Dass die Freiheit ein allzeit gefährdetes Gut ist, stellt gewiss keine neue Einsicht dar. Schwieriger ist es, den Stand ihrer Verwirklichung und Sicherung zu einem bestimmten Zeitpnkt in einer spezifischen Gesellschaft zu bestimmen, zumal wenn man dieser Gesellschaft selbst angehört und sich an ihren politischen Auseinandersetzungen beteiligt. Günstig könnte sich daher erweisen, die Frage aus einer anderen Perspektive als der zeitgenössischen zu betrachten. Zum Beispiel im Vorausblick auf die Gegenwart aus dem Jahr 1916.
In zwei Vorträgen, die Steiner im zweiten Kriegsjahr (1916) zu Berlin hielt, beschrieb er gewisse Tendenzen der bevorstehenden Kulturentwicklung im 20. und 21. Jahrhundert, die den Titel »gefährdete Freiheit« zu rechtfertigen scheinen.
Im ersten der beiden, am 28. März, berichtete er, wie es zu der Feindseligkeit Annie Besants ihm bzw. der anthroposophischen Bewegung gegenüber gekommen war.
Er erzählte von H.P. Blavatsky und britischen Okkultisten, die aus der Geschichte Griechenlands und Roms die Idee abgeleitet hätten, das Angelsachsentum müsse in der fünften Kulturepoche (ab der Neuzeit) die Welt beherrschen (okkulter Imperialismus). Ein Aspekt dieses okkulten Imperialismus war die Vorstellung, der britische Geist sei die »Amme« der slawischen Völker, die sich im kulturellen Kindheitszustand befänden und ebenso durch die Angelsachsen herangezogen werden müssten, wie die mittel- und westeuropäischen Völker durch den griechisch-lateinischen Geist.