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Anthroposophie / Grundlagen / Einleitungen / System der Wissenschaft

X.3 System der Wissenschaft

Welche Gestalt hat die fertige Wissenschaft im Lichte der Goetheschen Denkweise? Vor allem müssen wir festhalten, daß der gesamte Inhalt der Wissenschaft ein Gegebenes ist; teils gegeben als Sinnenwelt von außen, teils als Ideenwelt von innen. Alle unsere wissenschaftliche Tätigkeit wird also darinnen bestehen, die Form, in der uns dieser Gesamtinhalt des Gegebenen gegenübertritt, zu überwinden und zu einer uns befriedigenden zu machen. Dies ist notwendig, weil die innerliche Einheitlichkeit des Gegebenen in der ersten Form des Auftretens, wo uns nur die äußere Oberfläche erscheint, verborgen bleibt. Nun stellt sich diese methodische Tätigkeit, die einen solchen Zusammenhang herstellt, verschieden heraus, je nach den Erscheinungsgebieten, die wir bearbeiten. Der erste Fall ist folgender: Wir haben eine Mannigfaltigkeit von sinnenfällig gegebenen Elementen. Diese stehen miteinander in Wechselbeziehung. Diese Wechselbeziehung wird uns klar, wenn wir uns ideell in die Sache vertiefen. Dann erscheint uns irgendeines der Elemente durch die andern mehr oder weniger und in dieser oder jener Weise bestimmt. Die Daseinsverhältnisse des einen werden uns durch die des andern begreiflich. Wir leiten die eine Erscheinung aus der andern ab. Die Erscheinung des erwärmten Steines leiten wir als Wirkung von den erwärmenden Sonnenstrahlen, als der Ursache, ab. Was wir an dem einen Dinge wahrnehmen, haben wir da erklärt, wenn wir es aus einem andern wahrnehmbaren ableiten. Wir sehen, in welcher Weise auf diesem Gebiete das ideelle Gesetz auftritt. Es umspannt die Dinge der Sinnenwelt, steht über ihnen. Es bestimmt die gesetzmäßige Wirkungsweise des einen Dinges, indem sie sie durch ein anderes bedingt sein läßt. Wir haben hier die Aufgabe, die Reihe der Erscheinungen so zusammenzustellen, daß eine aus der andern mit Notwendigkeit hervorgeht, daß sie alle ein Ganzes, durch und durch Gesetzmäßiges ausmachen. Das Gebiet, das in dieser Weise zu erklären ist, ist die unorganische Natur. Nun treten uns in der Erfahrung die einzelnen Erscheinungen keineswegs so gegenüber, daß das Nächste im Raum und in der Zeit auch das Nächste dem innern Wesen nach ist. Wir müssen erst von dem räumlich und zeitlich Nächsten zu dem begrifflich Nächsten übergehen. Wir müssen zu einer Erscheinung die dem Wesen nach sich unmittelbar an sie anschließenden suchen. Wir müssen trachten, eine sich selbst ergänzende, sich tragende, sich gegenseitig stützende Reihe von Tatsachen zusammenzustellen. Daraus gewinnen wir eine Gruppe von aufeinander wirkenden sinnenfälligen Elementen der Wirklichkeit; und das Phänomen, das sich vor uns abwickelt, folgt unmittelbar aus den in Betracht kommenden Faktoren in durchsichtiger, klarer Weise. Ein solches Phänomen nennen wir mit Goethe Urphänomen oder Grundtatsache. Dieses Urphänomen ist identisch mit dem objektiven Naturgesetz. Die hier besprochene Zusammenstellung kann entweder bloß in Gedanken geschehen, wie wenn ich die drei bei einem waagrecht geworfenen Stein in Betracht kommenden bedingenden Faktoren denke: 1. die Stoßkraft, 2. die Anziehungskraft der Erde und 3. den Luftwiderstand, und dann die Bahn des fliegenden Steines aus diesen Faktoren ableite, oder aber: ich kann die einzelnen Faktoren wirklich zusammenbringen und dann das aus ihrer Wechselwirkung folgende Phänomen abwarten. Das ist beim Versuche der Fall. Während uns ein Phänomen der Außenwelt unklar ist, weil wir nur das Bedingte (die Erscheinung), nicht die Bedingung kennen, ist uns das Phänomen, das der Versuch liefert, klar, denn wir haben die bedingenden Faktoren selbst zusammengestellt. Das ist der Weg der Naturforschung, daß sie von der Erfahrung ausgehe, um zu sehen, was wirklich ist; zu der Beobachtung fortschreite, um zu sehen, warum dieses wirklich ist, und sich dann zum Versuche steigere, um zu sehen, was wirklich sein kann. - 

Leider scheint gerade jener Aufsatz Goethes verloren gegangen zu sein, der diesen Ansichten am besten zur Stütze dienen könnte. Er ist eine Fortsetzung des Aufsatzes: »Der Versuch als Vermittler von Subjekt und Objekt« gewesen. Wir wollen, von dem letzteren ausgehend, den möglichen Inhalt des ersteren nach der einzigen uns zugänglichen Quelle, dem Briefwechsel Goethes und Schillers, zu rekonstruieren suchen. Der Aufsatz: »Der Versuch usw.  ... « ist hervorgegangen aus jenen Studien Goethes, die er anstellte, um seine optischen Arbeiten zu rechtfertigen. Er ist dann liegen geblieben, bis der Dichter im Jahre 1798 diese Studien mit frischer Kraft aufnahm und in Gemeinschaft mit Schiller die Grundprinzipien der naturwissenschaftlichen Methode einer gründlichen und von allem wissenschaftlichen Ernst getragenen Untersuchung unterzog. Am 10. Januar 1798 (siehe Goethes Briefwechsel mit Schiller) schickte er nun den oben erwähnten Aufsatz an Schiller zur Erwägung und am 13. Januar kündigt er dem Freunde an, daß er willens sei, die dort ausgesprochenen Ansichten in einem neuen Aufsatze weiter auszuarbeiten. Dieser Arbeit unterzog er sich auch und schon am 17. Januar ging ein kleiner Aufsatz an Schiller ab, der eine Charakteristik der Methoden der Naturwissenschaft enthalten hat. Dieser Aufsatz findet sich nun in den Werken nicht. Er wäre unstreitig derjenige, der für die Würdigung von Goethes Grundanschauungen über die naturwissenschaftliche Methode die besten Anhaltspunkte gewährte. Wir können aber die Gedanken, die in demselben niedergelegt sind, aus dem ausführlichen Briefe Schillers vom 19. Januar 1798 (Briefwechsel Goethes mit Schiller) erkennen, wobei in Betracht kommt, daß wir zu dem daselbst Angedeuteten vielfache Belege und Ergänzungen in Goethes »Sprüchen in Prosa« finden.*93

Goethe unterscheidet drei Methoden der naturwissenschaftlichen Forschung. Dieselben beruhen auf drei verschiedenen Auffassungen der Phänomene. Die erste Methode ist der gemeine Empirismus, der nicht über das empirische Phänomen, über den unmittelbaren Tatbestand hinausgeht. Er bleibt bei einzelnen Erscheinungen stehen. Will der gemeine Empirismus konsequent sein, so muß er seine ganze Tätigkeit darauf beschränken, jedes ihm aufstoßende Phänomen genau nach allen Einzelheiten zu beschreiben, d. i. den empirischen Tatbestand aufzunehmen. Wissenschaft wäre ihm nur die Summe aller dieser Einzelbeschreibungen aufgenommener Tatbestände. Gegenüber dem gemeinen Empirismus bildet nun der Rationalismus die nächst höhere Stufe. Dieser geht auf das wissenschaftliche Phänomen. Diese Anschauung beschränkt sich nicht mehr auf die bloße Beschreibung der Phänomene, sondern sie sucht dieselben durch Aufdeckung der Ursachen, durch Aufstellung von Hypothesen usw. zu erklären. Es ist die Stufe, wo der Verstand aus den Erscheinungen auf deren Ursachen und Zusammenhänge schließt. Sowohl die erstere wie die letzte Methode erklärt Goethe für Einseitigkeiten. Der gemeine Empirismus ist die rohe Unwissenschaft, weil er nie aus der bloßen Auffassung der Zufälligkeiten herauskommt; der Rationalismus dagegen interpretiert in die Erscheinungswelt Ursachen und Zusammenhänge hinein, die nicht in derselben sind. Jener kann sich aus der Fülle der Erscheinungen nicht zum freien Denken erheben, dieser verliert dieselbe als den sicheren Boden unter seinen Füßen und verfällt der Willkür der Einbildungskraft und des subjektiven Einfalles. Goethe rügt die Sucht, mit Erscheinungen sogleich durch subjektive Wirkungen Folgerungen zu verbinden, mit den schärfsten Worten, so »Sprüche in Prosa«; Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 375: »Es ist eine schlimme Sache, die doch manchem Beobachter begegnet, mit einer Anschauung sogleich eine Folgerung zu verknüpfen und beide für gleichgeltend zu achten«, und: »Theorien sind gewöhnlich Übereilungen eines ungeduldigen Verstandes, der die Phänomene gern los sein möchte und an ihrer Stelle deswegen Bilder, Begriffe, ja oft nur Worte einschiebt. Man ahnet, man sieht wohl auch, daß es nur ein Behelf ist; liebt nicht aber Leidenschaft und Parteigeist jederzeit Behelfe? Und mit Recht, da sie ihrer so sehr bedürfen.« (Ebenda S. 376) Besonders tadelt Goethe den Mißbrauch, den die Kausalbestimmung veranlaßt. Der Rationalismus in seiner ungezügelten Phantastik sucht dort Kausalität, wo sie, durch die Fakten zu suchen, nicht geboten ist. In »Sprüche in Prosa« (ebenda S. 371) heißt es: »Der eingeborenste Begriff, der notwendigste, von Ursache und Wirkung, wird in der Anwendung die Veranlassung zu unzähligen sich immer wiederholenden Irrtümern.« Namentlich führt ihn seine Sucht nach einfachen Verbindungen dahin, die Phänomene wie die Glieder einer Kette nach Ursache und Wirkung rein der Länge nach aneinandergereiht zu denken; während die Wahrheit doch ist, daß irgendeine Erscheinung, die durch eine der Zeit nach frühere kausal bedingt ist, zugleich auch noch von vielen andern Einwirkungen abhängt. Es wird in diesem Falle bloß die Länge und nicht die Breite der Natur in Anschlag gebracht. Beide Wege, der gemeine Empirismus und der Rationalismus, sind nun für Goethe wohl Durchgangspunkte für die höchste wissenschaftliche Methode, aber eben nur Durchgangspunkte, die überwunden werden müssen. Und dies geschieht mit dem rationellen Empirismus, der sich mit dem reinen Phänomen, das identisch mit dem objektiven Naturgesetz ist, beschäftigt. Die gemeine Empirie, die unmittelbare Erfahrung bietet uns nur Einzelnes, Unzusammenhängendes, ein Aggregat von Erscheinungen. Das heißt, sie bietet uns das nicht als letzten Abschluß der wissenschaftlichen Betrachtung, wohl aber als erste Erfahrung. Unser wissenschaftliches Bedürfnis sucht aber nur Zusammenhängendes, begreift das Einzelne nur als Glied einer Verbindung. So gehen das Bedürfnis des Begreifens und die Tatsachen der Natur scheinbar auseinander. Im Geiste ist nur Zusammenhang, in der Natur nur Sonderung, der Geist erstrebt die Gattung, die Natur schafft nur Individuen. Die Lösung dieses Widerspruchs ergibt sich aus der Erwägung, daß einerseits die verbindende Kraft des Geistes inhaltslos ist, somit allein, durch sich selbst, nichts Positives erkennen kann, daß andererseits die Sonderung der Naturobjekte nicht in deren Wesen selbst begründet ist, sondern in deren räumlicher Erscheinung, daß vielmehr bei Durchdringung des Wesens des Individuellen, des Besonderen, dieses selbst uns auf die Gattung hinweist. Weil die Objekte der Natur in der Erscheinung gesondert sind, bedarf es der zusammenfassenden Kraft des Geistes, ihre innere Einheit zu zeigen. Weil die Einheit des Verstandes für sich leer ist, muß er sie mit den Objekten der Natur erfüllen. So kommen auf dieser dritten Stufe Phänomen und Geistesvermögen einander entgegen und gehen in eins auf und der Geist kann jetzt erst vollbefriedigt sein. -

Ein weiteres Gebiet der Forschung ist jenes, wo uns das Einzelne in seiner Daseinsweise nicht als die Folge eines andern, neben ihm Bestehenden erscheint, wo wir es daher auch nicht dadurch begreifen, daß wir ein anderes, Gleichartiges zu Hilfe rufen. Hier erscheint uns eine Reihe von sinnenfälligen Erscheinungselementen als unmittelbare Ausgestaltung eines einheitlichen Prinzipes, und wir müssen zu diesem Prinzipe vordringen, wenn wir die Einzelerscheinung begreifen wollen. Wir können auf diesem Gebiete das Phänomen nicht aus äußerer Einwirkung erklären, wir müssen es von innen heraus ableiten. Was früher bestimmend war, ist jetzt bloß veranlassend. Während ich beim früheren Gebiet alles begriffen habe, wenn es mir gelungen ist, es als Folge eines andern anzusehen, es von einer äußeren Bedingung abzuleiten, werde ich hier zu einer andern Fragestellung gezwungen. Wenn ich den äußeren Einfluß kenne, so habe ich noch keinen Aufschluß darüber erlangt, daß das Phänomen gerade in dieser und keiner anderen Weise abläuft. Ich muß es von dem zentralen Prinzip jenes Dinges ableiten, auf das der äußere Einfluß stattgefunden hat. Ich kann nicht sagen: dieser äußere Einfluß hat diese Wirkung; sondern nur: auf diesen bestimmten äußeren Einfluß antwortet das innere Wirkungsprinzip in dieser bestimmten Weise. Was geschieht, ist Folge einer inneren Gesetzlichkeit. Ich muß also diese innere Gesetzlichkeit kennen. Ich muß erforschen, was sich von innen heraus gestaltet. Dieses sich gestaltende Prinzip, das auf diesem Gebiete jedem Phänomen zugrunde liegt, das ich in allem zu suchen habe, ist der Typus. Wir sind im Gebiete der organischen Natur. Was in der unorganischen Natur Urphänomen, das ist in der Organik Typus. Der Typus ist ein allgemeines Bild des Organismus: die Idee desselben; die Tierheit im Tiere. Wir mußten hier die Hauptpunkte des schon in einem früheren Abschnitte über den »Typus« Ausgeführten wegen des Zusammenhangs noch einmal anführen. In den ethischen und historischen Wissenschaften haben wir es dann mit der Idee im engeren Sinne zu tun. Die Ethik und die Geschichte sind Idealwissenschaften. Ihre Wirklichkeit sind Ideen. - Der Einzelwissenschaft obliegt es, das Gegebene so weit zu bearbeiten, daß sie es bis zu Urphänomen, Typus und den leitenden Ideen in der Geschichte bringt. »Kann... der Physiker zur Erkenntnis desjenigen gelangen, was wir ein Urphänomen genannt haben, so ist er geborgen und der Philosoph mit ihm; er, denn er überzeugt sich, daß er an die Grenze seiner Wissenschaft gelangt sei, daß er sich auf der empirischen Höhe befinde, wo er rückwärts die Erfahrung in allen ihren Stufen überschauen und vorwärts in das Reich der Theorie, wo nicht eintreten, doch einblicken könne. Der Philosoph ist geborgen, denn er nimmt aus des Physikers Hand ein Letztes, das bei ihm nun ein Erstes wird« (»Entwurf einer Farbenlehre« 720 [Natw. Schr., 3. Bd., S. 275 f.]) - Hier tritt nämlich der Philosoph mit seiner Arbeit auf. Er ergreift die Urphänomene und bringt sie in den befriedigenden ideellen Zusammenhang. Wir sehen, durch was im Sinne der Goetheschen Weltanschauung die Metaphysik zu ersetzen ist: durch eine ideengemäße Betrachtung, Zusammenstellung und Ableitung der Urphänomene. In diesem Sinne spricht sich Goethe wiederholt über das Verhältnis von empirischer Wissenschaft und Philosophie aus; besonders deutlich in seinen Briefen an Hegel. Goethe spricht in den Annalen wiederholt von einem Schema der Naturwissenschaft. Wenn sich dasselbe vorfände, würden wir daraus ersehen, wie er sich selbst das Verhältnis der einzelnen Urphänomene untereinander dachte; wie er sie in eine notwendige Kette zusammenstellte. Eine Vorstellung davon gewinnen wir auch, wenn wir die Tabelle berücksichtigen, die er im 1. Bd. 4. H. »Zur Naturwissenschaft« von allen möglichen Wirkungsarten gibt:

  •  Zufällig 
  •  Mechanisch 
  •  Physisch 
  •  Chemisch 
  •  Organisch 
  •  Psychisch 
  •  Ethisch 
  •  Religiös 
  •  Genial 

Nach dieser aufsteigenden Reihe hätte man sich bei Anordnung der Urphänomene zu richten.*


 

93 Vgl. Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 593, Anm In meiner Einleitung S. XXXVIII zum 34. Bande dieser Goethe-Ausgabe sagte ich: Leider scheint der Aufsatz verlorengegangen zu sein, der den Ansichten Goethes über Erfahrung, Versuch und wissenschaftliches Erkennen zur besten Stütze dienen könnte. Er ist aber nicht verlorengegangen, sondern hat sich in der obigen Form im Goethe-Archiv gefunden. (Vgl. Weim. Goethe-Ausgabe II. Abt. Band 11, S. 38ff.) Er trägt das Datum 15. Januar 1798 und ist am 17. an Schiller gesandt worden. Er stellt sich als Fortsetzung des Aufsatzes: »Der Versuch als Vermittler von Subjekt und Objekt« dar. Ich habe den Gedankengang des Aufsatzes aus dem Goethe-Schillerschen Briefwechsel entnommen und in genannter Einleitung S. XXXIX f. genau in der Weise angegeben, die sich jetzt vorgefunden hat. Inhaltlich wird durch den Aufsatz zu meinen Ausführungen nichts hinzugefügt; wohl aber wird meine aus Goethes übrigen Arbeiten gewonnene Ansicht über seine Methode und Erkenntnisweise in allen Punkten bestätigt.

Über Erkenntnisgrenzen und Hypothesenbildung

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