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Über Gott und seine Schöpfung

Eine freie Übersetzung des vierzehnten Traktats des Corpus Hermeticum von Lorenzo Ravagli


In Deiner Abwesenheit, o Asklepios, begehrte mein Sohn Tat umfassende Belehrungen über die Natur der Dinge und er duldete keinen Aufschub. Da er mein Sohn und ein Neuling ist, der erst vor kurzem Einsicht in all diese Dinge erlangt hat, sah ich mich gezwungen, weiter auszuholen, damit er mir folgen konnte. Dir jedoch wollte ich gezielt einige der wichtigsten Fragen erläutern. Aber Dir kann ich auch geheime Kenntnisse anvertrauen, die jemand, der weiter fortgeschritten ist und bereits tiefer in die Natur der Dinge eingedrungen ist, zu verstehen vermag.

Wenn alle sichtbaren Dinge entstanden sind und weiterhin entstehen, wenn jene, die gezeugt werden, durch das Wirken eines anderen entstehen, nicht aus sich selbst (und vieles – oder besser: alles – was sichtbar ist, wird gezeugt, alles, was in der Welt der Veränderung existiert und nicht im Reich des Ewigen), – wenn also Dinge, die entstehen, durch das Wirken eines anderen entstehen, dann gibt es Jemanden, der sie erzeugt. Und wenn dieser Jemand älter sein muss, als das Gezeugte, muss er selbst ungezeugt sein. Denn ich halte daran fest, dass alles Gezeugte durch das Wirken eines anderen entsteht, dass aber etwas, das älter als alles Gezeugte ist, selbst ungezeugt sein muss, sonst gäbe es immer noch ein älteres, von dem es gezeugt wird. Dieser Jemand nun ist allmächtig, einzigartig und allein wahrhaft wissend in allen Dingen, da es nichts gibt, was älter und erfahrener wäre. Dieser Jemand steht am Anfang und überragt die Zahl, die Größe und die Besonderheiten der entstehenden Dinge. Und er überragt sie durch die ununterbrochene Fortdauer seines Schaffens. Ferner: Auch wenn die Dinge, die er erzeugt, sichtbar sind, ist er selbst unsichtbar. Aber sein Schaffen zielt darauf ab, in der Schöpfung sichtbar zu werden. Und da er immerzu schafft, wird er zweifellos in seiner Schöpfung sichtbar.

So muss man die Dinge verstehen und wenn man sie verstanden hat, sollte man darüber staunen, und nachdem man gestaunt hat, sollte man es als einen Segen betrachten, dass man den Vater erkannt hat.

Was ist uns teurer, als ein wahrer Vater? Wer ist dieser Vater und wie können wir ihn erkennen? Ist es gerechtfertigt, ihm allein den Namen »Gott« oder »Schöpfer« oder »Vater« oder alle drei vorzubehalten? Gott wegen seiner Macht? Schöpfer wegen seines Wirkens? Vater wegen des Guten? Er besitzt Macht, sicherlich, da er sich von allen Dingen, die entstehen unterscheidet, und er ist immerwährendes Wirken, das in allen Dingen, die entstehen, wirkt.

Daher, wenn wir alle Beredsamkeit und müßigen Worte hinter uns lassen, läuft es am Ende darauf hinaus, zwei Dinge zu verstehen: was entsteht und wer es erzeugt. Neben diesen gibt es nichts Drittes.

Unter all dem, was Du hörst und weißt, mußt Du diese zwei festhalten und anerkennen, dass auf sie alles zurückgeführt werden kann, gehöre es nun der oberen oder der unteren Welt an, sei es göttlich oder irdisch oder gar unterirdisch. Denn diese beiden umschließen alles, was ist: das, was entsteht, und das, wovon es erzeugt wird – und diese beiden können nicht voneinander getrennt werden. Keinen Erzeuger gibt es, ohne ein Erzeugtes. Jedes von beiden ist, was es ist, daher kann keines vom anderen oder gar von sich selbst getrennt werden.

Wenn nun der Schöpfer nichts anderes ist, als Schaffen – einzigartig, einfach und unzusammengesetzt – , dann muss das Schaffen in sich selbst gründen, da das Schaffen des Schöpfers ein Erzeugen ist; und nichts, was erzeugt wird, ist imstande, sich selbst zu zeugen. Entstehen heißt unweigerlich: durch ein anderes entstehen. Ohne den Schöpfer kann nichts Erzeugtes entstehen oder sein, denn das eine verliert ohne das andere jegliche Bestimmung, da es nur durch seine Beziehung auf das andere das ist, was es ist. Wenn man also zustimmt, dass es zwei Entitäten gibt: das, was entsteht, und das, was dieses Entstehende erzeugt, dann muss man auch zugestehen, dass sie zusammen eine untrennbare Einheit bilden, so wie eine Voraussetzung und eine Folgerung. Die Voraussetzung ist der Gott, der schafft, die Folgerung ist das, was entsteht, was auch immer es sei.

Du mußt Dich nicht gegen die Mannigfaltigkeit der Dinge wehren, die entstehen, so als ob durch sie etwas Niedriges oder Glanzloses an Gott haften würde. Gottes Glanz ist unteilbar und er besteht darin, dass er alles schafft, und dieses Schaffen ist wie der Leib Gottes. Es gibt nichts Böses am Erzeuger, oder etwas, das Scham hervorrufen könnte: all das ist eine Folge des Werdens, wie der Rost an der Bronze oder der Schmutz am Körper. Der Bronzeschmied hat nicht den Rost erzeugt, die Eltern schaffen nicht den Schmutz, Gott schuf nicht das Böse. Aber das fortdauernde Werden läßt das Böse blühen wie eine schwärende Wunde, und daher hat Gott die Veränderung geschaffen, um das was entsteht, zu läutern.

Nun, wenn es ein und demselben Maler möglich ist, Himmel, Götter, Erde, Meer, Menschen, vernunftlose und seelenlose Wesen zu malen: Warum sollte es Gott nicht möglich sein, sie alle zu schaffen? O, wie verrückt ist es, Gott nicht zu erkennen! Diesen Narren, die Gott nicht erkennen, widerfährt der größte aller Irrtümer. Während sie vorgeben, Gott zu verehren und zu preisen, kennen sie ihn in Wahrheit nicht, da sie ihn nicht als Schöpfer aller Dinge anerkennen, und darüber hinaus entheiligen sie ihn auch noch, indem sie ihn verächtlich machen und für ohnmächtig erklären. Wenn er nicht alle Dinge erschafft, dann entweder weil er sie gering achtet oder weil er ohnmächtig ist – und dies ist gewiss eine ehrlose Meinung von Gott.

Denn in Gott gibt es nur einen Zustand: das Gute. Aber jemand, der gut ist, verachtet nicht und ist auch nicht ohnmächtig. Das ist das Wesen Gottes: das Gute, die Macht, alle Dinge zu erschaffen. Alles Erzeugte ist durch Gottes Wirken entstanden, durch das Wirken des Einen, der gut ist, mit anderen Worten, des Einen, der fähig ist, alle Dinge zu erschaffen.

Wenn Du erkennen willst, wie er schafft, wie die Dinge entstehen, dann mußt Du dich um eine solche Erkenntnis bemühen. Nimm dieses liebliche Bild als Vergleich: Betrachte einen Bauern, der Samen in die Erde legt. Hier den Weizen, hier die Gerste, dort wieder einen anderen Samen. Sieh, wie er den Wein und den Apfel und andere Bäume pflanzt. Auf eben diese Weise pflanzt Gott Samen der Unsterblichkeit im Himmel, des Wandels auf Erden, des Lebens und der Bewegung im Weltall. Es sind nicht viele Dinge, die er sät und man kann sie leicht aufzählen. Alles in allem gibt es nicht mehr als vier (Unsterblichkeit, Wandel, Leben, Bewegung), neben Gott und seiner Schöpfung – diese beiden jedoch umschließen alles, was ist.


Das Corpus Hermeticum in einer preisgünstigen, englischen Übersetzung: Hermetica: The Greek Corpus Hermeticum and the Latin Asclepius in a New English Translation, with Notes and Introduction

Und in einer neuen deutschen, wissenschaftlichen Übersetzung:

Das Corpus Hermeticum deutsch, Teil 1: Die griechischen Traktate und der lateinische 'Asclepius'

Das Corpus Hermeticum deutsch, Teil 2: Nag-Hammadi-Texte, Testimonien

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