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Anthroposophie / Grundlagen / Einleitungen / Erkenntnisgrenzen und Hypothesenbildung

X.4 Über Erkenntnisgrenzen und Hypothesenbildung

Man spricht heute viel von Grenzen unseres Erkennens. Unsere Fähigkeit, das Bestehende zu erklären, soll nur bis zu einem gewissen Punkte reichen, bei dem sollen wir haltmachen. Wir glauben in bezug auf diese Frage das Richtige zu treffen, wenn wir sie richtig stellen. Denn es kommt ja so vielfach nur auf eine richtige Fragestellung an. Durch eine solche wird ein ganzes Heer von Irrtümern zerstreut. Wenn wir bedenken, daß der Gegenstand, in bezug auf welchen sich in uns ein Erklärungsbedürfnis geltend macht, gegeben sein muß, so ist es klar, daß das Gegebene selbst uns eine Grenze nicht setzen kann. Denn um überhaupt den Anspruch zu erheben, erklärt, begriffen zu werden, muß es uns innerhalb der gegebenen Wirklichkeit gegenübertreten. Was nicht in den Horizont des Gegebenen eintritt, braucht nicht erklärt zu werden. Die Grenze könnte also nur darinnen liegen, daß uns einem gegebenen Wirklichen gegenüber die Mittel fehlen, es zu erklären. Nun kommt unser Erklärungsbedürfnis aber gerade daher, daß das, als was wir ein Gegebenes ansehen wollen, durch was wir es erklären wollen, sich in den Horizont des uns gedanklich Gegebenen eindrängt. Weit entfernt, daß das erklärende Wesen eines Dinges uns unbekannt wäre, ist es vielmehr selbst das, was durch sein Auftreten im Geiste die Erklärung notwendig macht. Was erklärt werden soll und durch was dieses erklärt werden soll, liegen vor. Es handelt sich nur um die Verbindung beider. Das Erklären ist kein Suchen eines Unbekannten, nur eine Auseinandersetzung über den gegenseitigen Bezug zweier Bekannter. Durch irgend etwas ein Gegebenes zu erklären, von dem wir kein Wissen haben, sollte uns nie der Einfall kommen. Es kann also von prinzipiellen Grenzen des Erklärens gar nicht die Rede sein. Nun kommt da freilich etwas in Betracht, was der Theorie einer Erkenntnisgrenze einen Schein von Recht gibt. Es kann sein, daß wir von einem Wirklichen zwar ahnen, daß es da ist, daß es aber doch unserer Wahrnehmung entrückt ist. Wir können irgendwelche Spuren, Wirkungen eines Dinges wahrnehmen und dann die Annahme machen, daß dies Ding vorhanden ist. Und hier kann etwa von einer Grenze des Wissens gesprochen werden. Das, was wir als nicht erreichbar voraussetzen, ist hier aber kein solches, aus dem irgend etwas prinzipiell zu erklären wäre; es ist ein Wahrzunehmendes, wenn auch kein Wahrgenommenes. Die Hindernisse, warum ich es nicht wahrnehme, sind keine prinzipiellen Erkenntnisgrenzen, sondern rein zufällige, äußere. Ja sie können wohl gar überwunden werden. Was ich heute bloß ahne, kann ich morgen erfahren. Das ist aber mit einem Prinzip nicht so; da gibt es keine äußeren Hindernisse, die ja zumeist nur in Ort und Zeit liegen; das Prinzip ist mir innerlich gegeben. Ich ahne es nicht aus einem andern, wenn ich es nicht selbst erschaue.

Damit hängt nun die Theorie der Hypothese zusammen. Eine Hypothese ist eine Annahme, die wir machen und von deren Wahrheit wir uns nicht direkt, sondern nur durch ihre Wirkungen überzeugen können. Wir sehen eine Erscheinungsreihe. Sie ist uns nur erklärlich, wenn wir etwas zugrunde legen, das wir nicht unmittelbar wahrnehmen. Darf eine solche Annahme sich auf ein Prinzip erstrecken? Offenbar nicht. Denn ein Inneres, das ich voraussetze, ohne es gewahr zu werden, ist ein vollkommener Widerspruch.

Die Hypothese kann nur solches annehmen, das ich zwar nicht wahrnehme, aber sofort wahrnehmen würde, wenn ich die äußeren Hindernisse wegräumte. Die Hypothese kann zwar nicht Wahrgenommenes, sie muß aber Wahrnehmbares voraussetzen. So ist jede Hypothese in dem Fall, daß ihr Inhalt durch eine künftige Erfahrung direkt bestätigt werden kann. Nur Hypothesen, die aufhören können es zu sein, haben eine Berechtigung. Hypothesen über zentrale Wissenschaftsprinzipien haben keinen Wert. Was nicht durch ein positiv gegebenes Prinzip, das uns bekannt ist, erklärt wird, das ist überhaupt einer Erklärung nicht fähig und auch nicht bedürftig.

Ethische und historische Wissenschaften

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