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Anthroposophie / Grundlagen / Einleitungen / Goethe und der naturwissenschaftliche Illusionismus

XV. Goethe und der naturwissenschaftliche Illusionismus

Diese Darstellung ist nicht aus dem Grunde geschrieben worden, weil in eine Goethe-Ausgabe (in Kürschners Deutscher National-Literatur) eben auch die Farbenlehre, mit einer begleitenden Einleitung versehen, aufgenommen werden muß. Sie entstammt einem tiefen Geistesbedürfnisse des Herausgebers dieser Ausgabe. Derselbe ist von dem Studium der Mathematik und Physik ausgegangen und wurde durch die vielen Widersprüche, die das System unserer modernen Naturanschauung durchsetzen, mit innerer Notwendigkeit zur kritischen Untersuchung über die meteorologische Grundlage derselben geführt. Auf das Prinzip des strengen Erfahrungswissens wiesen ihn seine anfänglichen Studien, auf eine streng wissenschaftliche Erkenntnistheorie die Einsicht in jene Widersprüche. Gegen ein Umschlagen in rein Hegelsche Begriffskonstruktionen war er durch seinen positiven Ausgangspunkt geschützt. Er fand endlich mit Hilfe seiner erkenntnistheoretischen Studien den Grund vieler Irrtümer der modernen Naturwissenschaft in der ganz falschen Stellung, welche die letztere der einfachen Sinnesempfindung angewiesen hat. Unsere Wissenschaft verlegt alle sinnlichen Qualitäten (Ton, Farbe, Wärme usw.) in das Subjekt und ist der Meinung, daß «außerhalb» des Subjektes diesen Qualitäten nichts entspreche als Bewegungsvorgänge der Materie. Diese Bewegungsvorgänge, die das einzige im «Reiche der Natur» Existierende sein sollen, können natürlich nicht mehr wahrgenommen werden. Sie sind auf Grund der subjektiven Qualitäten erschlossen.

Nun kann aber diese Erschließung konsequentem Denken gegenüber nicht anders denn als eine Halbheit erscheinen. Bewegung ist zunächst nur ein Begriff, den wir aus der Sinnenwelt entlehnt haben, d. h. der uns nur an Dingen mit jenen sinnlichen Qualitäten entgegentritt. Wir kennen keine Bewegung außer einer solchen an Sinnesobjekten. Überträgt man nun dieses Prädikat auf nichtsinnliche Wesen, wie es die Elemente der diskontinuierlichen Materie (Atome) sein sollen, so muß man sich doch dessen klar bewußt sein, daß durch diese Übertragung einem sinnlich wahrgenommenen Attribut eine wesentlich anders als sinnlich gedachte Daseinsform beigelegt wird. Demselben Widerspruch verfällt man, wenn man zu einem wirklichen Inhalte für den zunächst ganz leeren Atombegriff kommen will. Es müssen ihm eben sinnliche Qualitäten, wenn auch noch so sublimiert, beigelegt werden. Der eine legt dem Atome Undurchdringlichkeit, Kraftwirkung, der andere Ausdehnung u. dgl. bei, kurz ein jeder irgendwelche aus der Sinnenwelt entlehnte Eigenschaften. Wenn man das nicht tut, bleibt man vollständig im Leeren.

Darin liegt die Halbheit. Man macht mitten durch das Sinnlich-Wahrnehmbare einen Strich und erklärt den einen Teil für objektiv, den anderen für subjektiv. Nur das eine ist konsequent: Wenn es Atome gibt, so sind diese einfach Teile der Materie mit den Eigenschaften der Materie und nur wegen ihrer für unsere Sinne unzugänglichen Kleinheit nicht wahrnehmbar.

Damit aber verschwindet die Möglichkeit, in der Bewegung der Atome etwas zu suchen, was als ein Objektives den subjektiven Qualitäten des Tones, der Farbe usw. gegenübergestellt werden dürfte. Und es hört auch die Möglichkeit auf, in dem Zusammenhang zwischen der Bewegung und der Empfindung des «Rot» z.B. mehr zu suchen als zwischen zwei Vorgängen, die ganz der Sinnenwelt angehören.

Für den Herausgeber war es also klar: Ätherbewegung, Atomlagerung usw. gehören auf dasselbe Blatt wie die Sinnesempfindungen selbst. Die letzteren für subjektiv zu erklären, ist nur das Ergebnis einer unklaren Reflexion. Erklärt man die sinnliche Qualität für subjektiv, so muß man es mit der Ätherbewegung geradeso tun. Wir nehmen die letztere nicht aus einem prinzipiellen Grunde nicht wahr, sondern nur deswegen, weil unsere Sinnesorgane nicht fein genug organisiert sind. Das ist aber ein rein zufälliger Umstand. Es könnte sein, daß dann die Menschheit bei zunehmender Verfeinerung der Sinnesorgane dereinst dazu käme, auch Ätherbewegungen unmittelbar wahrzunehmen. Wenn dann ein Mensch jener fernen Zukunft unsere subjektivische Theorie der Sinnesempfindungen akzeptierte, so müßte er diese Ätherbewegungen ebenso für subjektiv erklären, wie wir heute Farbe, Ton usw.

Man sieht, diese physikalische Theorie führt auf einen Widerspruch, der nicht zu beheben ist.

Eine zweite Stütze hat nun diese subjektivische Ansicht an physiologischen Erwägungen.

Die Physiologie weist nach, daß die Empfindung erst als das letzte Resultat eines mechanischen Vorgangs auftritt, der sich zuerst von dem außerhalb unserer Leibessubstanz liegenden Teil der Körperwelt den Endorganen unseres Nervensystems in den Sinnesorganen mitteilt, von hier aus bis zum obersten Zentrum vermittelt wird, um dann erst als Empfindung ausgelöst zu werden. Die Widersprüche dieser physiologischen Theorie findet man in dem Kapitel «Das ‹Urphänomen›» [s. S. 266ff. dieser Schrift] dargelegt. Als subjektiv kann man doch hier nur die Bewegungsform der Hirnsubstanz bezeichnen. Wie weit man auch in der Untersuchung der Vorgänge am Subjekte gehen mag, stets muß man auf diesem Wege im Mechanischen bleiben. Und die Empfindung wird man nirgends im Zentrum entdecken.

Es bleibt also nur die philosophische Erwägung übrig, um über die Subjektivität und Objektivität der Empfindung Aufschluß zu bekommen. Und diese liefert folgendes:

Was kann als «subjektiv» an der Wahrnehmung bezeichnet werden? Ohne eine genaue Analyse des Begriffes «subjektiv» zu haben, kann man überhaupt gar nicht vorwärtsschreiten. Die Subjektivität kann natürlich durch nichts anderes als durch sich selbst bestimmt werden. Alles, was nicht durch das Subjekt bedingt nachgewiesen werden kann, darf nicht als «subjektiv» bezeichnet werden. Nun müssen wir uns fragen: Was können wir als dem menschlichen Subjekte eigen bezeichnen? Das, was es an sich selbst durch äußere oder innere Wahrnehmung erfahren kann. Durch äußere Wahrnehmung erfassen wir die körperliche Konstitution, durch innere Erfahrung unser eigenes Denken, Fühlen und Wollen. Was ist nun in ersterer Hinsicht als subjektiv zu bezeichnen? Die Konstitution des ganzen Organismus, also auch der Sinnesorgane und des Gehirnes, die wahrscheinlich bei jedem Menschen in etwas anderer Modifikation erscheinen werden. Alles aber, was hier auf diesem Wege nachgewiesen werden kann, ist nur eine bestimmte Gestaltung in der Anordnung und Funktion der Substanzen, wodurch die Empfindung vermittelt wird. Subjektiv ist also eigentlich nur der Weg, den die Empfindung durchzumachen hat, bevor sie meine Empfindung genannt werden kann. Unsere Organisation vermittelt die Empfindung und diese Vermittlungswege sind subjektiv; die Empfindung selbst aber ist es nicht.

Nun bliebe also der Weg der inneren Erfahrung. Was erfahre ich in meinem Innern, wenn ich eine Empfindung als die meinige bezeichne? Ich erfahre, daß ich die Beziehung auf meine Individualität in meinem Denken vollziehe, daß ich mein Wissensgebiet auf diese Empfindung erstrecke; aber ich bin mir dessen nicht bewußt, daß ich den Inhalt der Empfindung erzeuge. Nur den Bezug zu mir stelle ich fest, die Qualität der Empfindung ist eine in sich begründete Tatsache.

Wo wir auch anfangen, innen oder außen, wir kommen nicht bis zur Stelle, wo wir sagen könnten: Hier ist der subjektive Charakter der Empfindung gegeben. Auf den Inhalt der Empfindung ist der Begriff «subjektiv» nicht anwendbar.

Diese Erwägungen sind es, die mich dazu zwangen, jede Theorie der Natur, die prinzipiell über das Gebiet der wahrgenommenen Welt hinausgeht, als unmöglich abzulehnen und lediglich in der Sinnenwelt das einzige Objekt der Naturwissenschaft zu suchen. Dann aber mußte ich in der gegenseitigen Abhängigkeit der Tatsachen eben dieser Sinnenwelt das suchen, was wir mit Naturgesetzen aussprechen.

Und damit war ich zu jener Ansicht von der naturwissenschaftlichen Methode gedrängt, die der Goetheschen Farbenlehre zugrunde liegt. Wer diese Erwägungen für richtig findet, der wird diese Farbenlehre mit ganz anderen Augen lesen, als die modernen Naturforscher dies tun können. Er wird sehen, daß hier nicht Goethes Hypothese der Newtons gegenübersteht, sondern daß es sich hier um die Frage handelt: Ist die heutige theoretische Physik zu akzeptieren oder nicht? Wenn nicht, dann aber muß sich auch das Licht verlieren, das diese Physik über die Farbenlehre verbreitet. Welches unsere theoretische Grundlage der Physik ist, mag der Leser aus den folgenden Kapiteln erfahren, um dann von dieser Grundlage aus Goethes Auseinandersetzungen im rechten Lichte zu sehen.

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