Wer sich für die Entwicklung von Rudolf Steiners Denken interessiert, soweit diese an den Überarbeitungen seiner Schriften ablesbar ist, hat es schon immer als Mangel empfunden, dass die Befriedigung dieses Interesses aufgrund der Nichtexistenz einer historisch-kritischen Ausgabe unnötig erschwert wurde. Mühsam musste man in Antiquariaten oder Bibliotheken nach den verschiedenen Auflagen suchen (eine Arbeit, die das Internet inzwischen etwas erleichtert) und wenn man sie erst in seinen Besitz gebracht hatte, Satz für Satz miteinander vergleichen.
Einen Schritt, um diesen Beschwernissen abzuhelfen, stellt das verdienstvolle Unternehmen Christian Clements dar, der an der Brigham University in Utah Deutsche Sprache und Kultur lehrt, die wichtigsten Schriften Steiners, mit einem synoptischen Lesartenverzeichnis versehen, herauszugeben.
So gering ausgeprägt das Bedürfnis nach einer vergleichenden Textarbeit bei den verbliebenen dogmatischen Steinerjüngern auch sein mag, so groß dürfte das Entzücken über dieses Unternehmen bei denjenigen sein, die schon immer in der Wandlungsfähigkeit eine der Stärken dieses Geistes sahen, der wohl kaum seinesgleichen im 20. Jahrhundert hat. Dass Wandlungsfähigkeit Treue zu sich selbst nicht aus-, sondern im Falle Rudolf Steiners einschließt, zeigt der Herausgeber eindrucksvoll in seiner Einleitung zum ersten Band der »Kritischen Ausgabe« (dem 5. Band der SKA).
Dieser Band, der Steiners Schriften über Mystik, Mysterienwesen und Religionsgeschichte enthält (die »Mystik im Aufgang…« und das »Christentum als mystische Tatsache …«), besticht durch seine handwerkliche und editorische Sorgfalt, sein Schriftbild ebenso wie seinen umfangreichen Quellen- und Zitatennachweis. Die Bedeutung des Vorhabens unterstreicht die Tatsache, dass der Rudolf Steiner Verlag, der bisherige Herausgeber der Rudolf Steiner Gesamtausgabe, sich zum frommann-holzboog Verlag hinzugesellt hat, der mit seiner Bereitschaft zur Herausgabe bekundet, dass Rudolf Steiner als Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung vollends in den ehrwürdigen Hallen der Akademie angekommen ist. Was ihm Zeit seines Lebens nicht gelang: Anerkennung von Seiten des wissenschaftlichen Establishments zu erhalten, gelingt ihm nun post mortem zumindest als Objekt der Forschung.