Die Christologie ist zweifellos ein zentrales Thema im Werk Rudolf Steiners. Seit dem Erscheinen des Buches Das Christentum als mystische Tatsache gehören Wesen und Bedeutung des Christentums zu den Fragestellungen, mit welchen er sich bis zu seinem Tod in Schrift und Wort wahrscheinlich am häufigsten auseinandergesetzt hat. Dass er seit 1901 aus einer genuinen mystischen Christuserfahrung sprach, ist kaum zu überhören. Zu jedem der vier Evangelien hat er zwischen 1907 und 1912 mindestens eine Vortragsreihe gehalten. Zum Johannesevangelium drei, zur Apokalypse des Johannes zwischen 1907 und 1924 sogar vier. Außerdem fanden 1910 zahlreiche Vorträge über das Wiedererscheinen Christi in der ätherischen Welt, 1910 in München die Reihe über die Genesis, 1911 in Karlsruhe die Vorträge Von Jesus zu Christus, 1912/13 in Köln ein Zyklus über die Paulusbriefe statt und zwischen 1913 und 1914 wurden an vielen Orten die Vorstufen des Mysteriums von Golgatha und das fünfte Evangelium behandelt. Das Thema wurde auch in der Geheimwissenschaft im Umriss behandelt und noch 1923-1924 in den Leitsätzen aus einer völlig neuartigen Perspektive aufgegriffen. Die in die Tausende gehenden Einzelvorträge, die diesen Themenkreis behandeln oder berühren, können gar nicht aufgezählt werden.
Schon zwischen 1901 und 1908 finden sich im mündlichen und schriftlichen Werk eine Fülle von hermeneutischen Experimenten, Explorationen, esoterischen Aufschlüssen – und trotzdem lässt sich die einfache Frage stellen: Wer war eigentlich Christus für Steiner? War er ein hierarchisches Wesen oder die zweite Person der Trinität, der Sohn Gottes, als der er im christlichen Dogma verstanden wird? Oder möglicherweise beides? Steiner hat es seinen Zuhörern und Lesern keineswegs leicht gemacht, auf diese Frage eine Antwort zu finden. Aber dies liegt in der Natur der Sache, – schließlich haben auch die zahlreichen christlichen Gemeinschaften Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende um die Beantwortung dieser Frage gerungen und wer die Geschichte dieses Ringens verfolgt, wird sich des Eindrucks nicht erwehren können, dass sie von einer schier unüberschaubaren Fülle unvereinbarer Positionen geprägt ist.