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Anthroposophie / Geschichte / Geschichte der Anthroposophie im 20. Jahrhundert / Sukzession und falsche Bodhisattvas

1930 | Sukzession und falsche Bodhisattvas

Für das Verständnis der weiteren Entwicklung der Anthroposophischen Gesellschaft ist die Kenntnis gewisser Vorgänge unabdingbar, die sich im Jahr 1930 abspielten. Sie führten dazu, dass der Vorstand endgültig auseinanderbrach und keine gemeinsamen Besprechungen mehr durchführen konnte. Bei einer Zusammenkunft der Generalsekretäre im November schließlich wurden die seit fünf Jahren schwelenden Konflikte offen an- und ihre tieferen Motive erstmals ausgesprochen.

Die ersten Monate des Jahres 1930 füllten Auseinandersetzungen über das Recht, Klassenstunden abzuhalten, im Spätsommer kam es zu Unstimmigkeiten im Zusammenhang mit einer internationalen Jugendtagung, die von der holländischen Landesgesellschaft organisiert worden war, und im Herbst brach ein Konflikt zwischen Elisabeth Vreede und Albert Steffen über die Vorbereitung der Michaeli- und Weihnachtstagung aus, in den sich der Generalsekretär der holländischen Landesgesellschaft, Zeylmans van Emmichoven, einschaltete, während Vreede ihrerseits an die Generalsekretäre der Länder appellierte.

Beim Streit um die Klassenstunden ging es im Kern um die ungelöste Frage der Sukzession und Autoritätin Sachen Esoterik. Bei der Auseinandersetzung über die Jugendtagung um die persönlichen Empfindlichkeiten bzw. das Amtsverständnis Alberts Steffens und des holländischen Generalsekretärs. Beim Konflikt über die Tagungsvorbereitungen um die Kompetenzen des Vorsitzenden und der Sektionsleiter. Im Grunde genommen handelte es sich bei all diesen Auseinandersetzungen um Streitigkeiten über Führungsfragen und Zuständigkeiten, hinter welchen sich jedoch die tiefere Frage nach der esoterischen Sukzession verbarg.

Der Streit um die Klassenstunden wurde durch Anfragen aus Stuttgart entfacht, ob nicht Lili Kolisko und Adolf Arenson solche Stunden abhalten könnten. Ita Wegman sprach sich dagegen aus, Marie Steiner und Albert Steffen hielten eine Beauftragung der genannten Personen für möglich. Schließlich entschied man sich dafür, solche Veranstaltungen bis auf weiteres zu untersagen. Ende Februar wurde jedoch bekannt, dass Lili Kolisko beabsichtigte, die Stunden trotzdem durchzuführen. Eine daraufhin einberufene Besprechung mit Kolisko führte zu keinem Ergebnis, dafür stellte sich heraus, dass Ita Wegman auf die Mitteilung des Vorstandes ohne dessen Wissen Einfluss genommen und die befristete Ablehnung in eine zeitlich unbegrenzte umformuliert hatte. Außerdem stellte sich heraus, dass Kolisko Wegman vorab über ihre Absicht informiert hatte und glaubte, mit ihrem Einverständnis zu handeln. All die zu Tage tretenden Widersprüche in Wegmans Handeln führten dazu, dass die übrigen Vorstandmitglieder – also Steffen, Wachsmuth und Marie Steiner – ihr Vertrauen in sie endgültig verloren. Daraufhin wurde vereinbart, keine gemeinsamen Sitzungen mehr abzuhalten, sondern Wachsmuth mit der Koordination zwischen den einzelnen Vorstandsmitgliedern zu beauftragen. Dieser Abbruch der Kommunikation zwischen den Vorstandmitgliedern sollte die folgenden Eskalationen beschleunigen.

Das »Kamp de Stakenberg«, die große internationale Jugendtagung in Holland, rief Proteste in Teilen der Mitgliedschaft hervor, weil sie deren Ankündigungen und eine für die Teilnehmer produzierte Zeitung als unangemessen und »würdelos« empfanden. Außerdem wurde von den Organisatoren, zu denen Walter Johannes Stein gehörte, die Absicht geäußert, die Kamp-Zeitung zu einer internationalen anthroposophischen Jugendzeitschrift weiter zu entwickeln, worüber Steffen pikiert war, da dieses Vorhaben seiner Ansicht nach seinen Zuständigkeitsbereich betraf, er darüber aber nicht vorab informiert worden war.

Bei den Auseinandersetzungen über die Tagungsvorbereitungen ging es um die Frage, wie diese Tagungen organisiert werden und welchen Anteil die einzelnen Sektionen daran haben sollten. Elisabeth Vreede fühlte sich von Steffen und einer von ihm ins Leben gerufenen Arbeitsgruppe von »Goetheanummitarbeitern« übergangen, die versuchte, das Vortragsangebot aufeinander abzustimmen. Vreede wandte sich daraufhin im Oktober an die Generalsekretäre der Landesgesellschaften, um sich über diese Zurücksetzung zu beklagen. Dadurch eskalierte der vorstandsinterne Konflikt und weitete sich auf die Ebene der Landesgesellschaften aus, da Steffen sich gezwungen sah, sich vor den Generalsekretären in einem Rundschreiben zu rechtfertigen. Ebenfalls im Oktober wandte sich Zeylmans in einem langen Brief an Steffen und bat diesen um Aufklärung über eine Reihe von Fragen, unter anderem, warum er ihn nicht Ernst nehme, warum er die internationale Jugendtagung in einer Generalversammlung kritisiert habe, warum er ihn persönlich beleidige, warum er Elisabeth Vreede und Ita Wegman von der Vorstandsarbeit auszuschließen versuche und vieles mehr. Steffen antwortete ihm kurz darauf und schob den schwarzen Peter Elisabeth Vreede zu, die ihn daran gehindert habe, als Vorsitzender die Verantwortung für die Gesellschaft zu übernehmen und auch ansonsten seine Arbeit hintertreibe.

Am 29. November 1930 fand die Delegiertentagung statt, deren Verlauf den Bruch zwischen den Vorstandsmitgliedern endgültig besiegelte. Gestritten wurde über die Schreiben Vreedes und Zeylmans; Steffen sah in Zeylmans Brief einen Angriff auf seine Integrität, Zeylmans und Wegman konnten das nicht nachvollziehen. Gestritten wurde über das Vertrauen, das Steffen in der Mitgliedschaft genoss oder nicht genoss. Gestritten wurde über die Rolle und die Aufgaben des Vorsitzenden der Gesellschaft, über das Verhalten Vreedes, der Steffen vorwarf, »objektive Unwahrheiten« verbreitet zu haben. Appelliert wurde an die Einheit des Vorstandes, gestritten über den »Nordischen Antrag« (dazu weiter unten). Zur Explosion kam es, als Roman Boos Zeylmans als »Erpresser und Deserteur« bezeichnete, da er mit der Spaltung der Gesellschaft drohe. Damit nicht genug: das Grundübel aller Schwierigkeiten im Vorstand, so Boos, sei »der Raub der Esoterik, den Ita Wegman 1925 vollzogen« habe. Daraufhin lief die Versammlung vollends aus dem Ruder und die ganze Debatte artete in eine Tragikomödie aus. Steffen, der die Gesprächsleitung an Wachsmuth abgegeben hatte, wurde aufgefordert, Boos wegen seiner Äußerungen zu rügen, wollte aber Boos nur wegen der Form seiner Äußerungen, nicht wegen ihres Inhalts rügen, woraufhin Wegman eine nähere Erklärung verlangte. Steffen rollte die Geschichte auf, um zu erläutern, warum er Boos inhaltlich zustimmte: die »Leitsätze« Ita Wegmans seien nach dem Tod Steiners ohne seine Zustimmung veröffentlicht worden und sie habe kein Recht gehabt, in Paris Klassenstunden abzuhalten. Mehr wolle er nicht sagen, da er dann nicht mehr im Vorstand verbleiben könne. Er wolle andere nicht beleidigen und trete daher lieber zurück. Als eine Reihe von Teilnehmern ihn bedrängte, nicht länger zu schweigen, meinte er, er sei gerade zurückgetreten, um nichts weiter sagen zu müssen. Als die Teilnehmer jedoch insistierten, rang sich Steffen schließlich zur Erklärung durch, Ita Wegman habe als Esoterikerin versagt und stütze ihre Ansprüche lediglich auf Äußerungen Steiners, die inzwischen überholt seien. Nach dem Tode Steiners, so Steffen, habe es an der spirituellen Sukzession gefehlt, die sich durch entsprechende Leistungen zu erkennen geben müsse und er könne nur eine solche anerkennen.

Der letzte Akt folgte aber erst noch. Denn nunmehr bedrängten die Teilnehmer Steffen vergeblich, seinen Rücktritt zu widerrufen. Da Steffen sich hartnäckig weigerte, erklärte Wachsmuth, er werde ebenfalls zurücktreten und vermutlich auch Marie Steiner. Als ein Teilnehmer Steffen persönlich für den Untergang der Gesellschaft verantwortlich machte, erklärte dieser sich bereit, den Vorsitz pro forma wieder zu übernehmen, unter der Voraussetzung, dass er an keiner Vorstandssitzung teilnehmen, keine Tagung mehr organisieren und keine Versammlung mehr leiten müsse.

Wenn man einmal über die Peinlichkeit seiner Polemik hinwegsieht, muss man doch anerkennen, dass Boos den Stein ins Rollen brachte und den Finger auf die Wunde legte, die seit Jahren blutete, die aber niemand sehen und über die niemand sprechen wollte. Erst durch seinen Ausfall sah sich Steffen gezwungen, seine Sicht der Dinge darzulegen und auszusprechen, was nicht nur er dachte. Ob das Vorgehen nun koordiniert war oder nicht: Boos war jedenfalls der einzige, der klare Worte verwendete, während alle anderen sich stets hinter wolkigen Ausführungen versteckten und nicht zum Kern der Sache vorzustoßen wagten. Boos rief mit seiner Metapher des »Raubes« tiefe Archetypen auf, sie löst auch noch heute eine ganze Kette unwillkürlicher Assoziationen aus, wie den Raub des Feuers, der Persephone, der Helena, der Sabinerinnen, der Europa, des Palladions (des Kultbilds der Athene), des Kultbilds der Diana usw. Am ehesten treffen von diesen Bildern jene zu, die sich auf den Raub eines Götterbildes beziehen. Bei Eroberungen fremder Städte war es im Altertum üblich, sich möglichst schnell der Götterbilder zu bemächtigen, die den Schutzgottheiten der betroffenen Städte geweiht waren, weil dadurch der Schutz und das Charisma der jeweiligen Gottheit in die Hände der Eroberer gelangten und die unterlegene Stadt mit all ihren Bewohnern spirituell führungslos wurde. Ein solcher Raub war aus der Sicht der Unterlegenen unrechtmäßig, gewaltsam, frevelhaft, blasphemisch und zog jeden denkbaren Fluch nach sich. Auch die Eroberer mussten sich in der Regel umfangreichen Sühnungsriten unterziehen, um den Fluch, den eine solche Usurpation hervorrief, von sich abzuwenden. Auf die Unrechtmäßigkeit oder die fehlende Berechtigung wies auch Steffen hin, wenn er von davon sprach, Ita Wegman habe ohne Zustimmung der übrigen Vorstandsmitglieder die Leitsätze Steiners fortgesetzt oder ohne Berechtigung in Paris Klassenstunden abgehalten. Noch tiefer reicht der Vorwurf, sie habe als Esoterikerin versagt, wobei nicht ganz klar ist, was Steffen damit meinte. Schließlich aber lenkt Steffen den Blick auf das zentrale Problem: die spirituelle Sukzession.

Steiner hatte sich bei der Weihnachtstagung vorbehalten, einen eventuellen Nachfolger – einen Leiter der esoterischen Hochschule – zu ernennen. Das hatte er nicht getan. Dieses Versäumnis konnte man eigentlich nur auf eine Weise interpretieren. Dass er es schlicht vergessen haben könnte, war für alle Beteiligten undenkbar und ist heute nicht denkbarer. Die einzig mögliche Interpretation war, dass es keinen prädestinierten Nachfolger gab. Wenn der Träger des Charismas es nicht offiziell auf jemand anderen übertragen hatte, dann, weil er keinen würdigen Nachfolger hatte finden können.

Angesichts dieses Dilemmas blieben den Vorstandsmitgliedern nach dem Tode Steiners nur gewisse Optionen, die im Lauf der Jahre mit den beschriebenen fatalen Folgen durchgespielt wurden. Sie konnten die Auffassung vertreten, dass Steiner weiterhin der Leiter der esoterischen Hochschule aus dem Jenseits sei, sie konnten die Leitung der Hochschule zu ihrer kollektiven Aufgabe erklären, sie konnten die Rolle des stellvertretenden Vorsitzenden so interpretieren, dass er der natürliche Nachfolger Steiners sei, sie konnten sich auf Funktionen berufen, die ihnen Steiner während seines Lebens zugewiesen hatte (z. B. die Mitwirkung bei Klassenstunden) und sie konnten sich auf private Mitteilungen berufen, die er ihnen gegenüber zu bestimmten Zeitpunkten gemacht hatte. In all diesen Optionen war aber dasselbe zentrale Problem verborgen: Gibt es eine spirituelle Sukzession und nach welchen Kriterien stellt man eine solche fest? Dass diese Frage nicht gleich nach Steiners Tod aufgeworfen, sondern mehr oder weniger verdrängt wurde, rächte sich nun, als sie in einer derart verfahrenen Lage zur Sprache kam, die eine emotionslose Diskussion unmöglich machte. Eine Generalversammlung der Anthroposophischen Gesellschaft dürfte auch kaum der geeignete Ort gewesen sein, um diese Frage in einem Erkenntnisgespräch zu klären. Vielmehr wäre es eine der wichtigsten Aufgaben der Hochschule gewesen, sich über das Problem der spirituellen Sukzession Klarheit zu verschaffen. Aber auch wenn man sich die Position Steffens zu eigen macht, dass eine solche Sukzession an ihren Leistungen zu erkennen sein müsse, bleibt die Frage bestehen, nach welchen Kriterien diese Erkenntnis zustande kommt und wie Einigkeit über eine solche Erkenntnis erzielt werden kann. Denn Ita Wegman hätte sich angesichts dieses Vorwurfs natürlich auf ihre Leistungen als Esoterikerin berufen können, dann hätte Steffen erklären müssen, auf welche Weise genau er erkannt hatte, dass ihre Leistungen einen Sukzessionsanspruch nicht rechtfertigten.

Bei der außerordentlichen Generalversammlung vom 27.-30. Dezember 1930 spielte die Frage der spirituellen Sukzession nur indirekt eine Rolle. Der von skandinavischen Mitgliedern vorgetragene und von großen Teilen der Mitgliedschaft gestützte »Nordische Antrag« lässt sich als eine Form der Auseinandersetzung mit diesem Problem interpretieren. Auch die Auseinandersetzungen über das »Bodhisattva-Thema« stehen damit im Zusammenhang.

Die Verfasser des »Nordischen Antrags« wollten allein Albert Steffen mit der Führung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft beauftragen, da sie in ihm einen Garanten für die Rettung dieser Gesellschaft und wohl auch einen würdigen Nachfolger Rudolf Steiners sahen. In einer der vielen Versionen des Antrags war von »diktatorischen Vollmachten« für Steffen die Rede, was darauf hindeutet, dass auch die Anthroposophische Gesellschaft vom politischen Zeitklima nicht unberührt blieb, auch wenn sie sich bei ihren Versammlungen nahezu vollständig der Nabelschau hingab. Steffen lehnte den Antrag ab, da er seiner Freiheitsauffassung widerspreche, so dass sich eine Abstimmung erübrigte.

Hintergrund der Auseinandersetzungen über das Bodhisattva-Thema war die Tatsache, das Jiddu Krishnamurti, der bis zum 3. August 1929 die ihm von C.W. Leadbeater und A. Besant zugedachte Rolle des Maitreya-Bodhisattva gespielt hatte, sich an diesem Tag endgültig von seinen spirituellen Zieheltern lossagte und erklärte, fortan seine eigenen Wege zu gehen. Zwar hatte sich die Anthroposophische Gesellschaft bereits 1912 von der Theosophischen Mutter befreit und damit auch die Frage des künftigen »Weltlehrers« oder Bodhisattvas ad acta gelegt, aber durch die Erklärungen Krishnamurtis vom 3. August 1929 wurde diese Frage wieder akut. Zudem gab es eine ganze Reihe von Ausführungen Rudolf Steiners, die von der im 20. Jahrhundert bevorstehenden Ankunft eines solchen Boddhisattvas berichtet hatten. Laut einer von Friedrich Rittelmeyer überlieferten mündlichen Aussage Steiners sollte die Offenbarung dieses spirituellen Weltlehrers in den 1930er Jahren beginnen. In der Anthroposophischen Gesellschaft kursierten Gerüchte, die bestimmten Personen diese Rolle zuwiesen. Adolf Arenson hielt deswegen am fünften Gedenktag von Rudolf Steiners Tod, am 30. März 1930, einen Vortrag, den er am 28. April bei der Generalversammlung in Dornach wiederholte. In diesem Vortrag trug er die These vor, wenn es einen Bodhisattva des 20. Jahrhunderts gebe, dann könne dieser nur Rudolf Steiner selbst gewesen sein, denn dessen von Steiner charakterisierte Mission, die Verkündigung des ätherischen Christus, sei von Steiner denkbar umfassend erfüllt worden. Dennoch scheute Arenson davor zurück, Rudolf Steiner mit der Reinkarnation Jeshu ben Pandiras zu identifizieren, den Steiner als irdischen Träger des Maitreya Bodhisattva bezeichnet hatte. Elisabeth Vreede griff dieses Thema auf und wies in einer Reihe von Vorträgen, das erste Mal in Den Haag am 26. und 28. April, später am 14. Mai in Stuttgart und an anderen Orten, auf die Widersprüche in Arensons Ausführungen sowie einige weitere Unstimmigkeiten hin und kam zum Schluss, dass Rudolf Steiner nicht der reinkarnierte Jeshu ben Pandira und damit auch nicht der Maitreya Bodhisattva gewesen sein könne. Unabhängig von der Frage, wie dieses Erkenntnisproblem zu lösen war, rief die Tatsache, dass Elisabeth Vreede sich gegen ein altehrwürdiges Mitglied wie Herrn Arenson aussprach und die Hypothese, Steiner sei der Maitreya-Bodhisattva gewesen, in Frage stellte, in Teilen der Mitgliedschaft Unwillen hervor und bestätigte sie in ihrer Auffassung, dass Vreede stets opponiere und Unfrieden stifte.

Im Lauf der Auseinandersetzungen über die Vorträge Arensons und Vreedes, sprach Hans Büchenbacher von »fürchterlichen geistigen Gegensätzen« in der Mitgliedschaft und griff damit ein Motiv auf, das bereits Steffen ins Spiel gebracht hatte, als er seine Beziehung zu Vreede charakterisierte. Auch dieser hatte von »Gegensätzen von Geist zu Geist« gesprochen, um zu begründen, warum er nicht ohne weiteres wieder mit Vreede zusammenarbeiten könne. Vreede beklagte sich darüber, dass sie »als Ketzer verklagt dastehe«, und ihr zu Unrecht vorgeworfen werde, sie habe geleugnet, dass »Steiner den ätherischen Christus verkündet« hätte. In den Auseinandersetzungen Büchenbachers über ihre Vorträge glaubte sie den Versuch erkennen zu müssen, in der Anthroposophischen Gesellschaft »Dogmen« einzuführen. Bereits mit seinen einleitenden Ausführungen zur Generalversammlung hatte Steffen diese Abrechnung mit Vreede vorbereitet, in denen er sich darüber ausließ, nach welchen Kriterien er seine Mitarbeiter aussuche. Er machte diese Mitarbeit von der Anwendung der richtigen »anthroposophischen Methode« abhängig, die auf der Anwendung von »Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?« beruhe. Diese Methode sei kein Dogma, sondern ein Weg, der erst zum Dogma werde, wenn der Verstand und nicht die spirituelle Erkenntniskraft sie erfasse. Dann aber werde sie zur »Unmethode«. In den folgenden Jahren sollte diese Unterscheidung der »richtigen« und »falschen« Methode der anthroposophischen Arbeit die Kluft zwischen den verschiedenen Mitgliedergruppen vertiefen.

Zwei weitere Themen wurden bei dieser Generalversammlung erörtert, die im Zusammenhang mit Ita Wegman standen und geeignet waren, auf sie ein schlechtes Licht zu werfen. Einerseits ging es um ein weibliches Mitglied, das behauptete, hellseherische Erkenntnisse darüber zu besitzen, wer der Träger des Bodhisattva sei und in welchen Menschen sich Alexander der Große und seine Gefolgschaft zur Zeit wieder inkarniert hätten. In den Auseinandersetzungen über diese Frau ging es einerseits um »krankhaftes Hellsehen«, andererseits um Ita Wegmans mögliche Verwicklung in ihre Umtriebe. Es ist ein denkwürdiges Phänomen, das die Anthroposophische Gesellschaft bis zum heutigen Tag begleitet, dass sie einerseits aus hellseherischer Erkenntnis hervorgegangen ist und auf dem Grundsatz beruht, dass in jedem Menschen die Fähigkeiten zu übersinnlicher Erkenntnis schlummern, dass sie andererseits regelmäßig, wenn Menschen auftreten, die solche Erkenntnisse für sich beanspruchen, diese unter dem Begriff »krankhafte Hellsicht« oder »Atavismus« rubriziert und am Ende von sich abstößt. Zuletzt trat dieser Reflex gegenüber der Stigmatisierten Judith von Halle auf. Die Hüterin der Geisterkenntnis Rudolf Steiners – die Anthroposophische Gesellschaft – hat sich seit seinem Tod zur Bastion der Abwehr gegen jeden Anspruch auf Geisterkenntnis gewandelt, die in seiner Nachfolge auftreten könnte. Auch dieses Phänomen hängt mit dem ungelösten Problem der Sukzession zusammen, kann aber im Rahmen dieser historischen Darstellung nicht weiter vertieft werden.

Eine weitere willkommene Gelegenheit, Ita Wegman Fehlverhalten vorzuwerfen und sie mit einem Skandal in Verbindung zu bringen, bot der Konkurs einer Fabrik für Hornveredelung in Einsingen, durch den Mitglieder der Gesellschaft in Mitleidenschaft gezogen wurden. Auch hier wurde die Frage nach einer möglichen Verwicklung Wegmans aufgeworfen: hatte sie die Versuche der Betreiber unterstützt, bei Mitgliedern der Gesellschaft in Holland und Deutschland Gelder für das vor dem Konkurs stehende Unternehmen einzuwerben? War die Gesellschaft als Institution möglicherweise vom Konkurs betroffen? Bei der Generalversammlung beteuerte Wegman, in dieser Sache stets nur als Privatperson und nicht als Mitglied des Vorstandes gehandelt sowie den Rat erteilt zu haben, nach Geldgebern außerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft zu suchen. Das Tribunal gab sich mit ihren Erklärungen jedoch nicht zufrieden, sondern beschloss, eine Kommission einzusetzen, die all diese Vorgänge und Wegmans mögliche Beteiligung an ihnen untersuchen sollte. Der Bericht wurde der Generalversammlung am 31. März 1931 vorgelegt.


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