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Lobpreis des Königs aller Könige

Eine freie Übersetzung des siebzehnten Traktats des Corpus Hermeticum von Lorenzo Ravagli


Wenn uns jemand verspricht, die Harmonien eines Musikstücks durch eine Vielzahl von Instrumenten zur Entfaltung zu bringen, werden wir über ihn lachen, wenn während der Aufführung Mißtöne erklingen. Auch wenn der Grund für die Disharmonien in den schlechten Instrumenten liegt, werden wir doch den Musiker für die Mißtöne verantwortlich machen. Auch wenn der gutmeinende Musiker sich seiner Kunst unermüdlich hingibt, so überhört der Zuhörer doch nicht die Schwäche der Instrumente. Ein solcher von seiner Kunst erfüllter Musiker, der nicht nur Harmonien durch seinen Gesang erzeugt, sondern auch die Rhythmen hervorbringt, die jedem Instrument angemessen sind, ein solcher unermüdlicher Musiker ist Gott, denn es geziemt Gott nicht, dass er müde wird.

Aber wenn ein Musiker versucht, sich in einem Wettstreit auszuzeichnen, und sein Instrument anstimmt, nachdem die Trompeter ihre Kunst gezeigt und die Flötenspieler ihre süßen Melodien auf ihren Instrumenten haben erklingen lassen, nachdem andere mit ihren Rohrflöten und Plektren aufgetreten sind, und er aufgrund eines Mangels seines Instrumentes versagt, dann sollte niemand die Fähigkeiten des Musikers dafür verantwortlich machen, ebensowenig wie den Allmächtigen, dem wir die gebührende Ehre erweisen müssen. Stattdessen sollten wir erkennen, dass der Fehler im Instrument liegt, das ihn daran gehindert hat, dem Schönen zur Erscheinung zu verhelfen, weil es ihm verunmöglichte, sich mit der Musik zu verbinden und dass es das Instrument war, das das Publikum eines lieblichen Genusses beraubte.

Mit uns verhält es sich ebenso. Niemand, der den Menschen versteht, sollte Gott aus mangelnder Demut die Schwächen zur Last legen, die nicht ihm, sondern unserem Leib anhaften. Stattdessen sollten wir daran denken, dass Gott uns unermüdlich seine geistigen Gaben zufließen läßt, dass er immer und überall das Beste vollbringt, dass seine Segnungen unerschöpflich sind, und dass er uns fortdauernd mit seinen besten Absichten unterstützt.

Wenn selbst der Bildhauer Phidias an der Ungeeignetheit seines Materials scheiterte, das ihn daran hinderte, die vollkommene Schönheit zur Erscheinung zu bringen, und auch unser Musiker nur das aus dem Instrument herausholen konnte, was es hergab, dann sollten wir nicht den Urheber schmähen, sondern den Fehler in der Saite suchen, die ermüdet war, einen falschen Ton hervorbrachte und den Rhythmus der lieblichen Musik beeinträchtigte.

Niemand kann dem Musiker die Schuld geben, wenn sein Instrument während der Aufführung zerbricht. Und je mehr die Zuhörer erkennen, dass der Fehler beim Instrument liegt, um so mehr werden sie den Musiker von Schuld freisprechen, der ansonsten beim Zupfen der Saiten den richtigen Ton trifft.

So verhält es sich auch mit euch, verehrte Zuhörer: Ihr solltet eure innere Leier stimmen und auf den göttlichen Musiker hören.

Deutlich sehe ich es vor mir: Manch ein Musiker stimmt sich auf eine großartige Komposition ein und benutzt – ohne die Leier anzufassen – sich selbst als Instrument und findet einen geheimnisvollen Weg, seine Saiten zu spannen und zu heilen, und versetzt sein Publikum in Erstaunen, indem er aus etwas Mangelhaftem etwas nahezu Vollkommenes hervorzaubert.

Von einem Kitharaspieler wird erzählt, dem der göttliche Musiker wohlgesonnen war. Er nahm einst an einem Wettstreit teil, aber während der Vorführung riß eine Saite an seinem Instrument. Aber auf wundersame Weise wurde sie durch den Allmächtigen wieder hergestellt, was ihm den Ruhm des Sieges einbrachte. Auf die gerissene Seite setzte sich dank der Vorsehung des Allmächtigen eine Zikade, die die Lücke ausfüllte, und dem Musiker half, seine Aufführung zu vollenden. So trug der Musiker durch die Wiederherstellung der Saite den Sieg davon und seine Sorge hatte ein Ende.

Ebenso scheint es mir zu ergehen! Verehrte Zuhörer, vor kurzem lag ich noch krank darnieder und beklagte meine Schwäche, aber jetzt erklingt mein Lobpreis auf den König durch die Kraft des Allmächtigen, und ich musiziere. Gott hat mich unterstützt, dass ich den Lobpreis der Könige anstimme und mein Ansporn ist die Anerkennung, die mir von ihnen zuteil wird. Alsdann, laßt uns fortfahren, denn dies ist der Wunsch des göttlichen Musikers! Deswegen hat er seine Leier gestimmt. Mein Gesang wird um so süßer sein, mein Spiel um so gefälliger, je erhabener der Gegenstand, den ich preise.

Da er meine Leier auf die Könige eingestimmt hat, auf den Lobpreis der Könige, da sein Ziel dieser Lobpreis ist, erhebe ich seine Stimme zuerst  zum höchsten aller Könige, zum guten Gott, und nachdem ich beim Höchsten begonnen habe, steigt mein Gesang zu jenen herab, die als Bild des Höchsten das Szepter tragen. Die Könige selbst finden Gefallen daran, dass der Lobpreis beim Höchsten beginnt und langsam zu ihnen herabsteigt, dass er dort beginnt, wo ihnen der Sieg zuteil wurde, jener Sieg, von dem sich auch unsere Hoffnung ableitet.

Alsdann, laßt den Musiker vor den höchsten König treten, den Schöpfer des Alls: den ewig Unsterblichen, der ewig ist durch die Ewigkeit seiner Herrschaft, der erste im glorreichen Sieg, die Quelle aller Siege jener, denen der Sieg gebührt.

Unser Lobpreis steige herab zum Preis der irdischen Könige, den Wächtern über das allgemeine Wohl und den Frieden. Von Gott dem Allmächtigen leitet sich ihre Macht ab, der Sieg wurde ihnen von der rechten Hand Gottes verliehen, Lobpreis wurde ihnen bestimmt, noch ehe sie Siege in der Schlacht errangen, Siegestrophäen wurden für sie auserwählt, noch ehe sie mit ihren Feinden rangen, sie sollten nicht nur Könige sein, sondern auch die Besten, und noch ehe sie zur Schlacht aufbrechen, rufen sie Angst und Schrecken in ihren Feinden hervor.

Mein Lied schreitet dem Ende entgegen, das seines Anfangs würdig ist. Enden soll es, wie es begonnen hat: mit dem Lob des Allmächtigen und dem Lob der Könige, die Gott am nächsten stehen, die über Krieg und Frieden entscheiden. So wie wir mit dem Allmächtigen und der Macht des Himmels begonnen haben, so soll das Ende unseres Liedes seinen Anfang widerspiegeln und wieder zum Allmächtigen zurückkehren.

Die Sonne, die Ernährerin alles Lebendigen, erntet die ersten Ähren, wenn sie sich erhebt, ihre Strahlen sind wie mächtige Hände, die die Ernte einsammeln, die Strahlen, die ihre Hände sind, sammeln die wohlriechendsten Essenzen der Pflanzen ein. Genauso müssen wir nun, da wir beim Allmächtigen begonnen und den Überfluß seiner Weisheit empfangen haben, um die überhimmlischen Pflanzen unserer Seelen zu nähren, noch einmal an den Anfang zurück, und den Lobpreis anstimmen, durch den er jeden Setzling bewässert, den wir pflanzen.

Zu Gott also, dem vollkommen Reinen, dem Vater unserer Seelen, sollen aufsteigen die Lobgesänge tausender und abertausender Stimmen, selbst dann, wenn wir unwürdig sind, ihn zu preisen, weil unsere Rede seinem Wesen nicht gerecht wird: die Neugeborenen können keine Hymnen singen, die ihrem Vater gerecht würden, aber wenn sie ihm soviel Verehrung zuteil werden lassen, wie sie können, dann wird ihnen ihre Unvollkommenheit verziehen. Ja, diese Unvollkommenheit gereicht ihm zum Ruhm, denn er ist größer als seine Kinder, und Anfang, Mitte und Ende unseres Lobpreises rühmen seine grenzenlose Macht und Erhabenheit.

Es liegt in unserer Natur, Gott zu preisen, da wir in gewisser Weise seine Nachfahren sind, aber wir müssen auch um Vergebung bitten, auch wenn die Gewährung dieser Bitte zum größten Teil ihr selbst vorauseilt. Ein Vater kann die neugeborenen Kinder nicht von sich stoßen, nur weil sie kraftlos sind, im Gegenteil, er freut sich darüber, wenn sie beginnen, ihn zu erkennen: so verhält es sich auch mit der Erkenntnis des Alls, das allem die Lebenskraft zuteil werden läßt, und mit dem Lob Gottes, das wir nicht anstimmen könnten, hätte Gott es uns nicht eingeflößt.

Gott, der gut ist und in ewigem Glanz erstrahlt, der immerzu das Gewand seiner Erhabenheit trägt, der unsterblich ist, der die Unendlichkeit in sich trägt, die sein Wesen ausmacht, der immerzu seine Lebensfülle durch den Kosmos strömen läßt und alles auf Erden belebt und uns mit der Verheißung erfüllt, die in unserem heilsamen Lobgesang ertönt.

Dort oben sind die Dinge nicht voneinander getrennt, dort oben gibt es keinen Streit. Alle Wesen denken einen Gedanken, alle besitzen dieselbe Voraussicht, alle besitzen einen Geist: den Geist des Vaters. Ein Wille wirkt in ihnen und der Zauber, der sie zusammenschließt, ist die Liebe, dieselbe Liebe, die in allen Dingen als Harmonie erscheint.

Daher laßt uns Gott preisen und laßt uns herabsteigen zu jenen, die ihr Herrschaftszeichen von ihm erhalten haben. Mit den irdischen Königen haben wir begonnen und die Übung, die wir dabei erworben haben, befähigte uns dazu, Lobgesänge und Hymnen auf den Allmächtigen anzustimmen. So müssen wir mit Gott beginnen und uns darin üben und nicht aufhören uns darin zu üben, mit Gott im Einklang zu stehen. Das Ziel soll sein, dass wir sowohl Gott verehren als auch die Könige preisen können, die sein Abbild auf Erden sind.

Wir müssen ihnen auch Dank entgegenbringen für den Wohlstand, den wir dem von ihnen gestifteten Frieden verdanken. Eines Königs Tugend – wohl denn, allein schon sein Name – bürgt für den Frieden. Denn König heißt er wegen der Leichtigkeit, mit der er seinen Fuß über jede andere Macht hinwegsetzt, weil er die Herrschaft über das Wort besitzt, das Frieden zu stiften vermag, und weil er dazu geboren ist, durch seinen Namen, das Unterpfand des Friedens, kriegerische Völker zu befrieden. Oft schon hat allein der Name eines Königs die Feinde zur Rückkehr bewogen. Selbst die Bildnisse von Königen wurden für vom Sturm Umhergetriebene zu einem Hafen des Friedens. Schon der Anblick seines Abbildes hat schnellen Sieg gebracht und wenn es unbeschädigt an seinem erhabenen Ort steht, dann schützt es jene, die bei ihm Zuflucht suchen.


Das Corpus Hermeticum in einer preisgünstigen, englischen Übersetzung: Hermetica: The Greek Corpus Hermeticum and the Latin Asclepius in a New English Translation, with Notes and Introduction

Und in einer neuen deutschen, wissenschaftlichen Übersetzung:

Das Corpus Hermeticum deutsch, Teil 1: Die griechischen Traktate und der lateinische 'Asclepius'

Das Corpus Hermeticum deutsch, Teil 2: Nag-Hammadi-Texte, Testimonien

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