Das Verständnis der Ausführungen Steiners über die »Mission« einzelner Völker und Volksgeister wird heute durch politische Sprachregelungen und Normierungen des Denkens erschwert, wenn nicht sogar verhindert. Die Begriffe »Volk«, »Volksseele« und »Volksgeist« sind durch den Missbrauch, den »völkische Tollheit« (Steiner, 17.12.1916, GA 173, S. 165) mit ihnen getrieben hat – besonders im deutschen Sprachraum – belastet. Die manchmal geradezu pathologische Ablehnung dieser Begriffe geht sogar so weit, dass manche Extremisten Deutschen den »Volkstod« wünschen, ohne zu bemerken, dass sie noch in ihrer Negation das Abgelehnte affirmieren. Eine Erläuterung dieser Begriffe und ihrer Bedeutung im Kontext von Steiners Werk scheint deshalb geboten.
Steiners Vorträge wurden am Vorabend des großen Weltbürgerkrieges gehalten, um die Zuhörer zur Besinnung auf die guten Genien der Völker aufzurufen, während die europäischen Nationen auf dem Vulkan eines hochgesteigerten Nationalismus tanzten und kurz davor standen, im Taumel des chauvinistischen Größenwahns und der entfesselten Blutgier übereinander herzufallen. Die Vorträge sollten, nach Steiners erklärter Absicht, die Völker im Bewusstsein ihrer »gemeinsamen Menschheitsmission zusammenführen«. (GA 121, 7.6.1910, S. 17, zitiert nach der Ausgabe 1982) Nur dann könnten die Angehörigen der einzelnen Völker ihren »freien, konkreten Beitrag« zu ihrer gemeinsamen Menschheitsaufgabe leisten, wenn sie sich um eine »Selbsterkenntnis ihres Volkstums« bemühten.
Die Grundintention seiner Ausführungen ist also eine universalistische. Der Einzelne, der sich um eine solche Selbsterkenntnis bemüht, kann durchschauen, was ihn an die sprach- und traditionsgebundene Sphäre kollektiver Identitäten und Mentalitäten fesselt, inwieweit diese die Entfaltung seiner individuellen Freiheit behindern und ihn davon abhalten, sich dem guten Genius seines Volkes zuzuwenden, der zwischen ihm und dem Genius der Menschheit vermittelt.