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Anthroposophie / Geschichte / Die Anthroposophie im völkischen Diskurs

Die Anthroposophie im völkischen Diskurs

Siehe auch: Die völkisch-nationalsozialistische Gegnerschaft gegen die Anthroposophie – Dokumente und Quellen


 

Im völkischen Diskurs, dessen ideologische Hauptklammern der Antisemitismus, die arische Rassenideologie und der Anspruch auf politisch-militärische Suprematie des Deutschen Reiches bildeten, figurierte die Anthroposophie bereits vor dem ersten Weltkrieg als Teil der postulierten jüdischen Weltverschwörung. Als die Anthroposophie nach dem ersten Weltkrieg mit der Bewegung für soziale Dreigliederung politisch und durch die Gründung der Waldorfschule sozial wirksam wurde, wuchs ihr aus den Reihen der völkischen Bewegung eine breite Gegnerschaft zu, die sich die vollständige Vernichtung dieser angeblichen geistigen Seuche zum Ziel setzte.

Die völkische Gegnerschaft gegen die Anthroposophie entstand jedoch nicht erst 1919, als sich Steiner und eine Reihe sozial engagierter Anthroposophen für eine gesellschaftliche Neuordnung Europas einsetzten, die künftige Katastrophen wie den Zweiten Weltkrieg verhindern sollte. Die Dreigliederungsidee war gegen den nationalen Einheitsstaat gerichtet: sie sah eine radikaldemokratische Gesellschaftsordnung vor, die auf der Partizipation aller mündigen Bürger an der politischen Willensbildung beruhte. Sie wollte aber zugleich das Geflecht der Wirtschaftsbeziehungen dem Zugriff des nationalen oder korporativen Egoismus entziehen und unter die Selbstverwaltung des ökonomischen Sachverstands stellen. Durch freie Verträge aller Beteiligten sollte sich eine wirtschaftliche Solidarordnung etablieren, die Steiner bereits 1919 nur global realisierbar erschien. Kultur, Erziehung, Wissenschaft, das Rechtswesen und die Religion schließlich  sollten in vollständige Freiheit von staatlicher Bevormundung entlassen werden, um sich nach ihrer eigenen Dynamik zu entfalten und größtmögliche Prosperität dieses Kernbereichs der menschlichen Existenz zu gewährleisten. Nicht als Erneuerung der alten Ständeordnung  war die Dreigliederung gedacht, sondern als Freisetzung der strukturierenden Eigengesetzlichkeit  der gesellschaftlichen Lebensbereiche, an denen jedes einzelne Individuum Anteil hat. Diese Befürwortung der Demokratie, der Emanzipation und der nach Sozialismus riechenden Solidarität reizte die Verfechter des autoritären Staatsgedankens, der ständischen Privilegien und der Nationalkultur bis aufs Blut. Die völkische Verfemung der Anthroposophie erreichte zwar in den Bürgerkriegsjahren der Weimarer Republik ihren exzessiven Höhepunkt, sie wurzelte aber in der Zeit des Kaiserreichs.

Steiner als Prophet einer rassenzersetzenden Sklavenlehre

Bereits im Jahr 1911 hinterließ sie ihre Spuren in Publikationen. So etwa in einem Buch Guido von Lists, des Wiener völkischen Erb-Erinnerers, der zu den Schlüsselfiguren der arischen Rassenesoterik gehört. Er wunderte sich rhetorisch, wer Steiner – diesen »Propheten« im Dienste der »buddhistischen Sklavenlehre«, die den Kampfgeist der arischen Rasse zersetze – wohl finanziere und ließ keinen Zweifel daran, daß die reichlich fließenden Gelder nur aus jüdischen Quellen stammen könnten. Während die Behörden den Anhängern des »Wuotanismus« oder des »Armanismus« ständig Knüppel zwischen die Beine würfen, stünden dem »Propheten der Adyar-Loge« alle Türen offen. Seit Steiner einen »dilettantischen« Artikel Lists im Jahr 1904 abgelehnt hatte, hegte der eitle Monoman einen tiefen Groll gegen den Generalsekretär der deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft Adyar. Über die Mitglieder der Guido-von-List Gesellschaft – eine repräsentative Auswahl völkischer Prominenz – wirkte sich diese Feindschaft auch in Deutschland aus. Nicht wenige Mitglieder der Guido-von-List-Gesellschaft gehörten zu den aktivsten Gegnern Steiners.

Steiner als semitischer Mischling

Im Februar 1913 veröffentlichte Theodor Fritsch in seinem »Hammer« eine vernichtende Kritik des Werkes »Theosophie«, verfaßt von Karl Zoubek, einem Anhänger des Rassenhygienikers Willibald Hentschel, in der es hieß, Steiners Lehre vergewaltige »Geist und Gemüt«, beflecke die Einbildungskraft, drohe die Vernunft »in wüstestem Dämonismus« zu ersticken und die Menschheit über ihre »wahren Ziele« zu »verwirren«. Doch damit nicht genug, Steiners »Gedankenführung« streife »so dicht an die rabbinischen Albernheiten des Talmud, daß er – wenn auch nur durch unbewußte erbliche Belastung – sicher unter dem Einfluß desselben steht. Steiner dürfte ebenso, wie der hysterische Loyola, ein semitischer Mischling sein.« Zoubek verwahrte sich gegen den verderblichen Einfluß theosophischer Jesuiten, der das Volk »geistig krank und pervers« mache. Ebendiesen Text zitierte Philipp Stauff, der spätere Präsident der Guido-von-List-Gesellschaft, in der ersten Ausgabe des »Semi-Kürschner« 1913, eines Nachschlagewerkes über Personen »jüdischer Abstammung und Versippung« im deutschen Kulturleben. Damit war Steiner seit 1913 nicht nur unter den Lesern der Hammergemeinde, sondern in der gesamten völkischen Bewegung, die den »Semi-Kürschner« als autoritatives Nachschlagewerk benutzte, als Jude denunziert. Steiner als »semitischer Mischling«, als »Jude«, als Jesuit – für die Völkischen drückten all diese Topoi dasselbe aus: Hinterlist, Verschlagenheit, Lüge, Schwindelei, Verbrechertum, rassische Verkommenheit, Bedrohung der Reinheit des germanischen Blutes und des arischen Geistes.

Völkische Feindschaft als Folge von Steiners Antisemitismuskritik

Jedoch nicht nur Guido von List und sein Hauptpropagandist im Deutschen Reich, Philipp Stauff, gehörten zu den völkischen Gegnern Steiners. Schon um die Jahrhundertwende hatte er sich einen anderen Protagonisten dieser geistig-politischen Strömung zum Feind gemacht: den Literaturhistoriker Adolf Bartels. In einem Aufsatz, der im September 1901 in der Zeitschrift des »Vereins zur Abwehr des Antisemitismus« erschien, hatte Steiner dessen Bestrebungen kritisiert, eine »judenfreie« Geschichte der deutschen Literatur zu schaffen. Mit Bartels fertigte Steiner einen der prominentesten deutschen Antisemiten ab. Bartels wurde später von den Nationalsozialisten ausdrücklich als einer ihrer Vorkämpfer anerkannt. Er spielte in der organisatorischen Konsolidierung der völkischen Bewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine bedeutende Rolle. Er gehörte seit 1907 dem »Deutschbund« an, der sich ab 1912 dezidiert in den Dienst der Rassegedankens stellte. Er verfaßte die Satzungen des »Deutsch-Völkischen Schriftstellerverbandes« und war einer der Hauptorganisatoren des ersten »Deutschen Tages« 1913, an dem 17 völkische Bünde teilnahmen, unter anderem die »Deutsch-Völkische Vereinigung«, deren Vorsitzender er war. Bartels spielte auch beim Zustandekommen der wichtigsten antisemitischen Vereinigung in Deutschland, des »Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes« eine wichtige Rolle, war er doch Mitglied im Judenausschuß des »Alldeutschen Verbandes«, der bei der Gründung dieses Bundes Pate stand. Bartels trat auf den Veranstaltungen des Bundes neben Artur Dinter, Dietrich Eckart und Gottfried Feder als einer der Hauptredner auf. Dieser »Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund« entwickelte sich während des I. Weltkriegs zu einer der militantesten anti-anthroposophischen Kampftruppen. Aus dessen ideologischen Arsenalen stammte die Munition, die gegen Steiner als angeblichen galizischen Juden und die Anthroposophische Gesellschaft als angebliche Judengesellschaft abgefeuert wurde.

Steiners Vorurteilslosigkeit gegenüber Angehörigen des Judentums – gleichgültig ob orthodox oder assimiliert – führte schon vor der Jahrhundertwende zu Irritationen bei völkischen Antisemiten. Wie ein Topos zieht sich der Generalverdacht durch die Geschichte der Gegnerschaft, Steiner sei »Jude«, »jüdischer Mischling« oder »Judensöldling«. Schon die Tatsache, daß er in seiner Wiener Zeit während sechs Jahren im Haus einer assimilierten jüdischen Familie lebte und deren Kinder erzog, sorgte auf Seiten der dem Antisemitismus zuneigenden Freunde im Umkreis von Heinrich Friedjungs »Deutscher Wochenschrift«, die er 1888 für ein halbes Jahr redigierte, für Unmut. Andererseits konnte der jüdische Familienvater nicht verstehen, warum er seinen Umgang mit jenen »Judenfeinden« nicht abbrach. Dazu kam, daß Steiner in dieser Zeit einen Aufsatz verfaßte, in dem er seine Auffassung, die Offenbarungsreligionen seien überlebte Relikte der Vergangenheit, auch in bezug auf das Judentum kundtat. Steiner saß, wie so oft in seinem Leben, zwischen allen Stühlen. Im Jahr 1892 veröffentlichte Steiner in Maximilian Hardens »Zukunft« eine Kritik an der von Freidenkern in Berlin gegründeten »Gesellschaft für ethische Cultur«, in der er vom Standpunkt seines ethischen Individualismus jede Form von Normethik zurückwies, die den Soziologen Ferdinand Tönnies den Verdacht äußern ließ, Steiner gehöre dem orthodoxen Judentum an, ein Verdacht, über den sich Steiner in einem Brief an die jüdische Mutter, deren Kinder er erzogen hatte, Ende 1892 köstlich amüsierte. Sein Einsatz für Dreyfus, über dessen Unschuld er als Redakteur des »Magazins für Literatur« 1898 drei Aufsätze verfaßte, führte dazu, daß ein völkisch orientierter Professor mit der Begründung, er könne ein Organ, das den sein Vaterland verratenden »Judensöldling« Émile Zola verteidige, in seiner Bibliothek nicht dulden, empört sein Abonnement kündigte.

So absurd all diese Unterstellungen auch waren, so absurd es war, die angebliche jüdische Abstammung Steiners als Argument gegen ihn und die Anthroposophie zu benutzen, so waren diese Vorwürfe doch geeignet, ihn und seine jüdischen Schüler in der antisemitischen Bewegung und einer mit antisemitischen Vorurteilen sympathisierenden Öffentlichkeit zu diskreditieren. Steiner ließ deshalb seinen Taufschein fotografieren und verteilen. Natürlich nützte dies nichts. Denn für die Rassenantisemiten hatte es keinerlei Bedeutung, ob ein Jude getauft war oder nicht. Seiner Rasse konnte er dadurch nicht entrinnen. Diese groteske Situation nötigte Steiner gegenüber der Öffentlichkeit zu Klarstellungen. So etwa in einem Vortrag in Stuttgart im Juni 1920: »Ich halte es von meinem Standpunkt aus für höchst gleichgültig, ob jemand denkt, ich sei Jude oder Christ oder Katholik oder was auch immer. Ich halte diese Frage für irrelevant. Aber so wie sie aufgebracht wird, so wird sie nicht als irrelevant betrachtet. Und da habe ich es auch nicht zu tun mit der Wertung des Judentums oder Nicht-Judentums, sondern mit Wahrheit und Verlogenheit, mit Wahrheit und ganz unsauberer Lüge.«

Der »Verband gegen die Überhebung des Judentums« und der »Reichshammerbund«

Ludwig Müller von Hausen, der im Jahr 1912 den »Verband gegen Überhebung des Judentums« begründet hatte und in Berlin die Zeitschrift »Auf Vorposten« herausgab, beteiligte sich im Jahr 1921 massiv an der völkischen Kampagne gegen Steiner. Der Herausgeber der ersten deutschen Edition der berüchtigten »Protokolle der Weisen von Zion« (Januar 1920) setzte im April/Maiheft 1921 seiner Zeitschrift gleich mehrere Verleumdungen über Steiner in die Welt. Da bei den Lesern des »Vorposten« als bekannt vorausgesetzt werden konnte, daß Steiner Jude war, konnte man ihn mit den angeblichen jüdischen Verschwörern, die alle europäischen Throne gestürzt hatten und die Sache der bolschewistischen Revolution auch in Westeuropa betrieben, in einen Topf werfen. In einem Artikel über den bolschewistischen »Blutrausch« schrieb Hausen über Steiner, dieser habe sich wie »die reichen Juden vom Kurfürstendamm« und Rathenau an Geldsammlungen für die Kommunisten beteiligt. »Noch kürzlich hörten wir, vor dem letzten Aufstande der Kommunisten in Mitteldeutschland hätte in Süddeutschland eine vertrauliche Besprechung stattgefunden, an welcher Rathenau, Rudolf Steiner, Parvus, Oscar Cohn und etwa 20 Rabbis teilgenommen hätten. Vielleicht kann uns der Centralverein darüber nähere Angaben machen und mitteilen, welchen Parteien die Genannten nunmehr angehören.« Mit dem Centralverein ist der »Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens« gemeint, mit dem Müller von Hausen in gerichtliche Auseinandersetzungen verwickelt war. Bemerkenswert an diesen Sätzen ist, daß Steiner hier in einem Atemzug mit dem späteren Mordopfer Rathenau genannt wird. Unter dem Titel »Hochverrat« teilte Müller von Hausen seinen Lesern überdies mit, Steiner habe zusammen mit dem Reichskanzler Fehrenbach und dem Außenminister Simons das Deutsche Reich an eine feindliche Macht ausgeliefert, weil die beiden letzteren eine Note an den Präsidenten der USA gesandt hatten, in der sie diesen um Vermittlung im Streit um die deutschen Reparationen baten. »Über den neuesten Hochverrat, welchen der Rechtsanwalt und Reichskanzler a.D. Fehrenbach im Bunde mit dem Theosophen und Anhänger von Dr. Rudolf Steiner, Reichsminister des Äußeren a.D. Dr. Simons begingen, als sie Deutschlands Zukunft ohne Vorbehalt mit hündischer Demut in die Hände des Präsidenten der Vereinigten Staaten legten, hat der Verlags-Buchhändler Ludwig Schroeter eine Anzeige bei der Staatsanwaltschaft erstattet.«

Auch die von Theodor Fritsch herausgegebene Zeitschrift »Hammer«, eines der Flaggschiffe des völkischen Antisemitismus, beteiligte sich im Jahr 1921 verstärkt an der Kampagne gegen Steiner. Die Halbmonatsschrift veröffentlichte drei Artikel Paul Lehmanns, eines regelmäßigen Mitarbeiters, zur Anthroposophie.

Im Januar 1921 ließ Lehmann sich über Steiners politische Orientierung aus.[1] Steiners politischer Tätigkeit »können wir Völkischen«, so Lehmann, »nur mit Zweifel und Beunruhigung zusehen, oder wir werden sogar gezwungen, ihr abwehrend entgegen zu treten. Nach uns zugegangenen Nachrichten sind von der politischen Anhängerschaft starke Fäden ins kommunistische Lager hinüber geknüpft worden. Ihr Endziel ist noch undurchsichtig. Ihre Gegnerschaft gegen die »Reaktionäre«, nämlich Deutschnationale, Offiziere, Bürgertum, Völkische zwingt zu der Annahme, daß dieses Endziel nicht in nationaler Festigung, sondern in irgendeinem unklaren »Menschheits«-Ideal liegt. [Kursiv L.R.] ... Alle Arten der Bespitzelung der »Reaktionäre«, wie sie von den Kommunisten geübt werden: Einschleichen von Aushorchern, Aufstellen von Ächtungslisten – deren Zweck klar ist – finden auch von Leuten um Steiner Anwendung, Namen wie Unger, Arensen [sic!] zeigen auf die Spinne im Hintergrunde des Netzes, das über das deutsche Volk gewoben wird.

Ob die Steiner-Leute wirkliche Bolschewisten sind, ob sie sich dieser nur bedienen wollten – zunächst sind sie Verbündete. Ihr Weg geht über die Leiche des deutschen Volkes. [Kursiv L.R.] Ob Steiner eher schiebt oder geschoben wird, ist belanglos. Tatsächlich muß er politisch als Bundesgenosse von Deutschlands Verderbern angesehen und behandelt, deshalb auf Tod und Leben bekämpft werden. [Kursiv L.R.] Gibt es Ächtungslisten national hervorragender Männer – nun, so lassen sich auch Listen ihrer Gegner aufstellen. [Kursiv L.R.] Vermöge des hypnotischen Einflusses, den die Steinerschen Lehren gerade auf unklar schwärmerische und zu fanatisierende Köpfe ausüben, die dann zu Allem fähig sind, kann man die Gefahr von dieser Seite nicht ernst genug schätzen. [Kursiv L.R.] Sollte selbst in den kommunistischen Massen ein gewisses revolutionäres Abfluten eintreten: die Hinterleute mit letzten, verborgenen Zielen werden sie immer wieder aufwiegeln. Deshalb verdienen die Unger und Genossen die ernsteste Aufmerksamkeit. [Kursiv L.R.]«

Auch von Lehmann wird die anthroposophische Bewegung in die jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung eingeordnet: nicht nur Unger war als Jude bekannt, Steiner wurde ebenso für einen gehalten. Lehmanns abstruse Hinweise auf Ächtungslisten sind insofern interessant, als solche Listen, die in Wahrheit Todeslisten waren, in radikal-völkischen Kreisen tatsächlich kursierten und Steiner, wie wir sahen, auf solchen Listen stand. Daß auch Lehmann, der hier die offizielle Position des »Reichshammerbundes« kundtat, Steiner als Gegner der »Reaktionäre«, der »Völkischen« und »Deutschnationalen« sah und ihn in der Nähe der Bolschewisten vermutete, geht aus seinen Bemerkungen ebenso hervor, wie die Tatsache, daß er es für notwendig hielt, Steiner mit allen Mitteln – »auf Tod und Leben« – zu bekämpfen.

Dem im Juni 1921 veröffentlichten Artikel Lehmanns über »Seltsam Anthroposophisches« ist zu entnehmen, daß dieser inzwischen wenigstens das Pamphlet von Seiling gelesen hatte, aus dem er auch andere Gegner anführt, nämlich Friedrich Traub, den Bekannten Seilings M. G. Conrad, Frau von Sonklar, Graf Hermann Keyserling und den holländischen »Gelehrten« de Jong mit seinem Pamphlet »Dr. Steiner – ein Schwindler wie keiner« – dessen Titel später Schwarz-Bostunitsch (1929) für sein eigenes Machwerk gegen Steiner übernahm –, der also bereits 1921 bei den Völkischen bekannt war. Dem »Deutschen« – den Lehmann in Anführungszeichen setzt – und »Politiker« Steiner wirft er »Schurkengesinnung« vor, weil er in seinem »Aufruf an das deutsche Volk und die Kulturwelt« von Anfang 1919 auf die fehlende politische und historische Legitimation des 1871 begründeten Deutschen Reiches hingewiesen habe. Dieselbe »Schurkengesinnung« offenbare auch Ernst Uehli, wenn er in der Dreigliederungszeitschrift den »Einheitsstaat« bekämpfe. Nicht umsonst habe die »Frankfurter Zeitung« Steiner wegen seines Engagements in Oberschlesien als »Landesverräter« bezeichnet, strebe er doch die Zerstückelung Deutschlands an. Lehmann: »Wer nach diesen Feststellungen noch zu dem Entente-Agenten Steiner hält, steht entweder unter seiner satanischen Suggestiv-Kraft [sic!], wie das Kaninchen unterm Schlangenblick, oder ist geistig, sittlich und völkisch unzurechnungsfähig.« Allen, die die Steiner-Seuche bekämpfen wollten, empfiehlt Lehmann das Pamphlet Seilings »Die Anthroposophische Bewegung und ihr Prophet«.[2]

Ihren Höhepunkt erreichte die vom »Hammer« gegen Steiner geführte Verleumdungskampagne jedoch in der Novembernummer 1921, jener Nummer, auf die sich sowohl Rohm als auch Eckart bezogen. Lehmann zitiert hier aus einer »amtlichen Denkschrift« von »Anfang 1920« über die von Steiner geleitete (politische) Bewegung. Vermutlich handelt es sich bei dieser angeblichen amtlichen Denkschrift insgesamt um eine Fiktion oder um das Produkt geheimdienstähnlicher Aktivitäten rechtsgerichteter Dunkelmänner, jedenfalls sind die von Lehmann daraus zitierten Briefe, die bereits Anfang 1920 in der rechten Szene kursierten, Fälschungen. Lehmann zitiert aus der »Denkschrift«: »Steiner und Genossen predigen den Internationalismus; selbstverständlich ist ihnen jede nationale Idee ein Greuel, ganz ähnlich wie bei Pazifisten. Sie betrachten es daher als eine ihrer Hauptaufgaben, jede nationalistische, monarchistische und antisemitische Propaganda in Verruf zu bringen und etwaige Überschreitungen des Friedensvertrags umgehend der Entente zwecks Eingriff zu übermitteln.« Die angebliche Denkschrift zitiert als »Beweise« für diese Behauptungen – die zwar, was die Diagnose der politischen Frontstellung der Dreigliederungsbewegung anbetrifft, keineswegs unzutreffend sind, um so irrealer aber, was die unterstellten Methoden und Zielsetzungen hinsichtlich der Entente anbetrifft – aus Briefen, die in einer »Geheimschrift« verfaßt, von den Agenten der »amtlichen Stelle« jedoch dechiffriert worden seien.

Der Inhalt des nun folgenden Briefes gelangte bereits im Januar 1920 zu Steiners Kenntnis. Er erzählte in Dornach am 17. Januar anläßlich eines Vortrags darüber und las den Brief vor, in dem von einem langjährigen Mitglied der Gesellschaft, das gegenwärtig noch aktiver Offizier sei, berichtet wurde, das Einblick in die kursierenden Briefe erhalten habe.[3] Der erste Brief handle vom Steinerbund und den Freimaurern und kündige eine Flugblattaktion an, die den Eindruck erwecken solle, sie komme von den »Monarchisten«, in Wahrheit aber den Zweck habe, die »monarchistische und antisemitische Bewegung« lächerlich zu machen. Der zweite Brief handle von einer Geheimdienstaktion, die darauf abziele, monarchistisch gesonnene Offiziere durch einen Herrn Grellinger an die Entente zu verraten. Aus diesen Briefen hatte, wie Steiner in seinem Vortrag berichtete, der »Mannheimer Generalanzeiger« vom 2. Januar 1920 geschöpft und eine Meldung über den »bekannten theosophischen Scharlatan« unter dem Titel »Rudolf Steiner als politischer Denunziant« veröffentlicht.

Nun zum von Lehmann 1921 zitierten Inhalt der beiden Briefe. Er stimmt wörtlich mit dem Bericht überein, den Steiner in seinem Vortrag gab. Der Brief über die Offiziere der Entente enthält eine Passage, die unfreiwillig etwas von den Konspirationen der Rechten verrät: es wird darin behauptet, die Verschwörer müßten in Einwohnerwehren, Freikorps und private Kampf-Organisationen Vertrauensleute einschleusen, um die Größe der Gruppen und ihre Bewaffnungsstärke auszuspionieren und diese der Entente mitzuteilen. Wir gehen wohl nicht Fehl in der Annahme, daß diese Verleumdungen aus dem Umkreis ebenjener Freikorps und rechtsradikalen Kampf-Organisationen stammten, zu denen der »Reichshammerbund«, der »Germanen-Orden« und der im November 1918 während der Zeit der Münchner Räterepublik durch Sebottendorff gegründete »Thule-Kampfbund« gehörten. Sebottendorff war vom Lanz-von-Liebenfels-Anhänger Hermann Pohl bereits Ende 1916 mit dem Aufbau der bayrischen Provinz des Germanen-Ordens beauftragt worden und sollte später als Besitzer des »Münchner Beobachters« der publizistische Wegbereiter Hitlers werden. Der Thule-Kampfbund führte im Geheimen Kampftrainings durch, versuchte die kommunistischen Gruppen zu infiltrieren und Sebottendorff rekrutierte Mitglieder für den »Bund Oberland«, der zu den konterrevolutionären Truppen gehörte, die der Münchner Räterepublik Anfang Mai 1919 ein Ende setzten. Das in den Briefen entworfene Szenario geheimdienstlicher Aktivitäten, die angeblich gegen die monarchistische und antisemitische Bewegung gerichtet seien, entspricht genau jenen Methoden, derer sich diese reaktionären privaten Kampf-Organisationen und Freikorps zur Vorbereitung des Bürgerkriegs bedienten. Das im anderen Brief entworfene Verschwörungsszenario, das ein Zusammenspiel von Steinerbund und Freimaurerei voraussetzt, was mit ihrer »jüdischen Verseuchung« zusammenhing, die Guido von List bereits 1911 konstatiert hatte[4], verweist auf die antisemitischen Kampfbünde, zu denen der »Deutsch-völkische Schutz- und Trutzbund« ebenso gehörte, wie der »Reichshammerbund«.

Goetheanumbrand und Attentatsversuch

Bereits im Oktober 1920 stieß einer der haßerfülltesten völkischen Gegner, Karl Rohm, in seinem in Lorch erscheinenden antisemitischen Hetzblatt »Der Leuchtturm« eine Drohung aus, die in der Sylvesternacht 1922, der Nacht des Goetheanumbrandes, in die Tat umgesetzt werden sollte: »Geistige Feuerfunken, die Blitzen gleich nach der hölzernen Mausefalle zischen, sind also genügend vorhanden und es wird schon einiger Klugheit Steiners bedürfen, versöhnend zu wirken, damit nicht eines Tages ein richtiger Feuerfunke der Dornacher Herrlichkeit ein unrühmliches Ende bereitet.«

Im Mai 1922 unternahmen Militante aus dem Umkreis des »Deutsch-Völkischen Schutz- und Trutzbundes« im Münchner Hotel »Vier Jahreszeiten« einen Attentatsversuch auf Rudolf Steiner. Auch dieser Attentatsversuch war geistig vorbereitet worden. Paul Lehmann, ein regelmäßiger Mitarbeiter des von Theodor Fritsch, dem »Nestor des Antisemitismus« herausgegebenen völkischen Zentralorgans »Hammer«, hatte im Januar 1921 über Steiner geschrieben: »Tatsächlich muß er politisch als Bundesgenosse von Deutschlands Verderbern angesehen und behandelt, deshalb auf Tod und Leben bekämpft werden.« Daß solche Hetze von den militanten Anhängern der völkischen Bewegung ernst gemeint war, bewiesen sie durch die Morde am ehemaligen Reichsfinanzminister Matthias Erzberger am 26. August 1921 und am deutschen Außenminister Walther Rathenau am 24. Juni 1922 (am Johannitag). Im März 1921 hatte Adolf Hitler höchstpersönlich im »Völkischen Beobachter«, dem Organ der NSDAP, diese Kampagne aufgegriffen, als er in einem Artikel über die Verhandlungen des Außenministers Walter Simons in London zur Regelung der Reparationsfragen schrieb, dieser sei ein »intimer Freund des Gnostikers und Anthroposophen Rudolf Steiners, Anhänger der Dreigliederung des sozialen Organismus und wie diese ganzen jüdischen Methoden zur Zerstörung der normalen Geistesverfassung der Völker heißen.« Hitler drohte dem »Nationalverbrecher« Simons die »seidene Schnur« an: welche Behandlung er für Steiner vorsah, behielt er für sich.

Am 27. Mai 1922, 12 Tage nach dem Ereignis im Münchner Hotel »Vier Jahreszeiten«, das auch den Versammlungsort der von Rudolf Sebottendorf begründeten »Thule-Gesellschaft« beherbergte, erschien im »Völkischen Beobachter« unter dem Titel »Steiner, der neue Messias« ein Artikel. Der anonyme Verfasser, vermutlich der damalige Schriftleiter Dietrich Eckart, schrieb: » ... wer sich mit den Krüppelformen des Steinerschen Denkens befaßt hat, erkennt unschwer, daß Talmud und Kabbala das Sperma waren, aus dem dieses sonderbare Gewächs  gedieh ... Steiner ist wie seine theosophischen Brüder Bolschewist, liebäugelt mit deren internationalem Rätestaate und hat auch schon daran gedacht, wie er dessen Feinde unschädlich machen könnte.« Fünf Monate später, im Oktober 1922, glaubte Dietrich Eckart, Hitlers früher Förderer und Mentor, im »Völkischen Beobachter« schreiben zu können: »Der Prophet aus Kraljewitz ist tot für Deutschland

Der Mythos von der Sexualmagie

Schließlich war mit Steiners angeblichem Judentum noch eine weitere Assoziation verknüpft. Die Anhänger der Fiktion von der jüdischen Weltverschwörung verbanden ihre Wahnvorstellungen häufig mit einem anderen Topos, der erstmals in einem Artikel von Karl Zoubek anklang, der im Januar 1913 im »Hammer« erschien. In seinem Aufsatz über »Gelbe Gefahr und Theosophie« chrakterisierte er die Theosophie als die religiöse fünfte Kolonne des Asiatentums, das Europa und die arische Rasse zu ersticken drohe. Die allgemeine Entarisierung, die Rassenentartung, so Zoubek, arbeite den Theosophen in die Hände. Diese Lehre sei ein aus allen möglichen östlichen Religionssystemen zusammengemischtes Sammelsurium. Er vergaß nicht, die »jüdisch-kabbalistische weiße und schwarze Magie« zu erwähnen. Die »jüdische Kabbala« erfreue sich des besonderen Wohlwollens der Theosophen. Da der Grund jeder Kultur im Rassengeist des betreffenden Volkes ruhe, drohe von der Theosophie eine »Verdunkelung und Turanisierung des arischen Geistes«. Noch Alfred Rosenberg stand 1930 im Banne dieser Halluzination, als er in seinem »Mythus des 20. Jahrhunderts« über Steiner schrieb, dieser habe die »asiatisch-afrikanische Unterwelt des Geschlechtskollektivismus« in Europa salonfähig machen wollen.

Die Konnotation von Kabbala, Satanskult, Sexualmagie und jüdisch-freimaurerischer Weltverschwörung konnte schon zur Zeit des Ersten Weltkriegs auf eine lange Tradition zurückblicken. Autoren wie Gougenot des Mousseaux – den Rosenberg ins Deutsche übersetzte –, der katholische Priester Abbé Chabauty und der Erzbischof von Mauritius, L. Meurin, der 1893 sein Buch »La Franc-Maçonnerie, la synagogue du Satan« veröffentlichte, hatten die Verknüpfung zwischen Freimaurerei, talmudisch-kabbalistischem Judentum und Satansdienst bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hergestellt. Sie alle bewegten sich in den Bahnen Abbé Barruels, des Erzverschwörungstheoretikers, der mit seinem »Memoire« über die Geschichte des Jakobinismus 1797 die französische Revolution auf das Wirken einer Geheimsekte zurückgeführt hatte, die angeblich den Satanskult des Templerordens fortgesetzt habe. Einen herben Dämpfer erhielt der ganze paranoide Eifer, mit dem die katholische Kirche gegen die Freimaurerei kämpfte, durch die Enthüllungen des antiklerikalen Journalisten Leo Taxil, der am Ostermontag 1897 auf einer Pressekonferenz in Paris öffentlichkeitswirksam die Leichtgläubigkeit des Klerus bloßstellte und den Papst dem allgemeinen Gelächter preisgab. Andererseits muß man den ultramontanen Antimodernisten zugute halten, daß sie von Republikanern und Liberalen auch nicht gerade geschont wurden. Durch die französische Revolution und die napoleonischen Säkularisierungen traumatisiert, hatte der Vatikan nicht nur den Verlust des Kirchenstaates zu verschmerzen, sondern auch den preußischen Kulturkampf und die permanenten Angriffe der französischen Freimaurerrepublik. Im Juni 1917 veröffentlichte die Leipziger Monatsschrift »Psychische Studien« unter dem Titel »Die Anthroposophie – sexuelle Magie?« den Aufsatz einer Nervenkranken, in dem sie auf ihre enttäuschten Heiratshoffnungen anspielte und davon sprach, von Steiner durch magisch-sexuelle Beeinflussung ein »Geisteskind« empfangen zu haben. Sie behauptete aber auch, durch das Essen von Schokolade »okkult beeinflußt« worden zu sein. Der ganze Artikel war ein Schulbeispiel für paranoide Wahnvorstellungen und wurde von passionierten Gegnern begierig aufgegriffen.

In der Juninummer 1919 des »Leuchtturm« verbreitete Karl Rohm über Steiner in bester »Stürmer«-Manier die Mär, dieser habe »in sexueller Magie eine besondere Methode entwickelt.« Rohm zitierte genüsslich ein Pamphlet Max Seilings, eines ehemaligen Theosophen und Mitgliedes der Guido-von List-Gesellschaft, der später zum Katholizismus konvertierte, in dem Seiling behauptet hatte, Steiners Arbeit offenbare »eine Art jüdisch-kabbalistische Magie mit immer dazugehörigem Zynismus, Hinterlistigkeit, Geldgier und Sexualmagie«. Da die Entourage Steiners in Rohms Augen »jüdisch« oder »jüdisch verseucht« war, lagen die Anschuldigungen gegen Steiner und seine Schüler wegen angeblicher sexueller Verfehlungen nahe, denn zu den antisemitischen Stereotypen, denen auch Hitler in »Mein Kampf« beredt Ausdruck verlieh, ganz zu schweigen von Streichers »Stürmer«, gehörte deren angeblich exzessive Sexualität. Rohm fuhr nämlich fort: »Damit komme ich auf einen besonderen Gegenstand, das Judentum in der Steinerei. ... Sein Aussehen und die ganze Art seines Wirkens und Lehrens sprachen dafür, daß er Jude sei, auch der bemerkenswerte Umstand, daß in seiner Gesellschaft gerade Juden seine vertrauten, intimsten und treuesten Anhänger waren und in großer Zahl beitraten, sprachen dafür. In Stuttgart z.B. sind es die Juden Dr. Unger und Arenson, die die Häupter der Steinergesellschaft sind, und wer Mitglied werden will, muß den vielen Juden [!], besonders bei dem, eine Art anthroposophischen Famulus mimenden Arenson einen besonderen Einführungskursus durchmachen. Solange die Steinergesellschaft noch Adyar-Besantisch war, und sich »Theosophische Gesellschaft« nannte, wurde sie in theosophischen Kreisen zur Unterscheidung von den andern Theosophischen Gesellschaften kurzweg »die Judengesellschaft« [!] genannt.«

Bereits im Juni 1919 griff Dietrich Eckart in seiner Zeitschrift »Auf gut deutsch« diese wilden Phantastereien auf. Auch der katholische Pfarrer von Dornach, Max Kully, ein weiterer Anhänger der jüdisch-freimaurerischen Weltverschwörung, verbreitete sich in mehreren Publikationen seit 1920 über dieses Thema. Er gehörte auch zu den ersten, die behaupteten, Steiner sei Großmeister des O.T.O., des »Ordo Templi Orientis« gewesen, zu dessen Geheimnissen sexualmagische Praktiken gehört hätten. Aus der hier angedeuteten Vorgeschichte der völkischen Gegnerschaft erklärt sich ohne weiteres die zielgerichtete Energie, mit der die Nationalsozialisten nach ihrer Machtergreifung das Verbot der Anthroposophischen Gesellschaft und ihrer »Zweckverbände« betrieben.

Der – wie so viele militanten Nationalisten – in einem umstrittenen geographischen Gebiet, nämlich im Elsaß, geborene völkische Publizist und Politiker Arthur Dinter (1876-1948) engagierte sich bereits vor 1914 im »Alldeutschen Verband«. Während eines Lazarettaufenthalts 1916 wandte er sich unter dem Einfluß der Schriften Houston Stewart Chamberlains (1855-1927) dem völkischen Radikalismus zu. 1919 ließ er sich als freier Schriftsteller in Weimar nieder. Antisemitische Überzeugungen begannen in seinem Denken eine zunehmend größere Rolle zu spielen. Seine ideologische Hemmungslosigkeit führte 1917 zum Ausschluß aus dem »Verband Deutscher Bühnenschriftsteller«. Im gleichen Jahr erschien die als Roman verkleidete radikal antisemitische Abhandlung »Die Sünde wider das Blut«, die bis 1934 eine Auflage von 260.000 Stück erreichte. Später ergänzte Dinter das Buch durch die Folgebände »Die Sünde wider den Geist« und »Die Sünde wider die Liebe« zu einer Trilogie, der er den Gesamttitel »Die Sünden der Zeit« gab.[5] Die 1922 erschienene »Sünde wider die Liebe« etwa, die auf dem Buchdeckel das Hakenkreuz trägt, breitet das ganze Spektrum des völkischen Kampfprogramms aus und bezieht sich positiv auf die »Protokolle der Weisen von Zion« in der Ausgabe Gottfried zur Beecks, auf Paul Bangs Pamphlet »Judas Schuldbuch«, auf Paul de Lagarde, den verehrten »Lehrer und Freund« Houston Stewart Chamberlain, Theodor Fritschs Publikation »Der falsche Gott«, in dem das »teuflische Wesen Jahwes« enthüllt worden sei und eine ganze Reihe weiterer prominenter Antisemiten. Rudolf Steiner wird darin mit Paulus verglichen, der als erster Jude im Dienst Luzifers die Botschaft des arischen Heilands verfälscht habe. Über Steiners Anthroposophie schreibt Dinter: »Es ist genau derselbe Vorgang, den wir heute an dem ungarischen Juden Rudolf Steiner erleben: die erhabenen Wahrheiten der Geistlehre hat er in Satanosophie verwandelt und ihr die unverfängliche, in der Zeit des heutigen Materialismus erfolgverheißende Bezeichnung »Anthroposophie« gegeben; unter der Heilandsmaske ist Rudolf Steiner erfolgreich am Werke, Seelen für Luzifer einzufangen.«[6] Die Worte Luzifers aus Steiners Mysteriendrama »Die Prüfung der Seele« »Man kann für Christi Gegenbild am besten Menschenherzen fangen, wenn Christi Namen man dem Bilde gibt« liest Dinter so, daß Steiner hier seine »verhüllte Satanslehre« entschleiert habe. Diese Entstellung spielt bis heute in tendenziösen Publikationen beim Versuch eine Rolle, der Anthroposophie eine satanolatrische Deutung zu geben.[7] In Wahrheit ist es Luzifer selbst, der an der betreffenden Stelle des Steinerschen Dramas als Gegenspieler Christi seine Absichten und die Art seines Wirkens vor dem Geistesschüler preisgeben muß. Es ist nur konsequent, wenn Dinter in Steiner, den er für einen Juden hielt, einen Satansdiener sah, waren doch für ihn Juden Teufel in Menschengestalt, verstockte Geister, die schon seit Anbeginn der Zeit unter der Führung Luzifers danach trachteten, die Menschheit zu jenem Größenwahn und jener Selbstsucht zu verführen, denen sie selbst angeblich verfallen waren.

Dinter verstand seine »Geistlehre« als »Metaphysik der Rassenlehre« und hielt es für notwendig, das Judentum »geistig« zu überwinden. Seiner Auffassung nach war die Weltgeschichte des Rassenkriegs in das Stadium der apokalyptischen Endkampfs zwischen Ariern und Semiten eingetreten. »Dieser Kampf zwischen Ariern und jüdischen Semiten, zwischen Wahrheit und Lüge, macht die Völker- und Weltgeschichte bis auf den heutigen Tag. Er ist nichts anderes als die irdische Einkleidung des gewaltigen Geisterkampfes, der seit dem Abfalle der Erstlingsgeister das Weltall durchtobt. Es ist der Kampf Luzifers gegen den Heiland ...«[8]Aber die Judenfrage ist »niemals durch physische Gewalt«, sondern nur durch geistige Kraft zu lösen. »Wir Deutsche lösen die Judenfrage für uns und damit für die ganze Menschheit nur dadurch, daß wir so deutsch wie möglich, das heißt, so wahrhaftig und so selbstlos wie möglich sind. Wenn wir so durch Erkenntnis und dienende Liebe den Juden in uns überwunden haben, werden seine materialistischen Verführungskünste auf uns ohne Wirkung bleiben ... Der Jude und sein mammonistisches Wesen sinkt alsdann von selbst um uns herum zusammen ... Ist dieses Ziel erreicht, dann erst ist die Judenfrage endgültig ... gelöst.«[9] Trotz dieser Ansichten plädierte Dinter im gleichen Atemzug für gesetzliche Maßnahmen gegen das Judentum. So müssten die staatliche Anerkennung der jüdischen Religion und die Emanzipation aufgehoben, das deutsche Blut gegen »jüdische Schändung und Bastardisierung« durch ein striktes Verbot von Mischehen geschützt werden, Juden dürften keine Lehrer, Beamten und Richter sein, keinen Grundbesitz erwerben und ihre Einwanderung verboten werden. Abgesehen von ihrer physischen Ausrottung darf man aus Dinters Sicht mit den Juden, diesen Verkörperungen des metaphysisch Bösen, alles machen. Alle nach 1914 in Deutschland eingewanderten Juden müßten nach Konfiskation ihres Eigentums ausgewiesen werden. »Die Urheimat des Juden ist die Wüste und in die Wüste gehört er von rechtswegen zurück.«[10] Zwar seien diese Maßnahmen hart, aber es gebe keine andere Möglichkeit das »jüdische Gift aus dem deutschen Volkskörper auszuscheiden.«

Doch blieb es nicht bei literarischen Exzessen, Dinter bemühte sich auch um praktische Verwirklichung seiner Vorstellungen. So gehörte er 1919 zu den Begründern des »Deutsch-Völkischen Schutz- und Trutzbundes«, dem nach Einschätzung des Reichskomissars für öffentliche Ordnung vom November 1922 »größten, tätigsten und einflußreichsten antisemitischen Verband in Deutschland«, mit Niederlassungen in rund 600 Städten und rund 200.000 Anhängern.[11] Dinter war Vorstandsmitglied des Bundes bis zu dessen Verbot infolge des Mordes an Walter Rathenau im Juli 1922 – das allerdings von Bayern nicht umgesetzt wurde. Nach dem Verbot zählte er zu den Gründungsmitgliedern der »Deutsch-Völkischen Freiheitspartei«. 1923 nahm er zu Hitler Kontakt auf. Am 10. Februar 1924 wurde er als Vertreter des rechtsextremistischen Wahlbündnisses »Völkisch-Sozialer Block« in den Landtag von Thüringen gewählt.

Im Lauf des Jahres 1924 näherte sich Dinter der NSDAP an. Engere Beziehungen bestanden insbesondere zu Alfred Rosenberg. Noch aus der Landsberger Haft ernannte ihn Hitler im Herbst des Jahres zum Landesführer in Thüringen. Außerdem betätigte sich Dinter als Herausgeber der in Weimar erscheinenden Zeitung »Der Nationalsozialist«. Dinter trat im April 1925 in die wieder begründete nationalsozialistische Partei ein und wurde von Hitler für seine Verdienste mit der Mitgliedsnummer 5 belohnt. Er übernahm die Leitung der Parteiorganisation im Gau Thüringen.

Dinter war, wie Westerich und Hauer Anhänger der Idee eines arischen Christentums. Eine religiöse Erneuerung hielt er für unabdingbar für »Deutschland Erneuerung«. Im November 1927 gründete er die »Geistchristliche Religionsgemeinschaft«, die 1933 in »Deutsche Volkskirche e.V.« umbenannt wurde. 1936 gehörten der Vereinigung etwa 300.000 Mitglieder an. Wichtigstes Ziel der Vereinigung war es, ein »vom Judentum gereinigtes« Christentum, eine »Entjudung der christlichen Religion« herbeizuführen.

Die Persistenz völkischer Ausgrenzungstopoi

Seit den zwanziger Jahren hat sich im gesellschaftlichen Ausgrenzungsdiskurs wenig geändert. Selbst heute noch werden die absurdesten Anschuldigungen, die aus dem Sumpf der kollektiven, völkisch-katholischen Paranoia erblühten, wie der Mythos von Sexualmagie und Satanskult, von Fantasyautoren kolportiert und geistern notorisch durch Tageszeitungen, etwa, wenn sich das Boulevard mit Jugendkulten auseinandersetzt. Nur in einer Beziehung fand eine Verschiebung der Koordinaten statt: während in der ersten Jahrhunderthälfte Rassisten und Antisemiten die Anthroposophie aufgrund ihres angeblich jüdischen Kerns – ihres Internationalismus, ihrer Staats- und Rassenfeindlichkeit – »auf Tod und Leben« bekämpften, glauben heute manche Verschwörungstheoretiker, die ihre sachliche Ignoranz mit umso größerem missionarischem Eifer kompensieren, sie könnten die Anthroposophie in die Entwicklungslinie einordnen, die von der völkischen Bewegung in den Nationalsozialismus führte. Aber wie schrieb doch im Mai 1940 der Exilrusse und Mitarbeiter Rosenbergs, Gregor Schwarz-Bostunitsch, an seinen Vorgesetzten: »Entweder »Mythus des XX. Jahrhundert« oder »Das Christentum als mystische Tatsache«, wie Steiner sein zusammengestohlenes Werk nennt. Entweder »Blut und Ehre« – oder »Wie erlangt man die Erkenntnis höherer Welten«. Eine Symbiose dieser zwei Weltanschauungen kann es nicht geben.«

Siehe auch: Abrahamitische Kultur – Die Kultur, von der alles Heutige ausgegangen ist

Das Buch zum Thema: Lorenzo Ravagli, Unter Hammer und Hakenkreuz, Der völkisch-nationalsozialistische Kampf gegen die Anthroposophie


[1] »Hammer«, Nr. 445, 1. Januar 1921, S. 11-14.

[2] »Hammer«, Nr. 455, 1. Juni 1921, S. 174-175.

[3] Siehe GA 196, Dornach 1992, S. 83 f.

[4] Siehe 2. Teil.

[5] »Die Sünden der Zeit«. Romantrilogie. Teil I: »Die Sünde wider das Blut. Ein Zeitroman über die Juden- und Rassenfrage«, o.O. 1917, Selbstverlag; erste Verlagsausgabe: Leipzig 1918; Teil II: »Die Sünde wider den Geist. Ein Zeitroman über Geistlehre und Geistchristentum auf Grund eigener Erlebnisse«, Leipzig 1921; Teil III: »Die Sünde wider die Liebe. Ein Zeitroman über die sozialen und religiösen Fragen der Gegenwart«. Mit ausführlichen religionsgeschichtlichen und religionsphilosophischen Erläuterungen, Leipzig 1922.

[6] Dinter, »Die Sünde wider die Liebe«, Leipzig 1922, S. 238-239.

[7] So etwa vom Sektenbeauftragten Jan Badewien in seinem Buch »Anthroposophie«, 1985 S. 5. und Jacob, Drewes, Baumann-Bay, »Achtung Anthroposophie!«

[8] Dinter, »Die Sünde wider die Liebe«, Leipzig 1922, S. 169.

[9] Dinter, »Die Sünde wider die Liebe«, Leipzig 1922, S. 79 ff.

[10] Dinter, »Die Sünde wider die Liebe«, Leipzig 1922, S. 84.

[11] Uwe Lohalm, »Völkischer Radikalismus. Die Geschichte des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes 1919-1923«, Hamburg 1970.

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