Ein Kommentar zur Vortragsreihe »Die Mission einzelner Volksseelen im Zusammenhange mit der germanisch-nordischen Mythologie« von 1910.
Die Vortragsreihe »Die Mission einzelner Volksseelen im Zusammenhange mit der germanisch-nordischen Mythologie« aus dem Jahr 1910 enthält die ausführlichste Auseinandersetzung Rudolf Steiners mit der sogenannten Rassenfrage, die – wie allgemein bekannt – zu Beginn des 20. Jahrhunderts nahezu alle Lebensgebiete beherrschte. Nicht dass Steiner sich mit dieser Frage auseinandersetzte, ist bemerkenswert, sondern wie er es getan hat. Der Vortragsreihe kommt auch insofern ein besonderes Gewicht zu, als Steiner selbst sie für die Veröffentlichung redigiert und mit einer Vorrede versehen hat. (Worin genau die Bearbeitung bestand, lässt sich allerdings nicht mehr feststellen.)
Die Existenz von Rassen und Rassenunterschieden war zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine fraglos hingenommene Selbstverständlichkeit, Rasse ein Paradigma, das – ähnlich wie heute das genetische Paradigma – nahezu globale Anerkennung genoss. Dass Steiner sich innerhalb dieses Paradigmas bewegte, wenn er von der Existenz unterschiedlicher Rassen ausging, kann ihm als Angehörigen seiner Zeit kaum zum Vorwurf gemacht werden.
Dennoch hatte Steiner kein Interesse an der Ausbildung einer durchgearbeiteten Rassentheorie oder einer Weltsicht, die die unterschiedlichen Eigenschaften der Menschenrassen zu einem universellen Erklärungsmittel erhob. Für Steiner war vielmehr das Vorhandensein von Rassen oder Rassenbegriffen selbst erklärungsbedürftig. Deswegen leitet er in seinen Vorträgen die Geschichte der Völker und Kulturen, die Geschichte der Religionen und des menschlichen Bewusstseins auch nicht aus etwaigen Rasseneigenschaften ab, sondern frägt nach den Gründen, warum es überhaupt (somatische) Rassenunterschiede gibt. Er frägt danach, für welchen Bereich der menschlichen Erkenntnis bzw. für welche Epochen der menschlichen Geschichte »Rassen«begriffe Gültigkeit beanspruchen dürfen.