Seit den Monografien Christoph Lindenbergs und Sergej O. Prokofieffs hat kein Autor mehr den Versuch unternommen, eine ernstzunehmende Würdigung von Leben und Werk Rudolf Steiners vorzulegen. Nach den geistigen Verwüstungen, die Helmut Zander mit seiner propagandistischen Kanonade angerichtet hat, erschien die Geschichte dieses Lebens und Werkes wie ein von Gebeinen übersätes Schlachtfeld des I. Weltkriegs. Um so mehr wird jeder, dem Zanders Erzählungen nicht die Besinnung geraubt haben, die monumentale Arbeit begrüßen, die Peter Selg unter dem unprätentiösen Titel »Rudolf Steiner 1861-1925 – Lebens- und Werkgeschichte« in drei Bänden mit einem Umfang von 2146 Seiten soeben vorgelegt hat. Selgs Monografie stellt nicht nur quantitativ Zanders pseudohistoriografisches Machwerk in den Schatten, sondern vor allen Dingen qualitativ.
Zu Recht darf man behaupten, mit Selgs dreibändigem Werk habe die Hermeneutik Rudolf Steiner wieder aus dem Abgrund der Unphilosophie heraufgeholt und beginne einen wahrhaft horizonterweiternden Dialog mit ihm. Selg versucht, »entgegen dem weitverbreiteten Gestus einer kritisch-distanzierten und vorschnell urteilenden Biographik, deren ›Maßstäbe‹ nicht diejenigen des Dargestellten, sondern des Darstellenden sind«, die von Rudolf Steiner in den verschiedenen Epochen seines Lebens »verfolgten Intentionen durch eine subtile Wahrnehmung seines Gesamtwerkes möglichst differenziert herauszuarbeiten und zur Darstellung zu bringen«. So wie sich Steiner einst bemühte, Goethes Anschauungen »rein aus Goethes Wesen, aus dem Ganzen seines Geistes zu erklären«, so strebt auch Selg nach einer Darstellung der geistigen Entwicklung und des Lebensganges Rudolf Steiners, die imstande ist, deren »tiefliegende Wahrheit« aufzudecken und »diese Wahrheit im Bewusstsein der Nachgeborenen« wiederherzustellen.