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Der Same der Gnosis und das Böse

Eine freie Übersetzung des neunten Traktats des Corpus Hermeticum von Lorenzo Ravagli


Gestern, Asklepios, sprach ich zu Dir über die in der Gnosis Vollendeten. Heute, denke ich, sollten wir über die Sinneswahrnehmung sprechen.

Offensichtlich gibt es einen Unterschied zwischen Erkennen und Wahrnehmen, denn jenes ist auf die Form gerichtet, dieses auf den Stoff. Mir jedoch scheinen die beiden verbunden zu sein, nicht getrennt – im Menschen jedenfalls. Bei den anderen Lebewesen ist die Sinneswahrnehmung ein Teil ihrer Natur, beim Menschen das Erkennen zusätzlich zur Sinneswahrnehmung. Der Geist ist so weit vom Erkennen verschieden, wie Gott von einer seiner Erscheinungen. Die Erscheinung Gottes kommt durch sein Wirken zustande – das Erkennen durch das Wirken des Geistes. Erkennen ist mit dem vernünftigen Sprechen verschwistert, das eine ist das Werkzeug des anderen. Es gibt keine Erscheinung vernünftigen Sprechens ohne Erkennen, ebensowenig wie es einen Beweis für das Erkennen ohne vernünftiges Sprechen gibt.

Im Menschen fließen Sinneswahrnehmung und Erkennen zusammen, sie sind miteinander verflochten. Denn ohne Sinneswahrnehmung ist es unmöglich zu erkennen, ebenso wie es unmöglich ist, ohne Erkennen sinnliche Wahrnehmungen zu haben.

Ist das Erkennen ohne Sinneswahrnehmung möglich, so etwa, wie jemand Bilder sieht, wenn er träumt?

Mir scheint, als ob beim Träumen beide Fähigkeiten – das Wahrnehmen und das Erkennen ausgeschaltet sind, auch wenn im Augenblick, wenn der Träumer erwacht, Erkennen und Sinneswahrnehmung wieder zusammenfließen. Wie auch immer – an der Sinneswahrnehmung haben Körper und Seele teil, und wenn beide harmonisch zusammenwirken, dann kommt es auch zur Erkenntnis, die vom Geist gezeugt wird.

Der Geist empfängt jeden geistigen Inhalt: sowohl das Gute, wenn der Geist Samen von Gott empfängt, als auch dessen Gegenteil, wenn ihm Samen von dämonischen Wesen eingepflanzt werden. Soweit er nicht von Gott erleuchtet ist, ist kein Teil des Kosmos von dämonischen Mächten frei, die sich in den Geist schleichen, um die Samen ihrer eigenen Wirkungen auszustreuen – und was der Geist empfangen hat, das brütet er aus: Ehebruch, Mord, Verachtung der Eltern, Gotteslästerung, Ehrfurchtslosigkeit und Selbstmord, indem man sich von einem Felsen stürzt – und andere Einflüsterungen der Dämonen.

Nur wenige Samen kommen von Gott, aber sie sind mächtig und schön und gut – Tugend, Mäßigung und Ehrfurcht. Ehrfurcht ist Wissen von Gott, und jemand, der das gnostische Wissen von Gott erlangt hat, der mit aller denkbaren Güte erfüllt ist, trägt göttliche Gedanken in sich und nicht solche, wie sie bei der Menge üblich sind. Daher gefallen jene, die in der Gnosis leben, der Menge nicht, noch gefällt ihnen die Menge. Sie scheinen verrückt und machen sich selbst lächerlich. Sie werden gehasst und verachtet, und manchmal werden sie sogar getötet. Wie ich sagte, ist die Erde das Geburtsland des Lasters. Die Erde und nicht der Kosmos, ist die Heimat des Lasters, wie manche gotteslästerlich behaupten. Wer gottesfürchtig ist, wird all dem widerstehen, weil er in der Gnosis lebt, denn ein solcher Mensch erkennt in allem das Gute, selbst in solchen Dingen, die anderen nur als böse erscheinen. Wenn sie Anschläge auf ihn anstiften, wendet er sich der Gnosis zu und vermag so das Böse in Gutes zu wandeln.

Kehren wir zur Sinneswahrnehmung zurück. Es ist natürlich für den Menschen, dass die Sinneswahrnehmung einen Anteil an seinem Erkennen hat, aber nicht jeder Mensch kommt in den Genuß der Gnosis. Der eine ist der sinnlichen Welt, der andere dem Geist zugewandt. Wie ich erwähnte, erhalten die der sinnlichen Welt zugewandten Menschen, die von Lastern umgeben sind, die Samen ihrer Erkenntnis von Dämonen, aber Gott rettet jene, die in ihrem Wesen vom Guten erfüllt sind. Gott, der Erzeuger aller Dinge, macht all diese Dinge sich selbst ähnlich, indem er sie erzeugt, aber all die Dinge, in die er das Gute gelegt hat, fangen an sich zu unterscheiden durch die Art, wie sie ihre Kräfte verwenden. Die Bewegung des Kosmos, die den Gang alles Werdens unterhält, erzeugt Wesen unterschiedlicher Art: in die einen pflanzt sie das Laster, die anderen reinigt sie mit dem Guten. Denn der Kosmos besitzt seine eigene Art des Wahrnehmens und seine eigene Art des Erkennens, Asklepios, nicht so, wie der Mensch und auch nicht viel anders, aber viel stärker und unmittelbarer.

Die Wahrnehmung und das Erkennen des Kosmos sind einzig darauf gerichtet, dem Willen Gottes gemäß, alle Dinge aus sich hervorgehen und in sich wieder aufgehen zu lassen. In Wahrheit schuf Gott dieses Werkzeug, damit es alle Dinge zu erzeugen vermöge, und die Samen, die es von Gott erhielt unter seinem Schutz zur Entfaltung bringe. Indem der Kosmos alle Dinge auflöst, erneuert er sie, und wenn sie aufgelöst sind, dann schenkt er ihnen wie ein guter Bauer die Erneuerung durch denselben Vorgang der Wandlung, der den Kosmos im Ganzen bewegt. Es gibt nichts, das nicht ein Erzeugnis der kosmischen Fruchtbarkeit wäre. Der Kosmos bringt durch seine Bewegung alles zum Leben und er ist zugleich die Stätte der Zeugung und der Erzeuger. Alle Körper entstehen aus dem Stoff, aber auf unterschiedliche Weise: manche kommen aus der Erde, andere aus dem Wasser, andere aus der Luft und wieder andere aus dem Feuer. Alle sind sie zusammengesetzt, manche einfacher, manche komplexer. Die komplexeren sind auch die schwereren, die anderen sind leichter. Die schnelle Bewegung des Kosmos erzeugt Verschiedenheit, indem sie die unterschiedlichen Arten von Lebewesen hervorbringt. Durch seinen Atem läßt der Kosmos den verschiedenen Körpern ihre Eigenschaften zukommen und die Fülle all dieser Eigenschaften ist die Offenbarung seines Lebens. So also ist Gott der Vater der Kosmos, der Kosmos aber ist der Vater aller Dinge, die sich in ihm befinden. Der Kosmos ist der Sohn Gottes und die Dinge im Kosmos sind durch den Kosmos gemacht. Zurecht ist von »Kosmos«, »Ordnung« oder »Anordnung« die Rede, denn der Kosmos ordnet alle Dinge durch die Verschiedenheit des Werdens, die Rastlosigkeit des Lebens, die Ruhelosigkeit der Aktivitäten, im Dahinrasen der Notwendigkeit, in der Verbindung der Elemente und in der Ordnung der Dinge, die entstehen. Daher ist es notwendig und angemessen, wenn von »Ordnung und Anordnung« gesprochen wird.

Daher treten die Sinneswahrnehmung und das Erkennen in alle Dinge von außen ein, indem die Atmosphäre sie ihnen einhaucht, aber der Kosmos hat sie alle bei ihrer Entstehung in sich aufgenommen und nachdem er sie in sich aufgenommen hat, behält er sie in sich durch die Kraft Gottes. Auch Gott ist nicht ohne Wahrnehmung und Erkenntnis, auch wenn manche aus einem Übermaß aus Pietät es gerne so sähen, die damit aber in Wahrheit eine Gotteslästerung begehen. Denn alles, was ist, ist in Gott, Asklepios. Alles ist durch Gottes Wirken entstanden und hängt von einem Höheren ab. Manches wirkt durch einen Körper, anderes durch die Seele, wieder anderes erschafft Leben durch seinen Hauch oder nimmt die Überbleibsel des Lebens in sich auf, so wie es vorgesehen ist. Oder besser sollte ich sagen, dass Gott diese Dinge nicht enthält. Denn Gott ist alles, was sie sind, und deswegen eignet er sie sich nicht wie etwas an, das außerhalb von ihm ist, sondern vielmehr entäußert er sich ihrer – und dies ist seine Art der Wahrnehmung und des Erkennens, durch die er alles allezeit bewegt. Die Zeit wird nicht kommen, zu der auch nur ein Ding verloren gehen würde. Wenn ich von den Dingen spreche, die sind, dann spreche ich von Gott. Denn Gott birgt alle Dinge die sind, in sich; nichts ist außer ihm, und er ist außerhalb von nichts.

Wenn der Geist dich erfüllt, Asklepios, dann sollten dir diese Erörterungen wahr erscheinen, wenn du aber nicht von der Gnosis erfüllt bist, werden sie dir unglaubhaft erscheinen. Erkennen heißt glauben und wer nicht glaubt, erkennt nicht. Durch das vernünftige Reden allein gelangt man nicht zur Wahrheit, aber der Geist ist mächtig und wenn er von der Vernunft bis zu dieser Stelle geführt wurde, dann ist er auch imstande, zur Wahrheit zu gelangen. Nachdem der Geist all dies sorgfältig bedacht und erkannt hat, dass es in Einklang mit den Einsichten der Vernunft steht, wird er daran glauben und in diesem wunderschönen Glauben findet er seinen Frieden. Durch einen Eingriff Gottes also finden jene, die erkannt haben, glaubenswürdig, was ich gesagt habe, aber jene die nicht erkannt haben, glauben auch nicht.

Soviel sei über das Erkennen und das Wahrnehmen gesagt.


Das Corpus Hermeticum in einer preisgünstigen, englischen Übersetzung: Hermetica: The Greek Corpus Hermeticum and the Latin Asclepius in a New English Translation, with Notes and Introduction

Und in einer neuen deutschen, wissenschaftlichen Übersetzung:

Das Corpus Hermeticum deutsch, Teil 1: Die griechischen Traktate und der lateinische 'Asclepius'

Das Corpus Hermeticum deutsch, Teil 2: Nag-Hammadi-Texte, Testimonien

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