Gastbeitrag von Andreas Laudert
1.
Warum stellt sich auch bei einem vollkommen unnormalen Modus unseres Alltagsverhaltens relativ rasch ein Gefühl der Normalität ein? Sie heißt nun, folgt man den Worten des Gesundheitsministers, lediglich »neue Normalität«. Es ist, als käme bereits unsere Sprache nicht mehr hinterher und setzte sich nach einer Weile erschöpft auf eine Wiese und schaute in den Himmel. Es ist, als kehrte unser Denken in den eigenen vier Wänden sich selbst den Rücken, um sich nicht im Spiegel, um nicht die eigenen Gedanken erblicken zu müssen. Es ist, als wüssten wir nicht mehr, was wir denken sollen – dabei »sollen« wir gar nicht denken, wir dürfen und wir können es –, es ist, als beherrschte uns ein Gefühl, das als Sorge um die eigene Gesundheit begann und als Irritation oder Missmut angesichts des Ungehorsams anderer endete, das plötzlich von der nackten Angst zur moralischen »Vernunft« mutierte, ein Gefühl, dessen Herkunft wir nicht mehr überprüfen, weil wir mit seiner Wirkung so beschäftigt sind.
Aber auch düstere Szenarien, die jetzt ersonnen oder konkludiert werden, dürften am Ende mehr oder minder ausbleiben, oder zumindest unserem Wahrnehmen und Wahrnehmenwollen entzogen sein, weil unser Zusammenleben, unsere medialen Gesellschaften und unsere Gewohnheiten so funktionieren, dass selbst das Ungeheuerlichste sich unentwegt selbst filtert, sich selbst relativiert und am Ende nur ein paar neue Schlagworte oder Moden oder nette Kolumnen über dies und jenes hervorgebracht haben wird.
Einige Menschen werden wahrscheinlich über diese Zeit reden wie über eine unfassbar abenteuerliche Ferienreise, wo wir zwar in Gefahr gerieten, wo aber alles glimpflich ausging und wir wertvolle neue Erfahrungen sammelten. Souvenirs, kleinere oder größere Unpässlichkeiten führen wir von dort noch eine Weile mit im Gepäck, aber im Großen und Ganzen haben wir alles blendend überstanden, die Wirtschaft brummt. Wir werden uns wieder vertragen und das Kleingedruckte in den neuen Verträgen und Gesetzen hinnehmen. Wir setzen uns nicht groß damit auseinander, wir saßen schließlich monatelang genug »auseinander«. Wir werden nicht kleinlich sein wollen – im Feuilleton und in der Wissenschaft wird genug Platz für die »großen Debatten« bleiben, für die tiefergehende Aufarbeitung, für den Ernst, den wir natürlich auch ernstnehmen und honorieren und mit Preisen bedenken. Wird also alles wieder gut? Wird die Ausnahme die Regel? Wenn wir es eines Tages mit der Vorsicht mal gut sein lassen – was wird das sein: das Gute?