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Anthroposophie / Grundlagen / Einleitungen / Methodologie

X.1 Methodologie

Wir haben das Verhältnis von der durch das wissenschaftliche Denken gewonnenen Ideenwelt und der unmittelbar gegebenen Erfahrung festgestellt. Wir haben Anfang und Ende eines Prozesses kennen gelernt: Ideenentblößte Erfahrung und ideenerfüllte Wirklichkeitsauffassung. Zwischen beiden liegt aber menschliche Tätigkeit. Der Mensch hat tätig das Ende aus dem Anfang hervorgehen zu lassen. Die Art, wie er das tut, ist die Methode. Es ist nun selbstverständlich, daß unsere Auffassung jenes Verhältnisses von Anfang und Ende der Wissenschaft auch eine eigentümliche Methode bedingen wird. Wovon werden wir bei Entwicklung derselben auszugehen haben? Das wissenschaftliche Denken muß sich Schritt für Schritt als ein Überwinden jener dunklen Wirklichkeitsform ergeben, die wir als unmittelbar Gegebenes bezeichnet haben, und ein Heraufheben desselben in die lichte Klarheit der Idee. Die Methode wird also darinnen bestehen müssen, daß wir bei jeglichem Dinge die Frage beantworten: Welchen Anteil hat es für die einheitliche Ideenwelt; welche Stelle nimmt es in dem ideellen Bilde ein, das ich mir von der Welt mache? Wenn ich das eingesehen habe, wenn ich erkannt habe, wie ein Ding sich an meine Ideen anschließt, dann ist mein Erkenntnisbedürfnis befriedigt. Für das letztere gibt es nur ein Nichtbefriedigendes: wenn mir ein Ding gegenübertritt, das sich nirgends an die von mir vertretene Anschauung anschließen will. Das ideelle Unbehagen muß überwunden werden, das daraus fließt, daß es irgend etwas gibt, von dem ich mir sagen müßte: ich sehe, es ist da; wenn ich ihm gegenübertrete, sieht es mich wie ein Fragezeichen an; aber ich finde nirgends in der Harmonie meiner Gedanken den Punkt, wo ich es einreihen könnte; die Fragen, die ich in Ansehung seiner stellen muß, bleiben unbeantwortet; ich mag mein Gedankensystem drehen und wenden, wie ich will.

Daraus ersehen wir, wessen wir in Ansehung eines jeden Dinges bedürfen. Wenn ich ihm gegenübertrete, starrt es mich als einzelnes an. In mir drängt die Gedankenwelt jenem Punkte zu, wo der Begriff des Dinges liegt. Ich ruhe nicht eher, bis das, was mir zuerst als einzelnes gegenübergetreten ist, als Glied innerhalb der Gedankenwelt erscheint. So löst sich das einzelne als solches auf und erscheint in einem großen Zusammenhange. Jetzt ist es von der andern Gedankenmasse beleuchtet, jetzt ist es dienendes Glied; und es ist mir völlig klar, was es innerhalb der großen Harmonie zu bedeuten hat. Das geht in uns vor, wenn wir einem Gegenstande der Erfahrung betrachtend gegenübertreten. Aller Fortschritt der Wissenschaft beruht auf dem Gewahrwerden des Punktes, wo sich irgend eine Erscheinung in die Harmonie der Gedankenwelt eingliedern läßt. Man darf das nicht mißverstehen. Es kann nicht so gemeint sein, als wenn jede Erscheinung durch die hergebrachten Begriffe erklärbar sein müsse; als ob unsere Ideenwelt abgeschlossen wäre und alles neu zu erfahrende sich mit irgendeinem Begriffe, den wir schon besitzen, decken müsse. Jenes Drängen der Gedankenwelt kann auch zu einem Punkte hingehen, der bisher überhaupt noch von keinem Menschen gedacht worden ist. Und das ideelle Fortschreiten der Geschichte der Wissenschaft beruht gerade darauf, daß das Denken neue Ideengebilde an die Oberfläche wirft. Jedes solche Gedankengebilde hängt mit tausend Fäden mit allen andern möglichen Gedanken zusammen. Mit diesem Begriffe in dieser, mit einem andern in einer andern Weise. Und darinnen besteht die wissenschaftliche Methode, daß wir den Begriff einer einzelnen Erscheinung in seinem Zusammenhange mit der übrigen ldeenwelt aufzeigen. Wir nennen diesen Vorgang: Ableiten (Beweisen) des Begriffes. Alles wissenschaftliche Denken besteht aber nur darinnen, daß wir die bestehenden Übergänge von Begriff zu Begriff finden, besteht in dem Hervorgehenlassen eines Begriffes aus dem andern. Hin- und Herbewegung unseres Denkens von Begriff zu Begriff, das ist wissenschaftliche Methode. Man wird sagen, das sei ja die alte Geschichte von der Korrespondenz von Begriffswelt und Erfahrungswelt. Wir müßten voraussetzen, daß die Welt außer uns (das Transsubjektive) unserer Begriffswelt korrespondiere, wenn wir glauben sollen, daß das Hin-und Hergehen von Begriff zu Begriff zu einem Bilde der Wirklichkeit führe. Das ist aber nur eine verfehlte Auffassung des Verhältnisses von Einzelgebilde und Begriff. Wenn ich einem Gebilde der Erfahrungswelt gegenübertrete, so weiß ich überhaupt gar nicht, was es ist. Erst, wenn ich es überwunden, wenn mir sein Begriff aufgeleuchtet hat, dann weiß ich, was ich vor mir habe. Das will doch aber nicht sagen, daß jenes Einzelgebilde und der Begriff zwei verschiedene Dinge sind. Nein, sie sind dasselbe; und was mir im besonderen gegenübertritt, ist nichts als der Begriff. Der Grund, warum ich jenes Gebilde als abgesondertes, von der andern Wirklichkeit getrenntes Stück sehe, ist eben der, daß ich es seiner Wesenheit nach noch nicht erkenne, daß es mir noch nicht als das entgegentritt, was es ist. Daraus ergibt sich das Mittel, unsere wissenschaftliche Methode weiter zu charakterisieren. Jedes einzelne Wirklichkeitsgebilde repräsentiert innerhalb des Gedankensystems einen bestimmten Inhalt. Es ist in der Allheit der Ideenwelt begründet und kann nur im Zusammenhange mit ihr begriffen werden. So muß notwendig jedes Ding zu einer doppelten Denkarbeit auffordern. Zuerst ist der Gedanke in scharfen Konturen festzustellen, der ihm entspricht, und hernach sind alle Fäden festzustellen, die von diesem Gedanken zur Gesamt-Gedankenwelt führen. Klarheit im einzelnen und Tiefe im ganzen sind die zwei bedeutendsten Erfordernisse der Wirklichkeit. Jene ist Sache des Verstandes, diese Sache der Vernunft. Der Verstand schafft Gedankengebilde für die einzelnen Dinge der Wirklichkeit. Er entspricht seiner Aufgabe um so mehr, je genauer er dieselben umgrenzt, je schärfere Konturen er zieht. Die Vernunft hat dann diese Gebilde in die Harmonie der gesamten Ideenwelt einzureihen. Das setzt natürlich folgendes voraus: In dem Inhalte der Gedankengebilde, die der Verstand schafft, ist jene Einheit schon, lebt schon ein und dasselbe Leben; nur hält der Verstand alles künstlich auseinander. Die Vernunft hebt, ohne die Klarheit zu verwischen, nur die Trennung wieder auf. Der Verstand entfernt uns von der Wirklichkeit, die Vernunft führt uns auf sie wieder zurück. Graphisch wird sich das so darstellen:

In dem umstehenden Gebilde hängt alles zusammen; es lebt in allen Teilen dasselbe Prinzip. Der Verstand schafft die Trennung der einzelnen Gebilde, weil sie uns ja in dem Gegebenen als einzelne gegenübertreten91,und die Vernunft erkennt die Einheitlichkeit.92 Wenn wir folgende zwei Wahrnehmungen haben: 1. die einfallenden Sonnenstrahlen und 2. einen erwärmten Stein, so hält der Verstand die beiden Dinge auseinander, weil sie uns als zwei gegenübertreten; er hält das eine als Ursache, das andere als Wirkung fest; dann tritt die Vernunft hinzu, reißt die Scheidewand nieder und erkennt die Einheit in der Zweiheit. Alle Begriffe, die der Verstand schafft: Ursache und Wirkung, Substanz und Eigenschaft, Leib und Seele, Idee und Wirklichkeit, Gott und Welt usw. sind nur da, um die einheitliche Wirklichkeit künstlich auseinanderzuhalten; und die Vernunft hat, ohne den damit geschaffenen Inhalt zu verwischen, ohne die Klarheit des Verstandes mystisch zu verdunkeln, in der Vielheit die innere Einheit aufzusuchen. Sie kommt damit auf das zurück, wovon sich der Verstand entfernt hat, auf die einheitliche Wirklichkeit. Will man eine genaue Nomenklatur haben, so nenne man die Verstandsgebilde Begriffe, die Vernunftschöpfungen Ideen. Und man sieht, daß der Weg der Wissenschaft ist: sich durch den Begriff zur Idee zu erheben. Und hier ist der Ort, wo sich uns in der klarsten Weise das subjektive und das objektive Element unseres Erkennens auseinanderlegen. Es ist ersichtlich, daß die Trennung nur subjektiven Bestand hat, nur durch unsern Verstand geschaffen ist. Es kann mich nicht hindern, daß ich ein und dieselbe objektive Einheit in Gedankengebilde zerlege, die von denen meines Mitmenschen verschieden sind; das hindert nicht, daß meine Vernunft in der Verbindung wieder zu derselben objektiven Einheit gelangt, von der wir ja beide ausgegangen sind. Das einheitliche Wirklichkeitsgebilde sei sinnbildlich dargestellt [Figur 1]. Ich trenne es verstandesgemäß so, wie Fig. 2; ein anderer anders, wie Fig. 3.

Wir fassen es vernunftgemäß zusammen und erhalten dasselbe Gebilde. Damit wird es uns erklärlich, wie die Menschen so verschiedene Begriffe, so verschiedene Anschauungen von der Wirklichkeit haben können, trotzdem diese doch nur eine sein kann. Die Verschiedenheit liegt in der Verschiedenheit unserer Verstandeswelten. Damit verbreitet sich für uns ein Licht über die Entwicklung verschiedener wissenschaftlicher Standpunkte. Wir begreifen, woher die vielfachen philosophischen Standpunkte kommen, und haben nicht nötig, ausschließlich einer die Palme der Wahrheit zuzuerkennen. Wir wissen auch, welchen Standpunkt wir selbst gegenüber der Vielheit menschlicher Anschauungen einzunehmen haben. Wir werden nicht ausschließlich fragen: Was ist wahr, was ist falsch? Wir werden immer untersuchen, in welcher Art die Verstandeswelt eines Denkers aus der Weltharmonie hervorgeht; wir werden zu begreifen suchen und nicht aburteilen und sogleich als Irrtum ansehen, was mit der eigenen Auffassung nicht übereinstimmt. Zu diesem Quell der Verschiedenheit unserer wissenschaftlichen Standpunkte tritt dadurch ein neuer, daß jeder einzelne Mensch ein anderes Erfahrungsfeld hat. Es tritt ja jedem aus der gesamten Wirklichkeit gleichsam ein Ausschnitt gegenüber. Diesen bearbeitet sein Verstand, und der ist ihm der Vermittler auf dem Wege zur Idee. Wenn wir also auch alle dieselbe Idee wahrnehmen, so ist das doch immer auf andern Gebieten der Fall. Es kann also nur das Endresultat, zu dem wir kommen, dasselbe sein; die Wege hingegen können verschieden sein. Es kommt überhaupt gar nicht darauf an, daß die einzelnen Urteile und Begriffe, aus denen sich unser Wissen zusammensetzt, übereinstimmen, sondern nur darauf, daß sie uns zuletzt dahin führen, daß wir in dem Fahrwasser der Idee schwimmen. Und in diesem Fahrwasser müssen sich zuletzt alle Menschen treffen, wenn sie energisches Denken über ihren Sonderstandpunkt hinausführt. Es kann ja möglich sein, daß uns eine beschränkte Erfahrung oder ein unproduktiver Geist zu einer einseitigen, unvollständigen Ansicht führt; aber selbst die geringste Summe dessen, was wir erfahren, muß uns zuletzt zur Idee führen; denn zur letzteren erheben wir uns nicht durch eine mehr oder weniger große Erfahrung, sondern allein durch unsere Fähigkeiten als menschliche Persönlichkeit. Eine beschränkte Erfahrung kann nur zur Folge haben, daß wir die Idee in einseitiger Weise aussprechen, daß wir über geringe Mittel verfügen, das Licht, das in uns leuchtet, zum Ausdruck zu bringen; sie kann uns aber nicht überhaupt hindern, jenes Licht in uns aufgehen zu lassen. Ob unsere wissenschaftliche oder überhaupt Weltansicht auch vollständig sei, das ist neben der nach ihrer geistigen Tiefe eine ganz andere Frage. Wenn man nun an Goethe wieder herantritt, so wird man viele seiner Darlegungen, mit unseren Ausführungen in diesem Kapitel zusammengehalten, als einfache Konsequenzen der letzteren erkennen. Dieses Verhältnis halten wir für das einzig richtige zwischen Autor und Ausleger. Wenn Goethe sagt: »Kenne ich mein Verhältnis zu mir selbst und zur Außenwelt, so heiß' ich's Wahrheit. Und so kann jeder seine eigene Wahrheit haben und es ist doch immer dieselbige« (»Sprüche in Prosa«; Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 349), so ist das nur mit Voraussetzung dessen, was wir hier entwickelt haben, zu verstehen.


91 Diese Trennung ist durch die absondernden ganz ausgezogenen Linien charakterisiert. 
92 Dieselbe ist durch die punktierten Linien versinnlicht.

Dogmatische und immanente Methode

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