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D. Die Wissenschaft

11. Denken und Wahrnehmung

Die Wissenschaft durchtränkt die wahrgenommene Wirklichkeit mit den von unserm Denken erfaßten und durchgearbeiteten Begriffen. Sie ergänzt und vertieft das passiv Aufgenommene durch das, was unser Geist selbst durch seine Tätigkeit aus dem Dunkel der bloßen Möglichkeit in das Licht der Wirklichkeit emporgehoben hat. Das setzt voraus, daß die Wahrnehmung der Ergänzung durch den Geist bedarf, daß sie überhaupt kein Endgültiges, Letztes, Abgeschlossenes ist.

Es ist der Grundirrtum der modernen Wissenschaft, daß sie die Wahrnehmung der Sinne schon für etwas Abgeschlossenes, Fertiges ansieht. Deshalb stellt sie sich die Aufgabe, dieses in sich vollendete Sein einfach zu photographieren. Konsequent ist in dieser Hinsicht wohl nur der Positivismus, der jedes Hinausgehen über die Wahrnehmung einfach ablehnt. Doch sieht man heute fast in allen Wissenschaften das Bestreben, diesen Standpunkt als den richtigen anzusehen. Im wahren Sinne des Wortes würde dieser Forderung nur eine solche Wissenschaft genügen, welche einfach die Dinge, wie sie nebeneinander im Raume vorhanden sind, und die Ereignisse, wie sie zeitlich aufeinander folgen, aufzählt und beschreibt. Die Naturgeschichte alten Stiles kommt dieser Forderung noch am nächsten. Die neuere verlangt zwar dasselbe, stellt eine vollständige Theorie der Erfahrung auf, um sie - sogleich zu übertreten, wenn sie den ersten Schritt in der wirklichen Wissenschaft unternimmt.

Wir müßten uns unseres Denkens vollkommen entäußern, wollten wir an der reinen Erfahrung festhalten. Man setzt das Denken herab, wenn man ihm die Möglichkeit entzieht, in sich selbst Wesenheiten wahrzunehmen, die den Sinnen unzugänglich sind. Es muß in der Wirklichkeit außer den Sinnesqualitäten noch einen Faktor geben, der vom Denken erfaßt wird. Das Denken ist ein Organ des Menschen, das bestimmt ist, Höheres zu beobachten als die Sinne bieten. Dem Denken ist jene Seite der Wirklichkeit zugänglich, von der ein bloßes Sinnenwesen nie etwas erfahren würde. Nicht die Sinnlichkeit wiederzukäuen ist es da, sondern das zu durchdringen, was dieser verborgen ist. Die Wahrnehmung der Sinne liefert nur eine Seite der Wirklichkeit. Die andere Seite ist die denkende Erfassung der Welt. Nun tritt uns aber im ersten Augenblick das Denken als etwas der Wahrnehmung ganz Fremdes entgegen. Die Wahrnehmung dringt von außen auf uns ein; das Denken arbeitet sich aus unserm Inneren heraus. Der Inhalt dieses Denkens erscheint uns als innerlich vollkommener Organismus; alles ist im strengsten Zusammenhange. Die einzelnen Glieder des Gedankensystems bestimmen einander; jeder einzelne Begriff hat zuletzt seine Wurzel in der Allheit unseres Gedankengebäudes.

Auf den ersten Blick erscheint es, als ob die innere Widerspruchslosigkeit des Denkens, seine Selbstgenügsamkeit jeden Übergang zur Wahrnehmung unmöglich mache. Wären die Bestimmungen des Denkens solche, daß man ihnen nur auf eine Art genügen könnte, dann wäre es wirklich in sich selbst abgeschlossen; wir könnten aus demselben nicht heraus. Das ist aber nicht der Fall. Diese Bestimmungen sind solche, daß ihnen auf mannigfache Weise Genüge geschehen kann. Nur darf dann dasjenige Element, welches diese Mannigfaltigkeit bewirkt, nicht selbst innerhalb des Denkens gesucht werden. Nehmen wir die Gedankenbestimmung:

Die Erde zieht jeden Körper an, so werden wir alsbald bemerken, daß der Gedanke die Möglichkeit offen läßt, in der verschiedensten Weise erfüllt zu werden. Das sind aber Verschiedenheiten, die mit dem Denken nicht mehr erreichbar sind. Da ist Platz für ein anderes Element. Dieses Element ist die Sinneswahrnehmung. Die Wahrnehmung bietet eine solche Art der Spezialisierung der Gedankenbestimmungen, die von den letzteren selbst offen gelassen ist.

Diese Spezialisierung ist es, in der uns die Welt gegenübertritt, wenn wir uns bloß der Erfahrung bedienen. Psychologisch ist das das erste, was sachlich genommen das Abgeleitete ist.

Bei aller wissenschaftlichen Bearbeitung der Wirklichkeit ist der Vorgang dieser: Wir treten der konkreten Wahrnehmung gegenüber. Sie steht wie ein Rätsel vor uns. In uns macht sich der Drang geltend, ihr eigentliches Was, ihr Wesen, das sie nicht selbst ausspricht, zu erforschen. Dieser Drang ist nichts anderes als das Emporarbeiten eines Begriffes aus dem Dunkel unseres Bewußtseins. Diesen Begriff halten wir dann fest, während die sinnenfällige Wahrnehmung mit diesem Denkprozesse parallel geht. Die stumme Wahrnehmung spricht plötzlich eine uns verständliche Sprache; wir erkennen, daß der Begriff, den wir gefaßt haben, jenes gesuchte Wesen der Wahrnehmung ist.

Was sich da vollzogen hat, ist ein Urteil. Es ist verschieden von jener Gestalt des Urteils, die zwei Begriffe verbindet, ohne auf die Wahrnehmung Rücksicht zu nehmen. Wenn ich sage: Die Freiheit ist die Bestimmung eines Wesens aus sich selbst heraus, so habe ich auch ein Urteil gefällt. Die Glieder dieses Urteils sind Begriffe, die ich nicht in der Wahrnehmung gegeben habe. Auf solchen Urteilen beruht die innere Einheitlichkeit unseres Denkens, die wir im vorigen Kapitel behandelt haben.

Das Urteil, welches hier in Betracht kommt, hat zum Subjekte eine Wahrnehmung, zum Prädikate einen Begriff. Dieses bestimmte Tier, das ich vor mir habe, ist ein Hund. In einem solchen Urteile wird eine Wahrnehmung in mein Gedankensystem an einem bestimmten Orte eingefügt. Nennen wir ein solches Urteil ein Wahrnehmungsurteil.

Durch das Wahrnehmungsurteil wird erkannt, daß ein bestimmter sinnenfälliger Gegenstand seiner Wesenheit nach mit einem bestimmten Begriffe zusammenfällt.

Wollen wir also begreifen, was wir wahrnehmen, dann muß die Wahrnehmung als bestimmter Begriff in uns vorgebildet sein. An einem Gegenstande, bei dem das nicht der Fall wäre, gingen wir, ohne daß er uns verständlich wäre, vorüber.

Daß das so ist, dafür liefert wohl der Umstand den besten Beweis, daß Personen, welche ein reicheres Geistesleben führen, auch viel tiefer in die Erfahrungswelt eindringen, als andere, bei denen das nicht der Fall ist. Vieles, was an den letzteren spurlos vorübergeht, macht auf die ersteren einen tiefen Eindruck. («Wär’ nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt' es nie erblicken.») Ja aber, wird man sagen, treten wir nicht im Leben unendlich vielen Dingen entgegen, von denen wir uns bisher nicht den leisesten Begriff gemacht haben; und bilden wir uns denn nicht an Ort und Stelle sogleich Begriffe von ihnen? Ganz wohl. Aber ist denn die Summe aller möglichen Begriffe mit der Summe derer, die ich mir in meinem bisherigen Leben gebildet habe, identisch? Ist mein Begriffssystem nicht entwicklungsfähig? Kann ich im Angesichte einer mir unverständlichen Wirklichkeit nicht sogleich mein Denken in Wirksamkeit versetzen, auf daß es eben auch an Ort und Stelle den Begriff entwickle, den ich einem Gegenstande entgegenzuhalten habe? Es ist für mich nur die Fähigkeit erforderlich, einen bestimmten Begriff aus dem Fonds der Gedankenwelt hervorgehen zu lassen. Nicht darum handelt es sich, daß mir ein bestimmter Gedanke im Laufe meines Lebens schon bewußt war, sondern darum, daß er sich aus der Welt der mir erreichbaren Gedanken ableiten läßt. Das ist ja für seinen Inhalt unwesentlich, wo und wann ich ihn erfasse., Ich entnehme ja alle Bestimmungen des Gedankens aus der Gedankenwelt. Von dem Sinnesobjekte fließt in diesen Inhalt ja doch nichts ein. Ich erkenne in dem Sinnesobjekt den Gedanken, den ich aus meinem Inneren herausgeholt, nur wieder. Dieses Objekt veranlaßt mich zwar, in einem bestimmten Augenblicke gerade diesen Gedankeninhalt aus der Einheit aller möglichen Gedanken herauszutreiben, aber es liefert mir keineswegs die Bausteine zu denselben. Die muß ich aus mir selbst herausholen.

Wenn wir unser Denken wirken lassen, bekommt die Wirklichkeit erst wahrhafte Bestimmungen. Sie, die vorher stumm war, redet eine deutliche Sprache.

Unser Denken ist der Dolmetsch, der die Gebärden der Erfahrung deutet.

Man ist so gewohnt, die Welt der Begriffe für eine leere, inhaltslose anzusehen, und ihr die Wahrnehmung als das Inhaltsvolle, durch und durch Bestimmte gegenüberzustellen, daß es für den wahren Sachverhalt schwer sein wird, sich die ihm gebührende Stellung zu erringen. Man übersieht vollständig, daß die bloße Anschauung das Leerste ist, was sich nur denken läßt, und daß sie allen Inhalt erst aus dem Denken erhält. Das einzige Wahre an der Sache ist, daß sie den immer flüssigen Gedanken in einer bestimmten Form festhält, ohne daß wir nötig haben, zu diesem Festhalten tätig mitzuwirken. Wenn der eine, der ein reiches Seelenleben hat, tausend Dinge sieht, die für den geistig Armen eine Null sind, so beweist das sonnenklar, daß der Inhalt der Wirklichkeit nur das Spiegelbild des Inhaltes unseres Geistes ist und daß wir von außen nur die leere Form empfangen. Freilich müssen wir die Kraft in uns haben, uns als die Erzeuger dieses Inhaltes zu erkennen, sonst sehen wir ewig nur das Spiegelbild, nie unseren Geist, der sich spiegelt. Auch der sich in einem faktischen Spiegel sieht, muß sich ja selbst als Persönlichkeit erkennen, um sich im Bilde wieder zu erkennen.

Alle Sinnenwahrnehmung löst sich, was das Wesen betrifft, zuletzt in ideellen Inhalt auf. Dann erst erscheint sie uns als durchsichtig und klar. Die Wissenschaften sind vielfach von dem Bewußtsein dieser Wahrheit nicht einmal berührt. Man hält die Gedankenbestimmung für Merkmale der Gegenstände, wie Farbe, Geruch usw. So glaubt man, die Bestimmung sei eine Eigenschaft aller Körper, daß sie in dem Zustande der Bewegung oder Ruhe, in dem sie sich befinden, so lange verharren, bis ein äußerer Einfluß denselben ändert. In dieser Form figuriert das Gesetz vom Beharrungsvermögen in der Naturlehre. Der wahre Tatbestand ist aber ein ganz anderer. In meinem Begriffssystem besteht der Gedanke Körper in vielen Modifikationen. Die eine ist der Gedanke eines Dinges, das sich aus sich selbst heraus in Ruhe oder Bewegung setzen kann, eine andere der Begriff eines Körpers, der nur infolge äußeren Einflusses seinen Zustand verändert. Letztere Körper bezeichne ich als unorganische. Tritt mir dann ein bestimmter Körper entgegen, der mir in der Wahrnehmung meine obige Begriffsbestimmung widerspiegelt, so bezeichne ich ihn als unorganisch und verbinde mit ihm alle Bestimmungen, die aus dem Begriffe des unorganischen Körpers folgen.

Die Überzeugung sollte alle Wissenschaften durchdringen, daß ihr Inhalt lediglich Gedankeninhalt ist und daß sie mit der Wahrnehmung in keiner anderen Verbindung stehen, als daß sie im Wahrnehmungsobjekte eine besondere Form des Begriffes sehen. 

12. Verstand und Vernunft

Unser Denken hat eine zweifache Aufgabe zu vollbringen: erstens, Begriffe mit scharf umrissenen Konturen zu schaffen; zweitens, die so geschaffenen Einzelbegriffe zu einem einheitlichen Ganzen zusammenzufassen. Im ersten Falle handelt es sich um die unterscheidende Tätigkeit, im zweiten um die verbindende. Diese beiden geistigen Tendenzen erfreuen sich in den Wissenschaften keineswegs der gleichen Pflege. Der Scharfsinn, der bis zu den geringsten Kleinigkeiten in seinen Unterscheidungen herabgeht, ist einer bedeutend größeren Zahl von Menschen gegeben als die zusammenfassende Kraft des Denkens, die in die Tiefe der Wesen dringt.

Lange Zeit hat man die Aufgabe der Wissenschaft überhaupt nur in einer genauen Unterscheidung der Dinge gesucht. Wir brauchen nur des Zustandes zu gedenken, in dem Goethe die Naturgeschichte vorfand. Durch Linné war es ihr zum Ideale geworden, genau die Unterschiede der einzelnen Pflanzenindividuen zu suchen, um so die geringfügigsten Merkmale benutzen zu können, neue Arten und Unterarten aufzustellen. Zwei Tier- oder Pflanzenspezies, die sich nur in höchst unwesentlichen Dingen unterscheiden, wurden sogleich verschiedenen Arten zugerechnet. Fand man an irgendeinem Lebewesen, das man bisher irgendeiner Art zugerechnet, eine unerwartete Abweichung von dem willkürlich aufgestellten Artcharakter, so dachte man nicht nach: wie sich eine solche Abweichung aus diesem Charakter selbst erklären lasse, sondern man stellte einfach eine neue Art auf.

Diese Unterscheidung ist die Sache des Verstandes. Er hat nur zu trennen und die Begriffe in der Trennung festzuhalten. Er ist eine notwendige Vorstufe jeder höheren Wissenschaftlichkeit. Vor allem bedarf es ja festbestimmter, klar umrissener Begriffe, ehe wir nach einer Harmonie derselben suchen können. Aber wir dürfen bei der Trennung nicht stehen bleiben. Für den Verstand sind Dinge getrennt, die in einer harmonischen Einheit zu sehen, ein wesentliches Bedürfnis der Menschheit ist. Für den Verstand sind getrennt: Ursache und Wirkung, Mechanismus und Organismus, Freiheit und Notwendigkeit, Idee und Wirklichkeit, Geist und Natur und so weiter. Alle diese Unterscheidungen sind durch den Verstand herbeigeführt. Sie müssen herbeigeführt werden, weil uns sonst die Welt als ein verschwommenes, dunkles Chaos erschiene, das nur deshalb eine Einheit bildete, weil es für uns völlig unbestimmt wäre.

Der Verstand selbst ist nicht in der Lage, über diese Trennung hinauszukommen. Er hält die getrennten Glieder fest.

Dieses Hinauskommen ist Sache der Vernunft. Sie hat die vom Verstande geschaffenen Begriffe ineinander übergehen zu lassen. Sie hat zu zeigen, daß das, was der Verstand in strenger Trennung festhält, eigentlich eine innerliche Einheit ist. Die Trennung ist etwas künstlich herbeigeführtes, ein notwendiger Durchgangspunkt für unser Erkennen, nicht dessen Abschluß. Wer die Wirklichkeit bloß verstandesmäßig erfaßt, entfernt sich von ihr. Er setzt an ihre Stelle, da sie in Wahrheit eine Einheit ist, eine künstliche Vielheit, eine Mannigfaltigkeit, die mit dem Wesen der Wirklichkeit nichts zu tun hat.

Daher rührt der Zwiespalt, in den die verstandesmäßig betriebene Wissenschaft mit dem menschlichen Herzen kommt. Viele Menschen, deren Denken nicht so ausgebildet ist, daß sie es bis zu einer einheitlichen Weltansicht bringen, die sie in voller begrifflicher Klarheit erfassen, sind aber sehr wohl imstande, die innere Harmonie des Weltganzen mit dem Gefühle zu durchdringen. Ihnen gibt das Herz, was dem wissenschaftlich Gebildeten die Vernunft bietet.

Tritt an solche Menschen die Verstandesansicht der Welt heran, so weisen sie mit Verachtung die unendliche Vielheit zurück und halten sich an die Einheit, die sie wohl nicht erkennen, aber mehr oder minder lebhaft empfinden. Sie sehen sehr wohl, daß der Verstand sich von der Natur entfernt, daß er das geistige Band aus dem Auge verliert, das die Teile der Wirklichkeit verbindet.

Die Vernunft führt wieder zur Wirklichkeit zurück. Die Einheitlichkeit alles Seins, die früher gefühlt oder gar nur dunkel geahnt wurde, wird von der Vernunft vollkommen durchschaut. Die Verstandesansicht muß durch die Vernunftansicht vertieft werden. Wird die erste statt für einen notwendigen Durchgangspunkt für Selbstzweck angesehen, dann liefert sie nicht die Wirklichkeit, sondern ein Zerrbild derselben.

Es macht bisweilen Schwierigkeiten, die durch den Verstand geschaffenen Gedanken zu verbinden. Die Geschichte der Wissenschaften liefert uns vielfache Beweise dafür. Oft sehen wir den Menschengeist ringen, von dem Verstande geschaffene Differenzen zu überbrücken.

In der Vernunftansicht von der Welt geht der Mensch in der letzteren in ungetrennter Einheit auf.

Kant hat auf den Unterschied von Verstand und Vernunft bereits hingewiesen. Er bezeichnet die Vernunft als das Vermögen, Ideen wahrzunehmen; wogegen der Verstand darauf beschränkt ist, bloß die Welt in ihrer Getrenntheit, Vereinzelung zu schauen.

Die Vernunft ist nun in der Tat das Vermögen, Ideen wahrzunehmen. Wir müssen hier den Unterschied zwischen Begriff und Idee feststellen, den wir bisher außer acht gelassen haben. Für unsere bisherigen Zwecke kam es nur darauf an, jene Qualitäten des Gedankenmäßigen, die sich in Begriff und Idee darleben, zu finden. Begriff ist der Einzelgedanke, wie er vom Verstande festgehalten wird. Bringe ich eine Mehrheit von solchen Einzelgedanken in lebendigen Fluß, so daß sie ineinander übergehen, sich verbinden, so entstehen gedankenmäßige Gebilde, die nur für die Vernunft da sind, die der Verstand nicht erreichen kann. Für die Vernunft geben die Geschöpfe des Verstandes ihre gesonderten Existenzen auf und leben nur mehr als ein Teil einer Totalität weiter. Diese von der Vernunft geschaffenen Gebilde sollen Ideen heißen.

Daß die Idee eine Vielheit von Verstandesbegriffen auf eine Einheit zurückführt, das hat auch schon Kant ausgesprochen. Er hat jedoch die Gebilde, die durch die Vernunft zur Erscheinung kommen, als bloße Trugbilder hingestellt, als Illusionen, die sich der Menschengeist ewig vorspiegelt, weil er ewig nach einer Einheit der Erfahrung strebt, die ihm nirgend gegeben ist. Die Einheiten, die in den Ideen geschaffen werden, beruhen nach Kant nicht auf objektiven Verhältnissen, sie fließen nicht aus der Sache selbst, sondern sind bloß subjektive Normen, nach denen wir Ordnung in unser Wissen bringen. Kant bezeichnet daher die Ideen nicht als konstitutive Prinzipien, die für die Sache maßgebend sein müßten, sondern als regulative, die allein für die Systematik unseres Wissens Sinn und Bedeutung haben.

Sieht man aber auf die Art, wie die Ideen zustande kommen, so erweist sich diese Ansicht sogleich als irrtümlich. Es ist zwar richtig, daß die subjektive Vernunft das Bedürfnis nach Einheit hat. Aber dieses Bedürfnis ist ohne allen Inhalt, ein leeres Einheitsbestreben. Tritt ihm etwas entgegen, das absolut jeder einheitlichen Natur entbehrt, so kann es diese Einheit nicht selbst aus sich heraus erzeugen. Tritt ihm hingegen eine Vielheit entgegen, die ein Zurückführen auf eine innere Harmonie gestattet, dann vollbringt sie dasselbe. Eine solche Vielheit ist die vom Verstande geschaffene Begriffswelt.

Die Vernunft setzt nicht eine bestimmte Einheit voraus, sondern die leere Form der Einheitlichkeit, sie ist das Vermögen, die Harmonie an das Tageslicht zu ziehen, wenn sie im Objekte selbst liegt. Die Begriffe setzen sich in der Vernunft selbst zu Ideen zusammen. Die Vernunft bringt die höhere Einheit der Verstandesbegriffe zum Vorschein, die der Verstand in seinen Gebilden zwar hat, aber nicht zu sehen vermag. Daß dies übersehen wird, ist der Grund vieler Mißverständnisse über die Anwendung der Vernunft in den Wissenschaften.

In geringem Grade hat jede Wissenschaft schon in den Anfängen, ja das alltägliche Denken schon Vernunft nötig. Wenn wir in dem Urteile: Jeder Körper ist schwer, den Subjektsbegriff mit dem Prädikatsbegriff verbinden, so liegt darinnen schon eine Vereinigung von zwei Begriffen, also die einfachste Tätigkeit der Vernunft.

Die Einheit, welche die Vernunft zu ihrem Gegenstande macht, ist vor allem Denken, vor allem Vernunftgebrauche gewiß; nur ist sie verborgen, ist nur der Möglichkeit nach vorhanden, nicht als faktische Erscheinung. Dann führt der Menschengeist die Trennung herbei, um im vernunftgemäßen Vereinigen der getrennten Glieder die Wirklichkeit vollständig zu durchschauen.

Wer das nicht voraussetzt, muß entweder alle Gedankenverbindung als eine Willkür des subjektiven Geistes ansehen, oder er muß annehmen, daß die Einheit hinter der von uns erlebten Welt stehe und uns auf eine uns unbekannte Weise zwinge, die Mannigfaltigkeit auf eine Einheit zurückzuführen. Dann verbinden wir Gedanken ohne Einsicht in die wahren Gründe des Zusammenhanges, den wir herstellen; dann ist die Wahrheit nicht von uns erkannt, sondern uns von außen aufgedrängt. Alle Wissenschaft, welche von dieser Voraussetzung ausgeht, möchten wir eine dogmatische nennen. Wir werden noch darauf zurückkommen.

Jede solche wissenschaftliche Ansicht wird auf Schwierigkeiten stoßen, wenn sie Gründe angeben soll, warum wir diese oder jene Gedankenverbindung vollziehen. Sie hat sich nämlich nach subjektiven Gründen der Zusammenfassung von Objekten umzusehen, deren objektiver Zusammenhang uns verborgen bleibt. Warum vollziehe ich ein Urteil, wenn die Sache, die die Zusammengehörigkeit von Subjekt- und Prädikatbegriff fordert, mit dem Fällen desselben nichts zu tun hat?

Kant hat diese Frage zum Ausgangspunkte seiner kritischen Arbeit gemacht. Wir finden am Anfange seiner «Kritik der reinen Vernunft» die Frage: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich? das heißt, wie ist es möglich, daß ich zwei Begriffe (Subjekt, Prädikat) verbinde, wenn nicht der Inhalt des einen schon in dem andern enthalten ist und wenn das Urteil kein bloßes Erfahrungsurteil, d. i. das Feststellen einer einzigen Tatsache ist? Kant meint, solche Urteile seien nur dann möglich, wenn Erfahrung nur unter der Voraussetzung ihrer Gültigkeit bestehen kann. Die Möglichkeit der Erfahrung ist also für uns maßgebend, um ein solches Urteil zu vollziehen. Wenn ich mir sagen kann: nur dann, wenn dieses oder jenes synthetische Urteil apriori wahr ist, ist Erfahrung möglich, dann hat es Gültigkeit. Auf die Ideen selbst aber ist das nicht anzuwenden. Diese haben nach Kant nicht einmal diesen Grad von Objektivität.

Kant findet, daß die Sätze der Mathematik und der reinen Naturwissenschaft solche gültige synthetische Sätze a priori sind. Er nimmt da zum Beispiel den Satz 7 + 5 = 12. In 7 und 5 ist die Summe 12 keineswegs enthalten, so schließt Kant. Ich muß über 7 und 5 hinausgehen und an meine Anschauung appellieren, dann finde ich den Begriff 12. Meine Anschauung macht es notwendig, daß 7 + 5 = 12 vorgestellt wird. Meine Erfahrungsobjekte müssen aber durch das Medium meiner Anschauung an mich herantreten, sich also deren Gesetzen fügen. Wenn Erfahrung möglich sein soll, müssen solche Sätze richtig sein.

Vor einer objektiven Erwägung hält dieses ganze künstliche Gedankengebäude Kants nicht stand. Es ist unmöglich, daß ich im Subjektbegriffe gar keinen Anhaltspunkt habe, der mich zum Prädikatbegriffe führt. Denn beide Begriffe sind von meinem Verstande gewonnen und das an einer Sache, die in sich einheitlich ist. Man täusche sich hier nicht. Die mathematische Einheit, welche der Zahl zugrunde liegt, ist nicht das erste. Das erste ist die Größe, welche eine so und so oftmalige Wiederholung der Einheit ist. Ich muß eine Größe voraussetzen, wenn ich von einer Einheit spreche. Die Einheit ist ein Gebilde unseres Verstandes, das er von einer Totalität abtrennt, so wie er die Wirkung von der Ursache, die Substanz von ihren Merkmalen scheidet usw. Indem ich nun 7 + 5 denke, halte ich in Wahrheit 12 mathematische Einheiten im Gedanken fest, nur nicht auf einmal, sondern in zwei Teilen. Denke ich die Gesamtheit der mathematischen Einheiten auf einmal, so ist das ganz dieselbe Sache. Und diese Identität spreche ich in dem Urteile 7 + 5 = 12 aus. Ebenso ist es mit dem geometrischen Beispiele, das Kant anführt. Eine begrenzte Gerade mit den Endpunkten A und B ist eine untrennbare Einheit. Mein Verstand kann sich zwei Begriffe davon bilden. Einmal kann er die Gerade als Richtung annehmen und dann als Weg zwischen den zwei Punkten A und B. Daraus fließt das Urteil: Die Gerade ist der kürzeste Weg zwischen zwei Punkten.

Alles Urteilen, insofern die Glieder, die in das Urteil eingehen, Begriffe sind, ist nichts weiter als eine Wiedervereinigung dessen, was der Verstand getrennt hat. Der Zusammenhang ergibt sich sofort, wenn man auf den Inhalt der Verstandesbegriffe eingeht.

13. Das Erkennen

Die Wirklichkeit hat sich uns in zwei Gebiete auseinandergelegt: in die Erfahrung und in das Denken. Die Erfahrung kommt in zweifacher Hinsicht in Betracht. Erstens insofern, als die gesamte Wirklichkeit außer dem Denken eine Erscheinungsform hat, die in der Erfahrungsform auftreten muß. Zweitens insofern, als es in der Natur unseres Geistes liegt, dessen Wesen ja in der Betrachtung besteht (also in einer nach außen gerichteten Tätigkeit), daß die zu beobachtenden Gegenstände in sein Gesichtsfeld einrücken, das heißt wieder ihm erfahrungsgemäß gegeben werden. Es kann nun sein, daß diese Form des Gegebenen das Wesen der Sache nicht in sich schließt, dann fordert die Sache selbst, daß sie zuerst in der Wahrnehmung (Erfahrung) erscheine, um später einer über die Wahrnehmung hinausgehenden Tätigkeit unseres Geistes das Wesen zu zeigen. Eine andere Möglichkeit ist die, daß in dem unmittelbar Gegebenen schon das Wesen liege und daß es nur dem zweiten Umstande, daß unserm Geiste alles als Erfahrung vor Augen treten muß, zuzuschreiben ist, wenn wir dieses Wesen nicht sogleich gewahr werden. Das letztere ist beim Denken, das erstere bei der übrigen Wirklichkeit der Fall. Beim Denken ist nur erforderlich, daß wir unsere subjektive Befangenheit überwinden, um es in seinem Kerne zu begreifen. Was bei der übrigen Wirklichkeit in der objektiven Wahrnehmung sachlich begründet liegt, daß die unmittelbare Form des Auftretens überwunden werden muß, um sie zu erklären, das liegt beim Denken nur in einer Eigentümlichkeit unseres Geistes. Dort ist es die Sache selbst, welche sich die Erfahrungsform gibt, hier ist es die Organisation unseres Geistes. Dort haben wir noch nicht die ganze Sache, wenn wir die Erfahrung auffassen, hier haben wir sie.

Darinnen liegt der Dualismus begründet, den die Wissenschaft, das denkende Erkennen, zu überwinden hat. Der Mensch findet sich zwei Welten gegenüber, deren Zusammenhang er herzustellen hat. Die eine ist die Erfahrung, von der er weiß, daß sie nur die Hälfte der Wirklichkeit enthält; die andere ist das Denken, das in sich vollendet ist, in das jene äußere Erfahrungswirklichkeit einfließen muß, wenn eine befriedigende Weltansicht resultieren soll. Wenn die Welt bloß von Sinnenwesen bewohnt wäre, so bliebe ihr Wesen (ihr ideeller Inhalt) stets im Verborgenen; die Gesetze würden zwar die Weltprozesse beherrschen, aber sie kämen nicht zur Erscheinung. Soll das letztere sein, so muß zwischen Erscheinungsform und Gesetz ein Wesen treten, dem sowohl Organe gegeben sind, durch die es jene sinnenfällige, von den Gesetzen abhängige Wirklichkeitsform wahrnimmt, als auch das Vermögen, die Gesetzlichkeit selbst wahrzunehmen. Von der einen Seite muß an ein solches Wesen die Sinnenwelt, von der anderen das ideelle Wesen derselben herantreten, und es muß in eigener Tätigkeit diese beiden Wirklichkeitsfaktoren verbinden.

Hier sieht man wohl ganz klar, daß unser Geist nicht wie ein Behälter der Ideenwelt anzusehen ist, der die Gedanken in sich enthält, sondern wie ein Organ, das dieselben wahrnimmt.

Er ist gerade so Organ des Auffassens wie Auge und Ohr. Der Gedanke verhält sich zu unserem Geiste nicht anders wie das Licht zum Auge, der Ton zum Ohr. Es fällt gewiß niemandem ein, die Farbe wie etwas anzusehen, das sich dem Auge als Bleibendes einprägt, das gleichsam haften bleibt an demselben. Beim Geiste ist diese Ansicht sogar die vorherrschende. Im Bewußtsein soll sich von jedem Dinge ein Gedanke bilden, der dann in demselben verbleibt, um aus demselben je nach Bedarf hervorgeholt zu werden. Man hat darauf eine eigene Theorie gegründet, als wenn die Gedanken, deren wir uns im Momente nicht bewußt sind, zwar in unserem Geiste aufbewahrt seien; nur liegen sie unter der Schwelle des Bewußtseins.

Diese abenteuerlichen Ansichten zerfließen sofort in nichts, wenn man bedenkt, daß die Ideenwelt doch eine aus sich heraus bestimmte ist. Was hat dieser durch sich selbst bestimmte Inhalt mit der Vielheit der Bewußtseine zu tun? Man wird doch nicht annehmen, daß er sich in unbestimmter Vielheit so bestimmt, daß immer der eine Teilinhalt von dem andern unabhängig ist! Die Sache liegt ja ganz klar. Der Gedankeninhalt ist ein solcher, daß nur überhaupt ein geistiges Organ notwendig ist zu seiner Erscheinung, daß aber die Zahl der mit diesem Organe begabten Wesen gleichgültig ist. Es können also unbestimmt viele geistbegabte Individuen dem einen Gedankeninhalte gegenüberstehen. Der Geist nimmt also den Gedankengehalt der Welt wahr, wie ein Auffassungsorgan. Es gibt nur einen Gedankeninhalt der Welt. Unser Bewußtsein ist nicht die Fähigkeit, Gedanken zu erzeugen und aufzubewahren, wie man so vielfach glaubt, sondern die Gedanken (Ideen) wahrzunehmen. Goethe hat dies so vortrefflich mit den Worten ausgedrückt: «Die Idee ist ewig und einzig; daß wir auch den Plural brauchen, ist nicht wohlgetan. Alles, was wir gewahr werden und wovon wir reden können, sind nur Manifestationen der Idee; Begriffe sprechen wir aus, und insofern ist die Idee selbst ein Begriff.»

Bürger zweier Welten, der Sinnen- und der Gedanken-welt, die eine von unten an ihn herandringend, die andere von oben leuchtend, bemächtigt sich der Mensch der Wissenschaft, durch die er beide in eine ungetrennte Einheit verbindet. Von der einen Seite winkt uns die äußere Form, von der andern das innere Wesen; wir müssen beide vereinigen. Damit hat sich unsere Erkenntnistheorie über jenen Standpunkt erhoben, den ähnliche Untersuchungen zumeist einnehmen und der nicht über Formalitäten hinauskommt. Da sagt man: «Das Erkennen sei Bearbeitung der Erfahrung», ohne zu bestimmen, was in die letztere hineingearbeitet wird; man bestimmt: «Im Erkennen fließe die Wahrnehmung in das Denken ein, oder das Denken dringe vermöge eines inneren Zwanges von der Erfahrung zu dem hinter derselben stehenden Wesen vor.» Das sind aber lauter bloße Formalitäten. Eine Erkenntniswissenschaft, welche das Erkennen in seiner weltbedeutsamen Rolle erfassen will, muß: erstens den idealen Zweck desselben angeben. Er besteht darinnen, der unabgeschlossenen Erfahrung durch das Enthüllen ihres Kernes ihren Abschluß zu geben. Sie muß, zweitens, bestimmen, was dieser Kern, inhaltlich genommen, ist. Er ist Gedanke, Idee. Endlich, drittens, muß sie zeigen, wie dieses Enthüllen geschieht. Unser Kapitel: «Denken und Wahrnehmung» gibt darüber Aufschluß. Unsere Erkenntnistheorie führt zu dem positiven Ergebnis, daß das Denken das Wesen der Welt ist und daß das individuelle menschliche Denken die einzelne Erscheinungsform dieses Wesens ist. Eine bloße formale Erkenntniswissenschaft kann das nicht, sie bleibt ewig unfruchtbar. Sie hat keine Ansicht darüber, welche Beziehung das, was die Wissenschaft gewinnt, zum Weltwesen und Weltgetriebe hat.

Und doch muß sich ja gerade in der Erkenntnistheorie diese Beziehung ergeben. Diese Wissenschaft muß uns doch zeigen, wohin wir durch unser Erkennen kommen, wohin uns jede andre Wissenschaft führt.

Auf keinem anderen als auf dem Wege der Erkenntnistheorie kommt man zu der Ansicht, daß das Denken der Kern der Welt ist. Denn sie zeigt uns den Zusammenhang des Denkens mit der übrigen Wirklichkeit. Woraus sollten wir aber vom Denken gewahr werden, in welcher Beziehung es zur Erfahrung steht, als aus der Wissenschaft, die sich diese Beziehung zu untersuchen direkt zum Ziele setzt? Und weiter, woher sollten wir von einem geistigen oder sinnlichen Wesen wissen, daß es die Urkraft der Welt ist, wenn wir seine Beziehung zur Wirklichkeit nicht untersuchten? Handelt es sich also irgendwo darum, das Wesen einer Sache zu finden, so besteht dieses Auffinden immer in dem Zurückgehen auf den Ideengehalt der Welt. Das Gebiet dieses Gehaltes darf nicht überschritten werden, wenn man innerhalb der klaren Bestimmungen bleiben will, wenn man nicht im Unbestimmten herumtappen will. Das Denken ist eine Totalität in sich, das sich selbst genug ist, das sich nicht überschreiten darf, ohne ins Leere zu kommen. Mit anderen Worten: es darf nicht, um irgend etwas zu erklären, zu Dingen seine Zuflucht nehmen, die es nicht in sich selbst findet. Ein Ding, das nicht mit dem Denken zu umspannen wäre, wäre ein Unding. Alles geht zuletzt im Denken auf, alles findet innerhalb desselben seine Stelle.

In bezug auf unser individuelles Bewußtsein ausgedrückt, heißt das: Wir müssen behufs wissenschaftlicher Feststellungen streng innerhalb des uns im Bewußtsein Gegebenen stehen bleiben, wir können dies nicht überschreiten. Wenn man nun wohl einsieht, daß wir unser Bewußtsein nicht überspringen können, ohne ins Wesenlose zu kommen, nicht aber zugleich, daß das Wesen der Dinge innerhalb unseres Bewußtseins in der Ideenwahrnehmung anzutreffen ist, so entstehen jene Irrtümer, die von einer Grenze unserer Erkenntnis sprechen. Können wir über das Bewußtsein nicht hinaus und ist das Wesen der Wirklichkeit nicht innerhalb desselben, dann können wir zum Wesen überhaupt nicht vordringen. Unser Denken ist an das Diesseits gebunden und weiß nichts vom Jenseits.

Unserer Ansicht gegenüber ist diese Meinung nichts als ein sich selbst mißverstehendes Denken. Eine Erkenntnisgrenze wäre nur möglich, wenn uns die äußere Erfahrung an sich selbst die Erforschung ihres Wesens aufdrängte, wenn sie die Fragen bestimmte, die in Ansehung ihrer zu stellen sind. Das ist aber nicht der Fall. Dem Denken entsteht das Bedürfnis, der Erfahrung, die es gewahr wird, ihr Wesen entgegenzuhalten. Das Denken kann doch nur die ganz bestimmte Tendenz haben, die ihm selbst eigene Gesetzlichkeit auch in der übrigen Welt zu sehen, nicht aber irgend etwas, wovon es selbst nicht die geringste Kunde hat.

Ein anderer Irrtum muß hier noch seine Berichtigung erfahren. Es ist der, als ob das Denken nicht hinreichend wäre, die Welt zu konstituieren, als ob zum Gedankeninhalt noch etwas (Kraft, Wille usw.) hinzukommen müsse, um die Welt zu ermöglichen.

Bei genauer Erwägung sieht man aber sofort, daß sich alle solche Faktoren als nichts weiter ergeben, denn als Abstraktionen aus der Wahrnehmungswelt, die selbst erst der Erklärung durch das Denken harren. Jeder andere Bestandteil des Weltwesens als das Denken machte sofort auch eine andere Art von Auffassung, von Erkennen, nötig als die gedankliche. Wir müßten jenen anderen Bestandteil anders als durch das Denken erreichen. Denn das Denken liefert denn doch nur Gedanken. Schon dadurch aber, daß man den Anteil, den jener zweite Bestandteil am Weltgetriebe hat, erklären will und sich dabei der Begriffe bedient, widerspricht man sich. Außerdem aber ist uns außer der Sinneswahrnehmung und dem Denken kein Drittes gegeben. Und wir können keinen Teil von jener als Kern der Welt gelten lassen, weil alle ihre Glieder bei näherer Betrachtung zeigen, daß sie als solche ihr Wesen nicht enthalten. Das letztere kann daher einzig und allein im Denken gesucht werden. 

14. Der Grund der Dinge und das Erkennen

Kant hat insofern einen großen Schritt in der Philosophie vollbracht, als er den Menschen auf sich selbst gewiesen hat. Er soll die Gründe der Gewißheit seiner Behauptungen aus dem suchen, was ihm in seinem geistigen Vermögen gegeben ist und nicht in von außen aufgedrängten Wahrheiten. Wissenschaftliche Überzeugung nur durch sich selbst, das ist die Losung der Kantischen Philosophie. Deshalb vorzüglich nannte er sie eine kritische im Gegensatze zur dogmatischen, welche fertige Behauptungen überliefert erhält und zu solchen nachträglich die Beweise sucht. Damit ist ein Gegensatz zweier Wissenschaftsrichtungen gegeben; er ist aber von Kant nicht in jener Schärfe gedacht worden, deren er fähig ist.

Fassen wir einmal streng ins Auge, wie eine Behauptung der Wissenschaft zustande kommen kann. Sie verbindet zwei Dinge: entweder einen Begriff mit einer Wahrnehmung oder zwei Begriffe. Von letzterer Art ist zum Beispiel die Behauptung: Keine Wirkung ohne Ursache. Es können nun die sachlichen Gründe, warum die beiden Begriffe zusammenfließen, jenseits dessen liegen, was sie selbst enthalten, was mir daher auch allein gegeben ist. Ich mag dann noch immerhin irgendwelche formelle Gründe haben (Widerspruchslosigkeit, bestimmte Axiome), welche mich auf eine bestimmte Gedankenverbindung leiten. Auf die Sache selbst aber haben diese keinen Einfluß. Die Behauptung stützt sich auf etwas, das ich sachlich nie erreichen kann. Es ist für mich daher eine wirkliche Einsicht in die Sache nicht möglich; ich weiß nur als Außenstehender von derselben, Hier ist das, was die Behauptung ausdrückt, in einer mir unbekannten Welt; die Behauptung allein in der meinigen. Dies ist der Charakter des Dogmas.

Es gibt ein zweifaches Dogma. Das Dogma der Offenbarung und jenes der Erfahrung. Das erstere überliefert dem Menschen auf irgendwelche Weise Wahrheiten über Dinge, die seinem Gesichtskreise entzogen sind. Er hat keine Einsicht in die Welt, der die Behauptungen entspringen. Er muß an die Wahrheit derselben glauben, er kann an die Gründe nicht herankommen. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Dogma der Erfahrung. Ist jemand der Ansicht, daß man bei der bloßen, reinen Erfahrung stehen bleiben soll und nur deren Veränderungen beobachten kann, ohne zu den bewirkenden Kräften vorzudringen, so stellt er ebenfalls über die Welt Behauptungen auf, zu deren Gründen er keinen Zugang hat. Auch hier ist die Wahrheit nicht durch Einsicht in die innere Wirksamkeit der Sache gewonnen, sondern sie ist von einem der Sache selbst Äußerlichen aufgedrängt. Beherrschte das Dogma der Offenbarung die frühere Wissenschaft, so leidet durch das Dogma der Erfahrung die heutige.

Unsere Ansicht hat gezeigt, daß jede Annahme von einem Seinsgrunde, der außerhalb der Idee liegt, ein Unding ist. Der gesamte Seinsgrund hat sich in die Welt ausgegossen, er ist in sie aufgegangen. Im Denken zeigt er sich in seiner vollendetsten Form, so wie er an und für sich selbst ist. Vollzieht daher das Denken eine Verbindung, fällt es ein Urteil, so ist es der in dasselbe eingeflossene Inhalt des Weltgrundes selbst, der verbunden wird. Im Denken sind uns nicht Behauptungen gegeben über irgendeinen jenseitigen Weltengrund, sondern derselbe ist substantiell in dasselbe eingeflossen. Wir haben eine unmittelbare Einsicht in die sachlichen, nicht bloß in die formellen Gründe, warum sich ein Urteil vollzieht. Nicht über irgend etwas Fremdes, sondern über seinen eigenen Inhalt bestimmt das Urteil. Unsere Ansicht begründet daher ein wahrhaftes Wissen. Unsere Erkenntnistheorie ist wirklich kritisch. Unserer Ansicht gemäß darf nicht nur der Offenbarung gegenüber nichts zugelassen werden, wofür nicht innerhalb des Denkens sachliche Gründe da sind; sondern auch die Erfahrung muß innerhalb des Denkens nicht nur nach der Seite ihrer Erscheinung, sondern als Wirkendes erkannt werden. Durch unser Denken erheben wir uns von der Anschauung der Wirklichkeit als einem Produkte zu der als einem Produzierenden.

So tritt das Wesen eines Dinges nur dann zutage, wenn dasselbe in Beziehung zum Menschen gebracht wird. Denn nur im letzteren erscheint für jedes Ding das Wesen. Das begründet einen Relativismus als Weltansicht, das heißt die Denkrichtung, welche annimmt, daß wir alle Dinge in dem Lichte sehen, das ihnen von Menschen selbst verliehen wird. Diese Ansicht führt auch den Namen Anthropomorphismus. Sie hat viele Vertreter. Die Mehrzahl derselben aber glaubt, daß wir uns durch diese Eigentümlichkeit unseres Erkennens von der Objektivität, wie sie an und für sich ist, entfernen. Wir nehmen, so glauben sie, alles durch die Brille der Subjektivität wahr. Unsere Auffassung zeigt uns das gerade Gegenteil davon. Wir müssen die Dinge durch diese Brille betrachten, wenn wir zu ihrem Wesen kommen wollen. Die Welt ist uns nicht allein so bekannt, wie sie uns erscheint, sondern sie erscheint so, allerdings nur der denkenden Betrachtung, wie sie ist. Die Gestalt von der Wirklichkeit, welche der Mensch in der Wissenschaft entwirft, ist die letzte wahre Gestalt derselben.

Nunmehr obliegt es uns noch, die Art des Erkennens, die wir als die richtige, das heißt zum Wesen der Wirklichkeit führende, erkannt haben, auf die einzelnen Wirklichkeitsgebiete auszudehnen. Wir werden nun zeigen, wie in den einzelnen Formen der Erfahrung deren Wesen zu suchen ist.

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