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Anthroposophie / Grundlagen / Einleitungen / Der Goethesche Raumbegriff

XVI.5 Der Goethesche Raumbegriff

Da nur bei einer mit der Goetheschen ganz zusammenfallenden Anschauung vom Raume ein volles Verständnis seiner physikalischen Arbeiten möglich ist, so wollen wir hier dieselbe entwickeln. Wer zu dieser Anschauung kommen will, der muß aus unseren bisherigen Ausführungen folgende Überzeugung gewonnen haben: 1. Die Dinge, die uns in der Erfahrung als einzelne gegenübertreten, haben einen inneren Bezug aufeinander. Sie sind in Wahrheit durch ein einheitliches Weltenband zusammengehalten. Es lebt in ihnen allen ein gemeinsames Prinzip. 2. Wenn unser Geist an die Dinge herantritt und das Getrennte durch ein geistiges Band zu umfassen strebt, so ist die begriffliche Einheit, die er herstellt, den Objekten nicht äußerlich, sondern sie ist herausgeholt aus der inneren Wesenheit der Natur selbst. Die menschliche Erkenntnis ist kein außer den Dingen sich abspielender, aus bloßer subjektiver Willkür entspringender Prozeß, sondern, was da in unserem Geist als Naturgesetz auftritt, was sich in unserer Seele auslebt, das ist der Herzschlag des Universums selbst.

Zu unserem jetzigen Zwecke wollen wir die alleräußerlichste Beziehung, die unser Geist zwischen den Objekten der Erfahrung herstellt, einer Betrachtung unterziehen. Wir betrachten den einfachsten Fall, in dem uns die Erfahrung zu einer geistigen Arbeit auffordert. Es seien zwei einfache Elemente der Erscheinungswelt gegeben. Um unsere Untersuchung nicht zu komplizieren, nehmen wir möglichst Einfaches, z. B. zwei leuchtende Punkte. Wir wollen ganz davon absehen, daß wir vielleicht in jedem dieser leuchtenden Punkte selbst schon etwas ungeheuer Kompliziertes vor uns haben, das unserem Geiste eine Aufgabe stellt. Wir wollen auch von der Qualität der konkreten Elemente der Sinnenwelt, die wir vor uns haben, absehen und ganz allein den Umstand in Betracht ziehen, daß wir zwei voneinander abgesonderte, d. h. für die Sinne abgesondert erscheinende Elemente vor uns haben. Zwei Faktoren, die jeder für sich geeignet sind, auf unsere Sinne einen Eindruck zu machen: das ist alles, was wir voraussetzen. Wir wollen ferner annehmen, daß das Dasein des einen dieser Faktoren jenes des anderen nicht ausschließt. Ein Wahrnehmungsorgan kann beide wahrnehmen.

Wenn wir nämlich annehmen, daß das Dasein des einen Elementes in irgendeiner Weise abhängig von dem des anderen ist, so stehen wir vor einem von unserem jetzigen verschiedenen Problem. Ist das Dasein von B ein solches, daß es das Dasein von A ausschließt und doch von ihm seinem Wesen nach abhängig ist, dann müssen A und B in einem Zeitverhältnis stehen. Denn die Abhängigkeit des B von A bedingt, wenn man sich gleichzeitig vorstellt, daß das Dasein von B jenes von A ausschließt, daß dies letztere dem ersteren vorangeht. Doch das gehört auf ein anderes Blatt.

Für unseren jetzigen Zweck wollen wir ein solches Verhältnis nicht annehmen. Wir setzen voraus, daß die Dinge, mit denen wir es zu tun haben, sich hinsichtlich ihres Daseins nicht ausschließen, sondern vielmehr miteinander bestehende Wesenheiten sind. Wenn von jeder durch die innere Natur geforderten Beziehung abgesehen wird, so bleibt nur dies übrig, daß überhaupt ein Bezug der Sonderqualitäten besteht, daß ich von der einen auf die andere übergehen kann. Ich kann von dem einen Erfahrungselement zum zweiten gelangen. Für niemanden kann ein Zweifel darüber bestehen, was das für ein Verhältnis sein kann, das ich zwischen Dingen herstelle, ohne auf ihre Beschaffenheit, auf ihr Wesen selbst einzugehen. Wer sich fragt, welcher Übergang von einem Dinge zum anderen gefunden werden kann, wenn dabei das Ding selbst gleichgültig bleibt, der muß sich darauf unbedingt die Antwort geben:

der Raum. Jedes andere Verhältnis muß sich auf die qualitative Beschaffenheit dessen gründen, was gesondert im Weltendasein auftritt. Nur der Raum nimmt auf gar nichts anderes Rücksicht als darauf, daß die Dinge eben gesonderte sind. Wenn ich überlege: A ist oben, B unten, so bleibt mir völlig gleichgültig, was A und B sind. Ich verbinde mit ihnen gar keine andere Vorstellung, als daß sie eben getrennte Faktoren der von mir mit den Sinnen aufgefaßten Welt sind.

Was unser Geist will, wenn er an die Erfahrung herantritt, das ist: er will die Sonderheit überwinden, er will aufzeigen, daß in dem Einzelnen die Kraft des Ganzen zu sehen ist. Bei der räumlichen Anschauung will er sonst gar nichts überwinden, als die Besonderheit als solche. Er will die allerallgemeinste Beziehung herstellen. Daß A und B jedes nicht eine Welt für sich sind, sondern einer Gemeinsamkeit angehören, das sagt die räumliche Betrachtung. Dies ist der Sinn des Nebeneinander. Wäre ein jedes Ding ein Wesen für sich, dann gebe es kein Nebeneinander. Ich könnte überhaupt einen Bezug der Wesen aufeinander nicht herstellen.

Wir wollen nun untersuchen, was weiteres aus dieser Herstellung einer äußeren Beziehung zweier Besonderheiten folgt. Zwei Elemente kann ich nur auf eine Art in solcher Beziehung denken. Ich denke A neben B. Dasselbe kann ich nun mit zwei anderen Elementen der Sinnenwelt C und D machen. Ich habe dadurch einen konkreten Bezug zwischen A und B und einen solchen zwischen C und D festgesetzt. Ich will nun von den Elementen A, B, C und D ganz absehen und nur die konkreten zwei Bezüge wieder aufeinander beziehen. Es ist klar, daß ich diese als zwei besondere Entitäten geradeso aufeinander beziehen kann, wie A und B selbst. Was ich hier aufeinander beziehe, sind konkrete Beziehungen. Ich kann sie a und b nennen. Wenn ich nun noch um einen Schritt weiter gehe, so kann ich a wieder auf b beziehen. Aber jetzt habe ich alle Besonderheit bereits verloren. Ich finde, wenn ich a betrachte, kein besonderes A und B mehr, welche aufeinander bezogen werden; ebensowenig bei b. Ich finde in beiden nichts anderes, als daß überhaupt bezogen wurde. Diese Bestimmung ist aber in a und b ganz die gleiche. Was es mir möglich machte, a und b noch auseinander zu halten, das war, daß sie auf A, B, C und D hinwiesen. Lasse ich diesen Rest von Besonderheiten weg und beziehe ich nur a und b noch aufeinander, d.h. den Umstand, daß überhaupt bezogen wurde (nicht daß etwas Bestimmtes bezogen wurde), dann bin ich wieder ganz allgemein bei der räumlichen Beziehung angekommen, von der ich ausgegangen bin. Weiter kann ich nicht mehr gehen. Ich habe das erreicht, was ich vorher angestrebt habe: der Raum selbst steht vor meiner Seele.

Hierin liegt das Geheimnis der drei Dimensionen. In der ersten Dimension beziehe ich zwei konkrete Erscheinungselemente der Sinnenwelt aufeinander; in der zweiten Dimension beziehe ich diese räumlichen Bezüge selbst aufeinander. Ich habe eine Beziehung zwischen Beziehungen hergestellt. Die konkreten Erscheinungen habe ich abgestreift, die konkreten Beziehungen sind mir geblieben. Nun beziehe ich diese selbst räumlich aufeinander. Das heißt: ich sehe ganz davon ab, daß es konkrete Beziehungen sind; dann aber muß ich ganz dasselbe, was ich in der einen finde, in der zweiten wiederfinden. Ich stelle Beziehungen zwischen Gleichem her. Jetzt hört die Möglichkeit des Beziehens auf, weil der Unterschied aufhört.

Das, was ich vorher als Gesichtspunkt meiner Betrachtung angenommen habe, die ganz äußerliche Beziehung, habe ich jetzt selbst als Sinnenvorstellung wieder erreicht; von der räumlichen Betrachtung bin ich, nachdem ich dreimal die Operation durchgeführt habe, zum Raum, d. i. zu meinem Ausgangspunkte gekommen.

Daher kann der Raum nur drei Dimensionen haben. Was wir hier mit der Raumvorstellung unternommen haben, ist eigentlich nur ein spezieller Fall der von uns immer angewendeten Methode, wenn wir an die Dinge betrachtend herantreten. Wir stellen konkrete Objekte unter einen allgemeinen Gesichtspunkt. Dadurch gewinnen wir Begriffe von den Einzelheiten; diese Begriffe betrachten wir dann selbst wieder unter den gleichen Gesichtspunkten, so daß wir dann nur mehr die Begriffe der Begriffe vor uns haben; verbinden wir auch diese noch, dann verschmelzen sie in jene ideelle Einheit, die mit nichts anderem mehr als mit sich selbst unter einen Gesichtspunkt gebracht werden könnte. Nehmen wir ein besonderes Beispiel. Ich lerne zwei Menschen kennen: A und B. Ich betrachte sie unter dem Gesichtspunkte der Freundschaft. In diesem Falle werde ich einen ganz bestimmten Begriff a von der Freundschaft der beiden Leute bekommen. Ich betrachte nun zwei andere Menschen, C und D, unter dem gleichen Gesichtspunkte. Ich bekomme einen anderen Begriff b von dieser Freundschaft. Nun kann ich weiter gehen und diese beiden Freundschaftsbegriffe aufeinander beziehen. Was mir da übrig bleibt, wenn ich von dem Konkreten, das ich gewonnen habe, absehe, ist der Begriff der Freundschaft überhaupt. Diesen kann ich aber realiter auch erhalten, wenn ich die Menschen E und F unter dem gleichen Gesichtspunkte und ebenso G und H betrachte. In diesem wie in unzähligen anderen Fällen kann ich den Begriff der Freundschaft überhaupt erhalten. Alle diese Begriffe sind aber dem Wesen nach miteinander identisch; und wenn ich sie unter dem gleichen Gesichtspunkte betrachte, dann stellt sich heraus, daß ich eine Einheit gefunden habe. Ich bin wieder zu dem zurückgekehrt, wovon ich ausgegangen bin.

Der Raum ist also die Ansicht von Dingen, eine Art, wie unser Geist sie in eine Einheit zusammenfaßt. Die drei Dimensionen verhalten sich dabei in folgender Weise. Die erste Dimension stellt einen Bezug zwischen zwei Sinneswahrnehmungen her.101 Sie ist also eine konkrete Vorstellung. Die zweite Dimension bezieht zwei konkrete Vorstellungen aufeinander und geht dadurch in das Gebiet der Abstraktion über. Die dritte Dimension endlich stellt nur noch die ideelle Einheit zwischen den Abstraktionen her. Es ist also ganz unrichtig, die drei Dimensionen des Raumes als völlig gleichbedeutend zu nehmen. Welche die erste ist, hängt natürlich von den wahrgenommenen Elementen ab. Dann aber haben die anderen eine ganz bestimmte und andere Bedeutung als diese erste. Es war von Kant ganz irrtümlich angenommen, daß er den Raum als totum auffaßte, statt als eine begrifflich in sich bestimmbare Wesenheit.

Wir haben nun bisher vom Raume als von einem Verhältnis, einer Beziehung, gesprochen. Es fragt sich nun aber: Gibt es denn nur dieses Verhältnis des Nebeneinander? Oder ist eine absolute Ortsbestimmung für ein jedes Ding vorhanden? Dieses letztere ist natürlich durch unsere obigen Erklärungen gar nicht berührt. Untersuchen wir aber einmal, ob es ein solches Ortsverhältnis, ein ganz bestimmtes «Da» auch gibt. Was bezeichne ich in Wirklichkeit, wenn ich von einem solchen «Da» spreche? Doch nichts anderes, als daß ich einen Gegenstand angebe, dem der eigentlich in Frage kommende unmittelbar benachbart ist. «Da» heißt in Nachbarschaft von einem durch mich bezeichneten Objekte. Damit ist aber die absolute Ortsangabe auf ein Raumverhältnis zurückgeführt. Die angedeutete Untersuchung entfällt somit.

Werfen wir nun noch ganz bestimmt die Frage auf: Was ist nach den vorausgegangenen Untersuchungen der Raum? Nichts anderes als eine in den Dingen liegende Notwendigkeit, ihre Besonderheit in ganz äußerlicher Weise, ohne auf ihre Wesenheit einzugehen, zu überwinden und sie in eine Einheit, schon als solche äußerliche, zu vereinigen. Der Raum ist also eine Art, die Welt als eine Einheit zu erfassen. Der Raum ist eine Idee. Nicht, wie Kant glaubte, eine Anschauung.


101 Sinneswahrnehmung bedeutet hier dasselbe, was Kant Empfindung nennt.

 

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