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1875-1902 | Die theosophische Vorgeschichte der Anthroposophie

Die von Rudolf Steiner begründete anthroposophische Gesellschaft und Bewegung hat eine theosophische Inkubationsgeschichte. Sie entstand im Rahmen der von Helena Petrowna Blavatsky gegründeten Theosophischen Gesellschaft.

Ohne Blavatsky hätte es keine Theosophische Gesellschaft gegeben. Blavatsky (1831-1891) wurde in der Ukraine als Tochter eines mecklenburgischen Offiziers in russischen Diensten (Peter Hahn von Rottenstein) und der russischen Adligen Helene Fadeef geboren. Sie besaß eine außerordentliche mediumistische Begabung und trat schon in ihrer Jugend in Kontakt mit Menschen, die sich mit Mesmerismus, Spiritismus, Hellsehen und Initiation beschäftigten und über traditionelles esoterisches Wissen verfügten. Bei ihren ausgedehnten Reisen, die sie auf alle Kontinente führten, knüpfte sie vielfältige Beziehungen zu Initiierten, Sehern, Derwischen und Mystikern.

Seit 1874 wirkte sie in den USA in verschiedenen spiritistischen Zirkeln. Solche Zirkel versuchten, bei Seancen mit Hilfe von Medien oder anderen Techniken in Kontakt mit Verstorbenen zu treten.

Aus der Begegnung Blavatskys mit Henry Steel Olcott (1832-1907), einem ehemaligen Offizier im Sezessionskrieg (1861-1865) und Journalisten des »Daily Graphik« – die beiden trafen sich in der Nähe New Yorks bei der Untersuchung Aufsehen erregender mediumistischer Phänomene –  entstand ein Kreis von Menschen, die nach spirituellen Erfahrungen jenseits der traditionellen religiösen Pfade suchten. Im November 1875 gründeten Mitglieder dieses Kreises in New York die »Theosophical Society«. Die Organisation der Gesellschaft lehnte sich an das Vorbild der Freimaurerei an. Zu den führenden Mitarbeitern Blavatskys gehörten, neben Olcott, Alfred Percy Sinnett (1840--1921), William Quan Judge (1851-1896), Franz Hartmann (1838-1912), Wilhelm Hübbe-Schleiden (1846-1916), Annie Besant (1847-1933) und Charles Webster Leadbeater (1847-1934). Olcott wurde zum Gründungspräsidenten der Gesellschaft gewählt.

Die Theosophische Gesellschaft setzte sich drei Ziele: die Suche nach dem Wahrheitskern in den verschiedenen Religionen, ein vergleichendes Studium der Weisheitsüberlieferungen der Menschheit und die Entwicklung von Methoden zur Ausbildung brachliegender spiritueller Erkenntnisfähigkeiten. Die Gründer der Theosophischen Gesellschaft waren von der epochalen geistesgeschichtlichen und gesellschaftlichen Bedeutung dieser Ziele überzeugt und hofften, durch deren Verwirklichung eine globale Friedenskultur herbeiführen zu können.

Nach der Begründung der Theosophischen Gesellschaft trat der Spiritismus bald in den Hintergrund. Blavatsky vertrat nunmehr die Überzeugung, in jedem Menschen schlummerten Fähigkeiten zur Erkenntnis des Übersinnlichen, die durch geeignete Schulungsmethoden geweckt werden könnten. Den Spiritismus verwarf sie als materialistische Verirrung. All die Phänomene, die im Spiritismus und Mediumismus unkontrolliert aufträten, so Blavatsky, seien Initiierten und Okkultisten schon immer bekannt gewesen und könnten von jemandem, der in die entsprechenden okkulten Techniken eingeweiht sei, willkürlich hervorgerufen werden. In ihrem ersten monumentalen Werk versuchte sie die Existenz solcher Fähigkeiten in der Geschichte der Menschheit nachzuweisen und deren Anwendung gegenüber den Offenbarungsreligionen und den Naturwissenschaften zu rechtfertigen. Dieses Werk erschien 1877 unter dem Titel: »Isis Unveiled. A Master Key of the Mysteries of Ancient and Modern Science and Theology«.

Ende der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts siedelten Blavatsky und Olcott nach Indien über. Einer im 19. Jahrhundert weit verbreiteten Überzeugung zufolge war Indien die Quelle aller Weisheit, ein Hort der Spiritualität, der bis in die Gegenwart viele seiner Traditionen bewahrt hatte. Wer den ältesten Wahrheitskern aller Religionen finden und den spirituell verarmten Westen aus dieser Quelle erneuern wollte, musste daher in Indien suchen. Hier wurde 1879 die Theosophische Gesellschaft in eine internationale Organisation umgeformt. Von hier aus wurden Logen (Arbeitsgruppen) in zahlreichen Ländern gegründet. Was all diese Gruppen verband, war die Ablehnung des zeitgenössischen Materialismus und des Absolutheitsanspruchs der Naturwissenschaften. Die Menschen, die sich der Theosophischen Gesellschaft anschlossen, suchten nach einer ganzheitlichen spirituellen Sicht der Welt, die sie weder in der zeitgenössischen Philosophie noch in den herkömmlichen religiösen Bekenntnissen fanden. Zu Beginn der 1880er Jahre wurde der Sitz der Gesellschaft von New York nach Bombay, später nach Adyar verlegt (1882).

Blavatsky und Olcott vertieften sich in den Hinduismus und Buddhismus, Sie legten sogar ein buddhistisches Gelübde ab. Durch eine Publikation A.P. Sinnetts zog Blavatsky weltweit Aufmerksamkeit auf sich. Eine Untersuchung der britischen Gesellschaft für Parapsychologie führte Mitte der 1880er Jahre zu einem Skandal, da ihr Verfasser behauptete, Blavatskys Offenbarungen beruhten auf einem Schwindel. Sie sollte Briefe von spirituellen Meistern gefälscht und gewisse okkulte Phänomene fingiert haben. Dieser Skandal führte bei manchen Anhängern Blavatskys zu einem Vertrauensverlust, machte sie aber gleichzeitig erst recht bekannt. Infolge des Skandals kam es innerhalb der Theosophischen Gesellschaft zu ersten Spaltungen: 1886 erklärte die amerikanische Theosophische Gesellschaft unter William Quan Judge, der sich seinerseits auf authentische Offenbarungen von Meistern berief, ihre Unabhängigkeit von der Adyar-Theosophie. An seiner Seite wirkte Katherine Augusta Tingley (1847-1929), die 1897 die Leitung der »Theosophical Society in America« übernahm. Diese existiert bis heute unter dem Namen »Theosophical Society Point Loma« fort.

1888 veröffentlichte Blavatsky nach ihrer fluchtartigen Abreise aus Indien infolge des erwähnten Skandals in London ihr zweites Hauptwerk: »The Secret Doctrine: The Synthesis of Science, Religion and Philosophy«. In diesem spielen die kosmologischen und anthropologischen esoterischen Traditionen des Buddhismus und Hinduismus eine zentrale Rolle. Es bemüht sich, wie der Name schon sagt, um eine Synthese sämtlicher Wissenschaften, Religionen und Philosophien aus esoterischer Perspektive. Bis heute stellt die »Geheimlehre«, der Steiner 1910 seine »Geheimwissenschaft im Umriss« zur Seite stellen sollte, eines der Grundlagenwerke theosophischer Arbeit dar.

Für die weitere Geschichte der Theosophischen Gesellschaft sollte ein Ereignis bestimmend werden, das durch einen launigen Zufall ausgelöst zu sein schien. Annie Besant (1847-1933), die damals unter anderem als Journalistin tätig war, erhielt von einem Redakteur den Auftrag, die »Geheimlehre« Blavatskys zu rezensieren. Besant, die aus einem calvinistischen Haushalt stammte und sich als Jugendliche dem Katholizismus zugewandt hatte, um im Lauf der 1870er Jahre zur Atheistin und Sozialistin zu werden, unterzog sich mit zunehmender Faszination der gewünschten Lektüre. 1889 suchte sie um Mitgliedschaft in der Theosophischen Gesellschaft an und stieg aufgrund ihrer vielfältigen Begabungen und kosmopolitischen Ader bald in ihren Führungskreis auf. Sie gehörte in den letzten Lebensjahren Blavatskys zu deren engsten Vertrauten.

Bereits vier Jahre nach ihrer Aufnahme gehörte sie zum Führungsgremium in Adyar und nach dem Tode Blavatskys (1891) übernahm sie die Leitung der von ihr gegründeten Esoterischen Schule (»Eastern School of Theosophy« – EST oder »Esoteric Section« – ES). Diese esoterische Schule war für jene Mitglieder der Theosophischen Gesellschaft bestimmt, die sich nicht mit dem Studium der Werke Blavatskys oder dem vergleichenden Studium der Religionen und Weisheitstraditionen begnügen wollten, sondern ein Bedürfnis nach »praktischem Okkultismus« hatten. Hier sollten durch spezielle Meditationsübungen und andere okkulte Techniken jene Fähigkeiten erworben werden, die erforderlich waren, um authentische esoterische Erkenntnisse zu erlangen. Mitglied in dieser Schule konnte man nicht durch ein Aufnahmeersuchen werden, sondern nur durch Einladung der Leitung. Die Mitglieder mussten ihre Zugehörigkeit durch ein Gelübde besiegeln und strenge moralisch-spirituelle Regeln befolgen.

Besant ging eine freundschaftliche Verbindung zum ehemaligen anglikanischen Geistlichen George Webster Leadbeater ein, die sich später als fatal erweisen sollte. Leadbeater wurde ihr Sekretär und engster Mitarbeiter. Er stieg bald in die Leitung der Esoterischen Schule auf und unterrichtete nebenher an einer theosophischen Schule in Madras.

Nach Olcotts Tod im Jahr 1907 übernahm Besant die Präsidentschaft der Theosophischen Gesellschaft und leitete sie bis zu ihrem Tod im Jahr 1933.

Ein erster Ableger der Theosophischen Gesellschaft Adyar wurde 1884 in Gegenwart Olcotts unter dem Namen »Theosophische Societät Germania« in Elberfeld gegründet, deren erster Präsident der Jurist und Ökonom Wilhelm Hübbe-Schleiden war. Mitte der 1890er Jahre gründete Franz Hartmann, der in Adyar bis 1885 mit Blavatsky zusammengearbeitet hatte und sich durch profunde Kenntnisse der verschiedensten okkulten Strömungen auszeichnete, ein Konkurrenzunternehmen, die »Theosophische Gesellschaft in Deutschland« (TGiD), die später in »Internationale Theosophische Verbrüderung« (ITV) umbenannt wurde. Hartmann stand in enger Verbindung mit der von K.A. Tingley geleiteten »Theosophical Society in America«, konnte sich aber auch als einen der engsten Mitarbeiter und Schüler Blavatskys bezeichnen und sich auf eine eigene esoterische Sukzession berufen. Hartmann gab der Theosophie eine ausgeprägt christlich-mystische Ausrichtung. Um die Jahrhundertwende existierten in Deutschland demnach drei unterschiedliche theosophische Gesellschaften:

• die 1884 gegründete »Theosophische Gesellschaft« (Theosophische Gesellschaft Adyar), die gegenwärtig noch existiert || http://www.ts-adyar.org/ || http://www.theosophieadyar.de/index.php;

• die 1896 von Hartmann gegründete, mit Tingley verbundene »Theosophische Gesellschaft in Deutschland«  || http://www.theosophische-gesellschaft.de/;

• die »Internationale theosophische Verbrüderung«, die 1897 aufgrund einer Distanzierung Hartmanns von Tingley entstand (Theosophische Gesellschaft in Deutschland e.V.) || http://theosophische-gesellschaft.org/.

Die 1884 gegründete »Theosophische Gesellschaft« verfügte um die Jahrhundertwende über die meisten Mitglieder und war am aktivsten. Sie stand in enger Verbindung mit der Theosophischen Gesellschaft Adyar unter Olcott und Besant. Daher konnte es 1902 zur Gründung einer »Deutschen Sektion« (Landesgesellschaft) dieser Theosophischen Gesellschaft Adyar kommen. Als Generalsekretär dieser Deutschen Sektion wurde Rudolf Steiner berufen. Bis zur Trennung der Deutschen Sektion von der Theosophischen Gesellschaft Adyar (1912/13) hatte Steiner diese Funktion inne. 1913 übernahm es Hübbe-Schleiden, die adyartreuen Mitglieder der Deutschen Sektion, die nicht in die Anthroposophische Gesellschaft übergetreten waren, neu zu organisieren.


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