»Krieg ist Frieden« beschäftigt sich mit der Bedeutung eines permanenten Kriegszustands für die Aufrechterhaltung von Elitenherrschaft. Dabei ist nebensächlich, ob der Krieg gegen einen realen oder einen imaginären Feind oder ob er überhaupt geführt wird. Entscheidend ist die Wirkung des permanenten Kriegszustandes auf das Bewusstsein der Bevölkerung und der herrschenden Eliten. Seine Funktion ist die Erzeugung von Feindbildern, die Überwachung und Auslöschung von Dissidenz und die Rechtfertigung von Mangelwirtschaft. – Neu übersetzt von Lorenzo Ravagli.
Die Goldstein-Fragmente – Krieg ist Frieden
Die Aufteilung der Welt in drei große Superstaaten war ein Ereignis, das bereits vor der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts vorauszusehen war und auch tatsächlich vorausgesehen wurde. Mit der Einverleibung Europas durch Russland und des Britischen Empires durch die Vereinigten Staaten waren bereits zwei der drei heute bestehenden Mächte – Eurasien und Ozeanien – in Erscheinung getreten.
Die dritte, Ostasien, formte sich erst nach einem weiteren Jahrzehnt verworrener Kämpfe als deutliche Einheit. Die Grenzen zwischen den drei Superstaaten sind teils willkürlich, teils schwanken sie je nach Kriegsglück, aber im Allgemeinen folgen sie geographischen Gegebenheiten. Eurasien umfasst den gesamten nördlichen Teil der europäischen und asiatischen Landmasse von Portugal bis zur Bering-Straße. Ozeanien Nord- und Südamerika, die Inseln im Atlantischen Ozean, die britischen eingeschlossen, Australasien und den südlichen Teil von Afrika. Ostasien, kleiner als die beiden anderen und mit einer weniger klaren Westgrenze, umfasst China und die südlich von ihm gelegenen Länder, die japanischen Inseln und einen großen, aber fluktuierenden Teil der Mandschurei, die Mongolei und Tibet.
In der einen oder anderen Kombination liegen diese drei Superstaaten ständig miteinander im Krieg, wie bereits in den letzten fünfundzwanzig Jahren. Aber das Wort Krieg hat eine andere Bedeutung angenommen: er ist nicht mehr der verzweifelte Vernichtungskampf der ersten Jahrzehnte des zwanzigsten Jahrhunderts. Er ist ein Waffengang mit beschränkten Zielen zwischen kriegführenden Mächten, die unfähig sind, sich gegenseitig zu vernichten, die keinen materiellen Kriegsgrund haben und durch keinen echten ideologischen Unterschied voneinander getrennt sind. Das heißt nicht, dass die Kriegsführung oder die vorherrschende Einstellung zu ihr weniger blutrünstig oder ritterlicher geworden wäre.