Das Recht auf Leben
Man könnte jetzt die Frage stellen, warum der Staat überhaupt das Leben seiner Bürgerinnen und Bürger schützen soll. Ist das nicht Privatsache? Kein Mensch wird sich doch freiwillig in Gefahr begeben. Wir müssen für so vieles mittlerweile gerade im Gesundheitsbereich eigenständig Vorsorge treffen. Das fängt bei der Wahl der Krankenversicherung und diverser Zusatzversicherungen an, geht über die Wahl der Therapie bzw. des Arztes oder Therapeuten und endet meist nicht mit der Patientenverfügung und der Vorsorgevollmacht. Der Besuch einer Arztpraxis oder eines Krankenhauses gleicht heute oft einem Crashkurs in Juristik, wenn man Dutzende von Merkblättern und Formularen durchlesen und abzeichnen muss. Und alles nur, weil unsere Rechte als Patienten respektiert werden müssen.
Und jetzt das! In der Corona-Krise dürfen wir auf einmal nicht mehr selbst entscheiden, welche Risiken wir eingehen wollen und welche lieber nicht. Das ist für viele von uns eine völlig neue Erfahrung. Wir empfinden das schnell als verdammungswürdige Eingriffe in garantierte Grundrechte. Die Formulierungen in GG Art. 2 legen aber nahe, dass diese Grundrechte sich gegenseitig begrenzen und dass wir hier zu komplexen Abwägungsentscheidungen aufgefordert sind.
Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit hat in unserem Grundgesetz Ewigkeitscharakter bekommen, und das mit Recht, wenn man bedenkt, vor welcher historischen Erfahrung es formuliert wurde. Der Parlamentarische Rat hatte es unter dem Eindruck der systematischen staatlichen Tötungen während des Nationalsozialismus in den Grundrechtskatalog aufgenommen. Es verpflichtet alle staatliche Gewalt in Deutschland. Seiner Wirkung sind z.B. die langjährigen und immer wieder aufflammenden Debatten über Schwangerschaftsabbruch, Präimplantationsdiagnostik, In-Vitro-Fertilisation, Klonverbot, Verbot der Sterbehilfe und Hirntod zu verdanken. Dies bedenke derjenige, der sich darü- ber beklagt, dass Grundrechte beschränkt würden.