suche | spenden | impressum | datenschutz
Anthroposophie / Grundlagen / Einleitungen / Dogmatische und immanente Methode

X.2 Dogmatische und immanente Methode

Ein wissenschaftliches Urteil kommt dadurch zustande, daß wir entweder zwei Begriffe oder eine Wahrnehmung und einen Begriff verbinden. Von der ersteren Art ist das Urteil: Keine Wirkung ohne Ursache; von der letzteren: Die Tulpe ist eine Pflanze. Das tägliche Leben erkennt dann auch noch Urteile, wo Wahrnehmung mit Wahrnehmung verbunden wird, z. B.: Die Rose ist rot. Wenn wir ein Urteil vollziehen, so geschieht dies aus diesem oder jenem Grunde. Nun kann es über diesen Grund zwei verschiedene Ansichten geben. Die eine nimmt an, daß die sachlichen (objektiven) Gründe, warum das Urteil, das wir vollziehen, wahr ist, jenseits dessen liegen, was uns in den in das Urteil eingehenden Begriffen oder Wahrnehmungen gegeben ist. Der Grund, warum ein Urteil wahr ist, fällt nach dieser Ansicht nicht zusammen mit den subjektiven Gründen, aus denen wir dieses Urteil fällen. Unsere logischen Gründe haben nach dieser Ansicht mit den objektiven nichts zu tun. Es kann sein, daß diese Ansicht irgendeinen Weg vorschlägt, um zu den objektiven Gründen unserer Einsicht zu kommen; die Mittel, die unser erkennendes Denken hat, reichen dazu nicht aus. Für das Erkennen liegt die meine Behauptungen bedingende objektive Wesenheit in einer mir unbekannten Welt; die Behauptung mit ihren formellen Gründen (Widerspruchslosigkeit, Stützung durch verschiedene Axiome usw.) allein in der meinigen. Eine Wissenschaft, die auf dieser Anschauung beruht, ist eine dogmatische. Eine solche dogmatische Wissenschaft ist sowohl die theologisierende Philosophie, die sich auf den Offenbarungsglauben stützt, als auch die moderne Erfahrungswissenschaft; denn es gibt nicht nur ein Dogma der Offenbarung, es gibt auch ein Dogma der Erfahrung. Das Dogma der Offenbarung überliefert dem Menschen Wahrheiten über Dinge, die seinem Gesichtskreise völlig entzogen sind. Er kennt die Welt nicht, über die ihm die fertigen Behauptungen zu glauben vorgeschrieben wird. Er kann an die Gründe der letzteren nicht herankommen. Er kann daher nie eine Einsicht gewinnen, warum sie wahr sind. Er kann kein Wissen, nur einen Glauben gewinnen. Dagegen sind aber auch die Behauptungen jener Erfahrungswissenschaft bloße Dogmen, die da glaubt, daß man bei der bloßen, reinen Erfahrung stehen bleiben soll und nur deren Veränderungen beobachten, beschreiben und systematisch zusammenstellen soll, ohne sich zu den in der bloßen unmittelbaren Erfahrung noch nicht gegebenen Bedingungen zu erheben. Wir gewinnen ja die Wahrheit auch in diesem Falle nicht durch die Einsicht in die Sache, sondern sie wird uns von außen aufgedrängt. Ich sehe, was vorgeht und da ist, und registriere es; warum das so ist, das liegt im Objekte. Ich sehe nur die Folge, nicht den Grund. Das Dogma der Offenbarung beherrschte ehedem die Wissenschaft, heute tut es das Dogma der Erfahrung. Ehedem galt es als Vermessenheit, über die Gründe der geoffenbarten Wahrheiten nachzudenken; heute gilt es als Unmöglichkeit, anderes zu wissen, als was die Tatsachen aussprechen. Das »Warum sie so und nicht anders sprechen« gilt als unerfahrbar und deshalb unerreichbar.

Unsere Ausführungen haben gezeigt, daß die Annahme eines Grundes, warum ein Urteil wahr ist, neben dem, warum wir es als wahr anerkennen, ein Unding ist. Wenn wir bis zu dem Punkte vordringen, wo uns die Wesenheit einer Sache als Idee aufgeht, so erblicken wir in der letzteren etwas völlig in sich Abgeschlossenes, etwas sich selbst Stützendes und Tragendes, das gar keine Erklärung von außen mehr fordert, so daß wir dabei stehenbleiben können. Wir sehen an der Idee - wenn wir nur die Fähigkeit dazu haben -, daß sie alles, was sie konstituiert, in sich selber hat, daß wir mit ihr alles haben, wonach gefragt werden kann. Der gesamte Seinsgrund ist in der Idee aufgegangen, hat sich in sie ergossen, rückhaltlos, so daß wir ihn nirgends als in ihr zu suchen haben. In der Idee haben wir nicht ein Bild von dem, was wir zu den Dingen suchen; wir haben dieses Gesuchte selbst. Indem die Teile unserer Ideenwelt in den Urteilen zusammenfließen, ist es der eigene Inhalt derselben, der das bewirkt, nicht Gründe, die außerhalb liegen. In unserem Denken sind die sachlichen und nicht bloß die formellen Gründe für unsere Behauptungen unmittelbar gegenwärtig.

Damit ist die Ansicht abgewiesen, welche eine außerideelle absolute Realität annimmt, von denen alle Dinge einschließlich des Denkens selbst, getragen werden. Für diese Weltansicht kann der Grund zu dem Bestehenden überhaupt nicht in dem uns Erreichbaren gefunden werden. Er ist der uns vorliegenden Welt nicht eingeboren, er ist außerhalb ihrer vorhanden; ein Wesen für sich, das neben ihr besteht. Diese Ansicht kann man Realismus nennen. Sie tritt in zwei Formen auf. Sie nimmt entweder eine Vielzahl von realen Wesen an, die der Welt zum Grunde liegen (Leibniz, Herbart), oder ein einheitliches Reales (Schopenhauer). Ein solches Seiendes kann nie als mit der Idee identisch erkannt werden; es ist schon als wesensverschieden von ihr vorausgesetzt. Wer sich des klaren Sinnes der Frage nach dem Wesen der Erscheinungen bewußt wird, kann ein Anhänger dieses Realismus nicht sein. Was hat es denn für einen Sinn, nach dem Wesen der Welt zu fragen? Es hat gar keinen andern Sinn, als daß, wenn ich einem Dinge gegenübertrete, sich in mir eine Stimme geltend macht, die mir sagt, daß das Ding letzten Endes noch etwas ganz anderes ist, als was ich sinnfällig wahrnehme. Das, was es noch ist, arbeitet schon in mir, drängt in mir zur Erscheinung, während ich das Ding außer mir erblicke. Nur weil die in mir arbeitende Ideenwelt mich drängt, die mich umgebende Welt aus ihr zu erklären, fordere ich eine solche Erklärung. Für ein Wesen, in dem sich keine Ideen emporarbeiten, ist der Drang, die Dinge noch weiter zu erklären, nicht da; sie sind an der sinnfälligen Erscheinung vollbefriedigt. Die Forderung nach Erklärung der Welt geht hervor aus dem Bedürfnisse des Denkens, den für letzteres erreichbaren Inhalt mit der erscheinenden Wirklichkeit in eins zu verschmelzen, alles begrifflich zu durchdringen; das was wir sehen, hören usw., zu einem solchen zu machen, das wir verstehen. Wer diese Sätze ihrer vollen Tragweite nach in Erwägung zieht, kann unmöglich ein Anhänger des oben charakterisierten Realismus sein. Die Welt durch ein Reales, das nicht Idee ist, erklären zu wollen, ist ein solcher Widerspruch, daß man gar nicht begreift, wie es überhaupt möglich ist, daß er Anhänger gewinnen konnte. Das uns wahrnehmbare Wirkliche durch irgend etwas zu erklären, was sich innerhalb des Denkens gar nicht geltend macht, ja was grundsätzlich verschieden von dem Gedanklichen sein soll, können wir weder das Bedürfnis haben, noch ist ein solches Beginnen möglich. Erstens: Woher sollen wir das Bedürfnis haben, die Welt durch etwas zu erklären, das sich uns nirgends aufdrängt, das sich uns verbirgt? Und nehmen wir an, es trete uns entgegen, dann entsteht wieder die Frage: in welcher Form und wo? Im Denken kann es doch nicht sein. Und selbst wieder in der äußeren oder inneren Wahrnehmung? Was soll es denn dann für einen Sinn haben, die Sinneswelt durch qualitativ Gleichstehendes zu erklären. Bliebe nur noch ein Drittes: die Annahme, wir hätten ein Vermögen, das außergedankliche und realste Wesen auf anderem Wege als durch Denken und Wahrnehmung zu erreichen. Wer diese Annahme macht, ist in den Mystizismus verfallen. Wir haben uns mit ihm nicht zu befassen; denn uns geht nur das Verhältnis von Denken und Sein, von Idee und Wirklichkeit an. Für den Mystizismus muß ein Mystiker eine Erkenntnistheorie schreiben. Der Standpunkt des späteren Schelling, wonach wir mit Hilfe unserer Vernunft nur das Was des Weltinhaltes entwickeln, nicht aber das Daß erreichen können, erscheint uns als das größte Unding. Denn für uns ist das Daß die Voraussetzung des Was, und wir wüßten nicht, wie wir zu dem Was eines Dinges kommen sollten, dessen Daß nicht vorher schon sichergestellt wäre. Das Daß wohnt doch dem Inhalt meiner Vernunft schon inne, indem ich sein Was ergreife. Diese Annahme Schellings, daß wir einen positiven Weltinhalt haben können, ohne die Überzeugung, daß er existiere, und daß wir dieses Daß erst durch höhere Erfahrung gewinnen müssen, erscheint uns vor einem sich selbst verstehenden Denken so unbegreiflich, daß wir annehmen müssen, Schelling habe in seiner späteren Zeit den Standpunkt seiner Jugend, der auf Goethe einen so mächtigen Eindruck machte, selbst nicht mehr verstanden.

Es geht nicht an, höhere Daseinsformen anzunehmen als die, welche der Ideenwelt zukommen. Nur weil der Mensch oft nicht imstande ist, zu begreifen, daß das Sein der Idee ein weit höheres, volleres ist als das der wahrgenommenen Wirklichkeit, sucht er noch eine weitere Realität. Er hält das Ideen-Sein für ein Chimärenhaftes, der Durchtränkung mit dem Realen Entbehrendes und ist damit nicht zufrieden. Er kann eben die Idee in ihrer Positivität nicht erfassen, er hat sie nur als Abstraktes; er ahnt ihre Fülle, ihre innere Vollendetheit und Gediegenheit nicht. Wir müssen aber an die Bildung die Anforderung stellen, daß sie sich hinaufarbeite bis zu jenem höheren Standpunkt, wo auch ein Sein, das nicht mit Augen gesehen, nicht mit Händen gegriffen, sondern mit der Vernunft erfaßt werden muß, als Reales angesehen wird. Wir haben also eigentlich einen Idealismus begründet, der Realismus zugleich ist. Unser Gedankengang ist: das Denken drängt nach Erklärung der Wirklichkeit aus der Idee. Es verbirgt dieses Drängen in die Frage: Was ist das Wesen der Wirklichkeit? Nach dem Inhalt dieses Wesens selbst fragen wir erst am Ende der Wissenschaft, wir machen es nicht wie der Realismus, der ein Reales voraussetzt, um daraus dann die Wirklichkeit abzuleiten. Wir unterscheiden uns von dem Realismus durch das volle Bewußtsein davon, daß wir ein Mittel, die Welt zu erklären, nur in der Idee haben. Auch der Realismus hat nur dieses Mittel, aber er weiß es nicht. Er leitet die Welt aus Ideen ab, aber er glaubt, er leite sie aus einer anderen Realität her. Leibnizens Monadenwelt ist nichts als eine Ideenwelt; aber Leibniz glaubt in ihr eine höhere Realität als eine ideelle zu besitzen. Alle Realisten machen den gleichen Fehler: sie sinnen Wesen aus und werden nicht gewahr, daß sie aus der Idee nicht herauskommen. Wir haben diesen Realismus abgewiesen, weil er sich über die Ideenwesenheit seines Weltgrundes täuscht; wir haben aber auch jenen falschen Idealismus abzuweisen, der da glaubt, weil wir über die Idee nicht hinauskommen, kommen wir über unser Bewußtsein nicht hinaus, und es seien alle uns gegebenen Vorstellungen und alle Welt nur subjektiver Schein, nur ein Traum, den unser Bewußtsein träumt (Fichte). Diese Idealisten begreifen wieder nicht, daß, obzwar wir über die Idee nicht hinauskommen, wir doch in der Idee das Objektive haben, das in sich selbst und nicht im Subjekt Gegründete. Sie bedenken nicht, daß, wenn wir auch nicht aus der Einheitlichkeit des Denkens hinauskommen, wir mit dem vernünftigen Denken mitten in die volle Objektivität hineinkommen. Die Realisten begreifen nicht, daß das Objektive Idee ist, die Idealisten nicht, daß die Idee objektiv ist.

Wir haben uns noch mit den Empiristen des Sinnenfälligen zu beschäftigen, die jedes Erklären des Wirklichen durch die Idee als eine unstatthafte philosophische Deduktion ansehen und das Stehenbleiben beim Sinnlich-Faßbaren fordern. Gegen diesen Standpunkt können wir einfach das sagen, daß seine Forderung doch nur eine methodische, nur eine formelle sein kann. Wir sollen beim Gegebenen stehen bleiben, heißt doch nur: wir sollen uns das aneignen, was uns gegenübertritt. Über das Was desselben kann dieser Standpunkt am allerwenigsten etwas ausmachen; denn dieses Was muß ihm eben von dem Gegebenen selbst kommen. Wie man mit der Forderung der reinen Erfahrung zugleich fordern kann, nicht über die Sinnenwelt hinauszugehen, da doch die Idee ebenso die Forderung des Gegebenseins erfüllen kann, ist uns völlig unbegreiflich. Das positivistische Erfahrungsprinzip muß die Frage ganz offen lassen, was gegeben ist, und vereinigt sich somit ganz gut mit einem idealistischen Forschungsresultat. Dann aber ist diese Forderung ebenfalls mit der unseren zusammenfallend. Und wir vereinigen in unserer Ansicht alle Standpunkte, insofern sie Berechtigung haben. Unser Standpunkt ist Idealismus, weil er in der Idee den Weltgrund sieht; er ist Realismus, weil er die Idee als das Reale anspricht; und er ist Positivismus oder Empirismus, weil er zu dem Inhalt der Idee nicht durch apriorische Konstruktion, sondern zu ihm als einem Gegebenen kommen will. Wir haben eine empirische Methode, die in das Reale dringt und sich im idealistischen Forschungsresultat zuletzt befriedigt. Ein Schließen von einem Gegebenen als einem Bekannten auf ein zugrunde liegendes Nicht-Gegebenes, Bedingendes kennen wir nicht. Einen Schluß, wo irgendein Glied des Schlusses nicht gegeben ist, weisen wir ab. Das Schließen ist nur ein Übergehen von gegebenen Elementen zu anderen ebenso gegebenen. Wir verbinden im Schlusse a mit b durch c; aber alles das muß gegeben sein. Wenn Volkelt sagt, unser Denken drängt uns dazu, zu dem Gegebenen eine Voraussetzung zu machen und es zu überschreiten, so sagen wir: in unserem Denken drängt uns schon das, was wir zu dem unmittelbar Gegebenen hinzufügen wollen. Wir müssen daher jede Metaphysik abweisen. Die Metaphysik will ja das Gegebene durch ein Nicht-Gegebenes, Erschlossenes erklären (Wolff, Herbart). Wir sehen in dem Schließen nur eine formelle Tätigkeit, die zu nichts Neuem führt, die nur Übergänge zwischen Positiv-Vorliegendem herbeiführt.* 

System der Wissenschaft

nach Oben