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Nichts Seiendes geht verloren

Eine freie Übersetzung des achten Traktats des Corpus Hermeticum von Lorenzo Ravagli


Nun, mein Sohn, müssen wir über Seele und Leib sprechen und erläutern, in welchem Sinn die Seele unsterblich ist und wo die Kraft herkommt, die den Körper zusammensetzt und wieder auflöst. Der Tod hat damit nichts zu tun. »Tod« ist ein Begriff, der vom Begriff »unsterblich« abgeleitet ist: entweder er hat keine Bedeutung, oder durch das Weglassen der ersten Silbe ist aus »unsterblich« [a-thanatos] die Vorstellung »sterblich« [thanatos] entstanden. Tod hat mit Zerstörung zu tun; aber nichts im Kosmos wird wirklich zerstört. Wenn der Kosmos ein zweiter Gott und ein unsterbliches Lebewesen ist, dann ist es ausgeschlossen, dass auch nur der kleinste Teil dieses unsterblichen Lebewesens stirbt. Alle Dinge im Kosmos sind Teile des Kosmos, insbesondere der Mensch, das Lebewesen, das zu denken vermag.

Gott ist in Wahrheit das erste aller Wesen, ewig, ungezeugt, Erzeuger alles dessen, was ist. Aber durch sein Schaffen kam ein zweiter Gott ins Dasein, ein Abbild dieses ersten, und dieser zweite Gott verdankt sein Dasein dem ersten, der ihn nährt und ihm Unsterblichkeit verleiht, wie ein ewiger Vater, so dass auch der Sohn immer lebt, weil er unsterblich ist. In der Tat unterscheidet sich das immer Lebende vom Ewigen. Der erste Gott trat nicht durch etwas anderes ins Dasein, und falls er überhaupt anfing zu sein, dann durch sich selbst. Aber er hat nie angefangen zu sein, er ist vielmehr ewiger Anfang. Er ist das ewige Wesen, das dem Kosmos Ewigkeit verleiht, der ewige Vater, der ewig ist, weil er durch sich selbst existiert. Aber der Kosmos empfing sein ewiges Leben und seine Unsterblichkeit vom ewigen Vater.

Und der Vater nahm den Stoff, der ihm gefiel, und formte daraus eine körperliche Sphäre von unfasslichem Umfang. Der Stoff, dem er diese sphärische Form verlieh, ist unsterblich und ewig. Ferner pflanzte der Vater der Sphäre die unterschiedlichsten Formen ein, indem er sie wie in einer Höhle einschloß. Er wollte sein Abbild mit jeder Eigenschaft schmücken, die ihn auszeichnet und den ganzen Körper des Kosmos mit Unsterblichkeit umgeben, so dass selbst der Stoff, der dazu neigt, sich aus dieser Zusammensetzung zu lösen, nicht in seinen üblichen chaotischen Zustand versinkt. Als der Stoff noch nicht zum Körper geformt war, mein Kind, entbehrte er nämlich jeglicher Ordnung. Besonders hier, in dieser unteren Welt, vermehrt und vermindert sich der Stoff, – und das bezeichnen wir Menschen als »Tod«.

Aber dieser Rückfall in die Ordnungslosigkeit, der mit der Verminderung einhergeht, ereignet sich nur bei Dingen, die auf der Erde, unterhalb des Mondes leben. Die Himmelskörper besitzen eine einfache Form, die nicht zusammengesetzt ist, die sie vom Vater am Anfang erhalten haben. Und diese Form bleibt dadurch erhalten, dass all diese Himmelskörper in ihrem Lauf immer wieder zum Ausgangspunkt zurückkehren. Die Wiederkehr der Körper hier auf der Erde ist die Zunahme, das Wachstum – die Auflösung ihrer Zusammensetzung läßt sie in die unzusammengesetzten Körper zurückkehren, in die unsterblichen. So tritt wohl ein Verlust des Bewußtseins ein, aber nicht eine Zerstörung der Körper.

Nach dem Willen des Vaters und im Unterschied zu den übrigen Lebewesen auf Erden, ist der Mensch, das dritte Lebewesen, nach dem Bilde des Kosmos geschaffen. Er besitzt Geist, und ist nicht nur durch die Kraft der Sympathie mit dem zweiten Gott verbunden, sondern durch sein Denken auch mit dem ersten. Den zweiten Gott nimmt er als Körper wahr, den ersten jedoch durch sein Denken als unkörperliches Wesen, als das Gute.

»Dieses Lebewesen vergeht also nicht, o Hermes?«

Hüte Deine Zunge, mein Kind, und suche zu verstehen, was Gott ist, was der Kosmos, was ein unsterbliches Lebewesen und was ein Lebewesen, das sich auflöst. Begreife, dass der Kosmos von Gott geschaffen wurde und in Gott ist, dass aber die Menschheit vom Kosmos erschaffen wurde und im Kosmos ist. Begreife, dass Gott der Anfang, die Mitte und das Ende aller Dinge ist.


Das Corpus Hermeticum in einer preisgünstigen, englischen Übersetzung: Hermetica: The Greek Corpus Hermeticum and the Latin Asclepius in a New English Translation, with Notes and Introduction

Und in einer neuen deutschen, wissenschaftlichen Übersetzung:

Das Corpus Hermeticum deutsch, Teil 1: Die griechischen Traktate und der lateinische 'Asclepius'

Das Corpus Hermeticum deutsch, Teil 2: Nag-Hammadi-Texte, Testimonien

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