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Anthroposophie / Grundlagen / Einleitungen / Goethe gegen den Atomismus

XVII. Goethe gegen den Atomismus

Es ist heute viel die Rede von der fruchtbaren Entwicklung der Naturwissenschaften im neunzehnten Jahrhundert. Ich glaube, man kann mit Recht nur von bedeutungsvollen naturwissenschaftlichen Erfahrungen sprechen, die gemacht worden sind, und von einer Umgestaltung der praktischen Lebensverhältnisse durch diese Erfahrungen. Was aber die Grundvorstellungen betrifft, durch welche die moderne Naturanschauung die Erfahrungswelt zu begreifen sucht, so halte ich diese für ungesund und einem energischen Denken gegenüber für unzulänglich. Ich habe mich darüber bereits auf S. 258 ff. dieser Schrift ausgesprochen. In jüngster Zeit hat nun ein namhafter Natur-forscher der Gegenwart, der Chemiker Wilhelm Ostwald dieselbe Ansicht geäußert.102 Er sagt: «Vom Mathematiker bis zum praktischen Arzt wird jeder naturwissenschaftlich denkende Mensch auf die Frage, wie er sich die Welt <im Innern> gestaltet denkt, seine Ansicht dahin zusammenfassen, daß die Dinge sich aus bewegten Atomen zusammensetzen, und daß diese Atome und die zwischen ihnen wirkenden Kräfte die letzten Realitäten seien, aus denen die einzelnen Erscheinungen bestehen. In hundertfältigen Wiederholungen kann man diesen Satz hören und lesen, daß für die physikalische Welt kein anderes Verständnis gefunden werden kann, als indem man sie auf ‹Mechanik der Atome› zurückführt; Materie und Bewegung erscheinen als die letzten Begriffe, auf welche die Mannigfaltigkeit der Naturerscheinungen bezogen werden muß. Man kann diese Auffassung den wissenschaftlichen Materialismus nennen.» Ich habe in dieser Schrift S. 258 ff. gesagt, daß die modernen physikalischen Grundanschauungen unhaltbar sind. Dasselbe spricht Ostwald (S.6. seines Vortrages) mit folgenden Worten aus: «Daß diese mechanistische Weltansicht den Zweck nicht erfüllt, für den sie ausgebildet worden ist; daß sie mit unzweifelhaften und allgemein bekannten und anerkannten Wahrheiten in Widerspruch tritt.» Die Übereinstimmung der Ausführungen Ostwalds und der meinigen geht noch weiter. Ich sage (S. 274 dieser Schrift): «Das sinnenfällige Weltbild ist die Summe sich metamorphosierender Wahrnehmungsinhalte ohne eine zugrunde liegende Materie.» Ostwald sagt (S. 12f.): «Wenn wir uns aber überlegen, daß alles, was wir von einem bestimmten Stoffe wissen, die Kenntnis seiner Eigenschaften ist, so sehen wir, daß die Behauptung, es sei ein bestimmter Stoff zwar noch vorhanden, hätte aber keine von seinen Eigenschaften mehr, von einem reinen Nonsens nicht sehr weit entfernt ist. Tatsächlich dient uns diese rein formelle Annahme nur dazu, die allgemeinen Tatsachen der chemischen Vorgänge, insbesondere die stöchiometrischen Massengesetze, mit dem willkürlichen Begriffe einer an sich unveränderten Materie zu vereinigen.» Und S. 256 dieser Schrift ist zu lesen: «Diese Erwägungen sind es, die mich dazu zwangen, jede Theorie der Natur, die prinzipiell über das Gebiet der wahrgenommenen Welt hinausgeht, als unmöglich abzulehnen und lediglich in der Sinnenwelt das einzige Objekt der Naturwissenschaft zu suchen.» Das Gleiche finde ich in Ostwalds Vortrag ausgesprochen auf S. 25 und 22: «Was erfahren wir denn von der physischen Welt? Offenbar nur das, was uns unsere Sinneswerkzeuge davon zukommen lassen.» «Realitäten, aufweisbare und meßbare Größen miteinander in bestimmte Beziehung zu setzen, so daß, wenn die einen gegeben sind, die anderen gefolgert werden können, das ist die Aufgabe der Wissenschaft und sie kann nicht durch Unterlegung irgendeines hypothetischen Bildes, sondern nur durch Nachweis gegenseitiger Abhängigkeitsbeziehungen meßbarer Größen gelöst werden.» Wenn man davon absieht, daß Ostwald im Sinne eines Naturforschers der Gegenwart spricht, und deshalb in der Sinnenwelt nichts als aufweisbare und meßbare Größen sieht, so entspricht seine Ansicht vollständig der meinigen, wie ich sie z. B. in dem Satze (S. 299) ausgesprochen habe: «Die Theorie muß sich auf das ... Wahrnehmbare erstrecken und innerhalb desselben die Zusammenhänge suchen.»

Ich habe in meinen Ausführungen über Goethes Farbenlehre den gleichen Kampf gegen die naturwissenschaftlichen Grundvorstellungen der Gegenwart geführt wie Prof. Ostwald in seinem Vortrage «Die Überwindung des wissenschaftlichen Materialismus». Was ich an die Stelle dieser Grundvorstellungen gesetzt habe, stimmt allerdings nicht überein mit den Aufstellungen Ostwalds. Denn dieser geht, wie ich weiter unten zeigen werde, von denselben oberflächlichen Voraussetzungen aus wie seine Gegner, die Anhänger des wissenschaftlichen Materialismus. Ich habe auch ausgeführt, daß die Grundvorstellungen der modernen Naturanschauung die Ursache der ungesunden Beurteilung sind, die Goethes Farbenlehre erfahren hat und noch fortwährend erfährt.

Ich möchte nun etwas genauer mich mit der modernen Naturanschauung auseinandersetzen. Aus dem Ziel, das sich diese Naturanschauung gesetzt hat, suche ich zu erkennen, ob sie eine gesunde ist oder nicht.

Nicht mit Unrecht hat man die Grundformel, nach der die moderne Naturanschauung die Welt der Wahrnehmungen beurteilt, in den Worten des Descartes gesehen: «Ich finde, wenn ich die körperlichen Dinge näher prüfe, daß darin sehr wenig enthalten ist, was ich klar und deutlich einsehe, nämlich die Größe, oder die Ausdehnung in Länge, Tiefe, Breite, die Gestalt, die von der Endigung dieser Ausdehnung herrührt, die Lage, welche die verschieden gestalteten Körper unter sich haben, und die Bewegung oder Anderung dieser Lage, welchen man die Substanz, die Dauer und Zahl hinzufügen kann. Was die übrigen Sachen betrifft, wie das Licht, die Farben, die Töne, Gerüche, Geschmacksempfindungen, Wärme, Kälte und die sonstigen, dem Tastsinn spürbaren Qualitäten (Glätte, Rauheit), so treten sie in meinem Geiste mit solcher Dunkelheit und Verworrenheit auf, daß ich nicht weiß, ob sie wahr oder falsch sind, d. h. ob die Ideen, die ich von diesen Gegenständen fasse, in der Tat die Ideen von irgendwelchen reellen Dingen sind, oder ob sie nur chimärische Wesen vorstellen, die nicht existieren können.» Im Sinne dieses Descartesschen Satzes zu denken, ist den Bekennern der modernen Naturanschauung in einem solchen Grade zur Gewohnheit geworden, daß sie jede andere Denkweise kaum der Beachtung wert finden. Sie sagen: Was als Licht wahrgenommen wird, wird durch einen Bewegungsvorgang bewirkt, der durch eine mathematische Formel ausgedrückt werden kann. Wenn eine Farbe in der Erscheinungswelt auftritt, führen sie diese zurück auf eine schwingende Bewegung und berechnen die Zahl der Schwingungen in einer bestimmten Zeit. Sie glauben, die ganze Sinnenwelt werde erklärt sein, wenn gelungen sein wird, alle Wahrnehmungen auf Verhältnisse zurückzuführen, die in solchen mathematischen Formeln sich aussprechen lassen. Ein Geist, der eine solche Erklärung geben könnte, hätte nach Ansicht dieser Naturgelehrten das Außerste erreicht, was dem Menschen in bezug auf Erkenntnis der Naturerscheinungen möglich ist. Du Bois-Reymond, ein Repräsentant dieser Gelehrten, sagt von einem solchen Geiste: Ihm «wären die Haare auf unserem Haupte gezählt, und ohne sein Wissen fiele kein Sperling zur Erde». («Über die Grenzen des Naturerkennens», [5. Aufl., Leipzig 1882] S. 13.) Die Welt zu einem Rechenexempel zu machen, ist das Ideal der modernen Naturanschauung.

Da ohne das Vorhandensein von Kräften die Teile der angenommenen Materie niemals in Bewegung geraten würden, so nehmen die modernen Naturgelehrten auch die Kraft unter die Elemente auf, aus denen sie die Welt erklären, und Du Bois-Reymond sagt: «Naturerkennen ... ist Zurückführen der Veränderungen in der Körperwelt auf Bewegungen von Atomen, die durch deren von der Zeit unabhängige Zentralkräfte bewirkt werden, oder Auflösung der Naturvorgänge in Mechanik der Atome.» [a. a. 0., S.10] Durch die Einführung des Kraftbegriffs geht die Mathematik in die Mechanik über. Die Philosophen von heute103 stehen so sehr unter dem Einfluß der Naturgelehrten, daß sie allen Mut zu selbständigem Denken verloren haben. Sie nehmen die Aufstellungen der Naturgelehrten rückhaltlos an. Einer der angesehensten deutschen Philosophen, W. Wundt, sagt in seiner «Logik» («Logik. [Eine Untersuchung der Prinzipien der Erkenntnis und die Methoden wissenschaftlicher Forschung] », II. Bd. [Methodenlehre], 1. Abt., [2. Aufl., Stuttgart1894], S. 266): «Mit Rücksicht... und in Anwendung des Grundsatzes, daß wegen der qualitativen Unveränderlichkeit der Materie alle Naturvorgänge in letzter Instanz Bewegungen sind, betrachtet man als das Ziel der Physik ihre vollständige Überführung in... angewandte Mechanik.»

Du Bois-Reymond findet: «Es ist eine psychologische Erfahrungstatsache, daß, wo solche Auflösung (der Naturvorgänge in Mechanik der Atome) gelingt, unser Kausalitätsbedürfnis vorläufig sich befriedigt fühlt.» [a. a. O., S. 10] Das mag für Du Bois-Reymond eine Erfahrungstatsache sein. Aber es muß gesagt werden, daß es noch andere Menschen gibt, die sich durch eine banale Erklärung der Körperwelt - wie Du Bois-Reymond sie im Auge hat - durchaus nicht befriedigt fühlen.

Zu diesen anderen Menschen gehört Goethe. Wessen Kausalitätsbedürfnis befriedigt ist, wenn es ihm gelungen ist, die Naturvorgänge auf Mechanik der Atome zurückzuführen, dem fehlt das Organ, um Goethe zu verstehen.

2.

Größe, Gestalt, Lage, Bewegung, Kraft usw. sind genau in demselben Sinne Wahrnehmungen wie Licht, Farben, Töne, Gerüche, Geschmacksempfindungen, Wärme, Kälte usw. Wer die Größe eines Dinges von seinen übrigen Eigenschaften absondert und für sich betrachtet, der hat es nicht mehr mit einem wirklichen Dinge, sondern mit einer Abstraktion des Verstandes zu tun. Es ist das Widersinnigste, das sich denken läßt, einem von der sinnlichen Wahrnehmung abgezogenen Abstraktum einen andern Grad von Realität zuzuschreiben als einem Dinge der sinnlichen Wahrnehmung selbst. Die Raum- und Zahlverhältnisse haben von den übrigen Sinneswahrnehmungen nichts voraus als ihre größere Einfachheit und leichtere Überschaubarkeit. Auf dieser Einfachheit und Überschaubarkeit beruht die Sicherheit der mathematischen Wissenschaften. Wenn die moderne Naturanschauung alle Vorgänge der Körperwelt auf mathematisch und mechanisch Ausdrückbares zurückführt, so beruht dies darauf, daß das Mathematische und Mechanische für unser Denken leicht und bequem zu handhaben ist. Und das menschliche Denken neigt zur Bequemlichkeit. Man kann das gerade an Ostwalds oben erwähntem Vortrage sehen. Dieser Naturgelehrte will an Stelle von Materie und Kraft die Energie setzen. Man höre: «Welches ist die Bedingung, damit eines unserer (Sinnes-) Werkzeuge sich betätigt? Wir mögen die Sache wenden, wie wir wollen, wir finden nichts Gemeinsames, als das: Die Sinneswerkzeuge reagieren auf Energieunterschiede zwischen ihnen und der Umgebung. In einer Welt, deren Temperatur überall die unseres Körpers wäre, würden wir auf keine Weise etwas von der Wärme erfahren können, ebenso wie wir keinerlei Empfindung von dem konstanten Atmosphärendrucke haben, unter dem wir leben; erst wenn wir Räume anderen Druckes herstellen, gelangen wir zu seiner Kenntnis.» (S. 25 f. des Vortrags.) Und weiter (S. 29): «Denken Sie sich, Sie bekamen einen Schlag mit einem Stocke! Was fühlen Sie dann, den Stock oder seine Energie? Die Antwort kann nur eine sein: die Energie. Denn der Stock ist das harmloseste Ding von der Welt, solange er nicht geschwungen wird. Aber wir können uns auch an einem ruhenden Stocke stoßen! Ganz richtig: was wir empfinden, sind, wie schon betont, Unterschiede der Energiezustände gegen unsere Sinnesapparate, und daher ist es gleichgültig, ob sich der Stock gegen uns oder wir uns gegen den Stock bewegen. Haben aber beide gleiche und gleichgerichtete Geschwindigkeit, so existiert der Stock für unser Gefühl nicht mehr, denn er kann nicht mit uns in Berührung kommen und einen Energieaustausch bewerkstelligen.» Diese Auslassungen beweisen, daß Ostwald die Energie aus dem Gebiete der Wahrnehmungswelt aussondert, d.h. von allem, was nicht Energie ist, abstrahiert. Er führt alles Wahrnehmbare auf eine einzige Eigenschaft des Wahrnehmbaren, auf die Außerung von Energie, also auf einen abstrakten Begriff zurück. Die Befangenheit Ostwalds in den naturwissenschaftlichen Gewohnheiten der Gegenwart ist deutlich erkennbar. Auch er könnte, wenn er gefragt würde, zur Rechtfertigung seines Verfahrens nichts anführen, als daß es für ihn eine psychologische Erfahrungstatsache ist, daß sein Kausalitätsbedürfnis befriedigt ist, wenn er die Naturvorgänge in Äußerungen der Energie aufgelöst hat. Es ist im Wesen gleichgültig: ob  Du Bois-Reymond die Naturvorgänge in Mechanik der Atome, oder Ostwald in Energieäußerungen auflöst. Beides entspringt der Neigung des menschlichen Denkens zur Bequemlichkeit.

Ostwald sagt am Schlusse seines Vortrags (S. 34): «Ist die Energie, so notwendig und nützlich sie auch zum Verständnis der Natur ist, auch zureichend für diesen Zweck (nämlich die Erklärung der Körperwelt)? Oder gibt es Erscheinungen, welche durch die bisher bekannten Gesetze der Energie nicht vollständig dargestellt werden können? ... Ich glaube der Verantwortlichkeit, die ich heute durch meine Darlegung Ihnen gegenüber eingenommen habe, nicht besser gerecht werden zu können, als wenn ich hervorhebe, daß diese Frage mit Nein zu beantworten ist. So immens die Vorzüge sind, welche die energetische Weltauffassung vor der mechanistischen oder materialistischen hat, so lassen sich schon jetzt, wie mir scheint, einige Punkte bezeichnen, welche durch die bekannten Hauptsätze der Energetik nicht gedeckt werden, und welche daher auf das Vorhandensein von Prinzipien hinweisen, die über diese hinausgehen. Die Energetik wird neben diesen neuen Sätzen bestehen bleiben. Nur wird sie künftig nicht, wie wir sie noch heute ansehen müssen, das umfassendste Prinzip für die Bewältigung der natürlichen Erscheinungen sein, sondern wird voraussichtlich als ein besonderer Fall noch allgemeinerer Verhältnisse erscheinen, von deren Form wir zurzeit allerdings kaum eine Ahnung haben.»

3.

Würden unsere Naturgelehrten auch Schriften von Leuten lesen, die außerhalb ihrer Gilde stehen, so hätte Prof. Ostwald eine Bemerkung wie diese nicht machen können. Denn ich habe bereits 1891, in der erwähnten Einleitung der Goetheschen Farbenlehre, ausgesprochen, daß wir von solchen «Formen» allerdings eine Ahnung und mehr als eine solche haben können, und daß in dem Ausbau der naturwissenschaftlichen Grundvorstellungen Goethes die Aufgabe der Naturwissenschaft der Zukunft liegt.

So wenig wie die Vorgänge der Körperwelt sich in Mechanik der Atome, so wenig lassen sie sich in Energieverhältnisse «auflösen». Durch ein solches Verfahren wird nichts weiter erreicht, als daß die Aufmerksamkeit von dem Inhalt der wirklichen Sinnenwelt abgelenkt, und einem unwirklichen Abstraktum zugewendet wird, dessen ärmlicher Fond von Eigenschaften doch auch nur aus derselben Sinnenwelt entnommen ist. Man kann nicht die eine Gruppe von Eigenschaften der Sinnenwelt: Licht, Farben, Töne, Gerüche, Geschmäcke, Wärmeverhältnisse usw. dadurch erklären, daß man sie «auflöst» in die andere Gruppe von Eigenschaften derselben Sinnenwelt: Größe, Gestalt, Lage, Zahl, Energie usw. Nicht «Auflosung» der einen Art von Eigenschaften in die andere kann Aufgabe der Naturwissenschaft sein, sondern Aufsuchung von Beziehungen und Verhältnissen zwischen den wahrnehmbaren Eigenschaften der Sinnenwelt. Wir entdecken dann gewisse Bedingungen, unter denen eine Sinneswahmehmung die andere notwendig nach sich zieht. Wir finden, daß zwischen gewissen Erscheinungen ein intimerer Zusammenhang besteht als zwischen anderen. Wir verknüpfen die Erscheinungen dann nicht mehr in der Weise, wie sie sich der zufälligen Beobachtung darbieten. Denn wir erkennen, daß gewisse Zusammenhänge von Erscheinungen notwendig sind. Ihnen gegenüber sind andere Zusammenhänge zufällig. Notwendige Zusammenhänge von Erscheinungen nennt Goethe Urphänomene.

Der Ausdruck eines Urphänomens besteht immer darin, daß man von einer bestimmten sinnlichen Wahrnehmung sagt, sie rufe notwendig eine andere hervor. Dieser Ausdruck ist das, was man ein Naturgesetz nennt. Wenn man sagt: «Durch Erwärmung wird ein Körper ausgedehnt», so hat man einen notwendigen Zusammenhang von Erscheinungen der Sinnenwelt (Wärme, Ausdehnung) zum Ausdrucke gebracht. Man hat ein Urphänomen erkannt und es in Form eines Naturgesetzes ausgesprochen. Die Urphänomene sind die von Ostwald gesuchten Formen für die allgemeinsten Verhältnisse der unorganischen Natur.

Die Gesetze der Mathematik und Mechanik sind ebenso nur Ausdrücke von Urphänomenen wie die Gesetze, die andere sinnliche Zusammenhänge in eine Formel bringen. Wenn G. Kirchhoff sagt: Die Aufgabe der Mechanik ist: «Die in der Natur vor sich gehenden Bewegungen vollständig und auf die einfachste Weise zu beschreiben», so irrt er. Die Mechanik beschreibt die in der Natur vor sich gehenden Bewegungen nicht bloß auf die einfachste Weise und vollständig, sondern sie sucht gewisse notwendige Bewegungsvorgänge auf, die sie aus der Summe der in der Natur vor sich gehenden Bewegungen heraushebt, und spricht diese notwendigen Bewegungsvorgänge als mechanische Grundgesetze aus. Es muß als ein Gipfel der Gedankenlosigkeit bezeichnet werden, daß der Kirchhoffsche Satz immer und immer wieder als etwas besonders Bedeutendes angeführt wird, ohne Gefühl davon, daß die Aufstellung des einfachsten Grundgesetzes der Mechanik ihn widerlegt.

Das Urphänomen stellt einen notwendigen Zusammenhang von Elementen der Wahrnehmungswelt dar. Es kann deshalb kaum etwas Unzutreffenderes gesagt werden, als was H. Helmholtz in seiner Rede auf der Weimarer Goethe-Versammlung vom 11. Juni 1892 vorgebracht hat: «Es ist zu bedauern, daß Goethe zu jener Zeit die von Huyghens schon aufgestellte Undtilationstheorie des Lichtes nicht gekannt hat; diese würde ihm ein viel richtigeres und anschaulicheres ‹Urphänomen› an die Hand gegeben haben, als der dazu kaum geeignete und sehr verwickelte Vorgang, den er sich in den Farben trüber Medien zu diesem Ende wählte.»104

Also die unwahrnehmbaren Undulationsbewegungen, die zu den Lichterscheinungen von den Bekennern der modernen Naturanschauung hinzugedacht werden, sollen Goethe ein viel richtigeres und anschaulicheres «Urphänomen» an die Hand gegeben haben, als der keineswegs verwickelte, sondern sich vor unseren Augen abspielende Prozeß, der darin besteht, daß Licht durch ein trübes Mittel gesehen gelb, Finsternis durch ein erhelltes Mittel gesehen blau erscheint. Die «Auflösung» der sinnlich wahrnehmbaren Vorgänge in unwahrnehmbare mechanische Bewegungen ist den modernen Physikern so sehr zur Gewohnheit geworden, daß sie gar keine Ahnung davon zu haben scheinen, daß sie ein Abstraktum an die Stelle der Wirklichkeit setzen. Aussprüche wie den Helmholtzschen wird man erst tun dürfen, wenn alle Sätze Goethes von der Art des folgenden aus der Welt geschafft sein werden: «Das Höchste wäre: zu begreifen, daß alles Faktische schon Theorie ist. Die Bläue des Himmels offenbart uns das Grundgesetz der Chromatik. Man suche nur nichts hinter den Phänomenen; sie selbst sind die Lehre.» [«Sprüche in Prosa»; Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S.376] Goethe bleibt innerhalb der Erscheinungswelt stehen; die modernen Physiker lesen einige Fetzen aus der Erscheinungswelt auf und versetzen diese hinter die Phänomene, um dann von diesen hypothetischen Realitäten die Phänomene der wirklich wahrnehmbaren Erfahrung abzuleiten.

4.

Einzelne jüngere Physiker behaupten, sie legen dem Begriffe der bewegten Materie keinen über die Erfahrung hinausgehenden Sinn bei. Einer von ihnen, der das merkwürdige Kunststück zustande bringt, Anhänger der mechanischen Naturlehre und der indischen Mystik zugleich zu sein. Anton Lampa (vgl. dessen «Nächte des Suchenden», Braunschweig 1893) bemerkt gegen die Ausführungen Ostwalds, daß dieser «einen Kampf führe, wie weiland der tapfere Manchaner gegen die Windmühlen. Wo ist denn der Riese des wissenschaftlichen (Ostwald meint naturwissenschaftlichen) Materialismus? Den gibt es ja gar nicht. Es hat einmal einen sogenannten naturwissenschaftlichen Materialismus der Herren Büchner, Vogt und Moleschott gegeben, ja gibt ihn noch, in der Naturwissenschaft selbst aber existiert er nicht, in der Naturwissenschaft war er auch nie zu Hause. Das hat Ostwald übersehen, sonst wäre er bloß gegen die mechanische Auffassungsweise zu Felde gezogen, was er zufolge seines Mißverständnisses nur nebenbei tut, was er aber ohne dieses Mißverständnis wahrscheinlich überhaupt nicht getan hätte. Kann man denn glauben, daß eine Naturforschung, welche die Bahnen wandelt, die Kirchhoff eingeschlagen, den Begriff der Materie in einem solchen Sinne fassen kann, wie der Materialismus es getan? Das ist unmöglich, das ist ein offen zutage liegender Widerspruch. Der Begriff der Materie kann, gleich wie jener der Kraft, bloß einen durch die Forderung nach einer möglichst einfachen Beschreibung präzisierten, d. h. kantisch ausgedrückt, bloß empirischen Sinn haben. Und wenn irgendein Naturforscher mit dem Worte Materie einen darüber hinausliegenden Sinn verbindet, so tut er das nicht als Naturforscher, sondern als materialistischer Philosoph.» («Die Zeit», Wien, Nr.61 vom 30. Nov. 1895).

Lampa muß, nach diesen Worten, als Typus des normalen Naturforschers der Gegenwart bezeichnet werden. Dieser wendet die mechanische Naturerklärung an, weil sie bequem zu handhaben ist. Er vermeidet es aber, über den wahren Charakter dieser Naturerklärung nachzudenken, weil er sich vor der Verwickelung in Widersprüche fürchtet, denen sein Denken sich nicht gewachsen fühlt.

Wie kann jemand, der klares Denken liebt, mit dem Begriffe der Materie einen Sinn verbinden, ohne über die Erfahrungswelt hinauszugehen? In der Erfahrungswelt sind Körper von bestimmter Größe und Lage, es sind Bewegungen und Kräfte, ferner die Phänomene des Lichtes, der Farben, der Wärme, der Elektrizität, des Lebens usw. vorhanden. Darüber, daß die Größe, die Wärme, die Farbe usw. an einer Materie haften, sagt die Erfahrung nichts aus. Aufzufinden ist die Materie innerhalb der Erfahrungswelt nirgends. Wer Materie denken will, der muß sie zu der Erfahrung hinzudenken.

Ein solches Hinzudenken der Materie zu den Erscheinungen der Erfahrungswelt ist in den physikalischen und physiologischen Erwägungen zu bemerken, die in der modernen Naturlehre unter dem Einflusse Kants und Johannes Müllers heimisch geworden sind. Diese Erwägungen haben zu dem Glauben geführt, daß die äußeren Vorgänge, die den Schall im Ohre, das Licht im Auge, die Wärme im Organe des Wärmesinnes usw. entstehen lassen, nichts gemein haben mit der Schallempfindung, der Licht- und Wärmeempfindung usw. Diese äußeren Vorgänge sollen vielmehr gewisse Bewegungen der Materie sein. Der Naturforscher untersucht dann, welche Art von äußeren Bewegungsvorgängen in der menschlichen Seele Schall, Licht, Farbe usw. entstehen lassen. Er kommt zu dem Schlusse, daß sich außerhalb des menschlichen Organismus nirgends im ganzen Weltenraum Rot, Gelb oder Blau finde, sondern daß es nur eine wellenförmige Bewegung einer feinen, elastischen Materie, des Athers, gebe, die, wenn sie durch das Auge empfunden wird, sich als Rot, Gelb oder Blau darstellt. Wenn kein empfindendes Auge vorhanden wäre, so wäre auch keine Farbe, sondern nur bewegter Ather vorhanden, meint der moderne Naturlehrer. Der Äther sei das Objektive, die Farbe bloß etwas Subjektives, im menschlichen Körper Gebildetes. Der Leipziger Professor Wundt, den man zuweilen als einen der größten Philosophen der Gegenwart preisen hört, sagt deshalb von der Materie, sie sei ein Substrat, «das uns niemals selbst, sondern immer nur in seinen Wirkungen anschaulich wird.» Und er findet, daß «eine widerspruchslose Erklärung der Erscheinungen erst gelingt», wenn man ein solches Substrat annimmt (Logik, II. Bd., [1. Abt., 2. Aufl.], S.445). Der Descartessche Wahn von deutlichen und verworrenen Vorstellungen ist zur grundlegenden Vorstellungsart der Physik geworden.

5.

Wessen Vorstellungsvermögen durch Descartes, Locke, Kant und die moderne Physiologie nicht vom Grund aus verdorben ist, der wird niemals begreifen, wie man Licht, Farbe, Ton, Wärme usw. bloß für subjektive Zustände des menschlichen Organismus ansehen und dennoch das Vorhandensein einer objektiven Welt von Vorgängen außerhalb des Organismus behaupten kann. Wer den menschlichen Organismus zum Erzeuger der Ton-, Wärme-, Farben- usw. -Geschehnisse macht, der muß ihn auch zum Hervorbringer der Ausdehnung, Größe, Lage, Bewegung, der Kräfte usw. machen. Denn diese mathematischen und mechanischen Qualitäten sind in Wirklichkeit mit dem übrigen Inhalte der Erfahrungswelt untrennbar verbunden. Die Abtrennung der Raum-, Zahl- und Bewegungsverhältnisse, sowie der Kraftäußerungen von den Wärme-, Ton-, Farben- und den anderen Sinnesqualitäten ist nur eine Funktion des abstrahierenden Denkens. Die Gesetze der Mathematik und Mechanik beziehen sich auf abstrakte Gegenstände und Vorgänge, die von der Erfahrungswelt abgezogen sind, und können daher auch nur innerhalb der Erfahrungswelt Anwendung finden. Werden aber auch die mathematischen und mechanischen Formen und Verhältnisse für bloß subjektive Zustände erklärt, dann bleibt nichts übrig, was dem Begriffe von objektiven Dingen und Ereignissen als Inhalt dienen könnte. Und aus einem leeren Begriffe können keine Erscheinungen abgeleitet werden.

So lange die modernen Naturgelehrten und ihre Schleppträger, die modernen Philosophen, daran festhalten, daß die Sinneswahrnehmungen nur subjektive Zustände sind, die durch objektive Vorgänge hervorgerufen werden, wird ein gesundes Denken ihnen stets entgegenhalten, daß sie entweder mit leeren Begriffen spielen, oder dem Objektiven einen Inhalt zuschreiben, den sie aus der für subjektiv erklärten Erfahrungswelt entlehnen. Ich habe in einer Reihe von Schriften das Widersinnige der Behauptung von der Subjektivität der Sinnesempfindungen nachgewiesen.105

Doch ich will davon absehen, ob den Bewegungsvorgängen und den sie hervorrufenden Kräften, auf die die neuere Physik alle Naturerscheinungen zurückführt, eine andere Realitätsform zugeschrieben wird als den Sinneswahrnehmungen, oder ob das nicht der Fall ist. Ich will jetzt bloß fragen, was die mathematisch-mechanische Naturanschauung leisten kann. Anton Lampa meint («Nächte des Suchenden», S.92): «Mathematische Methode und Mathematik sind nicht identisch, denn die mathematische Methode ist durchführbar ohne Anwendung von Mathematik. Einen klassischen Beleg für diese Tatsache bieten uns innerhalb der Physik die Experimentaluntersuchungen über Elektrizität von Faraday, der kaum ein Binom zu quadrieren verstand. Die Mathematik ist ja nichts als ein Mittel, logische Operationen abzukürzen und daher in so verwickelten Fällen noch durchzuführen, wo uns das gewöhnliche logische Denken im Stich lassen würde. Aber sie leistet gleichzeitig noch viel mehr: indem jede Formel implicite ihren Werdeprozeß ausdrückt, schlägt sie eine lebendige Brücke bis zu den elementaren Erscheinungen, welche als Ausgangspunkt der Untersuchung gedient hatten. Die Methode aber, welche sich der Mathematik nicht bedienen kann - was immer der Fall ist, wenn die in die Untersuchung eingehenden Größen nicht meßbar sind - hat daher, um der mathematischen gleich zu kommen, nicht nur streng logisch zu sein, sondern auch dem Geschäft der Zurückführung auf die Grunderscheinungen eine besondere Sorgfalt zuzuwenden, da sie der mathematischen Stütze entbehrend gerade hier leicht straucheln kann; wenn sie aber dieses leistet, wird sie wohl mit Recht auf den Titel einer mathematischen Anspruch erheben, insofern damit der Grad der Exaktheit ausgedrückt werden soll.»

Ich würde mich mit Anton Lampa nicht so ausführlich beschäftigen, wenn er nicht durch einen Umstand ein besonders geeignetes Beispiel eines Naturforschers der Gegenwart wäre. Er befriedigt seine philosophischen Bedürfnisse aus der indischen Mystik und verunreinigt deshalb die mechanische Naturanschauung nicht wie andere mit allerlei philosophischen Nebenvorstellungen. Die Naturlehre, die er im Auge hat, ist sozusagen die chemisch reine Naturansicht der Gegenwart. Ich finde, daß Lampa ein Hauptkennzeichen der Mathematik gänzlich unberücksichtigt gelassen hat. Wohl schlägt jede mathematische Formel eine «lebendige Brücke» bis zu den elementaren Erscheinungen, welche als Ausgangspunkt der Untersuchungen gedient haben. Aber diese elementaren Erscheinungen sind von derselben Art wie die nichtelementaren, von denen aus die Brücke geschlagen wird. Der Mathematiker führt die Eigenschaften komplizierter Zahl- und Raumgebilde, sowie deren wechselseitige Beziehungen auf die Eigenschaften und Beziehungen der einfachsten Zahl- und Raumgebilde zurück. Ebenso macht es der Mechaniker in seinem Gebiete. Er führt zusammengesetzte Bewegungsvorgänge und Kräftewirkungen auf einfache, leicht überschaubare Bewegungen und Kräftewirkungen zurück. Dabei bedient er sich der mathematischen Gesetze, insofern Bewegungen und Kraftäußerungen durch Raumgebilde und Zahlen ausdrückbar sind. In einer mathematischen Formel, die ein mechanisches Gesetz zum Ausdruck bringt, bedeuten die einzelnen Glieder nicht mehr rein mathematische Gebilde, sondern Kräfte und Bewegungen. Die Verhältnisse, in denen diese Glieder zueinander stehen, werden nicht durch eine rein mathematische Gesetzmäßigkeit bestimmt, sondern durch die Eigenschaften der Kräfte und Bewegungen. Sobald man von diesem besonderen Inhalte der mechanischen Formeln absieht, hat man es nicht mehr mit mechanischer, sondern lediglich mit mathematischer Gesetzlichkeit zu tun. Wie die Mechanik zur reinen Mathematik, verhält sich die Physik zur Mechanik. Die Aufgabe des Physikers ist, komplizierte Vorgänge auf dem Gebiete der Farben-, Ton-, Wärmeerscheinungen, der Elektrizität, des Magnetismus usw. auf einfache Geschehnisse innerhalb der gleichen Sphäre zurückzuführen. Er hat z. B. komplizierte Farbenvorkommnisse auf die einfachsten Farbenvorkommnisse zurückzuführen. Dabei hat er sich der mathematischen und mechanischen Gesetzlichkeit zu bedienen, insofern die Farbenvorgänge in räumlich und zahlenmäßig zu bestimmenden Formen sich abspielen. Nicht die Zurückführung der Farben-, Ton- usw. -Vorgänge auf Bewegungserscheinungen und Kräfteverhältnisse innerhalb einer farb- und tonlosen Materie, sondern die Aufsuchung der Zusammenhänge innerhalb der Farben-, Ton- usw. Erscheinungen entspricht auf physikalischem Gebiete der mathematischen Methode.

Die moderne Physik überspringt die Ton-, Farben- usw. Erscheinungen als solche und betrachtet nur unveränderliche, anziehende und abstoßende Kräfte und Bewegungen im Raume. Unter dem Einflusse dieser Vorstellungsart ist die Physik heute bereits angewandte Mathematik und Mechanik geworden, und die übrigen Gebiete der Naturwissenschaft sind auf dem Wege, das Gleiche zu werden.

Es ist unmöglich, eine «lebendige Brücke» zu schlagen von der Tatsache: An diesem Orte des Raumes herrscht ein bestimmter Bewegungsvorgang der farblosen Materie, - und der andern Tatsache: Der Mensch sieht an diesem Orte Rot. Aus Bewegung kann nur wieder Bewegung abgeleitet werden. Und aus der Tatsache, daß eine Bewegung auf ein Sinnesorgan und dadurch auf das Gehirn wirkt, folgt -nach mathematischer und mechanischer Methode - nur, daß das Gehirn von der Außenwelt zu gewissen Bewegungsvorgängen veranlaßt wird, nicht aber, daß es die konkreten Töne, Farben, Wärmeerscheinungen usw. wahrnimmt. Dies hat auch Du Bois-Reymond erkannt. Man lese S. 35 f. seiner «Grenzen des Naturerkennens» (5. Aufl.): «Welche denkbare Verbindung besteht zwischen bestimmten Bewegungen bestimmter Atome in meinem Gehirn einerseits, andererseits den für mich ursprünglichen, nicht weiter definierbaren, nicht wegzuleugnenden Tatsachen: ich fühle Schmerz, fühle Lust; ich schmecke Süßes, rieche Rosenduft, höre Orgelton, sehe Rot» ... Und S.34: «Bewegung kann nur Bewegung erzeugen.» Du Bois-Reymond ist deshalb der Meinung, daß hiermit eine Grenze des Naturerkennens zu verzeichnen ist.

Der Grund, warum man die Tatsache: «ich sehe Rot» nicht aus einem bestimmten Bewegungsvorgang herleiten kann, ist, meiner Ansicht nach, leicht anzugeben. Die Qualität «Rot» und ein bestimmter Bewegungsvorgang sind in Wirklichkeit eine untrennbare Einheit. Die Trennung der beiden Geschehnisse kann nur eine begriffliche, im Verstande vollzogene sein. Der dem «Rot» entsprechende Bewegungsvorgang hat an sich keine Wirklichkeit; er ist ein Abstraktum. Die Tatsache: «ich sehe Rot» aus einem Bewegungsvorgang herleiten zu wollen, ist genau so absurd, wie die Ableitung der wirklichen Eigenschaften eines in Würfelform kristallisierten Steinsalzkörpers aus dem mathematischen Würfel. Nicht weil eine Grenze des Erkennens uns hindert, können wir aus Bewegungen keine anderen Sinnesqualitäten ableiten, sondern weil eine derartige Forderung keinen Sinn hat.

6.

Das Streben, die Farben, Töne, Wärmeerscheinungen usw. als solche zu überspringen und nur die ihnen entsprechenden mechanischen Vorgänge zu betrachten, kann nur aus dem Glauben entspringen, daß den einfachen Gesetzen der Mathematik und Mechanik ein höherer Grad von Begreiflichkeit entspricht, als den Eigenschaften und wechselseitigen Beziehungen der übrigen Gebilde der Wahrnehmungswelt. Dies ist aber durchaus nicht der Fall. Die einfachsten Eigenschaften und Verhältnisse der Raum- und Zahlgebilde werden ohne weiteres begreiflich genannt, weil sie sich leicht und vollkommen überschauen lassen. Zurückführung auf einfache, beim unmittelbaren Innewerden einleuchtende Tatbestände ist alles mathematische und mechanische Begreifen. Der Satz, daß zwei Größen, die einer dritten gleich sind, auch einander gleich sein müssen, wird durch unmittelbares Innewerden des Tatbestandes, den er ausdrückt, erkannt. In dem gleichen Sinne werden auch die einfachen Vorkommnisse der Ton- und Farbenwelt und der übrigen Sinneswahrnehmungen durch unmittelbare Anschauung erkannt.

Nur weil sie durch das Vorurteil verführt sind, daß ein einfaches mathematisches oder mechanisches Faktum begreiflicher ist, als ein elementares Vorkommnis der Ton- oder Farbenerscheinung als solches, schalten die modernen Physiker das Spezifische des Tones oder der Farbe aus den Erscheinungen aus und betrachten nur die Bewegungsvorgänge, die den Sinneswahrnehmungen entsprechen. Und weil sie Bewegungen nicht denken können ohne etwas, das sich bewegt, nehmen sie die aller sinnenfälligen Eigenschaften entkleidete Materie als Träger der Bewegungen an. Wer in diesem Vorurteil der Physiker nicht befangen ist, der muß einsehen, daß die Bewegungsvorgänge Zustände sind, die an die sinnenfälligen Qualitäten gebunden sind. Der Inhalt der wellenförmigen Bewegungen, die den Tonvorkommnissen entsprechen, sind die Tonqualitäten selbst. Das gleiche gilt für die übrigen Sinnesqualitäten. Durch unmittelbares Innewerden erkennen wir den Inhalt der oszillierenden Bewegungen der Erscheinungswelt, nicht durch Hinzudenken einer abstrakten Materie zu den Erscheinungen.

7.

Ich weiß, daß ich mit diesen Ansichten etwas ausspreche, was den Physiker-Ohren der Gegenwart ganz unmöglich klingt. Ich kann mich aber nicht auf den Standpunkt Wundts stellen, der in seiner «Logik» (II. Bd., 1. Abt. [2. Aufl. 1894]) die Denkgewohnheiten der modernen Natur-forscher für bindende logische Normen ausgibt. Die Gedankenlosigkeit, der er sich dabei schuldig macht, wird besonders an der Stelle klar, wo er den Versuch Ostwalds bespricht, an die Stelle der bewegten Materie die in oszillierender Bewegung befindliche Energie zu setzen. Wundt bringt folgendes vor: «Es ergibt sich... aus der Existenz der Interferenzerscheinungen die Notwendigkeit der Voraussetzung irgendeiner oszillierenden Bewegung. Da aber eine Bewegung ohne ein Substrat, das sich bewegt, undenkbar ist, so ist damit auch die Ableitung der Lichterscheinungen aus einem mechanischen Vorgang ein unumgängliches Erfordernis. Allerdings hat Ostwald der letzteren Annahme zu entgehen gesucht, indem er die <strahlende Energie) nicht auf die Schwingungen eines materiellen Mediums zurückführt, sondern als eine in oszillierender Bewegung befindliche Energie definiert. Gerade dieser aus einem anschaulichen und einem rein begrifflichen Bestandteil zusammengesetzte Doppelbegriff scheint mir aber schlagend zu beweisen, daß der Energiebegriff selbst eine Zerlegung fordert, die auf Elemente der Anschauung zurückführt. Eine reale Bewegung kann nur als die Ortsveränderung eines im Raume gegebenen realen Substrates definiert werden. Dieses reale Substrat kann sich uns bloß durch Kraftwirkungen, die von ihm ausgehen, oder durch Kräftefunktionen, als deren Träger wir es betrachten, verraten. Aber daß solche bloß begrifflich zu fixierende Kräftefunktionen selbst sich bewegen, dies scheint mir eine Forderung zu sein, die nicht erfüllt werden kann, ohne daß man sich irgendein Substrat hinzudenkt.» [a. a. 0., S. 410]

Der Energiebegriff Ostwalds steht der Wirklichkeit um vieles näher als das angeblich «reale» Substrat Wundts. Die Erscheinungen der Wahrnehmungswelt, Licht, Wärme, Elektrizität, Magnetismus usw., lassen sich unter den allgemeinen Begriff der Kraftleistung, d. i. der Energie bringen. Wenn Licht, Wärme usw. in einem Körper eine Veränderung hervorrufen, so ist damit eben eine Kraftleistung vollzogen. Man hat, wenn man Licht, Wärme usw. als Energie bezeichnet, von dem den einzelnen Sinnesqualitäten spezifisch Eigenen abgesehen und betrachtet eine allgemeine, ihnen gemeinsam zukommende Eigenschaft.

Diese Eigenschaft erschöpft zwar nicht alles, was in den Dingen der Wirklichkeit vorhanden ist; aber sie ist eine reale Eigenschaft dieser Dinge. Der Begriff der Eigenschaften hingegen, welche die von den Physikern und ihren philosophischen Verteidigern hypothetisch angenommene Materie haben soll, schließt einen Unsinn ein. Diese Eigenschaften sind aus der Sinnenwelt entlehnt und sollen doch einem Substrat zukommen, das nicht zur Sinnenwelt gehört.

Es ist unbegreiflich, wie Wundt behaupten kann, der Begriff «strahlende Energie» sei deshalb ein unmöglicher, weil er einen anschaulichen und einen begrifflichen Bestandteil enthalte. Der Philosoph Wundt sieht also nicht ein, daß jeder Begriff, der sich auf ein Ding der sinnlichen Wirklichkeit bezieht, notwendig einen anschaulichen und einen begrifflichen Bestandteil enthalten muß. Der Begriff «Steinsalzwürfel» hat doch den anschaulichen Bestandteil des sinnlich wahrnehmbaren Steinsalzes und den anderen rein begrifflichen, den die Stereometrie feststellt.

8.

Die Entwicklung der Naturwissenschaft in den letzten Jahrhunderten hat zur Zerstörung aller Vorstellungen geführt, durch welche diese Wissenschaft Glied einer Weltauffassung sein kann, die den höheren menschlichen Bedürfnissen genügt. Sie hat dazu geführt, daß die «modernen» wissenschaftlichen Köpfe es als absurd bezeichnen, wenn man davon spricht, daß die Begriffe und Ideen ebenso zur Wirklichkeit gehören, wie die im Raume wirkenden Kräfte und die den Raum erfüllende Materie. Begriffe und Ideen sind diesen Geistern ein Produkt des menschlichen Gehirns und nichts weiter. Noch die Scholastiker wußten, wie es um diese Sache steht. Aber die Scholastik wird von der modernen Wissenschaft verachtet. Sie wird verachtet, aber man kennt sie nicht. Man weiß vor allem nicht, was an der Scholastik gesund und was an ihr krank ist. Gesund an ihr ist, daß sie eine Empfindung dafür hatte, daß Begriffe und Ideen nicht nur Hirngespinste sind, die der menschliche Geist ersinnt, um die wirklichen Dinge zu verstehen, sondern daß sie mit den Dingen selbst etwas, ja mehr zu tun haben als Stoff und Kraft. Diese gesunde Empfindung der Scholastiker ist ein Erbstück von den großen Weltanschauungsperspektiven Platos und Aristoteles'. Krank ist an der Scholastik die Vermischung dieser Empfindung mit den Vorstellungen, die in die mittelalterliche Entwicklung des Christentums eingezogen sind. Diese Entwicklung findet den Quell alles Geistigen, also auch der Begriffe und Ideen in dem unerkennbaren, weil außerweltlichen Gott. Es hat den Glauben an etwas nötig, das nicht von dieser Welt ist. Ein gesundes menschliches Denken hält sich aber an diese Welt. Es kümmert sich um keine andere. Aber es vergeistigt zugleich diese Welt. Es sieht in Begriffen und Ideen Wirklichkeiten dieser Welt ebenso wie in den durch die Sinne wahrnehmbaren Dingen und Ereignissen. Die griechische Philosophie ist ein Ausfluß dieses gesunden Denkens. Die Scholastik nahm noch eine Ahnung dieses gesunden Denkens in sich auf. Aber sie strebte darnach, diese Ahnung im Sinne des als christlich geltenden Jenseitsglaubens umzudeuten. Nicht die Begriffe und Ideen sollten das Tiefste sein, was der Mensch in den Vorgängen dieser Welt erschaut, sondern Gott, sondern das Jenseits. Wer die Idee einer Sache erfaßt hat, den zwingt nichts, noch nach einem weiteren «Ursprung» der Sache zu suchen. Er hat das erreicht, was das menschliche Erkenntnisbedürfnis befriedigt. Aber was kümmerte die Scholastiker das menschliche Erkenntnisbedürfnis? Sie wollten retten, was sie als christliche Gottesvorstellung ansahen. Sie wollten im jenseitigen Gott den Ursprung der Welt finden, obwohl ihnen ihr Suchen nach dem Innern der Dinge nur Begriffe und Ideen lieferte.

9.

Im Verlauf der Jahrhunderte wurden die christlichen Vorstellungen wirksamer als die dunklen Empfindungen, die aus dem griechischen Altertum ererbt waren. Man verlor die Empfindung für die Wirklichkeit der Begriffe und Ideen. Man verlor damit aber auch den Glauben an den Geist selbst. Es begann die Anbetung des rein Materiellen: die Ära Newtons in der Naturwissenschaft begann. Nun war nicht mehr die Rede von der Einheit, die der Mannigfaltigkeit der Welt zugrunde liegt. Nun wurde alle Einheit geleugnet Die Einheit wurde herabgewürdigt zu einer «menschlichen» Vorstellung. In der Natur sah man nur die Vielheit, die Mannigfaltigkeit. Diese allgemeine Grundvorstellung war es, die Newton verführte, nicht eine ursprüngliche Einheit im Lichte zu sehen, sondern ein Zusammengesetztes. Goethe hat in den «Materialien zur Geschichte der Farbenlehre» einen Teil der Entwicklung naturwissenschaftlicher Vorstellungen dargelegt. Aus seiner Darstellung ist zu ersehen, daß die neuere Naturwissenschaft durch die allgemeinen Vorstellungen, deren sie sich zum Erfassen der Natur bedient, in der Farbenlehre zu ungesunden Ansichten gelangt ist. Diese Wissenschaft hat das Verständnis dafür verloren, was das Licht innerhalb der Reihe der Naturqualitäten ist. Deshalb weiß sie auch nicht, wie unter gewissen Bedingungen das Licht gefärbt erscheint, wie im Reiche des Lichtes die Farbe entsteht.


102 «Die Überwindung des wissenschaftlichen Materialismus»; Vortrag, gehalten in der 3. allgemeinen Sitzung der Versammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte zu Lübeck am 20. 9. 1895; Leipzig 1895. - Dies ist kurze Zeit, nachdem die betreffenden Äußerungen Ostwalds gemacht worden sind, geschrieben.
103 Dies ist im Beginne der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts geschrieben. Was darüber heute zu sagen ist, darüber  [vgl. Anm. S.21].
104 H. L. F. v. Helmholtz, Goethes Vorahnungen kommender wissenschaftlicher Ideen usw.; Berlin 1892, S. 34.
105 «Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung mit besonderer Rücksicht auf Schiller» (1886), Gesamtausgabe Dornach 1960; «Wahrheit und Wissenschaft. Vorspiel einer «Philosophie der Freiheit» (1892), Gesamtausgabe Dornach 1958; «Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung» (1894), Gesamtausgabe Dornach 1972.

 

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