Schon jener Brief über »Gerechtigkeit und offene Debatte«, der von Louis Begley, Jeffrey Eugenides, J. K. Rowling, Salman Rushdie, Noam Chomsky, Francis Fukuyama, Garry Kasparow und Wynton Marsalis sowie vielen weiteren unterzeichnet wurde, setzte sich gegen die wachsende Intoleranz zur Wehr, mit der anderen Meinungen begegnet werde und prangerte die Berufung auf moralische Gewissheiten an, die alle Debatten unterbinde.
Der Rigorismus, der das intellektuelle Leben im englischen Sprachraum kennzeichnet, der den freien Austausch von Meinungen, ohne den es keine liberale Gesellschaft geben kann, unterdrückt, ist längst auch nach Deutschland vorgedrungen. Die sogenannte Cancel-Culture, die besser als Unkultur moralischer Rückgratlosigkeit bezeichnet würde, macht es erforderlich, das Denken aus dem Würgegriff selbsternannter Sittenwächter einer neuen Orthodoxie zu befreien, damit es wieder zu dem wird, wozu es bestimmt ist: einem Instrument des Erkenntnisgewinns und der freien politischen Urteilsbildung. Die Autoren des englischen Briefes betonten, »wenn sie nicht selbst verteidigten, wovon ihre Arbeit abhänge«, die Freiheit der Rede und der Meinungsäußerung, »werde es niemand anderes für sie tun.« »Schlechte Ideen« so schrieben sie, würden »durch Offenlegung, Streit und Argumente« besiegt, nicht indem man sie verschweige oder wegwünsche.
Es gibt kaum ein Gebiet des öffentlichen Lebens, das von den Sprech- und Denkverboten jener Orthodoxie nicht betroffen wäre, kein Thema, über das sie nicht mit dem Verweis auf die Einigkeit der Wissenschaft, die von ihnen in Anspruch genommene Vernunft oder die Opportunität Deutungshoheit beanspruchen, überall lauern Tretminen, die es zu umgehen gilt, hängen Gesslerhüte, die gegrüßt werden wollen, wachen Blockwarte, die bereit sind, über jene herzufallen, die sich ihren willkürlichen Regeln des Sprechens und Denkens verweigern.