Das hier veröffentlichte Interview wurde ursprünglich am 20.2.2023 in kroatischer Sprache publiziert.
Portal Novosti: In Ihren Artikeln schreiben Sie über das »Post-Zeitenwende-Deutschland« und beziehen sich dabei auf den Inhalt der Rede von Bundeskanzler Scholz im Bundestag am Vorabend des Krieges in der Ukraine.
Können Sie erläutern, was diese »Wende« für die deutsche Außen- und Verteidigungspolitik in den kommenden Jahren und auch für Europa bedeutet, und wie dies mit der zunehmenden Amerikanisierung der deutschen Politik, Ideologie und Kultur zusammenhängt? (Ein vielsagendes Zitat von Ihnen lautet: »So gesehen bedeutet die Tatsache, dass der von der deutschen Regierung drei Tage nach Kriegsbeginn angekündigte Sonderhaushalt für die Verteidigung in Höhe von 100 Milliarden Euro erst in fünf Jahren seine ersten Auswirkungen vor Ort haben wird, nicht, dass er verschwendet ist; es bedeutet nur, dass er mit dem Krieg in der Ukraine als solchem nichts zu tun hat.«)
Wolfgang Streeck: Politische Slogans sind so konstruiert, dass sie unterschiedlich interpretiert werden können.
Klar ist, dass die von Scholz ausgerufene Zeitenwende ein Versprechen vor allem an die Vereinigten Staaten beinhaltet, dass Deutschland von nun an, anders als in der Vergangenheit, im Einklang mit einer Sichtweise der Welt agieren wird, die sich zwischen »dem Westen« und einem bösen Imperium aufteilt, oder besser: mehreren bösen Imperien, von Russland über China bis zum Iran, wobei die Liste noch erweitert werden könnte. (Es gibt auch verschiedene Zwischenreiche, wie Indien oder Brasilien, die wir auf unsere Seite ziehen müssen).
Zwischen uns, dem tugendhaften Imperium unter amerikanischer Führung, das in der NATO organisiert ist, und den verschiedenen bösen Imperien ist Frieden nur vorübergehend und mit Unterbrechungen möglich, und auch nur so lange, wie wir militärisch überlegen sind. Im Prinzip gehen wir und sie sich gegenseitig an die Gurgel.
Wirklicher Frieden erfordert einen Regimewechsel, der ein böses Reich zu einem Teil unseres tugendhaften Reiches macht, indem es sich zu »unseren Werten« bekehrt. Für das tugendhafte Imperium ist es legitim, alle politischen, wirtschaftlichen und militärischen Mittel einzusetzen, um eine solche Konversion herbeizuführen.
Nach der Zeitenwende wird es immer wieder Kriege geben, auf die wir vorbereitet sein müssen. Was helfen soll, ist, dass die »wertegeleitete« oder »feministische Außenpolitik« (Baerbock) eines tugendhaften Imperiums nur gerechte Kriege führt, denn Kriege gegen das Böse können nicht ungerecht sein.
Die zugrundeliegende Weltsicht ist nicht sozialdarwinistisch – die Geschichte ist kein Kampf um das »Überleben des Stärkeren« –, sondern manichäisch – die Geschichte ist also ein unerbittlicher Kampf zwischen Gut und Böse, in dem die Kräfte der Tugend ihr Möglichstes tun müssen, um über die des Bösen zu siegen. Bevor sie nicht gesiegt haben, kann es keinen wirklichen Frieden geben, sondern nur Waffenstillstände aus taktischen Gründen. Für einen wirklichen Frieden müssen wir, die Kräfte der Tugend, uns auf den Krieg vorbereiten, nicht nur, um den Feind davon abzuhalten, uns anzugreifen, sondern um ihn dazu zu bringen, sich zu bekehren und einer von uns zu werden.
Es gibt eine starke und eine schwache Version der Zeitenwende-Rhetorik.