schon vor fünftausend Jahren, zu Beginn des Kali Yuga, sehen wir Shri Krishna einen Unterschied machen zwischen dem scheinbaren und dem wirklichen Sannyasin. Erinnert ihr euch, wie er sagte: »Der, der aus Pflicht handelt, ohne Rücksicht auf die Früchte seines Handelns, ist ein Sannyasin und ein Yogi; nicht der, der ohne Feuer ist und nichts tut«. Ihr kennt die Bedeutung dieses technischen Ausdrucks »der, der ohne Feuer ist«, das heißt, der, der nicht die Opferfeuer entzündet, der nicht die Riten und Zeremonien ausführt; denn vom Sannyasin werden sie nicht verlangt. Aber, so sagt Krishna, der ist nicht der wahre Sannyasin, der sich allein durch den Verzicht auf die Riten und Zeremonien und durch den Verzicht auf das Handeln in dieser Welt auszeichnet. Und wenn dies vor fünftausend Jahren eine Wahrheit war, dann ist es heute – leider – nur um so wahrer. Wenn es wahr war, als der große Avatar über die Ebenen Indiens wanderte, dann ist es heute noch viel wahrer, wo fünftausend Jahre der Finsternis hinter uns liegen. Wenn wir die ganze östliche Welt überblicken, wenn wir allein Indien mit seinen zahllosen Sannyasin betrachten, dann sehen wir Menschen, die aufgrund ihrer Bekleidung als Sannyasin zu erkennen sind, nicht aufgrund ihres Handelns, die aufgrund ihrer äußeren Erscheinung als solche zu erkennen sind, nicht aufgrund ihrer inneren Entsagung. Und wenn wir den Boden Indiens verlassen und, sagen wir, nach Ceylon, Burma, China oder Japan gehen, dann finden wir auch dort buddhistische Mönche, die Mönche sind, weil sie eine gelbe Robe tragen, nicht aufgrund ihres edlen Lebens, nach ihrer äußeren Erscheinung, nicht aufgrund einer inneren Wahrheit. Und auch wenn es immer noch wahr ist, dass man hier Religion einfacher leben kann, als in jedem anderen Land; auch wenn es immer noch wahr ist, dass die Traditionen Indiens seinen Boden heiligen und seine Atmosphäre spiritueller machen als die Atmosphäre jedes anderen Landes; auch wenn es Orte gibt, die aufgrund der Leben, die dort verbracht worden sind, so heilig sind, dass sogar der Geist eines weltlichen Menschen befriedet wird und seine Sehnsüchte geweckt werden, wenn er sich an diese Orte begibt; auch wenn all dies wahr ist, was man so über Indien sagt, und es deshalb immer noch geliebt und heilig ist, wahrlich! seine Kinder sind trotzdem seiner Möglichkeiten nicht würdig, und sie haben in vielerlei Hinsicht versagt. Wenn wir die Welt der Menschen überblicken, dann sehen wir keinen Ort, wo das spirituelle Leben so eine große Bedeutung hat, keine Nation, wo es so hoch angesehen ist. Das Herz möchte zerbrechen, das die Möglichkeiten kennt und das tatsächliche Leben damit vergleicht, das weiß, was sein könnte, und sieht, was wirklich ist, das die Wahrheit kennt und, leider! die Lüge sieht, welche die Wahrheit vorspiegelt. Und trotz alledem, das Herz keines Schülers muss zerbrechen, denn auf ewig leben die Meister und ihre Schüler wandern noch immer durch die Welt der Menschen; aber nunmehr zeigt sich ihre Schülerschaft nicht mehr in der Bekleidung, sondern in der Erkenntnis, der Reinheit und Demut, die noch immer das Tor der Initiation aufschließen.

 

[ii – der Mensch, der eine Hütte baut]

 

Und so schreiten wir zur zweiten Stufe vor, die Shri Shankaracharya als »Kutichaka«, »den Mann, der eine Hütte baut« bezeichnet und die Buddhisten als »Sakridagamin«, »den Menschen, der seine zweite Geburt erlebt«.

Auf dieser Stufe werden nicht bestimmte Fesseln abgeworfen, sondern bestimmte Fähigkeiten erlangt. Hier kommen die Siddhis ins Spiel. Nach der zweiten Initiation müssen die Siddhis entwickelt werden, weil der Schüler eine Stufe des Lebens erreicht hat, auf der er sehr weitreichende Dienste leisten muss, auf der er imstande sein muss, die Arbeit seines Meisters nicht nur in der Welt der physischen Menschen auszuführen, sondern auch in den anderen Welten, die sie umgeben und jenseits des physischen Planes liegen. Er muss imstande sein, nicht nur mit seinen Lippen zu sprechen, sondern auch vollbewusst von Geist zu Geist. Ich werde versuchen, euch morgen zu zeigen, was für Möglichkeiten des Dienstes es gibt, die sich auf die physische Welt auswirken, und die, wenn sie wirklich sorgfältig ausgeführt würden, was heute nicht der Fall ist, sogar die Entwicklung des physischen Lebens des Menschen erheblich verändern würden. Damit er aber seinen Teil dazu beitragen kann, damit er sich auf diese erhabenen Aufgaben vorbereiten kann, wenn alles Wissen offen vor seinen Augen liegt und die Natur keinen Schleier mehr besitzt, der diese Augen verdunkeln könnte, muss er auf dieser Stufe seine inneren Fähigkeiten entwickeln und eine nach der anderen die inneren Möglichkeiten des Menschen entfalten.

[Erweckung von Kundalini]

Auf dieser Stufe ist es notwendig, wenn es nicht schon zuvor geschehen ist, das innere Feuer zu erwecken, hier muss sich die Kundalinischlange erheben,um im physischen und astralischen Körper des Menschen tätig zu werden.

In manchen Büchern, zum Beispiel im »Ananda Lahiri« von Shri Shankaracharya, könnt ihr von der Erweckung dieses lebendigen Feuers lesen, von seiner Lenkung von Chakra zu Chakra; wenn es erwacht, verleiht es dem Menschen die Macht, den physischen Körper willkürlich zu verlassen, weil es, wenn es von Chakra zu Chakra aufsteigt, das Astralische vom Physischen loslöst und es freisetzt. Dann ist der Mensch imstande, ohne Unterbrechung des Bewusstseins, ohne irgendeine Bewusstseinslücke, welche die eine von der anderen Welt trennt, aus dem physischen Körper heraus in die unsichtbare Welt überzutreten und er ist imstande dort mit vollem Bewusstsein tätig zu sein und eine vollständige Erinnerung an die Arbeit, die er dort vollbracht hat, hierher zurück zu bringen. Auf der zweiten Stufe werden all diese Kräfte entwickelt, wenn sie nicht bereits früher ausgebildet wurden, und bevor sie nicht vollständig ausgebildet sind, bevor sie nicht völlig unter der Herrschaft des Schülers stehen, bevor nicht alle Schranken zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Welt beseitigt sind, kann er nicht weiterschreiten. Wenn aber diese Schranken durch die Entfaltung der inneren Sinne und Kräfte, durch die Erringung der Siddhis wegfallen, dann macht sich der Schüler bereit für den dritten großen Schritt, bereit, auf die nächst höhere Stufe des Seins aufzusteigen. Ihr werdet ohne weiteres verstehen, wie leicht Menschen Schaden erleiden können, die nicht reif sind, die versuchen diese Stufe auf künstlichem Weg zu erreichen, bevor sie sich spirituell entwickelt haben, bevor sie diese der Ordnung gemäß erreichen würden. In veröffentlichten Schriften gibt es manche Hinweise, besonders in den tantrischen Schriften, die von jenen gierig verschlungen werden, die nach solchen Kräften begehren und sich wenig um die moralischen und geistigen Fähigkeiten kümmern, die allein die richtige Anwendung dieser Kräfte sicherstellen. Vielen dieser Tantras liegen tiefere Wahrheiten zugrunde, die jene erkennen, die sie zu lesen verstehen, aber die äußeren Darstellungen sind häufig aufgrund ihrer Unvollständigkeit extrem irreführend für all jene, die die wahren Sachverhalte nicht kennen und die keinen Guru haben, der die Verhüllungen erklärt und die Lücken füllt. Und so kommen Menschen sehr häufig zu Ergebnissen – Menschen, die diese Praktiken ausüben, mit dem Ziel ihre psychische Entwicklung zu forcieren, bevor ihre geistige und moralische Entwicklung sie vor Abwegen zu schützen vermag – aber diese Resultate wirken sich zum Bösen und nicht zum Guten aus. Sie zerstören häufig ihre physische Gesundheit und verlieren ihr geistiges Gleichgewicht, sie schädigen ihre intellektuellen Fähigkeiten, weil sie die Früchte des Lebensbaumes pflücken wollen, bevor sie reif sind; weil sie mit unreinen Händen und Sinnen versuchen, in das Allerheiligste vorzudringen. In diesem Allerheiligsten aber ist die Atmosphäre so, dass nichts Unreines darin leben kann; seine Schwingungen sind so machtvoll, dass es alles in seine Einzelteile zersplittert, was einer niedrigeren Stufe angehört; es schüttelt alles ab, was unrein ist, alles was nicht fähig ist, sich selbst dieser erhabenen und erschütternden Bewegung anzugleichen.

 

[iii – Schwan]

 

Wenn nun aber der Schüler unter der Anleitung seines Gurus – und nichts anderes sollte jemals versucht werden – wenn er also unter der Anleitung seines Gurus diese Stufe vollständig durchlebt hat, dann folgt die dritte große Initiation, jene, die den Menschen zu dem macht, was Shri Shankaracharya als »Hamsa«, »Schwan« bezeichnet, was die buddhistische Literatur als »Anagamin«, als den Menschen bezeichnet, »der nicht mehr geboren wird«, außer aufgrund seines eigenen freien Willens.

Diese Stufe ist eine solche – was der Ausdruck Shri Shankaracharyas impliziert – auf welcher der Mensch die Einheit realisiert, auf der er erkennt, dass er eins mit dem Höchsten ist. Der Name kommt daher, dass er bereits mit seinem erweiterten Bewusstsein sich in jene Region des Universums erhoben hat, in der diese Identität realisiert ist, auf der er dieses »Ich bin Es« bereits erfahren hat. Durch die Vervollkommnung seiner psychischen Sinne und ihrer Verbindungen zum Physischen, ist er imstande, nicht nur die Region zu durchdringen, in der das Bewusstsein der Einheit erlebt wird, sondern er vermag die Erinnerung dieses Bewusstseins auch in seinen Wachzustand herüberzutragen und sie seinem physischen Gehirn einzuprägen.

Es ist überflüssig, zu erwähnen, dass nun auch die letzte Spur irdischer Wünsche hinwegfallen muss, falls solche überhaupt noch vorhanden sind. So dass auf dieser Stufe eine Fessel wegfällt, die als »Kamaraga«, »Wunsch« bezeichnet wird, so wenig auch in ihr von Irdischem noch enthalten sein mag; aber durch diese Realisierung der Einheit mit allem verliert alles, was der Erscheinung nach getrennt ist, seine Macht, in die Irre zu führen auf immer. Der Schüler hat sich weit, weit über die Begrenzungen des Getrenntseins erhoben, und so steht er nicht nur über dem, was wir hier als irdische Wünsche bezeichnen könnten, sondern auch über den sublimiertesten, spirituellsten Wünschen, die noch irgendetwas vom getrennten Selbst in sich tragen könnten; selbst spirituelle Wünsche fallen vom Menschen ab, der eine solche Höhe erreicht; er kann sich gedanklich nicht mehr von anderen unterscheiden, daher kann er auch keine spirituellen Wünsche für sich als abgesondertes Wesen entwickeln, für sich selbst, es sei denn als Teil des Ganzen. Alles, was er erreicht, erreicht er für alle; alles, was er gewinnt, gewinnt er für alle. Er befindet sich in einer Region des Universums, aus der Stärke in die Welt der Menschen herabfließt, und so wie er sie erlangt, gibt er sie weiter, er gießt sie aus, er teilt sie mit allen. So wird die Welt durch alle besser, die diese Stufe erreichen. Alles, was er gewinnt, ist für die Menschheit gewonnen, und alles, was in seine Hände gelangt, reicht er weiter an die Menschheit. Er ist eins mit Brahman, und daher eins mit jeder seiner Manifestationen; und er ist dies in seinem eigenen realen Bewusstsein und nicht nur in seiner Hoffnung oder seinem Streben.

Ein befremdliches Wort wird benutzt, um die andere Fessel zu benennen, die er auf dieser Stufe abwirft – das Paliwort lautet Patigha, übersetzen müssen wir es mit »Hass«, auch wenn dieses Wort in diesem Zusammenhang absurd erscheint. In Wahrheit bedeutet es das folgende: insoweit er mit allem eins geworden ist, fühlt er nicht länger die Unterschiede zwischen den Rassen und Familien, zwischen all den unterschiedlichen Objekten der Welt. Er kann nicht länger aufgrund äußerlicher Unterschiede lieben oder hassen. Er kann nicht länger lieben oder hassen, weil eine Person zu einer anderen Rasse gehört. Er kann nicht länger lieben oder hassen aufgrund der Unterschiede zwischen den Menschen und den Dingen, die sie umgeben. Ihr erinnert euch an jenes befremdliche Wort Shri Krishnas, wenn er über den Weisen spricht, der keinen Unterschied zwischen einem Brahmanen und einem Hund macht. Er hat die Einheit erreicht, er sieht Brahma in allem. Oder, um es anders auszudrücken: er sieht Shri Krishna in allem, und das äußere Gewand des Herrn macht vor seinem gereinigten Blick keinen Unterschied; daher ist er absolut frei von allem, was wir als »Hass« oder »Widerwillen« bezeichnen müssten. Nichts stößt ihn zurück, nichts zieht ihn herab. Er ist Liebe und Mitgefühl zu allen Dingen, zu allen Wesen. Er breitet eine alles umfassende Sphäre der Liebe um sich aus. Alles, was in seine Nähe kommt, alle die sich ihm nähern, fühlen den Einfluss seines göttlichen Mitgefühls. Und daher kommt es, dass in den Tagen, als die Brahmanen wirklich das waren, was ihr Name bedeutet, vom Brahmanen gesagt wurde, er sei »der Freund aller Dinge, der Freund aller Kreaturen«. Das Herz, das eins war mit dem Göttlichen, war weit genug, alles einzuschließen, das aus dem Göttlichen hervorgegangen ist.

 

[iv – der erhabenste Schwan]

 

Wenn er so die Unterschiedenheit hinter sich gelassen hat, tritt er in das letzte Stadium der Schülerschaft ein, Paramahamsa [den erhabensten Schwan], wie Shri Shankaracharya ihn nennt, oder »Arhat« wie er im Buddhismus heißt.

 

Auch hier wieder empfindet man die schreckliche Entleerung heiliger Namen, die wohlfeile und sorglose Verwendung der Bezeichnungen für derart erhabene Zustände, die so oft als bloße Schmeichelei benutzt werden, für eine äußere Erscheinung, statt für eine lebendige Realität. Die wahre Bedeutung dieses Namens ist, dass ein Mensch die vierte große Initiation durchlebt hat, und auf der Stufe steht, die dem Jivanmukti vorausgeht [der Freiheit vom verderblichen Kreislauf von Geburt und Tod]; er kann sich in seinem Wachbewusstsein in die Turiya-Region erheben und in dieser leben. Er muss den Körper nicht verlassen, um sie zu genießen. Er muss den Körper nicht verlassen, um sein Bewusstsein in diese Region zu erheben. Sein Bewusstsein umfasst sie, hat sich in diese Region erweitert, so dass es zur gleichen Zeit auch in seinem niederen Gehirn anwesend sein kann. Und dies ist eines der Zeichen, dass dieser Zustand erreicht ist. Es ist kein physisches Unbewusstes mehr erforderlich, damit dieser hohe Zustand erreicht werden kann; denn sein Bewusstsein hat sich in diese Region erweitert, und während er in der Welt der Menschen spricht und lebt, ist ihm das umfassende Wissen zugänglich und seiner bewussten Erfahrung jederzeit erreichbar. Auf dieser Stufe wirft er die letzten fünf »Fesseln« ab, auf dass er zum Jivanmukta wird [jemandem, der sich das Bewusstsein des höheren Selbstes sicher angeeignet hat und befreit ist, während er in einem menschlichen Körper lebt, der sich nicht mehr reinkarnieren muss].

Die erste dieser Fesseln ist »Ruparaga«, die Sehnsucht nach dem »Leben in den Formen« – kein Wunsch nach einem solchen Leben vermag ihn zu locken.

Dann wirft er »Aruparaga« ab, den Wunsch nach dem »Leben ohne Formen« – kein solcher Wunsch hat mehr die Kraft, ihn zu binden.

Darauf wirft er »Mana« ab, und erneut müssen wir ein Wort verwenden, das kaum geeignet ist, die eigentliche Bedeutung zum Ausdruck zu bringen, die subtile Form des »Stolzes«, die er ablegt; keinen Augenblick denkt er an die Größe der eigenen Errungenschaft, an die erhabene Höhe, auf der er steht, denn er kennt weder Höhe noch Tiefe, weder die erhabene Höhe, noch die abgründigen Tiefen. Er sieht und fühlt alles als eins.

Als nächstes wirft er die Möglichkeit ab, durch irgend etwas aus seinem Zustand der Ruhe gebracht zu werden. Was auch immer geschieht, nichts wird ihn erschüttern. Die Sphären mögen zusammenstoßen, er bleibt unbewegt. Nichts, was in der sichtbaren Welt geschehen kann, vermag die erhabene Heiterkeit des Menschen zu erschüttern, der sich so zur Realisation des Selbstes, das alles ist, erhoben hat. Was rührt ihn eine Katastrophe – es ist nur die Form, die zerstört wird. Was rührt ihn der Untergang einer Welt – es ist nur die Erscheinung, die sich wandelt. Das Ewige, Todlose, das Alte und Bleibende, in ihm lebt er, und es gibt nichts, das seine Ruhe stören könnte, es gibt nichts, das die Vollkommenheit seines Friedens beeinträchtigen könnte.

Und dann fällt von seinen Gliedern die letzte aller Fesseln ab – »Avidya« [Nichtwissen] – das, was die Illusion erzeugt; der letzte dünne Film, der ihn von der vollkommenen Erkenntnis und der vollkommenen Freiheit trennt.

Er muss nicht mehr geboren werden, aber er kann sich zu einer weiteren Geburt entschließen; kein Verlangen vermag ihn zur Erde zurückzubringen, aber er kann sich aus eigenem Entschluss wieder inkarnieren. Er trägt das Wissen aller planetarischen Sphären in sich. Er erkennt alles, was diese Manifestation ihn lehren kann; keine einzige Lektion blieb ungelernt, kein einziges Geheimnis verborgen, kein Winkel, den sein Auge nicht erreicht, keine einzige Möglichkeit, die er nicht ausschöpfen könnte.

Am Ende dieser Stufe sind alle Lektionen gelernt. Alle Fähigkeiten angeeignet. Er ist allwissend, allmächtig, innerhalb dieser Planetenkette. Er hat die Evolution der Menschheit durchlaufen; er hat den letzten Schritt gemacht, den die Menschheit machen wird, wenn das große Manvantara zu Ende geht und die Arbeit des Universums abgeschlossen ist. Nichts ist ihm verschleiert, nichts, das er nicht in sich fände, sein Bewusstsein hat alles in sich aufgenommen.

Er kann, wenn er will, ins Nirwana eintreten; und dort, dort ist Einheit, dort, dort ist Allbewusstsein, dort, dort ist die Fülle des Lebens.

Er hat das Ziel der Menschheit erreicht; nur ein letztes Tor steht vor ihm, und es öffnet sich beim Klang seiner Schritte. Tritt er durch dieses Tor, wird er nach dem Hindusprachgebrauch zum Jivanmukta, zum Asekha-Adepten, oder nach dem buddhistischen Sprachgebrauch zu dem, der nichts mehr lernen kann. Alle ist erkannt, alles vollbracht.

 

[Zwei unterschiedliche Pfade – der Pfad der Großen Entsagung]

 

Vor ihm liegen zwei unterschiedliche Pfade, beide kann er wählen; vor ihm liegen unbegrenzte Möglichkeiten, von denen er jede mit seiner Hand ergreifen kann. Jenseits der Grenzen unserer Planetenkette, jenseits der Grenzen unseres Kosmos, in Regionen weit jenseits unserer dunkelsten Ahnungen liegen die Pfade offen da, die der Jivanmukta zu wandeln vermag.

Einer dieser Pfade, der schwierigste, der härteste von allen, aber auch der schnellste, ist der Pfad der Großen Entsagung.

Wenn er diesen wählt, die Welt der Menschen frei überblickend, dann versagt sich der Jivanmukta, diese Welt zu verlassen, er sagt, er will in dieser Welt bleiben und sich wieder mit einem Körper bekleiden, immer und immer wieder, um die Menschen zu lehren und ihnen zu helfen. Einmal mehr spricht Shri Shankaracharya von »denen, die warten und walten«, bis das Werk vollendet ist. Ihre eigene Aufgabe ist vollbracht, aber sie haben sich mit der Menschheit identifiziert, und bevor die Evolution der Menschheit vollendet ist, werden sie die ringenden Menschen nicht verlassen.

Sie sind frei, verbleiben aber in einer freiwilligen Fesselung; sie sind befreit, aber in einer Befreiung, die nicht vollendet ist, bevor nicht andere ebenso befreit sind. Sie sind die großen Meister des Mitgefühls, die in Reichweite der Menschen leben, damit die Menschheit kein Waisenkind ohne Vater ist, damit die Schüler nicht einen Lehrer suchen und keinen finden können. Sie sind jene, denen gegenüber manche von uns eine solch grenzenlose Dankbarkeit empfinden, weil sie in der Erdensphäre verbleiben, obwohl sie in einem nirwanischen Bewusstsein jenseits ihrer leben, damit eine Verbindung zwischen den höheren Welten und den Menschen bestehen bleibt, die immer noch nicht befreit sind, für die der Körper noch immer ein Gefängnis ist, in denen das Leben noch nicht die Freiheit erlangt hat.

Alle sind glorreich, die diese erhabene Ebene erreicht haben, alle sind göttlich, dort stehen, wo sie stehen. Aber vielleicht darf man ohne Respektlosigkeit sagen, dass diejenigen dem Herzen der Menschheit am teuersten sind, dass jene ihr aufgrund leidenschaftlicher Dankbarkeit am nächsten stehen, welche die Freiheit hatten, zu gehen, aber bei uns geblieben sind, die uns als Waisen hätten zurücklassen können, aber als Väter unter uns geblieben sind.

So sind auch die großen Gurus, zu deren Füßen wir uns niederbeugen; so die großen Meister, die hinter der Theosophischen Gesellschaft stehen. Sie sandten ihre Botschafterin, H.P. Blavatsky, um der Welt jene Botschaft zu verkünden, die sie schon nahezu vergessen hatte, um erneut auf jenen schmalen und uralten Pfad hinzuweisen, auf dem schon einige entlang gehen, auf dem auch ihr entlang gehen möget.


4. Der zukünftige Fortschritt der Menschheit.

Die Methoden der künftigen Wissenschaft. Die künftige Entwicklung des Menschen.

Brüder, – die Aufgabe, die heute vor uns liegt, ist keineswegs leicht. Bisher habe ich euch den Fortschritt des Einzelnen geschildert. Ich habe versucht, euch zu zeigen, wie ein Mensch, wenn er entschlossen ist, seine Zukunft selbst zu bestimmen, sich Schritt für Schritt aus dem weltlichen Leben zum Leben des Schülers erheben kann, wie er den Fortschritt der Menschheit vorwegnehmen kann und in ein paar kurzen Jahren das vollbringt, wozu die Menschheit ungezählte Jahrtausende brauchen wird.

Aber heute liegt eine andere Aufgabe vor uns. Ich möchte die Entwicklung durch die Zeitalter mit Euch verfolgen und versuchen – selbstverständlich nur sehr kurz –, euch die großen Stufen des menschlichen Fortschritts darzulegen, indem ich die Menschheit als Ganzes betrachte. Wir werden aus der Vogelperspektive einen Blick auf die Entwicklung werfen und nicht nur die Vergangenheit erkennen, aus der wir stammen, sondern auch die Zukunft, auf die wir zueilen.

Es ist der Fortschritt der Völker, mit dem ich mich befassen will und die Entfaltung der Menschheit. Mir kommt es so vor, als ob ich von euch verlangen würde, mit mir den Rücken des mächtigen Vogels Garuda, von Vishnus Reittier, zu besteigen, und im Flug ungezählte Zeitalter zu durcheilen, um auf die Landschaften herabzuschauen, über welche wir dahin fliegen. Mir scheint, als ob ihr und ich bei diesem Ausflug fast den Atem verlieren könnten. Für mich ist es in einer Hinsicht leichter als für euch, denn durch das häufigere Verweilen bei diesen Gedanken sind sie mir vertrauter geworden, während für viele von euch der Boden fremd sein mag und die theosophische Anschauung der Entwicklung durch die Zeitalter im Einzelnen neu. Ich werde natürlich gezwungen sein, ohne Erläuterungen schnell von einem Punkt zum andern zu eilen und werde euch daher über viele Schwierigkeiten vielleicht eher durch die Schnelligkeit des Flugs, als durch eine vollständige und ins Einzelne gehende Erläuterung des Ganzen hinweghelfen. Aber eins lasst mich euch sagen: Ich mag mich in manchen Einzelheiten oder hinsichtlich einiger kleinerer Punkte des unermesslichen Bildes irren, aber der Umriss des Ganzen ist richtig. Was ich vorbringe, ist nicht meine persönliche Erfindung, sondern stammt aus einer andern Quelle. Und mag auch die Schwäche des Darstellers im Einzelnen zu Irrtümern führen, so dürft ihr doch darauf vertrauen, dass die Grundzüge des Bildes zutreffen.

In der Vision der großen Einen, die von Anfang an seine Lehrer, Regenten und Führer waren, ist der Mensch nicht das, als was er heute erscheint. Denn jetzt ist er weder alles, was er sein sollte, noch das, was er wirklich werden wird. Ich will damit nicht sagen, dass sein Fortschritt im Ganzen unbefriedigend gewesen wäre. Das ist nicht der Fall. Die Entwicklungsstufe, die er unter Schwierigkeiten, Zweifeln und vielen Leiden erreicht hat, ist – vom höchsten Standpunkt aus betrachtet – ziemlich befriedigend, angesichts der kurzen Zeit, die hinter uns liegt; kurz nach göttlichem Maß, lang allerdings nach menschlichem Maß. Gewiss ist der Mensch heute keineswegs so, wie er dem Geiste derer vorschwebte, die seine Pilgerfahrt umrissen haben, die ihm den ersten Anstoß zu seiner Entwicklung gaben. Er ist gesunken und hat den tiefsten Punkt überschritten. Ein mächtiger Aufstieg liegt vor ihm, an dessen Ende die Menschheit vollendet und glorreich sein wird, allerdings auch sehr verschieden von dem, was sie heute ist –so nämlich, wie sie im göttlichen Denken immer schon war.

Ihr dürft nie vergessen, dass das Universum aus sieben großen, unterschiedlichen Regionen besteht, die aus dem göttlichen Geist entstanden sind – von innen nach außen oder von oben nach unten, das mögt ihr sehen, wie ihr wollt –, dass es ein mächtiges Universum mit sieben Ebenen oder Regionen ist. Jede Ebene besteht aus unterschiedlicher Stofflichkeit, obwohl die Essenz aller die gleiche ist: Paramatma nämlich, von dem Alles ausgeht. Als der aus dem göttlichen Willen ausströmende Gedanke im sichtbaren Universum Gestalt annahm und Ebene nach Ebene geformt wurde, manifestierte sich eine jede in unterschiedlich dichtem Material, hüllte eine jede die ursprüngliche Energie in eine unterschiedliche Zahl von Schleiern. Und zwar so, dass ihr euch diesen großen Kosmos mit dem Logos, der ihn gebar, als ein mächtiges Sonnensystem denken könnt. Die Sonne stellt den Logos dar und die Himmelskörper, die sie nach außen hin umgeben, je eine Ebene des Universums. Der Sonne am nächsten stehen jene, deren Stoff am subtilsten und deren Energie am wenigsten gefesselt ist; je weiter entfernt, um so dichter wird der Stoff, um so gefesselter die Energie.

Dann müsste ihr euch vergegenwärtigen, dass jede dieser Ebenen ihre eigenen Bewohner hat und dass der Gang der Entwicklung vom Zentrum nach außen und wieder zurück zum Mittelpunkt verläuft. Indem der große Atem sich nach außen ergießt und der Stoff entsteht, der immer dichter und dichter wird, gelangt er an einen Punkt, an dem der Stoff am dichtesten ist und die Energie am schwächsten, wo die Form am starrsten und das Leben am meisten verborgen ist. Wenn aber der Atem zurückströmt und die schöpferische Tätigkeit sich zu ihrem Mittelpunkt zurückwendet, dann wird der Stoff immer subtiler, und das Leben immer mehr enthüllt, bis schließlich der große Atem alle Erfahrungen, die er im sichtbaren Kosmos sammeln konnte, in sich aufgenommen hat. Die Menschheit, die der Gegenstand und das Ziel dieses evolutionären Prozesses war, wird göttlich geworden sein und reif für noch gewaltigere Stufen des Fortschritts.

Verfolgen wir diesen großen Zug nach außen, so erkennen wir, dass die Bewohner der einzelnen Ebenen, wenn sie in die dichtere Stofflichkeit übergehen, einen Prozess der Individualisierung durchlaufen. Wenn wir die Bewohner der Ebenen, die hinter uns liegen, betrachten, sehen wir, wie die Essenz des Elementarreichs immer bestimmtere Formen annimmt. Da ihre Entwicklung auf dem absteigenden Bogen liegt, sondern sie sich immer mehr ab und nehmen immer dichtere Formen an. Es handelt sich um einen absteigenden Prozess, der in die stoffliche Welt hineinführt, während die jetzige Entwicklung der Menschheit sich auf dem aufsteigenden Bogen bewegt, die, indem sie zur Einheit und zum unverschleierten Leben aufsteigt, immer subtilere Formen annimmt.

In groben Umrissen könnt ihr euch auf diese Weise eine Vorstellung des Kosmos als eines Ganzen machen und ihr werdet verstehen, dass wir es in den Ebenen, die weniger dicht als die physische sind, nicht nur mit der evolvierenden und aufsteigenden Menschheit, sondern auch mit der involvierenden und absteigenden Essenz der Elementarwelt zu tun haben.

In Mineralreich ist der Wendepunkt, denn dort wird die dichteste Stufe erreicht. In der aufsteigenden Entwicklung nehmen das Mineral- und Pflanzenreich unserer physischen Welt die physische Ebene ein und reichen mit ihrem Bewusstsein nicht über sie hinaus. Das Tierreich steigt eine Stufe höher, denn das Tier muss sowohl auf der sogenannten astralen, wie auf der physischen Ebene leben. Nach den Absichten seiner Gestalter sollte der Mensch im Verlauf seiner Evolution fünf von sieben Ebenen erobern und besetzen [conquer and occupy!]. Er sollte auf der physischen und astralen Ebene tätig sein und herrschen; ebenso auf der mentalen Ebene, die über der astralen liegt und das Svarga des Hindu, das Devachan der Theosophen in sich schließt. Wir sollten einen anderen Ausdruck verwenden, der den gesamten Umfang dieses Bewusstseins besser zum Ausdruck bringt, den Ausdruck »Sushupti« nämlich. Dabei handelt es sich um einen Bewusstseinszustand, den zur Zeit auf der Erde nur außerordentlich erfahrene und entwickelte Menschen kennen, den aber im Lauf der Entwicklung die Mehrzahl der Menschen erreichen wird. Über diesem finden wir die vierte oder Turiya-Ebene, die des Buddhi und wiederum über dieser die Ebene von Nirwana oder Turiyatita.

Auf diese Weise bekommen wir fünf unterschiedliche Ebenen des Universums, welche die Menschheit im Lauf der Entwicklung erobern soll, – die physische, astrale, sushuptische (mentale), turiysche (buddhische) und nirwanische. Dies sind die Stufen, die der Mensch durch die Erweiterung seines Bewusstseins erklimmen muss, wenn er auf der Pilgerfahrt, die vor ihm liegt, zum Ziel gelangen will. Der Einzelne mag diese Stufen durch Yoga schneller erreichen, aber die Mehrzahl der Menschen wird diese Entwicklung nur im Lauf der Weltzeitalter vollenden. Nicht die gesamte Menschheit, aber die Mehrzahl wird, ehe dieses Manvantara vorüber ist, all diese Ebenen des erweiterten Bewusstseins errungen haben und auf allen fünf tätig sein. Der Mensch wird sich dann Werkzeuge geschaffen haben, in welchen das Bewusstsein auf jeder Ebene wirken kann.

Wenn wir die Menschen der Gegenwart betrachten, erkennen wir, dass die Möglichkeit in ihnen schlummert, dieses fünffältige Leben und die fünffältigen Werkzeuge zu entwickeln, die diese verschiedenen Ebenen in Besitz nehmen sollen und die den Menschen, wie es seine Bestimmung ist, zum Herrn und Meister über das sichtbare Weltall machen.

Zwei Ebenen liegen noch darüber hinaus; sie werden von der Mehrheit der Menschen in dieser Evolution gar nicht berührt, für uns sind es bloße Namen, die keine bestimmte Vorstellung in uns erwecken, so hoch erheben sich diese Sphären über unser kühnstes Denken. Sie werden Paranirwana und die – noch höhere – Mahaparinirwana genannt. Worum es sich bei diesen Zuständen handelt, davon können wir nicht einmal träumen. Dies sind die sieben Stufen des Kosmos. Die Mehrheit der Menschen soll fünf davon erobern und in Besitz nehmen; einige werden die noch höheren erreichen, aber für die Masse der Menschen liegt die Entwicklung innerhalb des fünffältigen Weltalls.

Dies mag euch vielleicht ein Fingerzeig sein – um es weiter auszuführen fehlt mir in diesem Vortrag die Zeit – was der Streitfrage über die „Fünf“ und die „Sieben“ in der Natur zu Grunde liegt. Es ist viel darüber gestritten worden, besonders zwischen einigen Theosophen und einigen unserer Brahmanen-Brüder. Die Brahmanen verteidigten die fünffältige Klassifikation, während die Theosophen auf der siebenfältigen Klassifikation bestanden. In Wirklichkeit ist die siebenfältige Klassifikation die richtige, wie ihr es auch in den heiligen Büchern finden werdet: das siebenfältige Feuer, das sich selbst teilt und auf das ab und zu in den Upanischaden hingewiesen wird. Aber die jetzige Entwicklung ist nur fünffältig, und diese wird durch die fünf in der Hindu-Literatur bekannten Pranas symbolisiert. Ich erwähne das nur beiläufig, weil so viele Streitigkeiten nicht entstehen müssten, wenn die Menschen sich etwas besser verstehen würden, als es der Fall ist, wenn sie, anstatt sich über bloße Erscheinungen zu streiten, unter die Oberfläche blicken würden; sie würden dann meistens einen Einigungspunkt finden. Wie gesagt, ich habe keine Zeit, länger dabei zu verweilen, aber hier liegt der Schlüssel zu dem Rätsel von den Fünf und den Sieben. Die Menschheit als Ganzes entwickelt fünf Werkzeuge für die fünffältige Evolution, während einige, die die Blüte der Menschheit bilden, noch zwei weitere Stufen erreichen.

Wenn wir die Entwicklung der Menschheit untersuchen, finden wir die erste und zweite Rasse mit der Entwicklung der Form und der niederen oder tierischen Natur beschäftigt, d.h. sie entwickelten den physischen Körper mit dem ätherischen Doppelgänger (der in theosophischen Büchern als Linga Sharira bezeichnet wird) und die kamische oder leidenschaftliche Natur, die ihr beim Tier wie auch beim Menschen findet. Der dritten Menschenrasse wurde eine besondere Hilfe zuteil, als sie die Hälfte ihres Entwickelungsweges erreicht hatte. Das heißt nicht, dass sich die Menschheit im Lauf der Zeiten nicht auch ohne besondere Hilfe hätte entwickeln können, aber diese Hilfe beschleunigte den Prozess ungemein, und ihre Entwicklung verlief bei weitem schneller als es sonst der Fall gewesen wäre. Die großen Kumaras, die auch als Manasaputras (Söhne des Manas) bezeichnet werden, diese Erstlingsfrüchte einer vergangenen Entwicklung kamen zur Menschheit, um ihr Wachstum zu fördern, ihre Entwicklung zu beschleunigen. Indem sie einen Funken ihrer eigenen Essenz aussandten, gaben sie jenen Anstoß von dem wir gelesen haben, durch den Manas oder die individuelle Seele im Menschen geboren wurde.

Das Ergebnis dieser Hilfe war, wie gesagt, eine große Beschleunigung der menschlichen Entwicklung. Danach wurde das Werkzeug geformt, das als Karana Sharira oder Kausalkörper bekannt ist. Es ist der »Körper des Manas« der durch das ganze Leben der sich reinkarnierenden Seele fortbesteht. Er bleibt von Leben zu Leben und trägt das Resultat eines jeden Leben mit in das nächste hinüber. Daher wird er als Kausalkörper bezeichnet, weil in ihm die Ursachen liegen, die sich auf den niederen Ebenen des irdischen Lebens zu Wirkungen ausgestalten.

Von diesem Zeitpunkt ab ist der Plan der menschlichen Entwicklung folgender: Im Kausalkörper war nun ein Träger entstanden, in dem alles aufgespeichert und gesammelt werden konnte, ein Behälter, ein Vorratshaus der Erfahrungen. Indem er in das irdische Leben tritt und in der Art, wie ich es euch früher beschrieben habe, einen Teil von sich aussendet, bringt er sein irdisches Leben damit zu, Erfahrungen zu sammeln, gewisse Tatsachen in der physischen Welt kennen zu lernen und sich bestimmte Kenntnisse anzueignen, die wir insgesamt als Lebenserfahrungen bezeichnen. Wenn der Mensch durch die Pforte des Todes tritt, muss er diese Erfahrungen, die er gesammelt hat, in sich verarbeiten. Er führt nun ein Leben außerhalb des Körpers. In der physischen Welt ist er nicht mehr sichtbar, sondern weilt auf der Astral- und Devachanebene, die jenseits der physischen Welt liegen. Dort arbeitet er gewisse Wirkungen aus und macht sich die Erfahrungen, die er auf der Erde gesammelt hat, zu eigen, indem er sie in sein Wesen aufnimmt.

Jedes Leben bringt ihm bestimmte Früchte und diese werden dort zu Fähigkeiten und Kräften ausgearbeitet. Hat ein Mensch z. B. in seinem physischen Leben viel Kraft im Denken angewandt und große Anstrengungen auf sich genommen, sein Begriffsvermögen zu schärfen, um Wissen zu erlangen und seinen Verstand zu entwickeln, dann beschäftigt er sich in dem Zeitraum zwischen dem Tod und der Wiedergeburt damit, all diese Anstrengungen in geistige Fähigkeiten umzuwandeln, mit denen er bei seiner nächsten Geburt auf diese Welt zurückkehrt. Ebenso verhält es mit all seinem höheren Streben, seinen spirituellen Hoffnungen, seiner spirituellen Sehnsucht: all das verleibt er seinem Wesen während der Zeit ein, die zwischen seinem Tod und seiner nächsten Geburt vergeht. Wenn er wieder auf die Erde zurückkehrt, wird er unter solchen Verhältnissen geboren, die sein Wachstum erleichtern, und er bringt die entwickelten geistigen Fähigkeiten mit, die er zum weiteren Fortschritt während seines nächsten Erdenlebens benützen kann.

Ihr seht, wie vollkommen gesetzmäßig die Stufen des Wachstums in dem Körper sind, der von Leben zu Leben fortdauert. Der Karana Sharira projiziert einen Teil von sich selbst in die niederen Ebenen und erntet dort Erfahrungen. Dann zieht er diesen Teil mit den gesammelten Erfahrungen wieder an sich heran und lässt ihn auf den niederen Ebenen des Devachan verweilen, wo er diese Erfahrungen assimiliert und sie zu Fähigkeiten, Eigenschaften und Kräften ausbildet. Dann zieht er dieses Vehikel, welches das Bewusstsein enthält, ganz in sich hinein, und dann erfolgt eine erneute Aussendung dieses nun höher entwickelten Lebens, das auf den niederen Ebenen die Kräfte zeigt, die es auf diese Weise errungen hat. So sollte es einen stetigen und kontinuierlichen Fortschritt geben, Leben auf Leben, wobei der Karana Sharira den Behälter aller Erfahrungen darstellt, den dauernden Menschen, in den diese ganze Erfahrungen hineingearbeitet werden.

Ist euch dies klar geworden, dann werdet ihr auch verstehen, was unter der »Pilgerfahrt der Seele« zu verstehen ist. In jedem neuen Leben müsste der Mensch einen Zuwachs an Verständnis, sittlicher Kraft und spirituellen Fähigkeiten erreichen. Das ist der Plan der Entwicklung. Er wird nur sehr unvollkommen ausgeführt und daher die ungeheure Länge der Pilgerfahrt. Viele Umwege, Abschweifungen, Irrfahrten werden gemacht, häufig lockende Seitenpfade eingeschlagen, anstatt die Straße zu verfolgen, die gerade aufwärts führt. Daher ist die Menschheit so lange auf der Wanderschaft und braucht so ungezählte Jahrtausende, um ihre Entwicklung zu vollenden. Dessen ungeachtet wird sie vollendet, denn so hat es der göttliche Wille beschlossen, und dieser kann nicht vereitelt werden, wie sehr auch seine Verwirklichung verzögert werden mag.

Die Entwicklung setzte sich in der zweiten Hälfte der dritten Rasse bis zur vierten fort. In dieser vierten Rasse entstand jene mächtige atlantische Zivilisation, die ihren Höhepunkt in der großen Zweigrasse [»sub-race«] der Tolteken erreichte, von der ihr sogar durch die Wissenschaft des Westens Einiges erfahren könnt. Diese Zivilisation leistete Wunderbares, aber eine Schwierigkeit war vorhanden: Der Mensch stand noch sehr tief auf der aufsteigenden Bahn und war noch stark in die Materie verstrickt. Seine geistigen Fähigkeiten waren zum großen Teil psychischer Natur, und es war nötig, sie eine Zeit lang zu verhüllen, um die intellektuelle Kraft zu entwickeln und der Menschheit eine höhere Entwicklung in der Zukunft zu ermöglichen. Daher trieb das große kosmische Gesetz, dem nichts widerstehen kann, die Rasse in eine große, aber sehr materielle Zivilisation hinein. Dieses Verschwinden der psychischen Kräfte wurde bis zu einem gewissen Grade willentlich durch die höheren, regierenden Klassen im toltekischen Reich von Atlantis beschleunigt. Sie versuchten den Gebrauch der psychischen Fähigkeiten in den niederen Klassen der Bevölkerung (niederer in der Entwicklung und daher auf der sozialen Stufenreihe) zu verringern und abzustumpfen, um ihre eigenen selbstsüchtigen Zwecke zu fördern. Um sie besser als Werkzeuge ihrer eigenen Zwecke benutzen zu können, gebrauchten sie bewusst ihr okkultes Wissen, um ihre psychischen Fähigkeiten zu lähmen.

So wurden die Fähigkeiten künstlich abgestumpft, wodurch das Wirken des großen kosmischen Gesetzes noch beschleunigt wurde, und das gibt mir Gelegenheit, euch auf etwas aufmerksam zu machen, über das es sich in Ruhe nachzudenken lohnt. Es ist die Tatsache, dass kein Mensch dem großen Zug des kosmischen Gesetzes widerstehen kann.

Kein Mensch kann den mächtigen Gang der göttlichen Entwicklung aufhalten; aber er kann mit ihr oder gegen sie arbeiten. Er kann zum Guten oder zum Bösen wirken. Erfüllt von der Weisheit und Größe des Entwicklungsganges, kann er aus Pflichtgefühl und voll Ergebung in den göttlichen Willen diesen fördern helfen. Oder aber, er kann einige dieser Naturkräfte zu seinem eigenen, persönlichen Vorteil sich untertan zu machen versuchen und sie zu seiner persönlichen, vergänglichen und eigennützigen Befriedigung ausnützen, anstatt zur Ausführung der göttlichen Absichten.

Wo der Mensch zu eigennützigen Zwecken diese großen Kräfte des Kosmos benutzt, bereitet er sich selbst schlechtes Karma, obgleich die Richtung des großen Karma der Menschheit davon unberührt bleibt. So kann der Einzelne sich seine eigene Zukunft verderben. Während er innerhalb des großen Stroms des kosmischen Gesetzes dahintreibt, kann er für sich selbst in dem engen Zirkel seiner eigenen, individuellen Entwicklung Elend schaffen. Wenn er das kosmische Gesetz selbstsüchtig ausnützt, wird er Selbstsucht ernten: auf diese Weise werden innerhalb des großen Gesetzes sowohl glückliches als auch unglückliches Karma geschaffen.

Ich sage euch dies, damit ihr darüber weiter nachdenken könnt, vielleicht löst es einige der Rätsel, vor welchen die Menschen oft stehen. Zum Beispiel, wie das Kama ein göttliches Gesetz sein kann, durch das der Mensch wie durch ein ihm auferlegtes Schicksal vorwärts getrieben wird, während er doch gleichzeitig weiß, dass sein Wille relativ frei ist. Er kann zwar seinen eigenen Weg wählen, aber nur innerhalb dieser mächtigen Bewegung.

Wie gesagt, in dieser vergangenen Zivilisation benutzte der Mensch dieses große Gesetz des Kosmos zu seinen eigenen, selbstsüchtigen Zwecken und das Endresultat war die Zerstörung von Atlantis. Diese ganze Zivilisation wurde fortgeschwemmt, nur einzelne Bruchteile blieben hier und dort in der Welt zurück, besonders in Südamerika in der Zivilisation von Peru. Dort fand man einzelne schwache Spuren ihrer Pracht; so wunderbar schön waren diese sogar noch in ihrem Verfall, dass, als Peru von den Spaniern erobert wurde, diese staunend vor den glücklichen Zuständen des öffentlichen Gemeinwesens, vor der Lieblichkeit, Sanftmut und Reinheit der Menschen, die dort lebten, standen, vor der Weisheit ihrer Regierung und dem Gedeihen der Nation als Ganzes. Diese Kultur, die von den Spaniern zerstört wurde, die ihre zuvorkommenden Gastgeber mit Füßen traten, war der letzte, schwache Schimmer jener Zivilisation, von der ich sprach, die auf Ihrem Zenith so großartig war, so tief stürzte und durch die Katastrophe vernichtet wurde, als die Fluten des atlantischen Ozeans sich über die einst lieblichen Lande wälzten.

Rasch weiterschreitend, kommen wir dann zu der Entwicklung unserer eigenen Rasse. Um die weitere Evolution verfolgen zu können, müsst ihr euch daran erinnern, dass der Logos unseres Systems sich in dreifacher Weise offenbart. Ihr wisst, dass in jeder großen Religion der offenbar gewordene Gott als Trimurti oder Dreieinigkeit dargestellt wird. Ihr wisst auch, wenigstens diejenigen, die philosophisch veranlagt sind und tiefer nachdenken, dass die drei nur die dreifache Offenbarung des Einen sind, die drei Aspekte des einen, nicht offenbar gewordenen Seins, das nur soweit erkannt werden kann, als es im Universum offenbar ist. Und Ihr wisst ferner, dass in dem dreifachen Logos der Aspekt der Macht, der Weisheit und der Liebe unterschieden werden kann.

Nun tragen alle menschlichen Tätigkeiten den Stempel dieses dreifachen Logos. Sie können alle unter die eine oder die andere dieser Kategorien klassifiziert werden: unter die Kategorie der Macht, der Weisheit oder der Liebe. Unter diese drei gruppieren sich alle Menschenrassen, lassen sich alle Tätigkeiten der Völker und der Einzelnen einordnen. Ich benütze diese Einteilung, weil bei einem so schwierigen Thema, wie dem meinigen heute, diese Anordnung uns sozusagen eine Anzahl kleiner Fächer bereitstellt, in welche wir die verschiedenen Teile des Themas einordnen können, zum späteren Gebrauch und um weiter darüber nachzudenken. Vergesst nie, dass die drei eins sind, dass sie sich gegenseitig durchdringen. Lasst die Tatsache nicht aus den Augen, dass dies Einteilungen von Erscheinungen sind, und nicht des Wesens selbst. Aber insofern, als wir in der Erscheinungswelt leben und die Trennung dieser Erscheinungswelt angehört, können wir sie ruhig akzeptieren, ohne irregeführt zu werden, wenn wir die fundamentale Einheit dabei festhalten, von der alles ausgeht.

Gehen wir also von dieser dreifachen Einteilung aus und unterteilen sie noch etwas weiter. Unter die Liebe werden natürlich die geistigen Tätigkeiten fallen, die auf der einen Seite die Religion, auf der andern die Philanthropie betreffen. Beide Worte sind im weitesten Sinn zu nehmen: Unter Religion verstehen wir den Dienst an jenen, die über uns sind, unter Philanthropie den Dienst an jenen, die uns gleich sind oder unter uns stehen. Wir schließen in diese eine Kategorie der Liebe die ganzen menschlichen Tätigkeiten ein, die jenen, die in der Entwicklung über uns stehen, ihre Dienste weihen, ihnen Ehrfurcht zeigen und die jenen um und unter uns Hilfe, Mitleid und Beistand gewähren. Unterscheiden wir Götter und Menschen, so fällt der Religion die Tätigkeit zu, den Göttern direkt zu dienen – was das bedeutet, werdet ihr gleich sehen –, während unter Philanthropie der Dienst zu verstehen ist, den wir Menschen leisten, die wir zunächst auf dieser physischen Ebene um uns sehen.

Unter die Kategorie der Weisheit fallen all die Tätigkeiten des menschlichen Manas, des höheren sowohl als des niederen, die wir weiter in Wissenschaft, Philosophie und Kunst einteilen können. Wir haben es mit drei Feldern der mentalen Tätigkeit zu tun, die unter die Kategorie Weisheit fallen; nicht als ob Wissen selbst Weisheit wäre, aber es ist das Material, aus dem durch geistige Alchemie Weisheit entwickelt wird, denn spirituell umgewandeltes Wissen wird zur Weisheit. So stellen wir all diese Tätigkeiten des Wissens als ein Ganzes unter die Kategorie der Weisheit.

In die Kategorie der Macht fallen dann alle menschlichen Tätigkeiten, die die Herrschaft über Menschen betreffen, das Ausüben der administrativen und exekutiven Funktionen, das Bilden der Nationen, das Organisieren der Gemeinden, kurz, alle Dinge, bei denen Macht ausgeübt wird. Auch die schöpferischen Fähigkeiten im Menschen, die ihm durch sein Geburtsrecht als Abkömmling des Göttlichen eigen sind, fallen unter diese Kategorie. Die schöpferischen Fähigkeiten, die so Wenige verstehen, so Wenige mit Wissen ausüben, und doch sind sie großartige Mittel zur Hebung der Menschheit, große Kräfte für den menschlichen Fortschritt. Alle Anstrengungen der göttlichen Lehrer in der Vergangenheit und Gegenwart laufen darauf hinaus, dieses große Feld der Tätigkeit der Pflege der menschlichen Intelligenz zu unterstellen, darauf, dass die Menschen dies Feld richtig beackern und dadurch ihre Entwicklung sichern. Alle ihre Anstrengungen gehen dahin, diese Tätigkeiten der Weisheit oder Macht auf die rechte Bahn zu lenken, sie auf den rechten Weg zur allgemeinen Entwicklung der Menschheit zu führen.

Zu diesem Zweck ist jede große Religion gegründet, jedes edle Moralgesetz verkündet worden. Dazu war jeder starke Impuls zu intellektueller Entwicklung bestimmt. Zum selben Zweck ist in unseren Tagen den Menschen die volle Wiederbestätigung aller alten Wahrheiten unter dem Namen der göttlichen Weisheit gegeben worden, die euch jetzt unter ihrer anglisierten griechischen Bezeichnung als »Theosophie« bekannt ist. Es ist nur eine nochmalige Wiederbestätigung der alten Wahrheit, eine nochmalige Anstrengung derselben Lehrer, diese Tätigkeiten des menschlichen Lebens zu leiten.

In unserer Zeit ist diese Weisheit ganz besonders nötig, denn, wenn wir die Welt überblicken, finden wir, dass der Mensch in jeder großen Abteilung menschlicher Tätigkeit nahezu an die Grenze seiner Kräfte gelangt ist. Er hat die physische Ebene bezwungen: er hat sie sich so unterworfen, dass das Physische viel zu viel von seiner Aufmerksamkeit und seinem Interesse in Anspruch nimmt und die Wirklichkeit der höheren Ebenen vor seinem Blick verschleiert.

Betrachten wir die Tätigkeiten des Lebens, so finden wir, was die Religion anbelangt, dass auf der einen Seite der Materialismus gegen sie ankämpft und der Aberglaube sie auf der andern Seite unterwühlt. Zwei Dolche in den Händen der Menschheit sind gegen die Religion gezückt und bedrohen ihr Leben: der Skeptizismus, der nicht glaubt, und der Aberglaube, der Falsches glaubt. Beide sind für den menschlichen Fortschritt auf diesem besonderen Feld der Tätigkeit fatal.

Wendet euch von der Religion zur Philanthropie in der modernen Welt, so seht ihr, dass das menschliche Elend zu weit verbreitet und zu groß ist, als dass die Menschen es mit Erfolg bekämpfen könnten. Wo die moderne Zivilisation am erfolgreichsten ist und am meisten triumphiert, da findet man das größte Maß an Leid, das grässlichste Elend, welches das menschliche Leben niederdrücken kann. Und sieht man näher zu, so findet man nur, wie hilflos die Philanthropie dagegen ist, wie aber Erbitterung, Klassenhass, drohende Revolution und Anarchie daraus entstehen.

Die Zivilisation ist bis in ihre Grundfesten bedroht und die Menschen wissen nicht, wie sie die Gefahr bannen sollen, denn sie haben den Geist der Liebe verloren.

Nicht anders sieht es mit der Weisheit aus: Auf jedem ihrer drei großen Felder türmen sich Schwierigkeiten auf. Die Wissenschaft scheint am Ende ihrer materiellen Hilfsquellen angelangt zu sein, ihr ganzer Apparat ist so wunderbar ausgebildet, dass keine weitere Entwicklung mehr möglich scheint, ihre Wäginstrumente arbeiten so wunderbar, dass sie selbst noch unsichtbare Teile kleinster Größen zu wägen imstande ist. Und doch gestehen sie zu, dass es Substanzen gibt, die sogar für ihre feinen Wagen »imponderabel« sind. Die Wissenschaft hat ihre Hilfsquellen fast erschöpft, so weit ihre Methode in Betracht kommt, und Kräfte, noch subtiler und bei weitem geheimnisvollerer Art, als sie anzuerkennen gewöhnt ist, treten gegen ihren Willen immer näher an sie heran. Werfen wir einen Blick in das Laboratorium eines Chemikers oder in das Arbeitszimmer eines Gelehrten, so scheinen dort Kräfte in Erscheinung zu treten, die jene weder mit Gewichten noch Maßen zu fassen vermögen. Sie verwirren sie durch ihre Wirksamkeit, während sie sich gleichzeitig keiner Methode der Wissenschaft beugen und im Gegensatz zu allem stehen, was man über die Natur zu wissen glaubt.

In der Philosophie herrscht der Kampf zwischen Materialismus und Idealismus. Ersterer hat sich als unzulänglich erwiesen und auch der letztere gibt keine feste und unbesiegbare Grundlage. Ebenso begegnet man im Gebiet der Kunst Dürre und Fruchtlosigkeit, es werden keine großen neuen Werke geschaffen, sondern nur minderwertige Nachahmungen des Alten hervorgebracht. Die Kunst hat ihre schöpferische Kraft verloren, ist steril und unfruchtbar geworden.

Wenden wir uns der dritten großen Tätigkeit zu, der Macht. Was sehen wir da in der modernen Welt? Volk um Volk ergeht sich in Experimenten. Die göttlichen Herrscher, die einmal da waren, fähig die Völker zu regieren und sie auf den Weg des Gedeihens und Glücks zu bringen, haben sie verloren und sie versuchen nun den Verlust dieser göttlichen Könige dadurch wettzumachen, dass sie einen vielköpfigen König an seine Stelle setzen – das Volk. Anstatt des göttlichen Königtums mächtiger Initiierter haben sie die sogenannte Selbstregierung und die Methoden der Demokratie – als ob man durch ausreichende Multiplikation der Unwissenheit zur Weisheit gelangen könnte!

Was die schöpferische Kraft anbelangt, so ist sogar die Kenntnis davon verloren gegangen, und die Menschen würden lächerlich gemacht werden, welche davon sprächen, so sehr hat der Mensch seine göttliche Erbschaft aus den Augen verloren.

Was sagt uns dies Alles? Dass die Menschheit als Ganzes einen weiteren Schritt voran tun muss, dass wir eine jener Übergangsperioden erreicht haben, in denen das überlebte Alte neuem Wachstum und neuer Entwicklung weichen muss. Unter all dem Durcheinander, all der Sorge, unter all der Angst und Verwirrung, bereiten sich langsam in der Menschheit die Samen des nächsten Schrittes vor, der diesen drei großen Typen der Tätigkeit ihre alte Macht auf einer neuen Stufe zurück erstattet, ihnen die alte Bestimmtheit auf neuen Bahnen des Fortschritts eröffnen wird. Die Entwicklung geht nicht auf ihre früheren Stufen zurück, bringt nicht ihre alten Formen wieder hervor, sondern betritt einen spiralförmigen Weg und bringt auf der neuen Höhe das wieder, was das Beste auf der früheren war. Auf solch einer Spirale schreitet die Menschheit jetzt, um mit neuen Kräften und weiteren Möglichkeiten das zu vollbringen, was in der Vergangenheit unter anderen Formen vorhanden war.

Betrachten wir die Liebe. Wenn die Menschheit den nächsten Schritt voran tut, und schon sind hier und dort Anzeichen zu erkennen, dass sie sich dazu vorbereitet, wird ihre Arbeit, nachdem sie das physische Werkzeug vervollkommnet hat, jetzt die sein, den zweiten Träger des Bewusstseins zu vervollkommnen, den, durch welchen sie frei auf der Astralebene wirken soll. Im Lauf der Jahrtausende wird die Menschheit dieses zweite Werkzeug des Bewusstseins entwickeln und die Mehrzahl wird durch es ebenso leicht auf der Astralebene tätig sein können, wie es ihr heute durch den physischen Körper auf der physischen Ebene möglich ist. Nicht die ganze Menschheit, denn die Menschen sind nicht alle gleich, wie die moderne Torheit behauptet. Aber die große Masse der Menschen wird diesen Schritt in der Entwicklung tun, den Astralkörper ausgestalten und vollständig darin wirken; so schreitet die Entwicklung der Menschheit unaufhaltsam voran.

Welchen Unterschied wird dieser Schritt hervorrufen? Auf religiösem Gebiet wird die Astralebene für die Menschheit sichtbar werden, auf der viele der größeren Intelligenzen sich in der entsprechenden Form offenbaren, um den Menschen zu helfen und sie zu lehren. Die Menschen werden jene Wesen sehen und kennen lernen, deren Dasein ihnen durch jede große Religion verkündet worden ist. Sie werden sie kennen, wie sie jetzt die physischen Körper, die sie umgeben, kennen oder zu kennen glauben. Sie werden die Wesen der jetzt noch unsichtbaren Welt erkennen. Auf diese Weise wird die Mehrheit der Menschen mit den Fortgeschrittenen der Gegenwart jene Kenntnis aus erster Hand teilen, die jetzt so selten ist, und die Gewissheit erlangen, die den Skeptizismus auf ewig unmöglich macht. Kein Mensch kann der unsichtbaren Welt gegenüber Skeptiker bleiben, wenn er in seinem gewöhnlichen Tages-Bewusstsein von dem Dasein jener Wesen weiß, die uns auf allen Seiten umgeben. Es ist ebenso unmöglich, wie ihr das Vorhandensein eurer Väter, Mütter oder Kinder bezweifeln könnt. (Ich erörtere jetzt nicht die philosophische Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Unwirklichkeit, sondern behandle das Universum der Erscheinung und gebrauche die Worte im gewöhnlichen Sinn, in dem wir sie in unserer Alltagssprache benutzen.) Wenn dieser Schritt getan ist, wird die Religion ihren Charakter ändern, und das, was jetzt nur Seher und Propheten kennen und verkünden, wird dann allen Menschen bekannt sein. Es wird Sache der Erfahrung und der täglichen Erkenntnis sein, und infolgedessen wird der Skeptizismus unmöglich werden, wie er schon jetzt gegenüber vielem, was die Wissenschaft der Gegenwart anbetrifft, unmöglich ist.

Ebenso wird der Aberglaube vernichtet werden. Der Aberglaube lebt in der Finsternis und von der menschlichen Unwissenheit. Er lebt, wächst und gedeiht und ist allen Völkern ein Fluch, weil einige Menschen, die der Tradition einige Kenntnisse verdanken, ohne deren tiefe Wahrheit zu erkennen, diese dazu nützen, ihre Mitmenschen zu unterwerfen. Jene lassen sich in ihrer Unwissenheit durch deren Anspruch auf Wissen einschüchtern and beugen sich vor jenen, die vorgeben, die Schlüssel in Händen zu halten, wenn sie auch rostig sind und das Schloss nicht mehr öffnen. Wir werden sehen, und man kann es schon heutzutage beobachten, dass der Aberglaube unmöglich wird, wenn den Menschen die Augen geöffnet werden.

Ihr wisst nicht, welches Unheil dieser Aberglaube in der jenseitigen Welt anrichtet. Ihr wisst nicht, welche Angst und welches Entsetzen nur zu viele Seelen durchmachen, wenn sie aus dem Körper in die ihnen unbekannte Welt kommen, die für sie mit eingebildeten Schrecken erfüllt ist, mit denen der Aberglaube, von eingebildetem Wissen beherrscht, sie ausgestattet hat. Besonders im Westen ist dies der Fall, wo Menschen von einer ewigen Hölle sprechen und ihren Mitmenschen weismachen, dass es nach dem Tode kein Wachstum und keinen Fortschritt gibt, dass der sündige Mensch in ein Feuermeer geworfen wird, um dort in alle Ewigkeit ohne Hoffnung auf Erlösung, ohne Hoffnung auf ein Entkommen gefangen zu sein. Welche Wirkung dies auf die Seelen hat, die durch die Todespforte in eine andere Welt eingehen und sich einbilden, dass dies alles wahr sei oder sein könnte, die glauben, dass sie die Opfer all dieses Entsetzlichen sein könnten, von dem sie durch ihre unwissenden Lehrer gehört haben, vermögt ihr euch gar nicht vorzustellen. Groß sind die Schwierigkeiten, mit welchen die zu kämpfen haben, die den Seelen auf der andern Seite helfen, allmählich das Entsetzen zu bannen und ihnen verständlich zu machen, dass überall das Gesetz herrscht und dass Bosheit und Gehässigkeit nicht unter den herrschenden Mächten des Kosmos zu finden sind. Skeptizismus und Aberglaube werden also, wie gesagt, unmöglich. Wohl wird es andere Schwierigkeiten, andere Probleme und dunkle Punkte geben, aber die Zwillingsfeinde des Menschen, Skeptizismus und Aberglauben, werden, wenn dieser Tag für die Menschheit anbricht, vernichtet sein, um nie wieder zu erstehen.

Die Liebe wird auf ihrer philanthropischen Seite auch viel gewinnen; es kann so viel mehr von dieser Ebene aus für die Menschheit getan werden, als von der physischen. Physische Tätigkeiten machen viel Umstände und bringen verhältnismäßig geringe Erfolge. Wir beobachten Menschen, die sich abmühen, Gesetze zu machen, dies und jenes in der Welt des Staates und der Gesellschaft zu leisten, und wir denken, sie hätten ein großes Werk vollbracht und bedeutende Erfolge errungen.

Aber wie klein und nichtig sind sie im Vergleich zu den Erfolgen, die aus der Arbeit entstehen, die ungesehen in der Stille und im Schweigen, ohne die Sprache der Zunge, ohne Anstrengung des physischen Körpers getan wird; durch die Tätigkeit des Geistes in dem subtileren Medium, das mehr die Gedanken der Menschen als ihren Körper beeinflusst, das mehr auf ihr Gemüt einwirkt, als auf ihre äußere Hülle. Wenn die Menschheit diese höhere Ebene erklommen hat, dann wird dieser Einfluss weit mehr ausgeübt werden als heute, und allem Elend, allen Verbrechen und aller Schlechtigkeit wird durch das Wirken auf das Gemüt der Menschen begegnet werden; sie werden gereinigt und über die Umstände erhoben werden, die sie jetzt herabziehen. Versteht ihr, dass jeder von euch, zu denen ich hier rede, der einen unreinen, rachsüchtigen, bösen oder niederen Gedanken hegt oder hervorbringt, diesen als lebendige Kraft in die Welt hinaussendet, als tätige Wesenheit, die auf die Gesellschaft einwirkt und von den Schwächsten, Empfänglichsten, den am wenigsten Entwickelten aufgenommen wird, so dass aus diesen Gedanken der sogenannten Gebildeten der Same des Verbrechens unter die niedere Masse der Menschen gestreut wird? Die Sünden dieser Menschen, die sich in ihren Taten zeigen, gehören zum großen Teil dem Karma derjenigen an, die den Gedanken hervorgebracht haben. Dies ist nicht so allgemein bekannt, wie es sein sollte, und es wird nicht so geglaubt, wie es nötig wäre.

Jeder Mensch, der ein Rachegefühl in sich hegt, sendet eine Kraft der Zerstörung in die Astralwelt hinein. Wirken all diese schlechten und zornigen Gedanken von Menschen, die in geachteten gesellschaftlichen Verhältnissen leben, auf ein schwaches Geschöpf mit einem schlechten Karma ein, das in schlimmen Verhältnissen lebt, von Trieben und Leidenschaften beherrscht wird, die stärker sind als sein Geist, und wird er durch ein Unrecht gereizt und rasend gemacht, dann zwingen ihn diese Gedanken, eine Tat zu begehen, die wir Mord nennen. Trotzdem seine physische Hand das Messer führt, wird der Stoß doch eigentlich durch die Gedanken jener Menschen ausgeübt, deren rachsüchtige Gefühle die Triebfeder des Mordes sind, auch wenn sie äußerlich nicht in Erscheinung treten. Wir werden die Verbrechen in den unteren Schichten der Gesellschaft nicht eher los, als die höheren Schichten, die gebildet sind und die Natur der Dinge verstehen können, ihre Gedanken reinigen. Wenn dies alles durchschaut und erkannt wird, wenn die astrale Welt offen vor Augen liegt, wird eine neue Kraft zur Verfügung stehen, um der Menschheit zu helfen und sie zu erheben. Dann werden die Menschen die Macht der Gedanken nicht mehr anzweifeln, sie werden die Verantwortung für die Gedanken, die sie erzeugen, erkennen und werden liebende und helfende Einflüsse aussenden, statt der erniedrigenden, die jetzt so vielfach verbreitet werden.

Dann werden wir auch feststellen, dass unmittelbare Hilfe möglich ist, wie sie jetzt schon von dieser höheren Region aus gegeben wird. Denn die Erfindungen, die Wissenschaftler machen, kommen ihnen oft von jener Welt zu und zwar durch direkten Einfluss auf ihren Geist. Wenn ein Gelehrter eine neue Idee fasst, wenn ein Mensch, sagen wir z. B. Sir William Crookes, die Entstehung der Atome entdeckt – eine der subtilsten Einsichten der modernen Wissenschaft – glaubt ihr, dass er von unten zu ihr aufgestiegen ist? Ich sage euch, solche Gedanken kommen von oben und nicht von unten.

Auf diese Weise wirken die Meister auf den Geist von Menschen ein, die besondere Fähigkeiten besitzen, die genutzt werden können. Aus der mentalen Welt herab, durch die Astralebene hindurch, wo die Gedanken wirkende Wesenheiten sind, beeinflussen sie von Zeit zu Zeit ausgewählte Individuen, um den Fortschritt der Welt zu beschleunigen und das Wachstum der Menschheit zu erleichtern. Der Grund, warum dies in der Gegenwart nicht häufiger geschieht, ist der: Ehe die moralische Seite des Menschen nicht reift, wäre es nicht gut, wenn er zu viel Kenntnisse über jene unsichtbaren Kräfte erlangte, die hinter dem Schleier verborgen sind. Er würde sie missbrauchen, anstatt sie im allgemeinen Interesse anzuwenden, er würde sie nutzen, um andere zu unterdrücken, anstatt mit ihnen den Menschen zu helfen und sie zu heben. Daher wird dies Wissen nicht mehr verbreitet, daher wird der Wissenschaft nicht mehr geholfen. Die Wissenschaft, wie einer der Großen sagte, muss die Dienerin der Menschheit werden, um viel Hilfe von denen zu bekommen, die vor allem andern die Helfer und Erlöser der Menschheit sind.

Noch in anderer Hinsicht wird in den Tagen, denen wir entgegen gehen, rascher fortgeschritten werden.

Bei der Erziehung von Kindern ist es euch, vermute ich, wohl kaum aufgefallen, wie groß die Möglichkeiten sind, die in ihnen schlummern, wenn nur ihre Lehrer genug Wissen hätten, um direkt das Gute in ihnen zu fördern und das Böse einzudämmen und auszurotten. Wie ihr wisst, umgibt jeden Menschen eine Aura, die dem geschulten Auge, z. B. eines Yogi, sichtbar ist. Sie zeigt den Grad der intellektuellen Entwicklung, die Charakteranlage, gibt Auskunft über die Stufe des Fortschritts und die Eigentümlichkeiten und Eigenschaften jener Seele, die den Körper bewohnt. Einen jeden von uns umgeben diese Spuren seines eigenen Zustandes, die deutlich sichtbaren Zeugnisse für den Grad der Entwicklung, den die Seele erreicht hat. Jeden umgibt diese Atmosphäre, welche die Gedanken und den Charakter anzeigt und dem geschulten Auge so leserlich ist, wie die physischen Züge dem physischen Auge, und dabei bei weitem instruktiver, was den Charakter des Menschen anbelangt.

Wenn nun ein kleines Kind auf die Welt kommt und die ersten Stufen seines Wachstums durchschreitet, hat seine Aura folgende Eigentümlichkeit: Die karmischen Ergebnisse der Vergangenheit bringt es mit sich, aber eine große Anzahl der geistigen und moralischen Anlagen, die es aus der Vergangenheit mitbringt, sind erst noch im Keim in ihm vorhanden und nicht voll entfaltet. Betrachtet man die Aura eines kleinen Kindes, so ist sie verhältnismäßig rein. Ihre Farben sind klar und durchsichtig, und nicht trüb und schmutzig, wie bei erwachsenen Menschen, Männern und Frauen. Innerhalb dieser Aura liegen die Samen der Neigungen, die entwickelt werden können. Einige sind gut, andere schlecht. Das geschulte Auge, das diese Merkmale unterscheiden kann, könnte die guten fördern und die schlechten ersticken, indem es die richtigen Einflüsse auf das Kind einwirken lässt. Will man eine gesunde Pflanze aus einem Samen ziehen, so muss man ihn in gute Erde setzen, ihn begießen und von der Sonne bescheinen lassen. Alle wesentlichen Eigenschaften der Pflanze liegen im Samen, aber die ganze Pflanze ist noch nicht sichtbar und je nach der Erde, die man ihr gibt, der Pflege, die man ihr angedeihen lässt, der Luft, mit der man sie umgibt, und der Sonne, die sie erwärmt, wird die Entwicklung des Samens verlaufen. Man kann die Pflanze sich zu großer Schönheit entfalten lassen oder ihr Wachstum hindern und sie verkümmern lassen. So verhält es sich größtenteils auch bei einem kleinen Kind. Es wird geboren und trägt, sagen wir z. B. den Keim des Jähzorns in sich, den Keim eines feurigen und leidenschaftlichen Temperaments. Angenommen, jene, die es umgeben, besitzen Erkenntnis und Weisheit, dann werden sie wissen, wie es zu behandeln ist. Nie sollte es ein böses Wort hören, nie eine leidenschaftliche Tat sehen. Jedermann in seiner Umgebung müsste sanft und liebevoll sein und Selbstbeherrschung besitzen. Dem Samen, der im Kind schlummert, dürfte nie die anreizende Kraft des Zorns älterer Menschen zugeführt werden, sie wirkt wie eine Macht, die das Wachstum des Samens beschleunigt, ihn nährt und zur Reife bringt!

Wir sollten darauf achten, dass die Kinder nur solche Einflüsse umgehen, die alles Gute, Edle, und Reine in ihnen fördern.

Geschähe das bei jedem Kind, dann würde die Menschheit mit Riesenschritten voranschreiten, während sie jetzt wie ein Krüppel einher hinkt. Unwissenheit umwölkt den Geist der Menschen und sie wissen nicht, wie sie die Jugend erziehen sollen. Nirgends will es recht gelingen, doch das wird sich ändern, wenn der Mensch sich zu höherem Wissen erhoben hat und mit klarem offenem Blick, anstatt blind erzieht, wie es heutzutage geschieht – wenn er wissend erzieht, anstatt in Unkenntnis.

Die Notwendigkeit einer wirklichen Erziehung erklärt, warum in den alten Tagen jeder Knabe zu einem Guru geschickt wurde. Durch diese alte Einrichtung sollte dem Kind ein Vorteil gewährt werden, indem ein geschulter Geist, dessen Einsicht über den eines gewöhnlichen Menschen hinausging, auf den seinen einwirkte und ihm durch einen solchen Hilfe geleistet würde. Früher war der Guru ein Mann, der Wissen besaß, der sehen konnte, und das Kind wurde seinen Händen übergeben, weil unter solcher Leitung das Böse unterdrückt und das Gute entwickelt wurde. Als die wahren Gurus allmählich verschwanden, verlor die Menschheit diesen großen Vorteil; er wird aber wiederkehren, wenn das Wissen unter dem Volk verbreitet ist und wenn eine höhere Stufe der Entwicklung diese edlere Erziehung möglich macht.

In der ganzen Sphäre des Wissens werden die Methoden sich ändern. Der Arzt wird nicht mehr durch äußere Symptome Schlüsse über eine Krankheit ziehen müssen, sondern wird die Ursache derselben sehen und danach eine Diagnose stellen können. Die Menschen fangen jetzt schon an, mit Hilfe Hellsehender zu diagnostizieren. Bisher wurde dem Arzt durch die Dichte des physischen Körpers der Einblick verwehrt, jetzt aber benützt er schon den Hellsehenden, dessen Schauen den physischen Stoff durchdringt, der die Krankheit sieht und genau erkennen kann, was irgend einem Organ des Körpers fehlt; er gibt dem Arzt die nötige Auskunft und befähigt ihn, mit vollkommener Sicherheit zu handeln und die Wirkung seiner Medikamente zu verfolgen. Stellt euch vor, welchen Aufschwung die ganze medizinische Wissenschaft nehmen würde, wenn der Arzt hellsehend wäre, und wenn das, was jetzt nur wenige besitzen, sich allgemein verbreitete, so dass die Ärzte mit Sicherheit ihre Diagnose stellen und die Wirkung jedes Heilmittels sehend verfolgen könnten.

Ebenso ist es mit der Chemie. Wie viel mehr könnte der Chemiker leisten, als es ihm jetzt möglich ist, wenn seine Augen offen wären und fähig, die verschiedenen Vorgänge bei den Verbindungen seiner Substanzen zu verfolgen; wenn er die Wirkungen seiner Zusammensetzungen sehen könnte, anstatt sie erraten und auf das Resultat eines Experimentes warten zu müssen, ehe er Gewissheit hat, was das Ergebnis ist. Wie viele Unfälle könnten da vermieden werden, und in wie hohem Maße könnte dieses Erkennen den Fortschritt der Wissenschaft beschleunigen!

In der Novembernummer des Lucifer (1895) findet sich eine Andeutung, wie solch ein Fortschritt bewerkstelligt werden kann. Ihr seht dort, wie die Grenzen des Wissens sich erweitern werden, wenn der Geist sein Werkzeug auf der Astralebene gebrauchen kann.

In der Psychologie ist es nicht anders. Ihr werdet sofort einsehen, was das für die Menschheit bedeutet – schon vom Standpunkt dieser niederen Welt aus –, wenn die Menschen miteinander durch Gedanken in Verbindung treten können, anstatt sich schwerfälliger Mechanismen, wie der Schrift oder des Drucks bedienen zu müssen; wenn der Gedanke von Gehirn zu Gehirn eilt und sich ohne die komplizierten Vorgänge mitteilt, deren wir heute bedürfen.

Das alles will heißen, dass Trennung eine Angelegenheit der Vergangenheit sein wird. Kein Berg und kein Meer wird Mensch von Mensch, Freund von Freund mehr trennen können. Haben die Menschen sich diese Ebene der Natur unterworfen, wird sich der Geist direkt dem Geist mitteilen können, wo die Menschen auch wandern und in welchem Lande sie auch weilen mögen. Denn für den Geist gibt es keine Grenzen des Raumes und der Zeit wie in der niederen Welt. Wenn der Mensch sein astrales Werkzeug vervollkommnet hat, weilt er stets im Bereich derer, die er liebt; die Trennung hat ihren Stachel verloren, wie auch der Tod die Macht zu trennen verlieren wird. In dem Leben des Menschen der Gegenwart wie auch in dem der Völker sind, wie wir alle wissen, der Tod und die Trennung zwei der großen Schmerzen, welche die Menschheit bedrücken. Ihr Stachel wird ihnen genommen, wenn der Mensch diesen großen Schritt voran tut. Beide verlieren ihre Macht, in Wirklichkeit zu scheiden, wenn einmal der Mensch diese höhere Stufe erreicht hat: Was nur die Schüler besitzen, wird dann der Mehrzahl zuteil werden. Wie viel leichter und schöner wird das jetzt niedere Leben des Menschen dadurch, dass diese Einflüsse hinfort ihn nicht mehr stören können.

Nicht anders steht es natürlich mit der Philosophie, mit ihrer dann durchdringenderen Erkenntnismöglichkeit der Materie und ihrem schärferen Einblick in die Wirklichkeiten des Lebens. Dasselbe gilt auch für die Geschichtsschreibung. Alle Geschichte wird den Aufzeichnungen des Akasha entnommen und dargestellt werden, nicht um die Leidenschaften einer politischen Partei zu befriedigen, um eine neue Theorie des menschlichen Wachstums zu unterstützen oder um eine Hypothese der wissenschaftlichen Vorstellungskraft zu bestärken. Alle Geschichte liegt im Akasha; unvergänglich und unzerstörbar sind die dortigen Aufzeichnungen. Nicht eine Tat der Menschheit gibt es, die dort nicht verzeichnet wäre, keine Tatsachen der menschlichen Geschichte, die dort nicht niedergeschrieben steht für die Augen, welche sehen können. Es kommt die Zeit, in der alle Geschichte von dort aus geschrieben wird, anstatt in der unwissenden Art, wie es jetzt geschieht. Wenn die Menschen die Vergangenheit sehen wollen, werden sie auf diese unvergänglichen Berichte zurückblicken und sie zu schnellerer Entwicklung benützen, werden vergangene Erfahrungen zum schnelleren Wachstum der Menschheit verwerten.

Und wozu die Kunst werden wird, wenn diese neuen Kräfte sich im Zugriff des Menschen befinden, können vielleicht nur diejenigen ermessen, die sie bis zu einem gewissen Grad jetzt schon benutzen. Neue Formen, schön über alle Begriffe, werden möglich sein, blendende Farben, die die philiströse Welt nicht kennt und die der ätherischeren Natur der Astralebene entstammen: Farben, die niemand beschreiben kann, denn eine Farbe, die man nicht kennt, kann man auch nicht durch mündliche Beschreibung verstehen lernen. All dies wird der Kunst erreichbar sein, alle wunderbaren Möglichkeiten der feineren Sinne.

Und was wird aus dem Willen und der Macht? Das göttliche Königtum wird auf die Erde zurückkehren und die Menschen werden ihren Platz in der Gesellschaft je nach der Stufe ihrer Entwicklung einnehmen und nicht wie bisher durch bloßen Zufall. Alle Menschen werden sehen können, was sie selbst und Andere sind, denn in der Aura eines jeden Menschen und für alle sichtbar, spiegeln sich die geistigen Eigenschaften und sittlichen Fähigkeiten wieder und daher wird auch jeder die Stellung in der menschlichen Gesellschaft einnehmen, zu der er am meisten befähigt ist ... Dann werden junge Leute in der Arbeit geschult werden, zu der ihre Fähigkeiten sie berufen und ihre Kräfte die Möglichkeit des Gelingens bieten. Die Unzufriedenheit, die jetzt herrscht, wird weichen, denn sie entsteht nur dadurch, dass Fähigkeiten brach liegen, wodurch wiederum das Gefühl der Ungerechtigkeit aufkommt und im Herzen des Menschen wühlt, weil er fühlt, dass er wohl Kräfte und Fähigkeiten besitzt, aber keine Gelegenheit hat, sie zu betätigen, zu zeigen und zu verwerten. Wären die Menschen weise, würden sie freilich wissen, dass ihre Verhältnisse karmisch bedingt sind. Momentan sprechen wir aber von den Massen und nicht von den nachdenklicheren Individuen. Für erstere wird Unzufriedenheit zur Unmöglichkeit, wenn jeder Mensch an dem Platz steht, an den ihn seine sichtbaren Eigenschaften berufen, und so wird eine wirklich geordnete Gesellschaft wieder zu Stande kommen.

Wir werden dann auch besser verstehen, wie die niederen Typen der Menschheit zu behandeln sind. Die Verbrecher werden wir nicht bestrafen, sondern sie heilen, sie nicht töten, sondern erziehen. Wir können die Stelle, wo Hilfe nötig ist, erkennen und werden weise zu bessern suchen, anstatt im Zorn zu bestrafen. Nicht nur die Gesellschaft wird durch dieses Einwirken auf die Natur der Menschen anders werden, sondern auch die ganze äußere Welt wird ein anderes Aussehen bekommen: Die Tierwelt wird ebenso unter die verwandelnde Kraft des Menschen gelangen. Er wird aufhören ein Tyrann und Unterdrücker zu sein wie jetzt und wird zum Helfer, Erzieher und Lehrer der niederen Tierwelt werden. Er wird das sein, wozu er bestimmt ist – der Erzieher des Tieres und nicht sein Unterdrücker, wie er es jetzt in so großem Maße ist. Ich brauche kaum zu erwähnen, dass alle Arten von Grausamkeiten allmählich verschwinden werden. Die Erde wird nicht mehr vom Blut der Tiere befleckt sein. Die Tiere werden den Menschen nicht mehr voller Angst und Entsetzen fliehen und ihn als Feind erkennen, anstatt den Freund in ihm zu sehen, denn wir gehen dem goldenen Zeitalter entgegen, wo Alle lieben werden, anstatt zu hassen.

Ich habe euch etwas erzählt, was wie ein Märchen klingt und doch ist es nur die nächste Stufe im Wachstum des Menschen.

Es ist nur das Resultat der Eroberung der Astralebene, die der physischen am nächsten liegt. Was wird aber sein, wenn der Mensch sich noch höher erhebt, und in vollem Wachbewusstsein die mentale Ebene beherrscht? Ich kann nur auf einzelne Punkte hindeuten, um euch zu zeigen, wie das sich erweiternde Bewusstsein triumphieren wird. Gäbe es in jenen zukünftigen Tagen einen Redner und eine Zuhörerschaft, wie anders würde dann die Rede und wie anders die Wirkung auf die Menschen sein. Anstatt Worte zu hören, artikulierte Laute, die das Ohr erreichen und so unzulänglich nur einen kleinen Teil des Gedankens wiedergeben, würden die Menschen den Gedanken sehen, wie er wirklich ist. Der Gedanke würde vor ihren Augen in strahlender Farbenpracht aufleuchten, in vollendet schönem Klang, bezaubernder Form, man würde sozusagen durch Musik, Farben und Formen zu den Menschen sprechen, bis der ganze Saal mit vollkommener Harmonie der Töne, Farben und Formen erfüllt wäre. Das wird die Rhetorik der Zukunft sein, wenn die Menschen diese höhere Ebene des Bewusstseins und Lebens bezwungen haben.

Ihr glaubt wohl, ich träume? Ich sage euch, dass es schon jetzt Menschen gibt, die auf diese Bewusstseinsebene gelangen können, die sie kennen, fühlen, und sehen, die hinter den Schleier gelangt sind, der die Mehrheit blendet und die weiteren Möglichkeiten des Lebens vor ihrem Blick verschließt. Denn wie ein Mensch, der auf einem Turm steht, das ganze Land umher überblickt und überall aus der Landschaft Farben, Töne und Formen in sich aufnimmt, so ist es mit dem Leben eines Menschen auf der mentalen Ebene.

Steigt er aber die Treppe des Turms hinab, so kann er nur soviel von der Landschaft übersehen, wie ein Blick durch das Fenster ihm gestattet. Auf der Mentalebene fließt ihm Wissen von allen Seiten zu; nicht durch die Sinne, wie wir sie kennen, sondern durch einen einzigen Sinn, der auf jede Schwingung reagiert, die von außen kommt. Steigt der Mensch in die niederen Körper hinab, so ist es gerade, als ob er in einen Turm hinunterstiege; er kann nur das sehen, was Augen, Ohren und Nase – die kleinen Fenster in der Mauer – ihm von der äußeren Welt zu erkennen geben. Denn die Sinne sind bloß Fenster, und die Wand des Körpers schließt uns ein und nur, wenn wir uns über den Körper erheben, können wir wirklich die Welt, die uns umgibt sehen in ihrer Pracht, ihrer Schönheit und ihren Wundern.

Dann wird das Leben wieder viel mächtiger. Die größten spirituellen Gedanken kommen von jener Ebene durch das Astrale. Die mächtigsten mentalen Kräfte werden von der Manasebene durch die herabgeschickt, welche dort tätig sein können, um dem Menschen jetzt in der physischen Welt zu helfen. Die Schüler der Meister sind im Wach-Bewusstsein dort und wirken, um den Menschen zu helfen und sie zu erheben. Jeder, der jene großen Pforten der Initiation durchschritten hat, lebt in dieser Sphäre und wirkt dort, um der Menschheit zu helfen. Der Schüler kann in der physischen Welt tätig sein, aber bei weitem mehr und tiefgreifender wirkt er in jener höheren Region. Dort entwickelt er seine größte Tatkraft, dort leistet er seine am weitesten reichenden Dienste. Wenn sich die Mehrzahl der Menschen zu dieser Ebene erhebt, wie zahlreich werden da die Arbeiter sein und wie ausgedehnt das Heer der Helfer! Nur einige Hundert wirken jetzt dort, um den Millionen Menschen zu helfen, und es kann nur wenig geschehen, weil die Zahl der Arbeiter so gering ist. Wenn aber die Masse der Menschheit sich zu jener Ebene erhoben hat, wie rasch wird dann das Wachstum des Einzelnen aus den niederen Stufen der Entwicklung heraus sein. Die Menschheit wird sich mit einer Schnelligkeit erheben, die wir jetzt kaum zu fassen vermögen.

Höher und immer höher geht der Weg zu der erhabeneren Ebene, die der Mensch ebenfalls erobern soll. Zu jener Sphäre, in der alles Eins ist, wo der Mensch sich als eins mit jedem offenbarten Ding erkennt. Jene Ebene, Turiya genannt, von der ich euch gestern sprach, wird der Mensch beherrschen, ehe dieses Manvantara zu Ende geht. Jetzt steht sie nur dem Wachbewusstsein des Schülers auf der letzten Stufe seiner Chelaschaft offen und zu dieser wird sich die siebente Rasse des Menschengeschlechts erheben und sie beherrschen. In jenem erweiterten Bewusstsein gibt es keine Trennung, die den Menschen vom Menschen scheidet, jeder erkennt sich als eins mit dem andern, fühlt und denkt, wie sie denken und fühlen, und weiß, was sie wissen; es ist ein Bewusstsein, das sich ausdehnt und Myriaden umschließt. Die Bruderschaft der Menschen wird dann zur vollendeten Tatsache, das Wesen der Dinge wird dort erschaut und nicht nur die Erscheinung, dort werden Wirklichkeiten gesehen und nicht nur Phänomene. Das Eine Selbst, das in allen lebt, wird erkannt. Hass ist auf ewig dem Menschen, der Erkenntnis errungen hat, unmöglich.

Und noch einen Schritt darüber hinaus liegt das, was keine Worte von mir darstellen, kein Ausdruck wiedergeben kann, das, von dem die Weisen als Nirwana sprechen. Sie haben es von Zeit zu Zeit zu erklären versucht und es ist ihnen nicht gelungen, weil die menschliche Sprache für die Aufgabe unzulänglich ist.

Aus ihren Anstrengungen, ihr eigenes Wissen mitzuteilen, sind nur Missverständnisse entstanden. Es ist ein so erhabenes Bewusstsein, dass es unvorstellbar ist, ein Bewusstsein, welches das ganze Weltall umfasst und dadurch dem beschränkten Verstand der Menschen als Nicht-Bewusstsein erscheint. Aber ich sage euch, dass das Leben im Nirwana, das Leben der Mächtigen, die es erreicht haben, ein Bewusstsein in sich schließt, neben dem das unsere in seiner Beschränktheit, die es einengt, in der Blindheit, die es verdunkelt und dem Unvermögen seiner Methoden dem Bewusstsein eines Steines gleicht. Dort ist Leben, mehr als wir uns irgend träumen lassen, und Tätigkeit, lebhafter als wir uns irgend vorstellen können; Leben, das Eins ist und sich dennoch nach allen Seiten hin aktiv offenbart, wo der Logos das offenbarte Licht ist, dessen Strahlen durch alle Sphären der Welt fluten.

Das ist das Ziel der Menschen für dieses Manvantara, auch dies soll der Mensch kennen lernen, wenn die siebente Rasse ihren Lauf vollendet hat. Die Erstlingsfrüchte unserer Menschheit, die dies jetzt schon erkannt haben und wissen, werden sich dann von zahllosen Myriaden umringt sehen, die dann auch alle erkennen und wissen werden. –

Dann wird das Leben des Logos auf unermessliche Zeiten das ihre sein, dann wird der vollkommene Widerschein des Logos in jenen sein, die zu einem »Bilde Gottes« und »ihm gleich« geworden sind, bis ein neues Weltall geboren wird, ein neuer Kosmos in Tätigkeit tritt. Diese werden nun selbst zum Logos, werden ein neues Weltall bauen und eine neue Menschheit heranziehen. Das ist die Zukunft, die unserer harrt, die Herrlichkeit, die uns bevorsteht.

nach Oben