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Anthroposophie / Geschichte / Geschichte der Anthroposophie im 20. Jahrhundert / Der Prozess um den Nachlass Rudolf Steiners

1949-1952 | Der Prozess um den Nachlass Rudolf Steiners

Der ursprüngliche Vorstand der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft war nach der Kaltstellung und dem kurz darauf erfolgten Tod Marie Steiners auf zwei Mitglieder geschrumpft. Albert Steffen war bei Marie Steiners Tod 64 Jahre alt, Guenther Wachsmuth 55. Die Leitung einer Internationalen Gesellschaft mit Tausenden von Mitgliedern und die gleichzeitige Verantwortung für eine Freie Hochschule für Geisteswissenschaft dürfte vom Tandem des verbliebenen Vorstandes als drückende Last empfunden worden sein. Albert Steffen dürfte die Tatsache, dass vier der sieben Gründungsmitglieder inzwischen verstorben waren, angesichts seines eigenen Alters als Menetekel erschienen sein. Marie Steiner hatte bereits Mitte der vierziger Jahre, kurz vor ihrem achtzigsten Geburtstag, die Neubegründung des Vorstandes vorgeschlagen. Der Einsicht, dass die Leitung der Gesellschaft für die Zukunft sichergestellt werden musste, konnte nicht länger ausgewichen werden. Daher verwundert es nicht, wenn Albert Steffen, der die Gesellschaft nach seinem Tod offenbar nicht Guenther Wachsmuth allein überlassen wollte, der Generalversammlung im Jahr 1949 eine Erweiterung des Vorstandes vorschlug, die von dieser auch angenommen wurde. Es ist nach all den jahrzehntelangen, ideologisch hochgradig aufgeladenen Auseinandersetzungen um die Zusammensetzung des Vorstandes und seine esoterische Konstitution äußerst erstaunlich, wie unspektakulär seine erste personelle Erweiterung vonstatten ging. (Bei der Generalversammlung lag ein Antrag vor, über die beiden Kandidaten getrennt abzustimmen, der aber vom Vorstand – wozu er verfahrenstechnisch gar nicht befugt war – abgelehnt wurde. Eine größere Zahl von Mitgliedern verließ daraufhin unter Protest den Saal. Es handelte sich um Sympathisanten Marie Steiners, die gegen die Aufnahme von Lewerenz in den Vorstand opponierten, dessen feindselige Haltung gegenüber der Nachlassverwaltung bekannt war).

Als neue Mitglieder kamen hinzu: der Naturwissenschaftler Hermann Poppelbaum (1891-1979) und der Musiker Wilhelm Lewerenz (1898-1956). Poppelbaum, der während des I. Weltkriegs in französischer Gefangenschaft Otto Palmer, dem Verfasser einer noch heute lesenswerten Monografie über die »Philosophie der Freiheit« und damit der Anthroposophie begegnet war, wurde 1919 Mitglied der Gesellschaft. Beim Hochschulkurs zur Eröffnung des ersten Goetheanum im September 1920 lernte er Rudolf Steiner kennen und gehörte 1924 zu den ersten von diesem autorisierten Rednern, die im Namen des Goetheanum öffentlich auftreten durften. Er wirkte in Hamburg als Zweigleiter und wurde Anfang der 1930er Jahre in den Vorstand der deutschen Landesgesellschaft gewählt. Im Zusammenhang mit dem Verbot der Anthroposophischen Gesellschaft wurde er 1935 mehrfach von der Gestapo verhört. Die politischen Nachstellungen bewogen ihn dazu, mit seiner Familie nach England auszuwandern. 1939 wurde er zu Vorträgen in die USA eingeladen. Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges verhinderte seine Rückkehr nach England, Frau und Kinder durften jedoch in die Schweiz ausreisen. Er setzte seine Vortragstätigkeit in den USA fort, unterrichtete an Waldorfschulen und als Gastdozent für Biologie an der Alfred University im Staat New York. Erst 1948 kam er wieder mit seiner Familie in der Schweiz zusammen.

Poppelbaum übernahm mit seiner Berufung in den Vorstand die Leitung der Pädagogischen Sektion und 1963, nach dem Tod Guenther Wachsmuths, sollte er auf dessen testamentarischen Wunsch zum Leiter der Naturwissenschaftlichen Sektion werden. Nach dem Tod Steffens 1963 avancierte er mit 73 Jahren zum Vorsitzenden der Gesellschaft.

Lewerenz war seit den zwanziger Jahren als Musiker innerhalb der Sektion für redende und musische Künste aktiv gewesen und übernahm nun deren Leitung, also die Funktion, die Marie Steiner bis zu ihrem Tod innehatte.

Zwischen dem Goethejahr 1949 und dem Jahr der Explosion der ersten Wasserstoffbombe 1952 erreichten die ideologischen Auseinandersetzungen in der Anthroposophischen Gesellschaft ihren absoluten Tiefpunkt, den der Prozess zwischen der Goetheanumleitung und dem Verein zur Verwaltung des Nachlasses Rudolf Steiners (»Nachlassverein«) markiert. Von historischer Bedeutung ist die zusammenfassende Darstellung des Konflikts, die Paul Jenny (1898–1971), Vorstandsmitglied der Nachlassverwaltung, in der Haupt- und Schlussverhandlung vor dem Obergericht Solothurn am 17. Juni 1952 vortrug. (»Nachrichten der Rudolf Steiner Nachlassverwaltung«, Nr. 4, Oktober 1952)

Ausgangspunkt des Prozesses war eine Klage, die der Nachlassverein wegen Urheberrechtsverletzung gegen den Philosophisch-Anthroposophischen Verlag einreichte, weil dieser begonnen hatte, Vortragsreihen Steiners wieder aufzulegen, ohne sich mit der Nachlassverwaltung ins Einvernehmen zu setzen. Der 1908 von Marie von Sivers begründete Verlag hatte zu Lebzeiten Steiners eine Reihe seiner Bücher und eine beträchtliche Anzahl seiner Vorträge, aber auch Titel anderer Autoren publiziert. Der weitaus größte Teil des Werkes Rudolf Steiners, der später in der Gesamtausgabe erscheinen sollte, schlummerte aber noch unveröffentlicht in den Archiven. Marie von Sivers war Leiterin und Eigentümerin des Verlags. Im Dezember 1914 heirateten die beiden und setzten sich im März 1915 gegenseitig als Universalerben ein, mit dem ausdrücklichen Recht, im Todesfall über den Nachlass des jeweils anderen zu testieren. Marie Steiner war also beim Tod Rudolf Steiners nicht nur Eigentümerin des Philosophisch-Anthroposophischen Verlags, sondern wurde aufgrund des Testamentes auch zur Inhaberin seines gesamten literarischen und künstlerischen Nachlasses. Bei der Weihnachtstagung 1923/24 hatte Rudolf Steiner seine Absicht erklärt, den Philosophisch-Anthroposophischen Verlag als Unterabteilung in die Anthroposophische Gesellschaft einzugliedern, Näheres, insbesondere die rechtlichen und finanziellen Modalitäten der Eingliederung, sollte durch entsprechende Verträge geregelt werden, so wie dies auch im Fall der Eingliederung des von Ita Wegman gegründeten Klinisch-Therapeutischen Instituts geschehen war. Noch im Todesjahr Rudolf Steiners, im Dezember 1925 – also zwei Jahre nach der Weihnachtstagung –, wurde zwischen Marie Steiner und der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft, vertreten durch Albert Steffen und Guenther Wachsmuth, ein Kaufvertrag abgeschlossen, der die Übertragung des Verlags an die Gesellschaft zum Gegenstand hatte. Marie Steiner trat in diesem Vertrag als uneingeschränkte Eigentümerin des Verlags auf, ihr wurde ein zunächst auf 10 Jahre befristetes Rückkaufrecht eingeräumt, das sie durch eine einseitige einfache Erklärung ausüben und außerdem beliebig verlängern konnte. Marie Steiner behielt aufgrund des Vertrags die uneingeschränkte Leitung des Verlags und die volle Nutznießung an dessen Erträgen bis zu ihrem Tod, bei dem der vereinbarte Kaufpreis von 180.000 Schweizer Franken ausbezahlt werden sollte. Um den Eindruck eines Scheinvertrags zu vermeiden, wurden die Steuerzahlungen auf die beiden Vertragspartner verteilt.

Das erste Mal wurden die Eigentumsrechte Marie Steiners unter Berufung auf die »Weihnachtstagung« im Februar 1926 durch Walter Johannes Stein auf einer Delegiertenversammlung in Frage gestellt (siehe weiter oben), der damals behauptete, durch jene sei der gesamte Nachlass Steiners an die Gesellschaft übergegangen. Die Versammlung wies Steins Auffassung empört und einstimmig zurück. Steffen und Wachsmuth setzten sich bei dieser Gelegenheit vorbehaltlos für Marie Steiner ein. Infolge seines Auftritts bei der Delegiertentagung musste Stein sein Amt im deutschen Landesvorstand niederlegen, wurde praktisch zur persona non grata und wanderte kurz darauf nach England aus. Bei einer weiteren Delegiertenversammlung, im Oktober 1928, kamen erneut die Eigentums- und Urheberrechte Marie Steiners zur Sprache. Auch hier erklärte sich der Vorstand der Gesellschaft, einschließlich Steffens und Wachsmuths, zugunsten Marie Steiners. Anlass war die Behauptung Alices Sauerweins, der Generalsekretärin der französischen Landesgesellschaft, sie befinde sich im Besitz eines exklusiven Übersetzungsrechts für das Werk Rudolf Steiners. 1928 erklärten der Vorstand der Gesellschaft sowie die Vorstände und Generalsekretäre der Landesgesellschaften gegenüber Alice Sauerwein in einer Resolution: »Frau Dr. Steiner stehen selbstverständlich alle aus dem Eintritt in die Urheberrechte Dr. Steiners fließenden Einzelrechte zu, insbesondere das Recht, die Erlaubnis zur Vornahme von Übersetzungen generell oder einzeln zu erteilen und zu modifizieren.« In einem vom gesamten Vorstand unterzeichneten Brief an Sauerwein vom 5. Februar 1930 wurde Marie Steiner erneut als »Erbin der Autorrechte Dr. Steiners« bezeichnet, ohne deren Einverständnis keinerlei Übersetzungen angefertigt oder herausgegeben werden dürften. Da Sauerwein gegen eine andere Funktionärin der Gesellschaft wegen der Frage der Übersetzungsrechte einen Prozess angestrengt hatte (siehe weiter oben), erklärte eine außerordentliche Generalversammlung im Dezember 1930, das Verhalten Sauerweins »in der Angelegenheit der Urheberrechte an dem Werke Rudolf Steiners, welche Marie Steiner als der alleinigen Erbin zugehören«, entspreche nicht anthroposophischer Gesinnung und forderte sie zum Rücktritt auf. Sauerwein erlebte das Ende des von ihr angestrengten Prozesses nicht mehr, denn sie starb Anfang 1931. Alles in allem kann man sich der Aussage Jennys ohne Vorbehalte anschließen, nicht nur die Mitgliederversammlung der Anthroposophischen Gesellschaft, sondern auch deren Vorstand hätten Marie Steiner durch Jahrzehnte hindurch als Inhaberin aller Urheberrechte Rudolf Steiners anerkannt.

Diese Situation änderte sich durch die Gründung der Nachlassverwaltung. Nun erklärten im Herbst 1945 Steffen und Wachsmuth der Mitgliedschaft in einem Rundschreiben, »zwei Anwälte und eine besondere Autorität auf diesem Gebiet« seien »unabhängig voneinander und übereinstimmend zu dem Ergebnis gelangt, dass der künstlerische und wissenschaftliche Nachlass Dr. Steiners juristisches Eigentum der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft« sei. Der Hintergrund für diesen fundamentalen Sinneswandel dürfte die Befürchtung gewesen sein, auf die Anthroposophische Gesellschaft kämen seitens der Nachlassverwaltung erhebliche Geldforderungen zu, sollte doch der Kaufpreis für den Philosophisch-Anthroposophischen Verlag beim Tod Marie Steiners fällig werden. Außerdem wurde durch die Übergabe des Nachlasses (der zweifellos eine der künftigen Haupteinnahmequellen der anthroposophischen Gesellschaft und das Fundament ihrer spirituellen Ansprüche war) an einen eigenständigen Verein dieser Nachlass dem Zugriff der Gesellschaft entzogen. Dass solche Erwägungen beim Streit eine maßgebliche Rolle gespielt haben dürften, darauf deutet die Kalkulation hin, die Jenny in seinem Plädoyer vorlegte, wonach sich der Sachwert des Philosophisch-Anthroposophischen Verlags Mitte der 1940er Jahre auf rund 1 ½ Millionen Schweizer Franken belief. Die mögliche Kaufsumme, die beim Tod Marie Steiners fällig geworden wäre, hatte sich also gegenüber 1925 beträchtlich erhöht.

Im Prozess um den Nachlass ging es aber nicht nur um die Urheberrechte und die Verlagsrechte, sondern auch um ideell-spirituelle Fragen. Die von der Gesellschaft angemeldeten Ansprüche ließen sich durch den Hinweis auf das Testament des Ehepaars (die Urheberrechte gingen auf sie als Universalerbin über) und den Kaufvertrag vom Dezember 1925 (Marie Steiner war auch nach der Weihnachtstagung die Inhaberin der Verlagsrechte und hatte durch den Verkauf des Verlags die Urheberrechte an den bereits veröffentlichten Büchern, erst recht nicht am Nachlass, übertragen) leicht abwehren. Das Solothurner Obergericht schloss sich in diesen Fragen auch vollumfänglich der Rechtsposition der Nachlassverwaltung an.

Da Albert Steffen und Guenther Wachsmuth offenbar spürten, dass ihre rechtliche Argumentation auf schwankendem Boden stand, beriefen sie sich gegenüber dem Solothurner Gericht zusätzlich auf spirituelle Gesichtspunkte, auf eine Art »Mysterienrecht«, durch welches das bürgerliche Recht außer Kraft gesetzt werde, das sie aus einer tendenziösen Interpretation der Weihnachtstagung ableiteten. Jenny diagnostizierte in der Argumentation der Gegenseite zwei »Fiktionen«, auf denen diese in der Hauptsache beruhe.

1. Der aus Albert Steffen und Guenther Wachsmuth bestehende Restvorstand der Gesellschaftbesitze »dieselbe Qualifikation wie der ursprüngliche Gründungsvorstand«, dem auch Rudolf Steiner angehört habe. Diese »Fiktion« betrachtete Jenny als Ausdruck einer »tiefen Unaufrichtigkeit«. Die einzige Persönlichkeit, »die durch ihre überragende Größe die Kraft besessen« habe, »die heterogensten Strömungen, die in den Persönlichkeiten des Gründungsvorstandes« versammelt gewesen seien, »im Gleichgewicht zu halten«, sei durch Rudolf Steiners Tod aus diesem Vorstand ausgeschieden. Der »tiefgehende Konflikt«, der unmittelbar nach Steiners Tod im »Restvorstand« ausgebrochen sei und schließlich 1935 zum Ausschluss Ita Wegmans und Elisabeth Vreedes und eines »nach Tausenden zählenden Teils ihrer Anhängerschaft« aus der Gesellschaft geführt habe, zeige dies. In diesem ersten großen Gesellschaftskonflikt habe Steffen auf der Seite Marie Steiners gestanden. Nach den Ausschlüssen von 1935 sei ein zweiter großer Konflikt entstanden, der zur Ausschaltung Marie Steiners durch Steffen und Wachsmuth geführt habe. Zuletzt habe der Vorstand »seine Nicht-mehr-Existenz im Sinne der Weihnachtstagung 1923« durch die »rücksichtslose Ausschaltung Marie Steiners aus ihren Funktionen als Vorstandsmitglied« und die Bestreitung ihres »im bürgerlichen Recht begründeten Rechts [sic!]«, »über die Weitergabe der Initiativverantwortung am Nachlass aus eigener moralischer Phantasie zu entscheiden«, »mit aller Deutlichkeit bewiesen«. »Nur kraft einer mit dem gesunden Menschenverstand nicht durchschaubaren Dogmatik«, so Jenny, könne »das Fortdauern des ursprünglichen Vorstandes« – und damit das Fortdauern der spirituellen Legitimation des damaligen Vorstandes – »in den noch übrig gebliebenen zwei Persönlichkeiten behauptet werden«. (Wie man sieht, wird hier der Anthroposophischen Gesellschaft in aller Deutlichkeit eine der Grundideen der abendländischen Esoterik, das Prinzip der spirituellen Kontinuität – die »Transmission« oder »Kette der Meister« – in Abrede gestellt). Der jetzige Vorstand könne »unmöglich noch repräsentieren, was der ursprüngliche Vorstand« gewesen sei. Jenny brachte hier eine Auffassung zum Ausdruck, die auch Marie Steiner vertrat, als sie von der »Preisgabe des Vorstandsgedankens« durch Albert Steffen sprach: die Auffassung, eine der Hauptaufgaben des ursprünglichen Vorstandes habe gerade darin bestanden, trotz aller persönlichen Gegensätze an seiner Einheit festzuhalten und dadurch die Einheit der Gesellschaft und ihre gedeihliche Entwicklung zu gewährleisten. Schließlich hatte Steiner bei der »Weihnachtstagung« das Schicksal der Anthroposophie in der Welt und damit der Menschheit auch von der Verwirklichung eines einvernehmlichen Zusammenwirkens in der Gesellschaft abhängig gemacht. Da der Vorstand zerfallen war und infolge seines Zerfalls auch die Gesellschaft, hatte diese ihre Aufgabe nicht erfüllt und dadurch eigentlich ihre Existenzberechtigung verloren. Das war der geistige Hintergrund der Gründung der Nachlassverwaltung, deren Aufgaben nun – im Vergleich zu jenen der Gesellschaft – ungleich bescheidener darin bestanden, das hinterlassene Werk Rudolf Steiners zu verwalten, herauszugeben und (vor Verfälschungen) zu schützen (so der in Beatenberg geschlossene Übereignungsvertrag zwischen Marie Steiner und der Rudolf Steiner Nachlassverwaltung vom 1. Dezember 1947).

2. Die zweite von Jenny benannte »Fiktion« bestand in der Auffassung, die gegenwärtige Anthroposophische Gesellschaft sei dieselbe wie die der »Weihnachtstagung« 1923/1924. Bereits 1935 sei ein bedeutender Teil der Mitgliedschaft mit zwei Vorstandskollegen ausgeschieden. Seit 1942 sei ein immer größer werdender Teil tätiger Mitglieder von Steffen de facto ausgeschaltet worden. Große Ländergruppen in der Schweiz, in Holland, England und Norwegen hätten keine Beziehung mehr zur Gesellschaftsleitung in Dornach. Wer heute noch, nach all den erwähnten Austritts- und Ausschlussbewegungen, von einer »Allgemeinen« Anthroposophischen Gesellschaft rede, spreche von etwas Irrealem oder verschleiere die Wahrheit absichtlich. Weder die Anthroposophische Gesellschaft noch die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft, deren Unterhalt eine weitere Hauptaufgabe der Gesellschaft sei, bedürften zur Verwirklichung ihrer Ziele der Übertragung irgendwelcher Urheberrechte, die Steiner ihnen auch nie zugedacht habe.

Berücksichtigt man allerdings – so kann man Jenny entgegenhalten – die tiefere Dimension des Streits um den Nachlass, die weiter oben angesprochen wurde, dann lässt sich das Problem auch anders formulieren: Beide hätten gerade dieser Urheberrechte bedurft, denn die Aufgabe des Anspruchs auf »auctoritas«, das Recht zur geistigen Urheberschaft – auf die Vollmacht also, die Anthroposophie, das Werk Rudolf Steiners kontinuierlich neu zu schöpfen und weiter zu entwickeln – wäre einer Bankrotterklärung der Leitung der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft gleichgekommen, deren Sinn und Zweck gerade in dieser fortwährenden Neuschöpfung bestand. Mit der Nichtexistenz der Hochschule hätte aber auch die Anthroposophische Gesellschaft ihren Daseinszweck verloren. Der Nachlassstreit, der Streit um die Urheberrechte, wurde in einer merkwürdigen realhistorischen Metaphorik zum Symptom für die uneingestandene, aber wohl vorhandene Einsicht, dass genau diese spirituelle »auctoritas« der Hochschule und der Gesellschaft verloren gegangen war.

Der Streit um den Nachlass war deswegen auch nur ein Stellvertreterkrieg, der von dem eigentlichen Problem ablenkte: von der Tatsache nämlich, dass mit dem Tod Rudolf Steiners der Strom der Geisterkenntnis und der Erneuerung des sozialen Lebens aus dieser Geisterkenntnis versiegt war. Andererseits verkörperte die Nachlassverwaltung – als Verwaltung des literarischen Nachlasses und nicht des lebendigen spirituellen Erbes Rudolf Steiners – mit ihrer bescheidenen Aufgabenstellung genau diese Einsicht. Insofern war Marie Steiner, die bereits kurz nach dem Tod Rudolf Steiners die Auffassung vertrat, die Weihnachtstagung sei gescheitert, nur konsequent, wenn sie der Freien Hochschule einerseits die spirituelle Kompetenz absprach und andererseits die Verwaltung und den Schutz des Nachlasses zur Aufgabe des eigens zu diesem Zweck gegründeten Vereins erklärte. Das war aus ihrer Sicht nach dem Scheitern des Vorstandes, der Hochschule und der Gesellschaft die einzige noch übrig gebliebene legitime Aufgabe der »anthroposophischen Bewegung«.

In den folgenden Sätzen Jennys klingt die Vielschichtigkeit des damit angesprochenen Problems an: »Wenn also die Gegenseite behauptet, Rudolf Steiner habe an der Weihnachtstagung der Gesellschaft seine Rechte an den Nachlass übergeben, indem er ihr die Pflege des anthroposophischen Geistesgutes übertrug und das gehe auch daraus hervor, dass er von den Publikationen der Hochschule spreche, so behaupten sie etwas, was mit den Realitäten im offenen Widerspruch steht ... Nie dachte Rudolf Steiner daran, seine Autorrechte – dazu noch zu seinen Lebzeiten! – einer Gesellschaft zu übergeben.« Dazu kann man nur sagen: Jenny hatte völlig Recht – und befand sich doch im Irrtum! Denn Steiner hatte der Gesellschaft bei der Weihnachtstagung zwar nicht sein Recht auf den literarischen Nachlass, wohl aber sein Recht auf den spirituellen Nachlass übergeben, – wenn auch nicht in ihrer vollen Wirklichkeit, sondern als Möglichkeit, als Aufgabenstellung, als Zielsetzung, die von ihr hätte ergriffen und realisiert werden müssen. Da der potentielle Rechteinhaber der spirituellen »auctoritas« diese Rechte aber nicht wahrgenommen hatte, waren sie verfallen und an deren Stelle war das Recht auf den literarischen Nachlass getreten, das einzige, das übrigblieb.

Der Nachlass-Verein kam nach dem Urteilsspruch des Solothurner Obergerichts zu seinen Gunsten seiner Aufgabenstellung nach, indem er in einem schon während des Prozesses gegründeten neuen Verlag (Verlag der Rudolf Steiner Nachlassverwaltung, später Rudolf Steiner Verlag) die Herausgabe der noch unveröffentlichten Werke Rudolf Steiners in Angriff nahm. Da nach Ablauf von zehn Jahren der Verfall der Urheberrechte drohte (die später verlängert wurden), begann er mit Hochdruck am Aufbau einer Rudolf Steiner Gesamtausgabe zu arbeiten. Es ist eigentlich nicht mehr als eine historische Abstrusität, dass der Verlag der Nachlassverwaltung auf den Eindruck des Hochschulvermerks (§ 8 der Prinzipien) in seine Publikationen verzichtete (»Als Manuskript für die Angehörigen der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft Goetheanum Klasse ... gedruckt« usw.), da er die Hochschule als inexistent betrachtete, und dass die Buchhandlung im Goetheanum die von der Nachlassverwaltung herausgegebenen Werke Rudolf Steiners nicht verkaufte (boykottierte) und dass diese auch in der Wochenschrift »Das Goetheanum« nicht angezeigt werden durften. (Man lasse sich dies auf der Zunge zergehen!) Allerdings erwies sich die Sprengkraft dieser Kuriosität in den siebziger Jahren, als das ihr zugrunde liegende Problem zu einer weiteren Spaltung der Gesellschaft führte.

Der Wirkungsmacht der Werke Rudolf Steiners tat der Boykott von seiten des Goetheanum und der Anthroposophischen Gesellschaft keinen Abbruch.


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