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Der Mischkrug oder das Eine

Eine freie Übersetzung des vierten Traktats des Corpus Hermeticum von Lorenzo Ravagli


Unterredung des Hermes Trismegistos mit seinem Sohn Tat

Den ganzen Kosmos schuf Gott, der Schöpfer, nicht mit Händen, sondern durch das Wort, den Logos. Darum erkennet ihn als den Gegenwärtigen, den ewig Seienden, den Schöpfer des Alls, den Einen und Einzigen, der durch seinen Willen alles schuf, was ist.

Und so ist sein Leib beschaffen: wir können ihn nicht berühren, nicht sehen, nicht messen. Er besitzt keine räumliche Ausdehnung und ist keinem andern Leib ähnlich. Er ist nicht Feuer, nicht Wasser, nicht Luft, noch Äther - aber all dies kommt aus ihm. Denn Gott ist gut und wollte nicht etwa sich selbst die Schöpfung wie ein Weihgeschenk darbringen, sondern er wollte auch die Erde schmücken.

So sandte er als Schmuck des göttlichen Leibes den Menschen hernieder, jenes Wesen das unsterblich und sterblich zugleich ist. Und der Mensch überragte die Geschöpfe und die übrige Welt durch das Wort und seinen mit Licht erfüllten Geist. Gottes Werke anzuschauen, dazu war der Mensch bestimmt: er staunte und erkannte den Schöpfer. Mit dem Wort nun begabte Gott alle Menschen, nicht aber mit dem von Licht erfüllten Geist. Nicht etwa aus Neid enthielt er ihn manchen vor, denn der Neid ist ihm nicht eigen, der Neid nimmt unten in den Seelen der Menschen Gestalt an, die das Licht des Geistes nicht in sich tragen.

Tat: Warum aber, o Vater, teilte Gott nicht allen das Licht des Geistes zu?

Hermes: Weil er ihn gleichsam als Kampfpreis für alle Seelen sichtbar aufstellen wollte.

Tat: Und wo stellte er ihn auf?

Hermes: Er füllte einen großen Mischkrug und gab ihn einem Boten. Diesen wies er an, auf die Erde herabzusteigen und den Herzen der Menschen zu verkünden: »Tauche ein in diesen Mischkrug, o Seele, wenn du es vermagst, wenn du glaubst, dass du zurückkehren wirst zu dem, der den Mischkrug herabsandte, wenn du erkennst, wozu du geboren bist.«

Und alle, die diese Botschaft verstanden und in den Geist eintauchten, empfingen die Gnosis und mit dem Geist empfingen sie die Vollendung, die Einweihung. Jene aber, die die Botschaft missachteten, empfingen zwar das Wort, nicht aber den Geist. Diese letzteren wissen nicht, wozu sie geschaffen sind und auch nicht, von wem. Ihre Emotionen gleichen denen unvernünftiger Tiere und da ihre Seelen voll Leidenschaft und Blindheit sind, bewundern sie das Werk des Schöpfers nicht. Sie geben sich den Trieben und Genüssen des Leibes hin und glauben, der Mensch sei um ihretwillen geschaffen. Jene aber, die das göttliche Geschenk in sich aufnahmen, wirken, als wenn sie Unsterbliche wären und nicht Sterbliche. Alles umfassen sie mit ihrem Geist, was auf der Erde und im Himmel und über dem Himmel ist. Wenn sie sich aber bis in diese Höhen hinaufgeschwungen haben, schauen sie das Gute, und wenn sie es gesehen haben, dann erscheint ihnen der Aufenhalt hier unten als Unglück. Sie achten alles Körperliche und Unkörperliche gering und eilen dem Einen und Einzigen entgegen. Darin, o Tat, besteht die Gnosis: im Schauen der göttlichen Dinge und im Begreifen Gottes. Denn göttlich ist der Mischkrug.

Tat: Auch ich möchte aus ihm getauft werden, o Vater.

Hermes: Wenn du nicht zuvor deinen Leib gering achtest, mein Kind, wirst du dein wahres Selbst nicht lieben können. Liebst du aber dein wahres Selbst, so besitzt du den Geist, und wenn du den Geist besitzt, wirst du Anteil haben an der befreienden Gnosis.

Tat: Wie meinst du das, mein Vater?

Hermes: Es ist unmöglich, mein Kind, sich dem Sterblichen und dem Göttlichen zugleich hinzugeben. Da alles was ist, sowohl körperlich als unkörperlich ist, das Sterbliche körperlich und das Göttliche unkörperlich ist, bleibt nur die Wahl zwischen beiden. Denn man kann nicht beide zugleich haben. Wer aber die Wahl trifft, wird an dem, worauf er verzichtet, die Macht dessen erkennen, wofür er sich entscheidet. die Wirkenskraft des anderen. Die Entscheidung für das Bessere zieht nicht nur den schönsten Lohn nach sich – macht sie doch den Menschen gottgleich – , wir bezeugen durch sie auch unsere Ehrfurcht vor unserem Schöpfer. Die Entscheidung für das Schlechtere aber stürzt uns ins Verderben, ohne Gott zu berühren. Solche Menschen gleichen Fackeln, die in Prozessionen herumgetragen werden, die niemandem schaden, aber alle stören. So ziehen auch diese in der Welt umher, getrieben von den Begierden des Leibes.

Was von Gott kommt, o Tat, wartet immer darauf, dass wir es ergreifen. Wir müssen es aber von selbst ergreifen und dürfen nicht zögern. Denn Gott ist nicht der Urheber des Bösen, sondern wir, die wir es dem Guten vorziehen.

Du kannst dir vorstellen, mein Kind, wie viele Körper wir durchwandern müssen, wie vielen Dämonen wir entkommen müssen, wie lange wir durch die Sternenwelt wandern müssen, bis wir zu dem einen und einzigen Gott gelangen. Das Gute aber ist das letzte Ziel, es kennt keine Grenzen und kein Ende. Ebensowenig hat es einen Anfang, auch wenn es uns so scheint – beginnt doch das Gute für uns mit der Gnosis und geht aus ihr hervor. Das Gute beginnt nicht mit unserer Erkenntnis, aber wenn unsere Erkenntnis des Guten beginnt, beginnen wir selbst gut zu werden. Wenn wir damit beginnen, die Gnosis in uns aufzunehmen, werden wir rasch fortschreiten. Es ist zwar unbequem, auf die Gewohnheiten und das unmittelbar Greifbare zu verzichten, und den Blick der Seele dem Ursprünglichen und dem Anfang aller Dinge zuzuwenden. Denn die Sinne verzaubern uns, während das Unsichtbare wenig Glauben findet. Das Böse fällt in die Augen, das Gute ist unsichtbar, es hat keine Form oder Gestalt. Deswegen gleicht es allein sich selbst und ist verschieden von allem anderen. Was keinen Körper besitzt, können die Sinne des Körpers nicht wahrnehmen.

Das ist der Unterschied zwischen dem, was mit sich selbst identisch ist und dem, was von sich selbst verschieden ist. Was aber nicht sich selbst gleicht, ist gegenüber dem mit sich selbst Gleichen minderen Ranges. Denn das Eine, das sich selbst gleicht, ist der Anfang und Urgrund allen Seins. Nichts ist ohne den Anfang. Der Anfang entspringt allein sich selbst, aus ihm entspringt alles, was einen Anfang hat. Anfangslos ist der Anfang aller Dinge. Und dieses Eine, das der Anfang aller Dinge ist, ist auch der Ursprung aller anderen Zahlen, der Urgrund der Vielheit. Alles ist in ihm enthalten. Das Eine, die Eins, zeugt alle Zahlen und wird von keiner anderen erzeugt. Alles Erzeugte ist unvollkommen, teilbar, kann vermehrt und vermindert werden, nicht jedoch das Vollkommene. Was vermehrt und vermindert werden kann, verdankt dies dem Einen, das alles vermehrt. Vermindert aber wird es nur durch seine eigene Unvollkommenheit, die das Eine nicht zu fassen vermag.

Dies, o Tat, ist das Sinnbild Gottes, so weit es sich beschreiben lässt. Wenn du dich in es versenkst und es mit den Augen des Herzens wahrnimmst, dann, glaube mir, mein Kind, wirst du den Weg nach oben finden. Das Bildnis selbst wird dich bei deiner Wanderung führen. Denn wer sich diesem Gedankenbild in der Meditation hingibt, den bindet es an sich und es zieht ihn hinauf, so wie der Magnet das Eisen an sich zieht.


Das Corpus Hermeticum in einer preisgünstigen, englischen Übersetzung: Hermetica: The Greek Corpus Hermeticum and the Latin Asclepius in a New English Translation, with Notes and Introduction

Und in einer neuen deutschen, wissenschaftlichen Übersetzung:

Das Corpus Hermeticum deutsch, Teil 1: Die griechischen Traktate und der lateinische 'Asclepius'

Das Corpus Hermeticum deutsch, Teil 2: Nag-Hammadi-Texte, Testimonien

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