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Anthroposophie / Grundlagen / Einleitungen / Goethe und die moderne Naturwissenschaft

XVI.1 Goethe und die moderne Naturwissenschaft

Gäbe es nicht eine Pflicht, die Wahrheit rückhaltlos zu sagen, wenn man sie erkannt zu haben glaubt, dann wären die folgenden Ausführungen wohl ungeschrieben geblieben. Das Urteil, das sie bei der heute herrschenden Richtung in den Naturwissenschaften von seiten der Fachgelehrten erfahren werden, kann für mich nicht zweifelhaft sein. Man wird in ihnen den dilettantenhaften Versuch eines Menschen sehen, einer Sache das Wort zu reden, die bei allen «Einsichtigen» längst gerichtet ist. Wenn ich mir die Geringschätzung all derer vorhalte, die sich heute allein berufen glauben, über naturwissenschaftliche Fragen zu sprechen, dann muß ich mir gestehen, daß Verlockendes im landläufigen Sinne in diesem Versuche allerdings nicht gelegen ist. Allein ich konnte mich durch diese voraussichtlichen Einwände doch nicht abschrecken lassen. Denn ich kann mir alle diese Einwände ja selbst machen und weiß daher, wie wenig stichhaltig sie sind. «Wissenschaftlich» im Sinne der modernen Naturlehre zu denken, ist nicht eben schwer. Wir haben ja vor nicht zu langer Zeit einen merkwürdigen Fall erlebt. Eduard von Hartmann trat mit seiner «Philosophie des Unbewußten» auf. Es wird heute am wenigsten dem geistvollen Verfasser dieses Buches selbst Beifalles, dessen Unvollkommenheiten zu leugnen. Aber die Denkrichtung, der wir da gegenüberstehen, ist eine eindringende, den Sachen auf den Grund gehende. Sie ergriff daher mächtig alle Geister, die nach tieferer Erkenntnis Bedürfnis hatten. Sie durchkreuzte aber die Bahnen der an der Oberfläche der Dinge tastenden Naturgelehrten. Diese lehnten sich allgemein dagegen auf. Nachdem verschiedene Angriffe von ihrer Seite ziemlich wirkungslos blieben, erschien eine Schrift von einem anonymen Verfasser: «Das Unbewußte vom Standpunkte des Darwinismus und der Deszendenztheorie» [1872], die mit aller nur denkbaren kritischen Schärfe alles gegen die neubegründete Philosophie vorbrachte, was sich vom Standpunkte moderner Naturwissenschaft gegen dieselbe sagen läßt. Diese Schrift machte Aufsehen. Die Anhänger der gegenwärtigen Richtung waren von ihr im höchsten Maße befriedigt. Sie erkannten es öffentlich an, daß der Verfasser einer der ihrigen sei und proklamierten seine Ausführungen als die ihrigen. Welche Enttäuschung mußten sie erfahren! Als sich der Verfasser wirklich nannte, war es - Ed. v. Hartmann. Damit ist aber eines mit überzeugender Kraft dargetan: es ist nicht Unbekanntschaft mit den Ergebnissen der Naturforschung, nicht Dilettantismus der Grund, der es gewissen, nach tieferer Einsicht strebenden Geistern unmöglich macht, sich der Richtung anzuschließen, welche heute sich zur herrschenden aufwerfen will. Es ist aber die Erkenntnis, daß die Wege dieser Richtung nicht die rechten sind. Der Philosophie wird es nicht schwer, sich auf den Standpunkt der gegenwärtigen Naturanschauung probeweise zu stellen. Das hat Ed. v. Hartmann durch sein Verhalten für jeden, der sehen will, unwiderleglich gezeigt. Dies zur Bekräftigung meiner oben gemachten Behauptung, daß es auch mir nicht schwer wird, die Einwände, die man wider meine Ausführungen erheben kann, mir selbst zu machen. Man sieht wohl gegenwärtig jeden für einen Dilettanten an, der überhaupt philosophisches Nachdenken über das Wesen der Dinge ernst nimmt. Eine Weltanschauung haben gilt bei unseren Zeitgenossen von der «mechanischen» oder gar bei jenen von der «positivistischen» Denkart für eine idealistische Schrulle. Begreiflich wird diese Ansicht freilich, wenn man sieht, in welcher hilflosen Unkenntnis sich diese positivistischen Denker befinden, wenn sie sich über das «Wesen der Materie», über «die Grenzen des Erkennens», über «die Natur der Atome» oder dergleichen Dinge vernehmen lassen. An diesen Beispielen kann man wahre Studien über dilettantisches Behandeln von einschneidenden Fragen der Wissenschaft machen.

Man muß den Mut haben, sich alles das gegenüber der Naturwissenschaft der Gegenwart zu gestehen, trotz der gewaltigen, bewunderungswürdigen Errungenschaften, die dieselbe Naturwissenschaft auf technischem Gebiete zu verzeichnen hat. Denn diese Errungenschaften haben mit dem wahrhaften Bedürfnis nach Naturerkenntnis nichts zu tun. Wir haben es ja gerade an Zeitgenossen erlebt, denen wir Erfindungen verdanken, deren Bedeutung für die Zukunft sich noch lange gar nicht einmal ahnen läßt, daß ihnen ein tieferes wissenschaftliches Bedürfnis abgeht. Es ist etwas ganz anderes, die Vorgänge der Natur zu beobachten, um ihre Kräfte in den Dienst der Technik zu stellen, als mit Hilfe dieser Vorgänge tiefer in das Wesen der Naturwissenschaft hineinzublicken suchen. Wahre Wissenschaft ist nur da vorhanden, wo der Geist Befriedigung seiner Bedürfnisse sucht, ohne äußeren Zweck.

Wahre Wissenschaft im höheren Sinne des Wortes hat es nur mit ideellen Objekten zu tun; sie kann nur Idealismussein. Denn sie hat ihren letzten Grund in Bedürfnissen, die aus dem Geiste stammen. Die Natur erweckt in uns Fragen, Probleme, die der Lösung zustreben. Aber sie kann diese Lösung nicht selbst liefern. Nur der Umstand, daß mit unserem Erkenntnisvermögen eine höhere Welt der Natur gegenübertritt, das schafft auch höhere Forderungen. Einem Wesen, dem diese höhere Natur nicht eigen wäre, gingen diese Probleme einfach nicht auf. Sie können daher ihre Antwort auch von keiner anderen Instanz als nur wieder von dieser höheren Natur erhalten. Wissenschaftliche Fragen sind daher wesentlich eine Angelegenheit, die der Geist mit sich selbst auszumachen hat. Sie führen ihn nicht aus seinem Elemente heraus. Das Gebiet aber, in welchem, als in seinem ureigenen, der Geist lebt und webt, ist die Idee, ist die Gedankenwelt. Gedankliche Fragen durch gedankliche Antworten erledigen, das ist wissenschaftliche Tätigkeit im höchsten Sinne des Wortes. Und alle übrigen wissenschaftlichen Verrichtungen sind zuletzt nur dazu da, diesem höchsten Zwecke zu dienen. Man nehme die wissenschaftliche Beobachtung. Sie soll uns zur Erkenntnis eines Naturgesetzes führen. Das Gesetz selbst ist rein ideell. Schon das Bedürfnis nach einer hinter den Erscheinungen waltenden Gesetzlichkeit entstammt dem Geiste. Ein ungeistiges Wesen hätte dieses Bedürfnis nicht. Nun treten wir an die Beobachtung heran! Was wollen wir durch sie denn eigentlich erreichen? Soll uns auf die in unserem Geiste erzeugte Frage von außen, durch die Sinnenbeobachtung, etwas geliefert werden, das Antwort auf dieselbe sein könnte? Nimmermehr. Denn warum sollten wir bei einer zweiten Beobachtung uns befriedigter fühlen als bei der ersten? Wäre der Geist überhaupt mit dem beobachten Objekte zufrieden, so müßte er es gleich mit dem ersten sein. Aber die eigentliche Frage ist gar nicht die nach einer zweiten Beobachtung, sondern nach der ideellen Grundlage der Beobachtungen. Was läßt diese Beobachtung für eine ideelle Erklärung zu, wie muß ich sie denken, damit sie mir möglich erscheint? Das sind die Fragen, die uns der Sinnenwelt gegenüber kommen. Ich muß aus den Tiefen meines Geistes selbst das heraussuchen, was mir der Sinnenwelt gegenüber fehlt. Wenn ich mir die höhere Natur, nach der mein Geist der sinnlichen gegenüber strebt, nicht schaffen kann, dann schafft sie mir keine Macht der äußeren Welt. Die Resultate der Wissenschaft können also nur aus dem Geiste kommen; sie können somit nur Ideen sein. Gegen diese notwendige Überlegung kann man nichts einwenden. Mit ihr ist aber der idealistische Charakter aller Wissenschaft gesichert.

Die moderne Naturwissenschaft kann ihrem ganzen Wesen nach nicht an die Idealität der Erkenntnis glauben. Denn ihr gilt die Idee nicht als das Erste, Ursprünglichste, Schöpferische, sondern als das letzte Produkt der materiellen Prozesse. Sie ist sich dabei aber des Umstandes gar nicht bewußt, daß diese ihre materiellen Prozesse nur der sinnenfällig beobachtbaren Welt angehören, die sich aber, tiefer erfaßt, ganz in Idee auflöst. Der in Betracht kommende Prozeß stellt sich nämlich der Beobachtung folgendermaßen dar: Wir nehmen mit unseren Sinnen Tatsachen wahr, Tatsachen, die ganz nach den Gesetzen der Mechanik verlaufen, dann Erscheinungen der Wärme, des Lichtes, des Magnetismus, der Elektrizität, endlich des Lebensprozesses usw. Auf der höchsten Stufe des Lebens finden wir, daß sich dasselbe bis zur Bildung von Begriffen, Ideen erhebt, deren Träger eben das menschliche Gehirn ist. Aus einer solchen Gedankensphäre erwachsend finden wir unser eigenes «Ich». Dasselbe scheint das oberste Produkt eines durch eine lange Reihe physikalischer, chemischer und organischer Vorgänge vermittelten komplizierten Prozesses zu sein. Untersuchen wir aber die ideelle Welt, die den Inhalt jenes «Ich» ausmacht, so finden wir in ihr wesentlich mehr als bloß das Endprodukt jenes Prozesses. Wir finden, daß die einzelnen Teile derselben in einer ganz anderen Weise miteinander verknüpft sind, als die Teile jenes bloß beobachteten Prozesses. Indem der eine Gedanke in uns auftaucht, der dann einen zweiten erfordert, finden wir, daß da ein ideeller Zusammenhang zwischen diesen zwei Objekten ist in ganz anderer Art, als wenn ich die Färbung eines Stoffes z. B. als Folge eines chemischen Agens beobachte. Es ist ja ganz selbstverständlich, daß die aufeinanderfolgenden Stadien des Gehirnprozesses im organischen Stoffwechsel ihre Quelle haben, wenngleich der Gehirnprozeß selbst der Träger jener Gedankengebilde ist. Aber warum der zweite Gedanke aus dem ersten folgt, dazu finde ich in diesem Stoffwechsel nicht, wohl aber in dem logischen Gedankenzusammenhang den Grund. In der Welt der Gedanken herrscht somit außer der organischen Notwendigkeit eine höhere ideelle. Diese Notwendigkeit nun aber, die der Geist innerhalb seiner Ideenwelt findet, diese sucht er auch in dem übrigen Universum. Denn diese Notwendigkeit ersteht uns ja nur dadurch, daß wir nicht nur beobachten, sondern auch denken. Oder, mit anderen Worten: Die Dinge erscheinen nicht mehr in einem bloß tatsächlichen Zusammenhange, sondern durch eine innere, ideelle Notwendigkeit verknüpft, wenn wir sie nicht bloß durch die Beobachtung, sondern durch den Gedanken erfassen.

Man kann demgegenüber nicht sagen: Was soll alles Erfassen der Erscheinungswelt in Gedanken, wenn die Dinge dieser Welt vielleicht ein solches Erfassen ihrer Natur nach gar nicht zulassen? Diese Frage kann nur der stellen, der die ganze Sache nicht in ihrem Kerne erfaßt hat. Die Welt der Gedanken lebt in unserem Inneren auf, sie tritt den sinnlich beobachtbaren Objekten gegenüber und fragt nun, welchen Bezug hat diese mir da gegenübertretende Welt zu mir selbst? Was ist sie mir gegenüber? Ich bin da mit meiner über aller Vergänglichkeit schwebenden ideellen Notwendigkeit; ich habe die Kraft in mir, mich selbst zu erklären. Wie aber erkläre ich das, was mir gegenüber auftritt?

Hier ist es, wo sich uns eine bedeutungsvolle Frage beantwortet, die z. B. Friedrich Theodor Vischer wiederholt aufgeworfen und für den Angelpunkt alles philosophischen Nachdenkens erklärt hat: jene nach dem Zusammenhange von Geist und Natur. Was besteht für ein Verhältnis zwischen diesen beiden, uns stets voneinander geschieden erscheinenden Wesenheiten? Wenn man diese Frage recht aufwirft, dann ist ihre Beantwortung nicht so schwierig, wie es scheint. Was kann die Frage denn nur für einen Sinn haben? Dieselbe wird ja nicht von einem Wesen gestellt, das über Natur und Geist als dritter stünde und von diesem seinem Standpunkte aus jenen Zusammenhang untersuchte, sondern von der einen der beiden Wesenheiten, von dem Geiste, selbst. Der letztere fragt: Welcher Zusammenhang besteht zwischen mir und der Natur? Das heißt aber wieder nichts anderes als: Wie kann ich mich selbst in eine Beziehung zu der mir gegenüberstehenden Natur bringen? Wie kann ich nach den in mir lebenden Bedürfnissen diese Beziehung ausdrücken? Ich lebe in Ideen; was für eine Idee entspricht der Natur, wie kann ich das, was ich als Natur anschaue, als Idee ausdrücken? Es ist, als ob wir uns oftmals durch eine verfehlte Fragestellung selbst den Weg zu einer befriedigenden Antwort verlegten. Eine richtige Frage ist aber schon eine halbe Antwort.

Der Geist sucht überall, über die Folge der Tatsachen, wie sie ihm die bloße Beobachtung liefert, hinaufzukommen und bis zu den Ideen der Dinge zu dringen. Die Wissenschaft fängt eben da an, wo das Denken anfängt. In ihren Ergebnissen liegt das in ideeller Notwendigkeit, was den Sinnen nur als Tatsachenfolge erscheint. Diese Ergebnisse sind nur scheinbar das letzte Produkt des oben geschilderten Prozesses; in Wahrheit sind sie dasjenige, was wir im ganzen Universum als die Grundlage von allem ansehen müssen. Wo sie dann für die Beobachtung erscheinen, das ist gleichgültig; denn davon hängt ja, wie wir gesehen haben, ihre Bedeutung nicht ab. Sie breiten das Netz ihrer ideellen Notwendigkeit über das ganze Universum aus.

Wir mögen von wo immer ausgehen; wenn wir geistige Kraft genug haben, treffen wir zuletzt auf die Idee.

Indem die moderne Physik dies vollständig verkennt, wird sie zu einer ganzen Reihe von Irrtümern geführt. Ich will hier nur auf einen solchen als Beispiel hinweisen.

Nehmen wir die Definition des in der Physik gewöhnlich unter den «allgemeinen Eigenschaften der Körper» angeführten Beharrungsvermögens. Dies wird gewöhnlich folgendermaßen definiert: Kein Körper kann ohne äußere Ursache den Zustand der Bewegung, in dem er sich befindet, verändern. Diese Definition erweckt die Vorstellung, als wenn der Begriff des an sich trägen Körpers aus der Erscheinungswelt abstrahiert wäre. Und Mill, der nirgends auf die Sache selbst eingeht, sondern zum Behufe einer erzwungenen Theorie alles auf den Kopf stellt, würde keinen Augenblick anstehen, die Sache auch so zu erklären. Dies ist aber doch ganz unrichtig. Der Begriff des trägen Körpers entsteht rein durch eine begriffliche Konstruktion. Indem ich das im Raume Ausgedehnte «Körper» nenne, kann ich mir solche Körper vorstellen, deren Veränderungen von äußeren Einflüssen herrühren und solche, bei denen sie aus eigenem Antrieb geschehen. Finde ich nun in der Außenwelt etwas, was meinem gebildeten Begriffe: «Körper, der sich nicht ohne äußeren Antrieb verändern kann» entspricht, so nenne ich diesen trage oder dem Gesetzt des Beharrungsvermögens unterworfen. Meine Begriffe sind nicht aus der Sinnenwelt abstrahiert, sondern frei aus der Idee konstruiert, und mit ihrer Hilfe finde ich mich erst in der Sinnenwelt zurecht. Die obige Definition könnte nur lauten: Ein Körper, der nicht aus sich selbst heraus seinen Bewegungszustand ändern kann, heißt ein träger. Und wenn ich ihn als solchen erkannt habe, dann kann ich alles, was mit einem trägen Körper zusammenhängt, auch auf den in Rede stehenden anwenden.

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