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Anthroposophie / Grundlagen / Einleitungen / Ethik und Historik

X.5 Ethische und historische Wissenschaften

Die Beantwortung der Frage: »Was ist Erkennen?« hat uns über die Stellung des Menschen im Weltall aufgeklärt. Es kann nun nicht fehlen, daß die Ansicht, die wir für diese Frage entwickelt haben, auch über Wert und Bedeutung des menschlichen Handelns Licht verbreitet. Was wir in der Welt vollbringen, dem müssen wir ja eine größere oder geringere Bedeutung beilegen, je nachdem wir unsere Bestimmung höher oder minder bedeutend auffassen. 

Die erste Aufgabe, der wir uns nun zu unterziehen haben, wird die Untersuchung des Charakters der menschlichen Tätigkeit sein. Wie stellt sich das, was wir als Wirkung menschlichen Tuns auffassen müssen, zu anderen Wirksamkeiten innerhalb des Weltprozesses? Betrachten wir zwei Dinge: ein Naturprodukt und ein Geschöpf menschlicher Tätigkeit, die Kristallgestalt und etwa ein Wagenrad. In beiden Fällen erscheint uns das vorliegende Objekt als Ergebnis von in Begriffen ausdrückbaren Gesetzen. Der Unterschied liegt nur darinnen, daß wir den Kristall als das unmittelbare Produkt der ihn bestimmenden Naturgesetzlichkeiten ansehen müssen, während beim Wagenrad der Mensch in die Mitte zwischen Begriff und Gegenstand tritt. Was wir im Naturprodukt als dem Wirklichen zugrunde liegend denken, das führen wir in unserem Handeln in die Wirklichkeit ein. Im Erkennen erfahren wir, welches die ideellen Bedingungen der Sinneserfahrung sind; wir bringen die Ideenwelt, die in der Wirklichkeit schon liegt, zum Vorschein; wir schließen also den Weltprozess in der Hinsicht ab, daß wir den Produzenten, der ewig die Produkte hervorgehen läßt, aber ohne unser Denken ewig in ihnen verborgen bliebe, zur Erscheinung rufen. Im Handeln aber ergänzen wir diesen Prozess dadurch, daß wir die Ideenwelt, insofern sie noch nicht Wirklichkeit ist, in solche umsetzen. Nun haben wir die Idee als das erkannt, was allem Wirklichen zugrunde liegt, als das Bedingende, die Intention der Natur. Unser Erkennen führt uns dahin, die Tendenz des Weltprozesses, die Intention der Schöpfung aus den in der uns umgebenden Natur enthaltenen Andeutungen zu finden. Haben wir das erreicht, dann ist unserem Handeln die Aufgabe zuerteilt, selbständig an der Verwirklichung jener Intention mitzuarbeiten. Und so erscheint uns unser Handeln direkt als eine Fortsetzung jener Art von Wirksamkeit, die auch die Natur erfüllt. Es erscheint uns als unmittelbarer Ausfluß des Weltgrundes. Aber doch welch ein Unterschied ist da gegenüber der anderen (Natur-)Tätigkeit! Das Naturprodukt hat keineswegs in sich selbst die ideelle Gesetzmäßigkeit, von der es beherrscht erscheint. Es bedarf bei ihm des Gegenübertretens eines höheren, des menschlichen Denkens; dann erscheint diesem das, wovon jenes beherrscht wird. Beim menschlichen Tun ist das anders. Da wohnt dem tätigen Objekte unmittelbar die Idee inne; und träte ihm ein höheres Wesen gegenüber, so könnte es in seiner Tätigkeit nichts anderes finden, als was dieses selbst in sein Tun gelegt hat. Denn ein vollkommenes menschliches Handeln ist das Ergebnis unserer Absichten und nur dieses. Blicken wir ein Naturprodukt an, das auf ein anderes wirkt, so stellt sich die Sache so: Wir sehen eine Wirkung; diese Wirkung ist bedingt durch in Begriffe zu fassende Gesetze. Wollen wir aber die Wirkung begreifen, da genügt es nicht, daß wir sie mit irgendwelchen Gesetzen zusammenhalten, wir müssen ein zweites wahrzunehmendes - allerdings wieder ganz in Begriffe aufzulösendes - Ding haben. Wenn wir einen Eindruck in dem Boden sehen, so suchen wir nach dem Gegenstande, der ihn gemacht hat. Das führt zu dem Begriffe einer solchen Wirkung, wo die Ursache einer Erscheinung wieder in Form einer äußeren Wahrnehmung erscheint, d. i. aber um Begriffe der Kraft. Die Kraft kann uns nur da entgegentreten, wo die Idee zuerst an einem Wahrnehmungsobjekte erscheint und erst unter dieser Form auf ein anderes Objekt wirkt. Der Gegensatz hierzu ist, wenn diese Vermittlung wegfällt, wenn die Idee unmittelbar an die Sinnenwelt herantritt. Da erscheint die Idee selbst verursachend. Und hier ist es, wo wir vom Willen sprechen. Wille ist also die Idee selbst als Kraft aufgefaßt. Von einem selbständigen Willen zu sprechen ist völlig unstatthaft. Wenn der Mensch irgend etwas vollbringt, so kann man nicht sagen, es komme zu der Vorstellung noch der Wille hinzu. Spricht man so, so hat man die Begriffe nicht klar erfaßt, denn, was ist die menschliche Persönlichkeit, wenn man von der sie erfüllenden Ideenwelt absieht? Doch ein tätiges Dasein. Wer sie anders faßte: als totes, untätiges Naturprodukt, setzte sie ja dem Steine auf der Straße gleich. Dieses tätige Dasein ist aber ein Abstraktum, es ist nichts Wirkliches. Man kann es nicht fassen, es ist ohne Inhalt. Will man es fassen, will man einen Inhalt, dann erhält man eben die im Tun begriffene Ideenwelt. E. v. Hartmann macht dieses Abstraktum zu einem zweiten weltkonstituierenden Prinzip neben der Idee. Es ist aber nichts anderes als die Idee selbst, nur in einer Form des Auftretens. Wille ohne Idee wäre nichts. Das gleiche kann man nicht von der Idee sagen, denn die Tätigkeit ist ein Element von ihr, während sie die sich selbst tragende Wesenheit ist.*

Dies zur Charakteristik des menschlichen Tuns. Wir schreiten zu einem weiteren wesentlichen Kennzeichen desselben, das aus dem bisher Gesagten sich mit Notwendigkeit ergibt. Das Erklären eines Vorganges in der Natur ist ein Zurückgehen auf die Bedingungen desselben: ein Aufsuchen des Produzenten zu dem gegebenen Produkte. Wenn ich eine Wirkung wahrnehme und dazu die Ursache suche, so genügen diese zwei Wahrnehmungen keineswegs meinem Erklärungsbedürfnisse.

Ich muß zu den Gesetzen zurückgehen, nach denen diese Ursache diese Wirkung hervorbringt. Beim menschlichen Handeln ist das anders. Da tritt die eine Erscheinung bedingende Gesetzlichkeit selbst in Aktion; was ein Produkt konstituiert, tritt selbst auf den Schauplatz des Wirkens. Wir haben es mit einem erscheinenden Dasein zu tun, bei dem wir stehenbleiben können, bei dem wir nicht nach den tiefer liegenden Bedingungen zu fragen brauchen. Ein Kunstwerk haben wir begriffen, wenn wir die Idee kennen, die in demselben verkörpert ist; wir brauchen nach keinem weiteren gesetzmäßigen Zusammenhang zwischen Idee (Ursache) und Werk (Wirkung) zu fragen. Das Handeln eines Staatsmannes begreifen wir, wenn wir seine Intentionen (Ideen) kennen; wir brauchen nicht weiter über das, was in die Erscheinung tritt, hinauszugehen. Dadurch also unterscheiden sich Prozesse der Natur von Handlungen des Menschen, daß bei jenen das Gesetz als der bedingende Hintergrund des erscheinenden Daseins zu betrachten ist, während bei diesen das Dasein selbst Gesetz ist und von nichts als von sich selbst bedingt erscheint. Dadurch legt sich jeder Naturprozeß in ein Bedingendes und ein Bedingtes auseinander, und das letztere folgt mit Notwendigkeit aus dem ersten, während das menschliche Handeln nur sich selbst bedingt Das aber ist das Wirken mit Freiheit. Indem die Intentionen der Natur, die hinter den Erscheinungen stehen und sie bedingen, in den Menschen einziehen, werden sie selbst zur Erscheinung; aber sie sind jetzt gleichsam rückenfrei. Wenn alle Naturprozesse nur Manifestationen der Idee sind, so ist das menschliche Tun die agierende Idee selbst.

Indem unsere Erkenntnistheorie zu dem Schlusse gekommen ist, daß der Inhalt unseres Bewußtseins nicht bloß ein Mittel sei, sich von dem Weltengrunde ein Abbild zu machen, sondern daß dieser Weltengrund selbst in seiner ureigensten Gestalt in unserem Denken zutage tritt, so können wir nicht anders, als im menschlichen Handeln auch unmittelbar das unbedingte Handeln jenes Urgrundes selbst erkennen. Einen Weltlenker, der außerhalb unserer selbst unseren Handlungen Ziel und Richtung setzte, kennen wir nicht. Der Weltlenker hat sich seiner Macht begeben, hat alles an den Menschen abgegeben, mit Vernichtung seines Sonderdaseins, und dem Menschen die Aufgabe zuerteilt: wirke weiter. Der Mensch findet sich in der Welt, erblickt die Natur, in derselben die Andeutung eines Tieferen, Bedingenden, einer Intention. Sein Denken befähigt ihn, diese Intention zu erkennen. Sie wird sein geistiger Besitz. Er hat die Welt durchdrungen; er tritt handelnd auf, jene Intentionen fortzusetzen. Damit ist die hier vorgetragene Philosophie die wahre Freiheitsphilosophie. Sie läßt für die menschlichen Handlungen weder die Naturnotwendigkeit gelten, noch den Einfluß eines außerweltlichen Schöpfers oder Weltlenkers. Der Mensch wäre in dem einen wie in dem andern Fall unfrei. Wirkte in ihm die Naturnotwendigkeit wie in den anderen Wesen, dann vollführte er seine Taten aus Zwang, dann wäre auch bei ihm ein Zurückgehen auf Bedingungen notwendig, die dem erscheinenden Dasein zugrunde liegen und von Freiheit keine Rede. Es ist natürlich nicht ausgeschlossen, daß es unzählige menschliche Verrichtungen gibt, die nur unter diesen Gesichtspunkt fallen; allein diese kommen hier nicht in Betracht. Der Mensch, insofern er ein Naturwesen ist, ist auch nach den für das Naturwirken geltenden Gesetzen zu begreifen. Allein weder als erkennendes noch als wahrhaft ethisches Wesen ist sein Auftreten aus bloßen Naturgesetzen einzusehen. Da tritt er eben aus der Sphäre der Naturwirklichkeiten heraus. Und für diese höchste Potenz seines Daseins, die mehr Ideal als Wirklichkeit ist, gilt das hier Festgestellte. Des Menschen Lebensweg besteht darinnen, daß er sich vom Naturwesen zu einem solchen entwickelt, wie wir es hier kennengelernt haben; er soll sich frei machen von allen Naturgesetzen und sein eigener Gesetzgeber werden.
Aber auch den Einfluß eines außerweltlichen Lenkers der Menschengeschicke müssen wir ablehnen. Auch da, wo ein solcher angenommen wird, kann von wahrer Freiheit nicht die Rede sein. Da bestimmt er die Richtung des menschlichen Handelns und der Mensch hat auszuführen, was ihm jener zu tun vorgesetzt. Er empfindet den Antrieb zu seinen Handlungen nicht als Ideal, das er sich selbst vorsetzt, sondern als Gebot jenes Lenkers; wieder ist sein Handeln nicht unbedingt, sondern bedingt. Der Mensch fühlte sich dann eben nicht rückenfrei, sondern abhängig, nur Mittel für die Intentionen einer höheren Macht.

Wir haben gesehen, daß der Dogmatismus darinnen besteht, daß der Grund, warum irgend etwas wahr ist, in einem unserem Bewußtsein Jenseitigen, Unzugänglichen (Transsubjektiven) gesucht wird, im Gegensatz zu unserer Ansicht, die ein Urteil nur deshalb wahr sein läßt, weil der Grund dazu in den im Bewußtsein liegenden, in das Urteil einfließenden Begriffen liegt. Wer sich einen Weltengrund außer unserer Ideenwelt denkt, der denkt sich, daß der ideale Grund, warum von uns etwas als wahr erkannt wird, ein anderer ist, als warum es objektiv wahr ist. So ist die Wahrheit als Dogma aufgefaßt. Und auf dem Gebiete der Ethik ist das Gebot das, was in der Wissenschaft das Dogma ist. Der Mensch handelt, wenn er die Antriebe zu seinem Handeln in Geboten sucht, nach Gesetzen, deren Begründung nicht von ihm abhängt; er denkt sich eine Norm, die von außen seinem Handeln vorgeschrieben ist.

Er handelt aus Pflicht. Von Pflicht zu reden, hat nur bei dieser Auffassung Sinn. Wir müssen den Antrieb von außen empfinden und die Notwendigkeit anerkennen, ihm zu folgen, dann handeln wir aus Pflicht. Unsere Erkenntnistheorie kann ein solches Handeln, da wo der Mensch in seiner sittlichen Vollendung auftritt, nicht gelten lassen. Wir wissen daß die Ideenwelt die unendliche Vollkommenheit selbst ist; wir wissen, daß mit ihr die Antriebe unseres Handelns in uns liegen; und wir müssen demzufolge nur ein solches Handeln als ethisch gelten lassen, bei dem die Tat nur aus der in uns liegenden Idee derselben fließt. Der Mensch vollbringt von diesem Gesichtspunkte aus nur deshalb eine Handlung, weil deren Wirklichkeit für ihn Bedürfnis ist. Er handelt, weil ein innerer (eigener) Drang, nicht eine äußere Macht, ihn treibt. Das Objekt seines Handelns, sobald er sich einen Begriff davon macht, erfüllt ihn so, daß er es zu verwirklichen strebt. In dem Bedürfnis nach Verwirklichung einer Idee, in dem Drange nach der Ausgestaltung einer Absicht soll auch der einzige Antrieb unseres Handelns sein. In der Idee soll sich alles ausleben, was uns zum Tun drängt. Wir handeln dann nicht aus Pflicht, wir handeln nicht einem Triebe folgend, wir handeln aus Liebe zu dem Objekt, auf das unsere Handlung sich erstrecken soll. Das Objekt, indem wir es vorstellen, ruft in uns den Drang nach einer ihm angemessenen Handlung hervor. Ein solches Handeln ist allein ein freies. Denn müßte zu dem Interesse, das wir an dem Objekt nehmen, noch ein zweiter anderweitiger Anlaß kommen, dann wollten wir nicht dieses Objekt um seiner selbst willen, wir wollten ein anderes und vollbrächten dieses, was wir nicht wollen; wir vollführten eine Handlung gegen unseren Willen. Das wäre etwa beim Handeln aus Egoismus der Fall. Da nehmen wir an der Handlung selbst kein Interesse; sie ist uns nicht Bedürfnis, wohl aber der Nutzen, den sie uns bringt.

Dann aber empfinden wir es auch zugleich als Zwang, daß wir jene Handlung, nur dieses Zweckes willen, vollbringen müssen. Sie selbst ist uns nicht Bedürfnis; denn wir unterließen sie, wenn sie den Nutzen nicht im Gefolge hätte. Eine Handlung aber, die wir nicht um ihrer selbst willen vollbringen, ist eine unfreie. Der Egoismus handelt unfrei. Unfrei handelt überhaupt jeder Mensch, der eine Handlung aus einem Anlaß vollbringt, der nicht aus dem objektiven Inhalt der Handlung selbst folgt. Eine Handlung um ihrer selbst willen ausführen, heißt aus Liebe handeln. Nur derjenige, den die Liebe zum Tun, die Hingabe an die Objektivität leitet, handelt wahrhaft frei. Wer dieser selbstlosen Hingabe nicht fähig ist, wird seine Tätigkeit nie als eine freie ansehen können.

Soll das Handeln des Menschen nichts anderes sein als die Verwirklichung seines eigenen Ideengehaltes, dann ist es natürlich, daß solcher Gehalt in ihm liegen muß. Sein Geist muß produktiv wirken. Denn was sollte ihn mit dem Drange erfüllen, etwas zu vollbringen, wenn nicht eine sich in seinem Geiste heraufarbeitende Idee? Diese Idee wird sich um so fruchtbarer erweisen, in je bestimmteren Umrissen, mit je deutlicherem Inhalte sie im Geiste auftritt. Denn nur das kann uns ja mit aller Gewalt zur Verwirklichung drängen, das seinem ganzen »Was« nach vollbestimmt ist. Das nur dunkel vorgestellte, das unbestimmt gelassene Ideal ist als Antrieb des Handelns ungeeignet. Was soll uns an ihm eineifern, da sein Inhalt nicht offen und klar am Tage liegt. Die Antriebe für unser Handeln müssen daher immer in Form individueller Intentionen auftreten. Alles, was der Mensch Fruchtbringendes vollführt, verdankt solchen individuellen Impulsen seine Entstehung. Völlig wertlos erweisen sich allgemeine Sittengesetze, ethische Normen usw., die für alle Menschen Gültigkeit haben sollen. Wenn Kant nur dasjenige als sittlich gelten läßt, was sich für alle Menschen als Gesetz eignet, so ist demgegenüber zu sagen, daß alles positive Handeln aufhören müßte, alles Große aus der Welt verschwinden müßte, wenn jeder nur das tun sollte, was sich für alle eignet. Nein, nicht solche vage, allgemeine ethische Normen, sondern die individuellsten Ideale sollen unser Handeln leiten.

Nicht alles ist für alle gleich würdig zu vollbringen, sondern dies für den, für jenen das, je nachdem einer den Beruf zu einer Sache fühlt. J. Kreyenbühl hat hierüber treffliche Worte in seinem Aufsatze »Die ethische Freiheit bei Kant« (Philosophische Monatshefte, Bd. XVIII, 3. H. [Berlin etc. 1882, S. 129ff.]) gesagt: »Soll ja die Freiheit meine Freiheit, die sittliche Tat meine Tat, soll das Gute und Rechte durch mich, durch die Handlung dieser besonderen individuellen Persönlichkeit verwirklicht werden, so kann mir unmöglich ein allgemeines Gesetz genügen, das von aller Individualität und Besonderheit der beim Handeln konkurrierenden Umstände absieht und mir befiehlt vor jeder Handlung zu prüfen, ob das ihr zugrunde liegende Motiv der abstrakten Norm der allgemeinen Menschennatur entspreche, ob es so, wie es in mir lebt und wirkt, allgemein gültige Maxime werden könne.« ... »Eine derartige Anpassung an das allgemein Übliche und Gebräuchliche würde jede individuelle Freiheit, jeden Fortschritt über das Ordinäre und Hausbackene, jede bedeutende, hervorragende und bahnbrechende ethische Leistung unmöglich machen.«

Diese Ausführungen verbreiten Licht über jene Fragen, die eine allgemeine Ethik zu beantworten hat. Man behandelt die letztere ja vielfach so, als ob sie eine Summe von Normen sei, nach denen das menschliche Handeln sich zu richten habe. Man stellt von diesem Gesichtspunkte aus die Ethik der Naturwissenschaft und überhaupt der Wissenschaft vom Seienden gegenüber. Während nämlich die letztere uns die Gesetze von dem, was besteht, was ist, vermitteln soll, hätte uns die Ethik jene vom Seinsollenden zu lehren. Die Ethik soll ein Kodex von allen Idealen des Menschen sein, eine ausführliche Antwort auf die Frage: Was ist gut? Eine solche Wissenschaft ist aber unmöglich. Es kann keine allgemeine Antwort auf diese Frage geben. Das ethische Handeln ist ja ein Produkt dessen, was sich im Individuum geltend macht; es ist immer im einzelnen Fall gegeben, nie im allgemeinen. Es gibt keine allgemeinen Gesetze darüber, was man tun soll und was nicht. Man sehe nur ja nicht die einzelnen Rechtssatzungen verschiedener Völker als solche an. Sie sind auch nichts weiter als der Ausfluß individueller Intentionen. Was diese oder jene Persönlichkeit als sittliches Motiv empfunden hat, hat sich einem ganzen Volke mitgeteilt, ist zum »Recht dieses Volkes« geworden. Ein allgemeines Naturrecht, das für alle Menschen und alle Zeiten gelte, ist ein Unding. Rechtsanschauungen und Sittlichkeitsbegriffe kommen und gehen mit den Völkern, ja sogar mit den Individuen. Immer ist die Individualität maßgebend. Im obigen Sinne von einer Ethik zu sprechen, ist also unstatthaft. Aber es gibt andere Fragen, die in dieser Wissenschaft zu beantworten sind, Fragen, die z. T. in diesen Erörterungen kurz beleuchtet worden sind. Ich erwähne nur: die Feststellung des Unterschiedes von menschlichem Handeln und Naturwirken, die Frage nach dem Wesen des Willens und der Freiheit usw. Alle diese Einzelaufgaben lassen sich unter die eine subsumieren: Inwiefern ist der Mensch ein ethisches Wesen? Das bezweckt aber nichts anderes als die Erkenntnis der sittlichen Natur des Menschen. Es wird nicht gefragt: Was soll der Mensch tun? sondern: Was ist das, was er tut, seinem inneren Wesen nach? Und damit fällt jene Scheidewand, welche alle Wissenschaft in zwei Sphären trennt: in eine Lehre vom Seienden und eine vom Seinsollenden. Die Ethik ist ebenso wie alle anderen Wissenschaften eine Lehre vom Seienden. In dieser Hinsicht geht der einheitliche Zug durch alle Wissenschaften, daß sie von einem Gegebenen ausgehen und zu dessen Bedingungen fortschreiten. Vom menschlichen Handeln selbst aber kann es keine Wissenschaft geben; denn das ist unbedingt, produktiv, schöpferisch. Die Jurisprudenz ist keine Wissenschaft, sondern nur eine Notizensammlung jener Rechtsgewohnheiten, die einer Volksindividualität eigen sind.*

Der Mensch gehört nun nicht allein sich selbst; er gehört als Glied zwei höheren Totalitäten an. Erstens ist er ein Glied seines Volkes, mit dem ihn gemeinschaftliche Sitten, ein gemeinschaftliches Kulturleben, eine Sprache und gemeinsame Anschauung vereinigen. Dann aber ist er auch ein Bürger der Geschichte, das einzelne Glied in dem großen historischen Prozesse der Menschheitsentwicklung. Durch diese doppelte Zugehörigkeit zu einem Ganzen scheint sein freies Handeln beeinträchtigt. Was er tut, scheint nicht allein ein Ausfluß seines eigenen individuellen Ichs zu sein; er erscheint bedingt durch die Gemeinsamkeiten, die er mit seinem Volke hat, seine Individualität scheint durch den Volkscharakter vernichtet. Bin ich denn dann noch frei, wenn man meine Handlungen nicht allein aus meiner, sondern wesentlich auch aus der Natur meines Volkes erklärlich findet? Handle ich da nicht deshalb so, weil mich die Natur gerade zum Gliede dieser Volksgenossenschaft gemacht hat? Und mit der zweiten Zugehörigkeit ist es nicht anders. Die Geschichte weist mir den Platz meines Wirkens an. Ich bin von der Kulturepoche abhängig, in der ich geboren bin; ich bin ein Kind meiner Zeit. Wenn man aber den Menschen zugleich als erkennendes und handelndes Wesen auffaßt, dann löst sich dieser Widerspruch. Durch sein Erkenntnisvermögen dringt der Mensch in den Charakter seiner Volksindividualität ein; es wird ihm klar, wohin seine Mitbürger steuern. Wovon er so bedingt erscheint, das überwindet er und nimmt es als vollerkannte Vorstellung in sich auf; es wird in ihm individuell und erhält ganz den persönlichen Charakter, den das Wirken aus Freiheit hat. Ebenso stellt sich die Sache mit der historischen Entwicklung, innerhalb welcher der Mensch auftritt. Er erhebt sich zur Erkenntnis der leitenden Ideen, der sittlichen Kräfte, die da walten; und dann wirken sie nicht mehr als ihn bedingende, sondern sie werden in ihm zu individuellen Triebkräften. Der Mensch muß sich eben hinaufarbeiten, damit er nicht geleitet werde, sondern sich selbst leite. Er muß sich nicht blindlings von seinem Volkscharakter führen lassen, sondern sich zur Erkenntnis desselben erheben, damit er bewußt im Sinne seines Volkes handle. Er darf sich nicht von dem Kulturfortschritte tragen lassen, sondern er muß die Ideen seiner Zeit zu seinen eigenen machen. Dazu ist vor allem notwendig, daß der Mensch seine Zeit verstehe. Dann wird er mit Freiheit ihre Aufgabe erfüllen, dann wird er mit seiner eigenen Arbeit an der rechten Stelle ansetzen. Hier haben die Geisteswissenschaften (Geschichte, Kultur- und Literaturgeschichte usw.) vermittelnd einzutreten. In den Geisteswissenschaften hat es der Mensch mit seinen eigenen Leistungen zu tun, mit den Schöpfungen der Kultur, der Literatur, mit der Kunst usw. Geistiges wird durch den Geist erfaßt. Und der Zweck der Geisteswissenschaften soll kein anderer sein, als daß der Mensch erkenne, wohin er von dem Zufalle gestellt ist; er soll erkennen, was schon geleistet ist, was ihm zu tun obliegt. Er muß durch die Geisteswissenschaften den rechten Punkt finden, um mit seiner Persönlichkeit an dem Getriebe der Welt teilzunehmen. Der Mensch muß die Geisteswelt kennen und nach dieser Erkenntnis seinen Anteil an ihr bestimmen.*

Gustav Freytag sagt in der Vorrede zum ersten Bande seiner »Bilder aus der deutschen Vergangenheit« [Leipzig 1859]: »Alle großen Schöpfungen der Volkskraft, angestammte Religion, Sitte, Recht, Staatsbildung sind für uns nicht mehr die Resultate einzelner Männer, sie sind organische Schöpfungen eines hohen Lebens, welches zu jeder Zeit nur durch das Individuum zur Erscheinung kommt, und zu jeder Zeit den geistigen Gehalt der Individuen in sich zu einem mächtigen Ganzen zusammenfaßt... So darf man wohl, ohne etwas Mystisches zu sagen, von einer Volksseele sprechen. ... Aber nicht mehr bewußt, wie die Willenskraft eines Mannes, arbeitet das Leben eines Volkes. Das Freie, Verständige in der Geschichte vertritt der Mann, die Volkskraft wirkt unablässig mit dem dunklen Zwang einer Urgewalt.« Hätte Freytag dieses Leben des Volkes untersucht, so hätte er wohl gefunden, daß es sich in das Wirken einer Summe von Einzelindividuen auflöst, die jenen dunklen Zwang überwinden, das Unbewußte in ihr Bewußtsein heraufheben, und er hätte gesehen, wie das aus den individuellen Willensimpulsen, aus dem freien Handeln des Menschen hervorgeht, was er als Volksseele, als dunklen Zwang anspricht.
Aber noch etwas kommt in bezug auf das Wirken des Menschen innerhalb seines Volkes in Betracht. Jede Persönlichkeit repräsentiert eine geistige Potenz, eine Summe von Kräften, die nach der Möglichkeit zu wirken suchen. Jedermann muß deshalb den Platz finden, wo sich sein Wirken in der zweckmäßigsten Weise in seinen Volksorganismus eingliedern kann. Es darf nicht dem Zufalle überlassen bleiben, ob er diesen Platz findet. Die Staatsverfassung hat keinen anderen Zweck, als dafür zu sorgen, daß jeder einen angemessenen Wirkungskreis finde. Der Staat ist die Form, in der sich der Organismus eines Volkes darlebt.

Die Volkskunde und Staatswissenschaft hat die Weise zu erforschen, inwiefern die einzelne Persönlichkeit innerhalb des Staates zu einer ihr entsprechenden Geltung kommen kann. Die Verfassung muß aus dem innersten Wesen eines Volkes hervorgehen. Der Volkscharakter in einzelnen Sätzen ausgedrückt, das ist die beste Staatsverfassung. Der Staatsmann kann dem Volke keine Verfassung aufdrängen. Der Staatslenker hat die tiefen Eigentümlichkeiten seines Volkes zu erforschen und den Tendenzen, die in diesem schlummern, durch die Verfassung die ihnen entsprechende Richtung zu geben. Es kann vorkommen, daß die Mehrheit des Volkes in Bahnen einlenken will, die gegen seine eigene Natur gehen. Goethe meint, in diesem Falle habe sich der Staatsmann von der letzteren und nicht von den zufälligen Forderungen der Mehrheit leiten zu lassen; er habe die Volkheit gegen das Volk in diesem Falle zu vertreten (»Sprüche in Prosa«, Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 480f.).

Hieran müssen wir noch ein Wort über die Methode der Geschichte anschließen. Die Geschichte muß stets im Auge haben, daß die Ursachen zu den historischen Ereignissen in den individuellen Absichten, Plänen usw. der Menschen zu suchen sind. Alles Ableiten der historischen Tatsachen aus Plänen, die der Geschichte zugrunde liegen, ist ein Irrtum. Es handelt sich immer nur darum, welche Ziele sich diese oder jene Persönlichkeit vorgesetzt, welche Wege sie eingeschlagen usf. Die Geschichte ist durchaus auf die Menschennatur zu gründen. Ihr Wollen, ihre Tendenzen sind zu ergründen.

Wir können nun wieder das hier über die ethische Wissenschaft Gesagte durch Aussprüche Goethes belegen. Wenn er sagt: »Die vernünftige Welt ist als ein großes unsterbliches Individuum zu betrachten, das unaufhaltsam das Notwendige bewirkt und dadurch sich sogar über das Zufällige zum Herrn macht«, [»Sprüche in Prosa«, ebenda S. 482], so ist das nur aus dem Verhältnisse, in dem wir den Menschen mit der Geschichtsentwicklung erblicken, zu erklären. - Der Hinweis auf ein positives individuelles Substrat des Wirkens liegt in den Worten: »Unbedingte Tätigkeit, von welcher Art sie sei, macht zuletzt bankerott« (Ebenda S. 463). Dasselbe in: »Der geringste Mensch kann komplett sein, wenn er sich innerhalb der Grenzen seiner Fähigkeiten und Fertigkeiten bewegt.« (Ebenda S. 443) -Die Notwendigkeit, daß der Mensch sich zu den leitenden Ideen seines Volkes und seiner Zeit erhebe, ist ausgesprochen in (ebenda S. 487): »Frage sich doch jeder, mit welchem Organ er allenfalls in seine Zeit einwirken kann und wird«, und (ebenda S. 455): »Man muß wissen, wo man steht und wohin die andern wollen.« Unsere Ansicht von der Pflicht ist wiederzuerkennen in (ebenda S. 460):

»Pflicht, wo man liebt, was man sich selbst befiehlt.«

Wir haben den Menschen als erkennendes und handelndes Wesen durchaus auf sich selbst gestellt. Wir haben seine Ideenwelt als mit dem Weltengrunde zusammenfallend bezeichnet und haben erkannt, daß alles, was er tut, nur als der Ausfluß seiner eigenen Individualität anzusehen ist. Wir suchen den Kern des Daseins in dem Menschen selbst. Ihm offenbart niemand eine dogmatische Wahrheit, ihn treibt niemand beim Handeln. Er ist sich selbst genug. Er muß alles durch sich selbst, nichts durch ein anderes Wesen sein. Er muß alles aus sich selbst schöpfen. Also auch den Quell für seine Glückseligkeit. Wir haben ja erkannt, daß von einer Macht, die den Menschen lenkte, die sein Dasein nach Richtung und Inhalt bestimmte, ihn zur Unfreiheit verdammte, nicht die Rede sein kann. Soll dem Menschen daher Glückseligkeit werden, so kann das nur durch ihn selbst geschehen. So wenig eine äußere Macht uns die Normen unseres Handelns vorschreibt, so wenig wird eine solche den Dingen die Fähigkeit erteilen, daß sie in uns das Gefühl der Befriedigung erwecken, wenn wir es nicht selbst tun. Lust und Unlust sind für den Menschen nur da, wenn er selbst zuerst den Gegenständen das Vermögen beilegt, diese Gefühle in ihm wachzurufen. Ein Schöpfer, der von außen bestimmte, was uns Lust, was Unlust machen soll, führte uns am Gängelbande.*

Damit ist jeder Optimismus und Pessimismus widerlegt.

Der Optimismus nimmt an, daß die Welt vollkommen sei, daß sie für den Menschen der Quell höchster Zufriedenheit sein müsse. Sollte das aber der Fall sein, so müßte der Mensch erst in sich jene Bedürfnisse entwickeln, wodurch ihm diese Zufriedenheit wird. Er müßte den Gegenständen das abgewinnen, wonach er verlangt. Der Pessimismus glaubt, die Einrichtung der Welt sei eine solche, daß sie den Menschen ewig unbefriedigt lasse, daß er nie glücklich sein könne. Welch ein erbarmungswürdiges Geschöpf wäre der Mensch, wenn ihm die Natur von außen Befriedigung böte! Alles Wehklagen über ein Dasein, das uns nicht befriedigt, über diese harte Welt muß schwinden gegenüber dem Gedanken, daß uns keine Macht der Welt befriedigen könnte, wenn wir ihr nicht zuerst selbst jene Zauberkraft verliehen, durch die sie uns erhebt, erfreut. Befriedigung muß uns aus dem werden, wozu wir die Dinge machen, aus unseren eigenen Schöpfungen. Nur das ist freier Wesen würdig.

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