suche | spenden | impressum | datenschutz
Anthroposophie / Erweiterungen / Quellen der Esoterik / Der verborgene Gott

Der verborgene Gott

Eine freie Übersetzung des fünften Traktats des Corpus Hermeticum von Lorenzo Ravagli


Hermes an Tat, seinen Sohn.

Dass der verborgene Gott vollkommen offenbar ist

Auch diese Lehre will ich dir vollständig zuteil werden lassen, o Tat, auf dass du nicht uneingeweiht bleibest in die Geheimnisse jenes Gottes, dessen Wesen kein Name auszudrücken vermag. Du mußt begreifen, wie etwas, das für die Menge unsichtbar ist, dir völlig offenbar werden kann. In Wahrheit würde es nicht immer sein, wenn es nicht verborgen wäre. Alles, was offenbar wird, wurde hervorgebracht, denn in einem bestimmten Augenblick wurde es sichtbar. Aber das Unoffenbare ist immer, und weil es immer ist, hat es nicht nötig, offenbar zu werden. Während es also unoffenbar bleibt, weil es immer ist, macht es alles andere offenbar. Jenes Wesen, das alles offenbar macht, bleibt selbst im Verborgenen; was hervorbringt, wird nicht selbst hervorgebracht, was Bilder alles Seienden sichtbar macht, bietet sich selbst nicht der Wahrnehmung dar. Denn Wahrnehmung gibt es nur von den hervorgebrachten Dingen: entstehen ist nichts anderes, als wahrnehmbar werden.

Offensichtlich ist das eine, das allein nicht hervorgebracht wird, unvorstellbar und unsichtbar, aber indem es die Bilder aller Dinge zur Erscheinung bringt, wird es durch sie alle sichtbar und wahrnehmbar in ihnen allen. Vor allem von jenen wird es wahrgenommen, von denen es sich wünscht, dass sie es wahrnehmen.

Du also, Tat, mein Sohn, bete zuerst zum Herrn, dem Vater, dem Einzigen, der nicht der Eine ist, aber von den der Eine kommt. Bitte, dass er dir die Gnade zuteil werden lasse, dass du ihn in seiner Größe begreifen kannst, dass auch nur ein einziger Strahl seines Wesens dein Denken erleuchte. Allein das Denken vermag das Unoffenbare wahrzunehmen, weil es selbst unoffenbar ist, und wenn du die Kraft besitzt, Tat, dann wird das Auge deines Geistes es sehen. Denn der Herr, dessen Herz frei von Neid ist, offenbart sich im ganzen Kosmos. Kannst du das Denken sehen und mit deinen Händen fassen? Kannst du Gott mit deinen sinnlichen Augen wahrnehmen? Wenn dein innerstes Wesen dir selbst verborgen bleibt, wie soll dann Gott sein innerstes Wesen für deine Augen sichtbar machen?

Wenn du Gott sehen willst, betrachte die Sonne, betrachte den Lauf des Mondes und die Muster der Sternzeichen. Wer hält diese Ordnung aufrecht? (Denn jede Ordnung beruht auf Zahl und Ort). Die Sonne, der größte Gott im Himmel, dem sich alle anderen Himmelsgötter als einem König und Herrscher unterwerfen, diese so mächtige Sonne, die größer ist als die Erde und das Meer, erlaubt es kleineren Sternen, über ihr zu kreisen. Zu wem schaut sie auf? Wen fürchtet sie? Kreist nicht jeder dieser Sterne am Himmel gleichförmig um die Erde oder in vergleichbarer Form? Wer hat ihnen die Richtung vorgegeben, wer ihre Bahn bestimmt?

Wer herrscht über den Bären, jene Konstellation, die sich um sich selber dreht und den ganzen Kosmos bewegt, als wäre er sein Werkzeug? Wer setzt dem Weltmeer Grenzen? Wer setzte die Erde an ihre Stelle? Es gibt jemanden, Tat, der alles gemacht hat und über alles herrscht. Wenn es niemanden gäbe, der sie gemacht hat, könnte es weder Ort noch Zahl noch Maß geben. Alles, was Ordnung hat, wurde bestimmt, nur etwas, das keinen Ort hat und kein Maß, wurde nicht bestimmt. Aber selbst dieses hat einen Meister über sich, mein Kind. Selbst wenn das Ungeordnete nicht durch Maß und Zahl gezähmt wird, steht doch ein Meister über ihm, der ihm seine Ordnung gewiss noch aufprägen wird.

Ich wünschte, dir könnten Flügel wachsen, mit denen du dich in die Höhe aufschwingst, damit du, schwebend zwischen Himmel und Erde, unten den festen Boden sähest, die flüssige See, die strömenden Flüsse, die ungebundene Luft, das alldurchdringende Feuer, die kreisenden Sterne und den Himmel, der in seiner Achse um denselben Ort kreist. O, dies ist eine beglückende Schau, mein Kind, wenn man all dies in einem Augenblick zu erfassen vermag, wenn man das Bewegungslose sieht, das in Bewegung versetzt und das Unsichtbare, das sichtbar macht, wenn man es erfaßt durch all das, was es auf diese Weise offenbart! Dies ist die Ordnung des Weltalls und das All der Ordnung.

Wenn du deine Schau erweitern willst, dann blicke auf die sterblichen Wesen auf Erden und in den Tiefen, mein Kind. Betrachte, wie das Menschenwesen im Mutterleib geformt wird, untersuche sorgfältig die Weisheit der formenden Kraft, und suche zu begreifen, wer es ist, der dieses wunderbare, gottgleiche Bild des Menschen formt. Wer hat die Linie um die Augen gezogen? Wer hat dem Antlitz Öffnungen für die Nase und Ohren eingefügt? Wer öffnete den Mund? Wer hat die Sehnen aufgespannt und verbunden? Wer formte die Bahnen für die Blutgefäße? Wer härtete die Knochen? Wer überzog das Fleisch mit seiner Haut? Wer teilte die Finger? Wer flachte die Füße ab? Wer öffnete die Poren? Wer hat die Milz an ihren Ort gebracht? Wer gestaltete das Herz wie eine Pyramide? Wer fügte die Rippen zusammen? Wer formte die Leber? Wer weitete die Lungenflügel? Wer schuf Raum im Magen? Wer hat die edelsten Teile nach außen gekehrt und die unedlen verborgen?

Sieh doch, wieviel Weisheit auf dieses eine Material verwendet wurde, wieviel Mühen für ein einziges Werk, all die wunderbaren Dinge, so fein abgemessen, so verschiedenartig. Wer hat sie alle geformt? Was für eine Art Mutter oder Vater, wenn nicht der verborgene Gott, der sie alle kraft seines Willens geschaffen hat?

Kein Mensch behauptet, ein Bildnis oder eine Statue könnten ohne einen Maler oder Bildhauer entstehen. Wurde dieses Wunderwerk etwa ohne einen Werkmeister geschaffen? Oh, wie groß muss die Blindheit sein, die Ehrfurchtslosigkeit, die Ignoranz! Tat, mein Kind, beraube das Kunstwerk nie seines Künstlers! Ja, mehr noch, er ist noch mehr als das, denn kein Name kann sein Wesen erfassen, so groß ist er! Gewiss ist er der Einzige, den man wahrhaftig als Vater bezeichnen kann.

Wenn du mich drängst, dann sage ich sogar noch mehr: es ist sein Wesen, mit allen Dingen schwanger zu gehen und sie zu gebären. So wie es unmöglich ist, dass irgendein Ding erzeugt wird ohne einen Erzeuger, so unmöglich ist es, dass dieser Allerzeuger existiert, ohne unablässig zu zeugen, alles zu zeugen, was im Himmel ist und in der Luft  und auf Erden und in den Tiefen, in jedem Teil des Kosmos, in allem, was ist und auch nicht ist. Denn nichts gibt es in diesem Kosmos, das nicht er wäre. Er selbst ist die Dinge, die sind und die Dinge, die nicht sind. Jene, die sind, hat er sichtbar gemacht, und jene, die nicht sind, mit denen geht er noch schwanger.

Dies ist der Gott, den kein Name zu bezeichnen vermag, dies ist der Gott, der vollkommen verborgen und vollkommen offenbar ist. Dieser Gott, der für die Augen sichtbar ist und für den Geist. Er ist körperlos und besitzt viele Körper, oder besser, er besitzt alle Körper. Nichts gibt es, das er nicht wäre, und deswegen gehören alle Namen ihm, weil sie alle von einem Vater kommen, und deswegen hat er keinen Namen, weil er ihrer aller Vater ist.

Wer vermöchte dich zu preisen, deinen Willen auszuführen oder deine Pläne zu vollenden? Wo soll ich hinsehen, um dich zu preisen: hinauf, hinunter, in mein Inneres, hinaus in die Welt? Denn es gibt keine Richtung, in der ich dich finden könnte, keinen Ort, an dem du wohnst, kein Wesen, das dich enthielte. Alles ist in dir, alles kommt von dir. Du gibst alles und nimmst nichts. Denn du hast bereits alles und nichts gibt es, was nicht dir gehört.

Wann soll ich einen Lobgesang auf dich anstimmten? Du hast weder Zeit noch Stunde. Für wen soll ich den Lobgesang singen: für das, was du gemacht hast, oder für das, was du nicht gemacht hast? Für das, was du offenbar gemacht hast oder für das, was du noch in dir trägst, unentborgen? Und wie soll ich dich preisen? Als etwas, das zu mir gehört, das eine besondere Eigenschaft besitzt, oder als etwas, was nicht zu mir gehört? Denn du bist, was auch immer ich sein mag, du bist, was auch immer ich vollbringe, du bist, was auch immer ich sage. Du bist alles, und es gibt nichts anderes. Und was nicht ist, bist du ebenso. Du bist alles, was Gestalt angenommen hat, du bist alles, was gestaltlos ist. Du bist der Geist, der versteht, der Vater, der erzeugt, der Gott, der handelt, und das Gute, das allen Dingen ihr Sein zuteilt. Denn das feinste von allen stofflichen Dingen ist die Luft, aber das Wesen der Luft ist die Seele, das Wesen der Seele der Geist und das Wesen des Geistes ist Gott.


Das Corpus Hermeticum in einer preisgünstigen, englischen Übersetzung: Hermetica: The Greek Corpus Hermeticum and the Latin Asclepius in a New English Translation, with Notes and Introduction

Und in einer neuen deutschen, wissenschaftlichen Übersetzung:

Das Corpus Hermeticum deutsch, Teil 1: Die griechischen Traktate und der lateinische 'Asclepius'

Das Corpus Hermeticum deutsch, Teil 2: Nag-Hammadi-Texte, Testimonien

nach Oben