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Erkennen und Wirklichkeit

Begriffe und Ideen sind es also, in denen wir das gegeben haben, was zugleich über das Gegebene hinausführt. Damit aber ist die Möglichkeit geboten, auch das Wesen der übrigen Erkenntnistätigkeit zu bestimmen. Wir haben durch ein Postulat aus dem gegebenen Weltbilde einen Teil ausgesondert, weil es in der Natur des Erkennens liegt, gerade von diesem so gearteten Teile auszugehen. Diese Aussonderung wurde also nur gemacht, um das Erkennen begreifen zu können. Damit müssen wir uns aber auch zugleich klar darüber sein, dass wir die Einheit des Weltbildes künstlich zerrissen haben. Wir müssen einsehen, dass das von uns aus dem Gegebenen abgetrennte Segment, abgesehen von unserer Forderung und außer derselben, in einer notwendigen Verbindung mit dem Weltinhalte stehe. Damit ist der nächste Schritt der Erkenntnistheorie gegeben. Er wird darinnen bestehen, die Einheit, welche behufs Ermöglichung der Erkenntnis zerrissen worden ist, wieder herzustellen. Diese Wiederherstellung geschieht in dem Denken über die gegebene Welt. In der denkenden Weltbetrachtung vollzieht sich tatsächlich die Vereinigung der zwei Teile des Weltinhalts: dessen, den wir als Gegebenes auf dem Horizonte unserer Erlebnisse überblicken, und dessen, der im Erkenntnisakt produziert werden muss, um auch gegeben zu sein. Der Erkenntnisakt ist die Synthese dieser beiden Elemente. Und zwar erscheint in jedem einzelnen Erkenntnisakte das eine derselben als ein im Akte selbst Produziertes, durch ihn zu dem bloß Gegebenen Hinzugebrachtes. Nur im Anfang der Erkenntnistheorie selbst erscheint das sonst stets Produzierte als ein Gegebenes.

Die gegebene Welt mit Begriffen und Ideen durchdringen, ist aber denkende Betrachtung der Dinge. Das Denken ist somit tatsächlich der Akt, wodurch die Erkenntnis vermittelt wird. Nur wenn das Denken von sich aus den Inhalt des Weltbildes ordnet, kann Erkenntnis zustande kommen. Das Denken selbst ist ein Tun, das einen eigenen Inhalt im Momente des Erkennens hervorbringt. Soweit also der erkannte Inhalt aus dem Denken allein fließt, bietet er für das Erkennen keine Schwierigkeit. Hier brauchen wir bloß zu beobachten; und wir haben das Wesen unmittelbar gegeben. Die Beschreibung des Denkens ist zugleich die Wissenschaft des Denkens. In der Tat war auch die Logik nie etwas anderes als eine Beschreibung der Denkformen, nie eine beweisende Wissenschaft. Der Beweis tritt erst ein, wenn eine Synthesis des Gedachten mit anderweitigem Weltinhalte stattfindet. Mit Recht sagt daher Gideon Spicker in seinem Buche: «Lessings Weltanschauung» (S. 5): «Dass das Denken an sich richtig sei, können wir nie erfahren, weder empirisch, noch logisch.» Wir können hinzufügen: Beim Denken hört alles Beweisen auf. Denn der Beweis setzt bereits das Denken voraus. Man kann wohl ein einzelnes Faktum, nicht aber das Beweisen selbst beweisen. Wir können nur beschreiben, was ein Beweis ist. In der Logik ist alle Theorie nur Empirie; in dieser Wissenschaft gibt es nur Beobachtung. Wenn wir aber außer unserem Denken etwas erkennen wollen, so können wir das nur mit Hilfe des Denkens, d.h. das Denken muss an ein Gegebenes herantreten und es aus der chaotischen Verbindung in eine systematische mit dem Weltbilde bringen. Das Denken tritt also als formendes Prinzip an den gegebenen Weltinhalt heran. Der Vorgang dabei ist folgender: Es werden zunächst gedanklich gewisse Einzelheiten aus der Gesamtheit des Weltganzen herausgehoben. Denn im Gegebenen ist eigentlich kein Einzelnes, sondern alles in kontinuierlicher Verbindung. Diese gesonderten Einzelheiten bezieht nun das Denken nach Maßgabe der von ihm produzierten Formen aufeinander und bestimmt zuletzt, was sich aus dieser Beziehung ergibt. Dadurch, dass das Denken einen Bezug zwischen zwei abgesonderten Partien des Weltinhaltes herstellt, hat es gar nichts von sich aus über dieselben bestimmt. Es wartet ja ab, was sich infolge der Herstellung des Bezuges von selbst ergibt. Dieses Ergebnis erst ist eine Erkenntnis über die betreffenden Teile des Weltinhaltes. Läge es in der Natur des letzteren, durch jenen Bezug überhaupt nichts über sich zu äußern: nun, dann müsste eben der Denkversuch misslingen und ein neuer an seine Stelle treten. Alle Erkenntnisse beruhen darauf, dass der Mensch zwei oder mehrere Elemente der Wirklichkeit in die richtige Verbindung bringt und das sich hieraus Ergebende erfasst.

Es ist zweifellos, dass wir nicht nur in den Wissenschaften, wo es uns die Geschichte derselben sattsam lehrt, sondern auch im gewöhnlichen Leben viele solche vergebliche Denkversuche machen; nur tritt in den einfachen Fällen, die uns doch zumeist begegnen, der richtige so rasch an die Stelle der falschen, dass uns diese letzteren gar nicht oder nur selten zum Bewusstsein kommen.

Kant schwebte diese von uns abgeleitete Tätigkeit des Denkens zum Behufe der systematischen Gliederung des Weltinhaltes bei seiner «synthetischen Einheit der Apperzeption» vor. Aber wie wenig sich derselbe die eigentliche Aufgabe des Denkens dabei zum Bewusstsein gebracht hat, geht daraus hervor, dass er glaubt, aus den Regeln, nach denen sich diese Synthesis vollzieht, lassen sich die Gesetze a priori der reinen Naturwissenschaft ableiten. Er hat dabei nicht bedacht, dass die synthetische Tätigkeit des Denkens nur eine solche ist, welche die Gewinnung der eigentlichen Naturgesetze vorbereitet. Denken wir uns, wir lösen irgend einen Inhalt a aus dem Weltbilde los, und ebenso einen andern b. Wenn es zur Erkenntnis eines gesetzmäßigen Zusammenhanges zwischen a und b kommen soll, so hat das Denken zunächst a in ein solches Verhältnis zu b zu bringen, durch das es möglich wird, dass sich uns die bestehende Abhängigkeit als gegebene darstellt. Der eigentliche Inhalt eines Naturgesetzes resultiert also aus dem Gegebenen, und dem Denken kommt es bloß zu, die Gelegenheit herbeizuführen, durch die die Teile des Weltbildes in solche Verhältnisse gebracht werden, dass ihre Gesetzmäßigkeit ersichtlich wird. Aus der bloßen synthetischen Tätigkeit des Denkens folgen also keinerlei objektive Gesetze.

Wir müssen uns nun fragen, welchen Anteil hat das Denken bei der Herstellung unseres wissenschaftlichen Weltbildes im Gegensatz zum bloß gegebenen Weltbilde? Aus unserer Darstellung folgt, dass es die Form der Gesetzmäßigkeit besorgt. Nehmen wir in unserem obigen Schema an, dass a die Ursache, b die Wirkung sei. Es könnte der kausale Zusammenhang von a und b nie Erkenntnis werden, wenn das Denken nicht in der Lage wäre, den Begriff der Kausalität zu bilden. Aber um im gegebenen Falle a als Ursache, b als Wirkung zu erkennen, dazu ist notwendig, dass jene beiden dem entsprechen, was unter Ursache und Wirkung verstanden wird. Ebenso steht es mit anderen Kategorien des Denkens.

Es wird zweckmäßig sein, hier auf die Ausführungen Humes über den Begriff der Kausalität mit einigen Worten hinzuweisen. Hume sagt, die Begriffe von Ursache und Wirkung haben ihren Ursprung lediglich in unserer Gewohnheit. Wir beobachten öfters, dass auf ein gewisses Ereignis ein anderes folgt, und gewöhnen uns daran, die beiden in Kausalverbindung zu denken, so dass wir erwarten, dass das zweite eintritt, wenn wir das erste bemerken. Diese Auffassung geht aber von einer ganz irrigen Vorstellung von dem Kausalitätsverhältnis aus. Begegne ich durch eine Reihe von Tagen immer demselben Menschen, wenn ich aus dem Tore meines Wohnhauses trete, so werde ich mich zwar nach und nach gewöhnen, die zeitliche Folge der beiden Ereignisse zu erwarten, aber es wird mir gar nicht einfallen, hier einen Kausalzusammenhang zwischen meinem und des andern Menschen Erscheinen an demselben Orte zu konstatieren. Ich werde noch wesentlich andere Teile des Weltinhaltes aufsuchen, um die unmittelbare Folge der angeführten Tatsachen zu erklären. Wir bestimmen den Kausalzusammenhang eben durchaus nicht nach der zeitlichen Folge, sondern nach der inhaltlichen Bedeutung der als Ursache und Wirkung bezeichneten Teile des Weltinhaltes.

Daraus, dass das Denken nur eine formale Tätigkeit beim Zustandebringen unseres wissenschaftlichen Weltbildes ausübt, folgt: der Inhalt eines jeden Erkenntnisses kann kein a priori vor der Beobachtung (Auseinandersetzung des Denkens mit dem Gegebenen) feststehender sein, sondern muss restlos aus der letzteren hervorgehen. In diesem Sinne sind alle unsere Erkenntnisse empirisch. Es ist aber auch gar nicht zu begreifen, wie das anders sein sollte. Denn die Kantischen Urteile a priori sind im Grunde gar keine Erkenntnisse, sondern nur Postulate. Man kann im Kantischen Sinne immer nur sagen: wenn ein Ding Objekt einer möglichen Erfahrung werden soll, dann muss es sich diesen Gesetzen fügen. Das sind also Vorschriften, die das Subjekt den Objekten macht. Man sollte aber doch glauben, wenn uns Erkenntnisse von dem Gegebenen zuteil werden sollen, so müssen dieselben nicht aus der Subjektivität, sondern aus der Objektivität fließen.

Das Denken sagt nichts a priori über das Gegebene aus, aber es stellt jene Formen her, durch deren Zugrundelegung a posteriori die Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen zum Vorschein kommt.

Es ist klar, dass diese Ansicht über die Grade der Gewissheit, die ein gewonnenes Erkenntnisurteil hat, a priori nichts ausmachen kann. Denn auch die Gewissheit kann aus nichts anderem denn aus dem Gegebenen selbst gewonnen werden. Es lässt sich dagegen einwenden, dass die Beobachtung nie etwas anderes sage, als dass einmal irgendein Zusammenhang der Erscheinungen stattfindet, nicht aber, dass er stattfinden muss und in gleichem Falle immer stattfinden wird. Aber auch diese Annahme ist eine irrtümliche. Denn wenn ich einen gewissen Zusammenhang zwischen Teilen des Weltbildes erkenne, so ist er in unserem Sinne nichts anderes, als was aus diesen Teilen selbst sich ergibt, es ist nichts, was ich zu diesen Teilen hinzudenke, sondern etwas, was wesentlich zu denselben gehört, was also notwendig dann immer da sein muss, wenn sie selbst da sind.

Nur eine Ansicht, die davon ausgeht, dass alles wissenschaftliche Treiben nur darinnen bestehe, die Tatsachen der Erfahrung nach außer denselben liegenden, subjektiven Maximen zu verknüpfen, kann glauben, dass a und b heute nach diesem, morgen nach jenem Gesetze verknüpft sein können (J. St. Mill). Wer aber einsieht, dass die Naturgesetze aus dem Gegebenen stammen, somit dasjenige sind, was den Zusammenhang der Erscheinungen ausmacht und bestimmt, dem wird es gar nicht einfallen, von einer bloß komparativen Allgemeinheit der aus der Beobachtung gewonnenen Gesetze zu sprechen. Damit wollen wir natürlich nicht behaupten, dass die von uns einmal als richtig angenommenen Naturgesetze auch unbedingt gültig sein müssen. Aber wenn ein späterer Fall ein aufgestelltes Gesetz umstößt, dann rührt dies nicht davon her, dass dasselbe das erstemal nur mit komparativer Allgemeinheit hat gefolgert werden können, sondern davon, dass es auch dazumal nicht vollkommen richtig gefolgert war. Ein echtes Naturgesetz ist nichts anderes als der Ausdruck eines Zusammenhanges im gegebenen Weltbilde, und es ist ebenso wenig ohne die Tatsachen da, die es regelt, wie diese ohne jenes da sind.

Wir haben es oben als die Natur des Erkenntnisaktes bestimmt, dass das gegebene Weltbild denkend mit Begriffen und Ideen durchsetzt wird. Was folgt aus dieser Tatsache? Wäre in dem Unmittelbar-Gegebenen eine abgeschlossene Ganzheit enthalten, dann wäre eine solche Bearbeitung desselben im Erkennen unmöglich und auch unnötig. Wir würden dann einfach das Gegebene hinnehmen, wie es ist, und wären in dieser Gestalt davon befriedigt. Nur wenn in dem Gegebenen etwas verborgen liegt, was noch nicht erscheint, wenn wir es in seiner Unmittelbarkeit betrachten, sondern erst mit Hilfe der vom Denken hineingebrachten Ordnung, dann ist der Erkenntnisakt möglich. Was in dem Gegebenen vor der gedanklichen Verarbeitung liegt, ist nicht dessen volle Ganzheit.

Dies wird sogleich noch deutlicher, wenn wir auf die im Erkenntnisakt in Betracht kommenden Faktoren näher eingehen. Der erste derselben ist das Gegebene. Das Gegebensein ist keine Eigenschaft des Gegebenen, sondern nur ein Ausdruck für dessen Verhältnis zu dem zweiten Faktor des Erkenntnisaktes. Was das Gegebene seiner eigenen Natur nach ist, bleibt also durch diese Bestimmung völlig im Dunkeln. Den zweiten Faktor, den begrifflichen Inhalt des Gegebenen, findet das Denken im Erkenntnisakte als notwendig mit dem Gegebenen verbunden. Wir fragen uns nun:

1. Wo besteht die Trennung von Gegebenem und Begriff?
2. Wo liegt die Vereinigung derselben?

Die Beantwortung dieser beiden Fragen ist ohne Zweifel in unseren vorangehenden Untersuchungen gegeben. Die Trennung besteht lediglich im Erkenntnisakte, die Verbindung liegt im Gegebenen. Daraus geht mit Notwendigkeit hervor, dass der begriffliche Inhalt nur ein Teil des Gegebenen ist, und dass der Erkenntnisakt darin besteht, die für ihn zunächst getrennt gegebenen Bestandteile des Weltbildes miteinander zu vereinigen. Das gegebene Weltbild wird somit erst vollständig durch jene mittelbare Art Gegebenseins, die durch das Denken herbeigeführt wird. Durch die Form der Unmittelbarkeit zeigt sich das Weltbild zuerst in einer ganz unvollständigen Gestalt.

Wäre in dem Weltinhalte von vornherein der Gedankeninhalt mit dem Gegebenen vereinigt; dann gäbe es kein Erkennen. Denn es könnte nirgends das Bedürfnis entstehen, über das Gegebene hinauszugehen. Würden wir aber mit dem Denken und in demselben allen Inhalt der Welt erzeugen, dann gäbe es ebenso wenig ein Erkennen. Denn was wir selbst produzieren, brauchen wir nicht zu er kennen. Das Erkennen beruht also darauf, dass uns der Weltinhalt ursprünglich in einer Form gegeben ist, die unvollständig ist, die ihn nicht ganz enthält, sondern die außer dem, was sie unmittelbar darbietet, noch eine zweite wesentliche Seite hat. Diese zweite, ursprünglich nicht gegebene Seite des Weltinhaltes wird durch die Erkenntnis enthüllt. Was uns im Denken abgesondert erscheint, sind also nicht leere Formen, sondern eine Summe von Bestimmungen (Kategorien), die aber für den übrigen Weltinhalt Form sind. Erst die durch die Erkenntnis gewonnene Gestalt des Weltinhaltes, in der beide aufgezeigte Seiten desselben vereinigt sind, kann Wirklichkeit genannt werden.

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