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Die Erscheinungen der Farbenwelt

 

Goethe wird durch die Empfindung, dass «die hohen Kunstwerke von Menschen nach wahren und natürlichen Gesetzen hervorgebracht» sind, fortwährend angeregt, diese wahren und natürlichen Gesetze des künstlerischen Schaffens aufzusuchen. Er ist überzeugt, die Wirkung eines Kunstwerkes müsse darauf beruhen, dass aus demselben eine natürliche Gesetzmäßigkeit herausleuchtet.

Er will diese Gesetzmäßigkeit erkennen. Er will wissen, aus welchem Grunde die höchsten Kunstwerke zugleich die höchsten Naturwerke sind. Es wird ihm klar, dass die Griechen nach eben den Gesetzen verfuhren, nach denen die Natur verfährt, als sie «aus der menschlichen Gestalt den Kreis göttlicher Bildung» entwickelten (Italienische Reise, 28. Januar 1787). Er will sehen, wie die Natur diese Bildung zustande bringt, um sie in den Kunstwerken verstehen zu können. Goethe schildert, wie es ihm in Italien allmählich gelungen ist, zu einer Einsicht in die natürliche Gesetzmäßigkeit des künstlerischen Schaffens zu kommen (vgl. «Konfession des Verfassers», Kürschner, Band 36). «Zum Glück konnte ich mich an einigen von der Poesie herübergebrachten, mir durch inneres Gefühl und langen Gebrauch bewährten Maximen festhalten, so dass es mir zwar schwer, aber nicht unmöglich ward, durch ununterbrochenes Anschauen der Natur und Kunst, durch lebendiges wirksames Gespräch mit mehr oder weniger einsichtigen Kennern, durch stetes Leben mit mehr oder weniger praktischen oder denkenden Künstlern, nach und nach mir die Kunst überhaupt einzuteilen, ohne sie zu zerstückeln, und ihre verschiedenen, lebendig ineinander greifenden Elemente gewahr zu werden.» Nur ein einziges Element will ihm nicht die natürlichen Gesetze offenbaren, nach denen es im Kunstwerke wirkt: das Kolorit. Mehrere Gemälde werden «in seiner Gegenwart erfunden und komponiert, die Teile, der Stellung und der Form nach, sorgfältig durchstudiert». Die Künstler können ihm Rechenschaft geben, wie sie bei der Komposition verfahren. Sobald aber die Rede aufs Kolorit kommt, da scheint alles von der Willkür abzuhängen.

Niemand weiß, welcher Bezug zwischen Farbe und Helldunkel, und zwischen den einzelnen Farben herrscht. Worauf es beruht, dass Gelb einen warmen und behaglichen Eindruck macht, Blau die Empfindung der Kälte hervorruft, dass Gelb und Rotblau nebeneinander eine harmonische Wirkung hervorbringen, darüber kann Goethe keinen Aufschluss gewinnen. Er sieht ein, dass er sich mit der Gesetzmäßigkeit der Farbenwelt in der Natur erst bekannt machen muss, um von da aus in die Geheimnisse des Kolorits einzudringen.

Weder die Begriffe über die physische Natur der Farbenerscheinungen, die Goethe von seiner Studienzeit her noch im Gedächtnis hatte, noch die physikalischen Kompendien, die er um Rat fragte, erwiesen sich für seinen Zweck als fruchtbar. «Wie alle Welt war ich überzeugt, dass die sämtlichen Farben im Licht enthalten seien; nie war es mir anders gesagt worden und niemals hatte ich die geringste Ursache gefunden, daran zu zweifeln, weil ich bei der Sache nicht weiter interessiert war» («Konfession des Verfassers», Kürschner, Band 3 6/2). Als er aber anfing, interessiert zu sein, da fand er, dass er aus dieser Ansicht nichts für seinen Zweck entwickeln konnte. Der Begründer dieser Ansicht, die Goethe bei den Naturforschern herrschend fand und die heute noch dieselbe Stellung einnimmt, ist Newton. Sie behauptet, das weiße Licht, wie es von der Sonne ausgeht, ist aus farbigen Lichtern zusammengesetzt. Die Farben entstehen dadurch, dass die einzelnen Bestandteile aus dem weißen Lichte ausgesondert werden. Lässt man durch eine kleine runde Öffnung Sonnenlicht in ein dunkles Zimmer treten, und fängt es auf einem weißen Schirme, der senkrecht gegen die Richtung des einfallenden Lichtes gestellt wird, auf, so erhält man ein weißes Sonnenbild. Stellt man zwischen die Öffnung und den Schirm ein Glasprisma, durch welches das Licht durchstrahlt, so verändert sich das weiße runde Sonnenbild. Es erscheint verschoben, in die Länge gezogen und farbig. Man nennt dieses Bild Sonnenspektrum. Bringt man das Prisma so an, dass die oberen Partien des Lichtes einen kürzeren Weg innerhalb der Glasmasse zurückzulegen haben als die unteren, so ist das farbige Bild nach unten verschoben. Der obere Rand des Bildes ist rot, der untere violett; das Rote geht nach unten in Gelb, das Violette nach oben in Blau über; die mittlere Partie des Bildes ist im allgemeinen weiß. Nur bei einer gewissen Entfernung des Schirmes vom Prisma verschwindet das Weiße in der Mitte vollständig; das ganze Bild erscheint farbig, und zwar von oben nach unten in der Folge: rot, orange, gelb, grün, hellblau, indigo, violett. Aus diesem Versuche schließen Newton und seine Anhänger, dass die Farben ursprünglich in dem weißen Lichte enthalten seien, aber miteinander vermischt. Durch das Prisma werden sie voneinander gesondert. Sie haben die Eigenschaft, beim Durchgange durch einen durchsichtigen Körper verschieden stark von ihrer Richtung abgelenkt, das heißt gebrochen zu werden. Das rote Licht wird am wenigsten, das violette am meisten gebrochen. Nach der Stufenfolge ihrer Brechbarkeit erscheinen sie im Spektrum. Betrachtet man einen schmalen Papierstreifen auf schwarzem Grunde durch das Prisma, so erscheint derselbe ebenfalls abgelenkt. Er ist zugleich breiter und an seinen Rändern farbig. Der obere Rand erscheint violett, der untere rot; das Violette geht auch hier ins Blaue, das Rote ins Gelbe über; die Mitte ist im allgemeinen weiß. Nur bei einer gewissen Entfernung des Prismas von dem Streifen erscheint dieser ganz farbig. In der Mitte erscheint wieder das Grün. Auch hier soll das Weiße des Papierstreifens in seine farbigen Bestandteile zerlegt sein. Dass nur bei einer gewissen Entfernung des Schirmes oder Streifens vom Prisma alle Farben erscheinen, während sonst die Mitte weiß ist, erklären die Newtonianer einfach. Sie sagen: in der Mitte fallen die stärker abgelenkten Lichter vom oberen Teil des Bildes mit den schwächer abgelenkten vom unteren zusammen und vermischen sich zu Weiß. Nur an den Rändern erscheinen die Farben, weil hier in die am schwächsten abgelenkten Lichtteile keine stärker abgelenkten von oben und in die am stärksten abgelenkten keine schwächer abgelenkten von unten hineinfallen können.

Dies ist die Ansicht, aus der Goethe für seinen Zweck nichts entwickeln kann. Er will deshalb die Erscheinungen selbst beobachten. Er wendet sich an Hofrat Büttner in Jena, der ihm die Apparate leihweise überlässt, mit denen er die nötigen Versuche anstellen kann. Er ist zunächst mit anderen Arbeiten beschäftigt und will, auf Büttners Drängen, die Apparate wieder zurückgeben. Vorher nimmt er doch noch ein Prisma zur Hand, um durch dasselbe auf eine völlig geweißte Wand zu sehen. Er erwartet, dass sie in verschiedenen Stufen gefärbt erscheine. Aber sie bleibt weiß. Nur an den Stellen, wo das Weiße an Dunkles stößt, treten Farben auf. Die Fensterstäbe erscheinen in den allerlebhaftesten Farben.

Aus diesen Beobachtungen glaubt Goethe zu erkennen, dass die Newtonsche Anschauung falsch sei, dass die Farben nicht im weißen Lichte enthalten seien. Die Grenze, das Dunkle, müsse mit der Entstehung der Farben etwas zu tun haben. Er setzt die Versuche fort. Weiße Flächen auf schwarzem und schwarze Flächen auf weißem Grunde werden betrachtet. Allmählich bildet er sich eine eigene Ansicht. Eine weiße Scheibe auf schwarzem Grunde erscheint beim Durchblicken durch das Prisma verschoben. Die oberen Partien der Scheibe, meint Goethe, schieben sich über das angrenzende Schwarz des Untergrundes; während sich dieser Untergrund über die unteren Partien der Scheibe hinzieht. Sieht man nun durch das Prisma, so erblickt man durch den oberen Scheibenteil den schwarzen Grund wie durch einen weißen Schleier. Besieht man sich den unteren Teil der Scheibe, so scheint dieser durch das übergelagerte Dunkel hindurch. Oben wird ein Helles über ein Dunkles geführt; unten ein Dunkles über ein Helles. Der obere Rand erscheint blau, der untere gelb. Das Blau geht gegen das Schwarze zu in Violett; das Gelbe nach unten in ein Rot über. Wird das Prisma von der beobachteten Scheibe entfernt, so verbreitern sich die farbigen Ränder; das Blau nach unten, das Gelb nach oben. Bei hinreichender Entfernung greift das Gelb von unten über das Blau von oben; durch das Übereinandergreifen entsteht in der Mitte Grün. Zur Bestätigung dieser Ansicht betrachtet Goethe eine schwarze Scheibe auf weißem Grunde durch das Prisma. Nun wird oben ein Dunkles über ein Helles, unten ein Helles über ein Dunkles geführt. Oben erscheint Gelb, unten Blau. Bei Verbreiterung der Ränder durch Entfernung des Prismas von der Scheibe wird das untere Blau, das allmählich gegen die Mitte zu in Violett übergeht, über das obere Gelb, das in seiner Verbreiterung nach und nach einen roten Ton erhält, geführt. Es entsteht in der Mitte Pfirsichblüt. Goethe sagte sich: was für die weiße Scheibe richtig ist, muss auch für die schwarze gelten.

«Wenn sich dort das Licht in so vielerlei Farben auflöst... so müsste ja hier auch die Finsternis als in Farben aufgelöst angesehen werden.» («Konfession des Verfassers», Kürschner, Band 36/2.) Goethe teilt nun seine Beobachtungen und die Bedenken, die ihm daraus gegen die Newtonsche Anschauung erwachsen sind, einem ihm bekannten Physiker mit. Dieser erklärt die Bedenken für unbegründet. Er leitete die farbigen Ränder und das Weiße in der Mitte, sowie dessen Übergang in Grün, bei gehöriger Entfernung des Prismas von dem beobachteten Objekt, im Sinne der Newtonschen Ansicht ab. Ähnlich verhalten sich andere Naturforscher, denen Goethe die Sache vorlegt. Er setzt die Beobachtungen, für die er gerne Beihilfe von kundigen Fachleuten gehabt hätte, allein fort. Er lässt ein großes Prisma aus Spiegelscheiben zusammensetzen, das er mit reinem Wasser anfüllt. Weil er bemerkt, dass die gläsernen Prismen, deren Querschnitt ein gleichseitiges Dreieck ist, wegen der starken Verbreiterung der Farbenerscheinung dem Beobachter oft hinderlich sind, lässt er seinem großen Prisma den Querschnitt eines gleichschenkeligen Dreieckes geben, dessen kleinster Winkel nur fünfzehn bis zwanzig Grade groß ist. Die Versuche, welche in der Weise angestellt werden, dass das Auge durch das Prisma auf einen Gegenstand blickt, nennt Goethe subjektiv. Sie stellen sich dem Auge dar, sind aber nicht in der Außenwelt fixiert. Er will zu diesen noch objektive hinzufügen. Dazu bedient er sich des Wasserprismas. Das Licht scheint durch ein Prisma durch, und hinter dem Prisma wird das Farbenbild auf einem Schirme aufgefangen. Goethe lässt nun das Sonnenlicht durch die Öffnungen ausgeschnittener Pappen hindurchgehen. Er erhält dadurch einen erleuchteten Raum, der ringsherum von Dunkelheit begrenzt ist. Diese begrenzte Lichtmasse geht durch das Prisma und wird durch dasselbe von ihrer Richtung abgelenkt. Hält man der aus dem Prisma kommenden Lichtmasse einen Schirm entgegen, so entsteht auf demselben ein Bild, das im allgemeinen an den Rändern oben und unten gefärbt ist. Ist das Prisma so gestellt, dass sein Querschnitt von oben nach unten schmäler wird, so ist der obere Rand des Bildes blau, der untere gelb gefärbt. Das Blau geht gegen den dunklen Raum in Violett, gegen die helle Mitte zu in Hellblau über; das Gelbe gegen die Dunkelheit zu in Rot. Auch bei dieser Erscheinung leitet Goethe die Farbenerscheinung von der Grenze her.

Oben strahlt die helle Lichtmasse in den dunklen Raum hinein; sie erhellt ein Dunkles, das dadurch blau erscheint. Unten strahlt der dunkle Raum in die Lichtmasse hinein; er verdunkelt ein Helles und lässt es gelb erscheinen. Durch Entfernung des Schirmes von dem Prisma werden die Farbenränder breiter, das Gelbe nähert sich dem Blauen. Durch Einstrahlung des Blauen in das Gelbe erscheint bei hinlänglicher Entfernung des Schirmes vom Prisma in der Mitte des Bildes Grün. Goethe macht sich das Hineinstrahlen des Hellen in das Dunkle und des Dunklen in das Helle dadurch anschaulich, dass er in der Linie, in welcher die Lichtmasse durch den dunklen Raum geht, eine weiße feine Staubwolke erregt, die er durch feinen trockenen Haarpuder hervorbringt. «Die mehr oder weniger gefärbte Erscheinung wird nun durch die weißen Atome aufgefangen und dem Auge in ihrer ganzen Breite und Länge dargestellt.» (Farbenlehre, didaktischer Teil S. 326.) Goethe findet seine Ansicht, die er an den subjektiven Erscheinungen gewonnen, durch die objektiven bestätigt. Die Farben werden durch das Zusammenwirken von Hell und Dunkel hervorgebracht. Das Prisma dient nur dazu, Hell und Dunkel übereinander zu schieben.

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Goethe kann, nachdem er diese Versuche gemacht hat, die Newtonische Ansicht nicht zu der seinigen machen. Es geht ihm mit ihr ähnlich, wie mit der Hallerschen Einschachtelungslehre. Wie diese den ausgebildeten Organismus bereits mit allen seinen Teilen im Keime enthalten denkt, so glauben die Newtonianer, dass die Farben, die unter gewissen Bedingungen am Lichte erscheinen, in diesem schon eingeschlossen seien. Er könnte gegen diesen Glauben dieselben Worte gebrauchen, die er der Einschachtelungslehre entgegengehalten hat, sie «beruhe auf einer bloßen außersinnlichen Einbildung, auf einer Annahme, die man zu denken glaubt, aber in der Sinnenwelt niemals darstellen kann.» Vgl. den Aufsatz über K. Fr. Wolff, Kürschner, Band 33.) Ihm sind die Farben Neubildungen, die an dem Lichte entwickelt werden, nicht Wesenheiten, die aus dem Lichte bloß ausgewickelt werden. Wegen seiner «der Idee gemäßen Denkweise» muss er die Newtonsche Ansicht ablehnen. Diese kennt das Wesen des Ideellen nicht. Nur was tatsächlich vorhanden ist, erkennt sie an. Was in derselben Weise vorhanden ist wie das Sinnlich-Wahrnehmbare. Und wo sie die Tatsächlichkeit nicht durch die Sinne nachweisen kann, da nimmt sie dieselbe hypothetisch an. Weil am Lichte die Farben sich entwickeln, also der Idee nach schon in demselben enthalten sein müssen, glaubt sie, sie seien auch tatsächlich, materiell in demselben enthalten und werden durch das Prisma und die dunkle Umgrenzung nur hervorgeholt. Goethe weiß, dass die Idee in der Sinnenwelt wirksam ist; deshalb versetzt er etwas, was als Idee vorhanden ist, nicht in den Bereich des Tatsächlichen. In der unorganischen Natur wirkt das Ideelle ebenso wie in der organischen, nur nicht als sinnlich-übersinnliche Form. Seine äußere Erscheinung ist ganz materiell, bloß sinnlich. Es dringt nicht ein in das Sinnliche; es durchgeistigt dieses nicht. Die Vorgänge der unorganischen Natur verlaufen gesetzmäßig, und diese Gesetzmäßigkeit stellt sich dem Beobachter als Idee dar. Wenn man an einer Stelle des Raumes weißes Licht und an einer andern Farben wahrnimmt, die an demselben entstehen, so besteht zwischen den beiden Wahrnehmungen ein gesetzmäßiger Zusammenhang, der als Idee vorgestellt werden kann. Wenn aber jemand diese Idee verkörperlicht und als Tatsächliches in den Raum hinaus versetzt, das von dem Gegenstande der einen Wahrnehmung in den der andern hinüberzieht, so entspringt das aus einer grobsinnlichen Vorstellungsweise. Dieses Grobsinnliche ist es, was Goethe von der Newtonschen Anschauung zurückstößt. Die Idee ist es, die einen unorganischen Vorgang in den andern hinüberleitet, nicht ein Tatsächliches, das von dem einen zu dem andern wandert.

Die Goethesche Weltanschauung kann nur zwei Quellen für alle Erkenntnis der unorganischen Naturvorgänge anerkennen: dasjenige, was an diesen Vorgängen sinnlich wahrnehmbar ist, und die ideellen Zusammenhänge des Sinnlich-Wahrnehmbaren, die sich dem Denken offenbaren. Die ideellen Zusammenhänge innerhalb der Sinneswelt sind nicht gleicher Art. Es gibt solche, die unmittelbar einleuchtend sind, wenn sinnliche Wahrnehmungen nebeneinander oder nacheinander auftreten, und andere, die man erst durchschauen kann, wenn man sie auf solche der ersten Art zurückführt. In der Erscheinung, die sich dem Auge darbietet, wenn es ein Dunkles durch ein Helles ansieht und Blau wahrnimmt, glaubt Goethe einen Zusammenhang der ersten Art zwischen Licht, Finsternis und Farbe zu erkennen. Ebenso ist es, wenn Helles durch ein Dunkles angeschaut, gelb ergibt. Die Randerscheinungen des Spektrums lassen einen Zusammenhang erkennen, der durch unmittelbares Beobachten klar wird. Das Spektrum, das in einer Stufenfolge sieben Farben vom Rot bis zum Violett zeigt, kann nur verstanden werden, wenn man sieht, wie zu den Bedingungen, durch welche die Randerscheinungen entstehen, andere hinzugefügt werden. Die einfachen Randerscheinungen haben sich in dem Spektrum zu einem komplizierten Phänomen verbunden, das nur verstanden werden kann, wenn man es aus den Grunderscheinungen ableitet. Was in dem Grundphänomen in seiner Reinheit vor dem Beobachter steht, das erscheint in dem komplizierten, durch die hinzugefügten Bedingungen, unrein, modifiziert. Die einfachen Tatbestände sind nicht mehr unmittelbar zu erkennen. Goethe sucht daher die komplizierten Phänomene überall auf die einfachen, reinen zurückzuführen. In dieser Zurückführung sieht er die Erklärung der unorganischen Natur. Vom reinen Phänomen geht er nicht mehr weiter. In demselben offenbart sich ein ideeller Zusammenhang sinnlicher Wahrnehmungen, der sich durch sich selbst erklärt. Das reine Phänomen nennt Goethe Urphänomen. Er sieht es als mäßige Spekulation an, über das Urphänomen weiter nachzudenken. «Der Magnet ist ein Urphänomen, das man nur aussprechen darf, um es erklärt zu haben.» (Sprüche in Prosa, Kürschner, Band 36.) Ein zusammengesetztes Phänomen wird erklärt, wenn man zeigt, wie es sich aus Urphänomenen aufbaut.

Die moderne Naturwissenschaft verfährt anders als Goethe. Sie will die Vorgänge in der Sinnenwelt auf Bewegungen kleinster Körperteile zurückführen und bedient sich zur Erklärung dieser Bewegungen derselben Gesetze, durch die sie die Bewegungen begreift, die sichtbar im Raume vor sich gehen. Diese sichtbaren Bewegungen zu erklären, ist Aufgabe der Mechanik. Wird die Bewegung eines Körpers beobachtet, so fragt die Mechanik: Durch welche Kraft ist er in Bewegung versetzt worden; welchen Weg legt er in einer bestimmten Zeit zurück; welche Form hat die Linie, in der er sich bewegt usw.

Die Beziehungen der Kraft, des zurückgelegten Weges, der Form der Bahn sucht sie mathematisch darzustellen. Nun sagt der Naturforscher: Das rote Licht kann auf eine schwingende Bewegung kleinster Körperteile zurückgeführt werden, die sich im Raume fortpflanzt. Begriffen wird diese Bewegung dadurch, dass man die in der Mechanik gewonnenen Gesetze auf sie anwendet. Die Wissenschaft der unorganischen Natur betrachtet es als ihr Ziel, allmählich vollständig in angewandte Mechanik überzugehen.

Die moderne Physik fragt nach der Anzahl der Schwingungen in der Zeiteinheit, welche einer bestimmten Farbenqualität entsprechen. Aus der Anzahl der Schwingungen, die dem Rot entsprechen und aus derjenigen, welche dem Violett entsprechen, sucht sie den physikalischen Zusammenhang der beiden Farben zu bestimmen. Vor ihren Blicken verschwindet das Qualitative; sie betrachtet das Räumliche und Zeitliche der Vorgänge. Goethe fragt: Welcher Zusammenhang besteht zwischen Rot und Violett, wenn man vom Räumlichen und Zeitlichen absieht und bloß das Qualitative der Farben betrachtet. Die Goethesche Betrachtungsweise hat zur Voraussetzung, dass das Qualitative wirklich auch in der Außenwelt vorhanden ist und mit dem Zeitlichen und Räumlichen ein untrennbares Ganzes ist. Die moderne Physik muss dagegen von der Grundanschauung ausgehen, dass in der Außenwelt nur Quantitatives, licht- und farblose Bewegungsvorgänge vorhanden seien, und dass alles Qualitative erst als Wirkung des Quantitativen auf den sinn- und geistbegabten Organismus entstehe.

Wäre diese Annahme richtig, dann könnten die gesetzmäßigen Zusammenhänge des Qualitativen auch nicht in der Außenwelt gesucht, sie mussten aus dem Wesen der Sinneswerkzeuge, des Nervenapparates und des Vorstellungsorgans abgeleitet werden. Die qualitativen Elemente der Vorgänge wären dann nicht Gegenstand der physikalischen Untersuchung, sondern der physiologischen und psychologischen. Dieser Voraussetzung gemäß verfährt die moderne Naturwissenschaft. Der Organismus übersetzt, nach ihrer Ansicht, entsprechend der Einrichtung seiner Augen, seines Sehnervs und seines Gehirns einen Bewegungsvorgang in die Empfindung des Rot, einen andern in die des Violett. Daher ist alles Äußere der Farbenwelt erklärt, wenn man den Zusammenhang der Bewegungsvorgänge durchschaut hat, von denen diese Welt bestimmt wird. Ein Beweis für diese Ansicht wird in folgender Beobachtung gesucht. Der Sehnerv empfindet jeden äußeren Eindruck als Lichtempfindung. Nicht nur Licht, sondern auch ein Stoß oder Druck auf das Auge, eine Zerrung der Netzhaut bei schneller Bewegung des Auges, ein elektrischer Strom, der durch den Kopf geleitet wird: das alles bewirkt Lichtempfindung. Dieselben Dinge empfindet ein anderer Sinn in anderer Weise. Stoß, Druck, Zerrung, elektrischer Strom bewirken, wenn sie die Haut erregen, Tastempfindungen. Elektrizität erregt im Ohr eine Gehör-, auf der Zunge eine Geschmacksempfindung. Daraus schließt man, dass der Empfindungsinhalt, der im Organismus durch eine Einwirkung von außen auftritt, verschieden ist von dem äußeren Vorgange, durch den er veranlasst wird. Die rote Farbe wird von dem Organismus nicht empfunden, weil sie an einen entsprechenden Bewegungsvorgang draußen im Raume gebunden ist, sondern weil Auge, Sehnerv und Gehirn des Organismus so eingerichtet sind, dass sie einen farblosen Bewegungsvorgang in eine Farbe übersetzen.

Das hiermit ausgesprochene Gesetz wurde von dem Physiologen Johannes Müller, der es zuerst aufgestellt hat, das Gesetz der spezifischen Sinnesenergien genannt.

Die angeführte Beobachtung beweist nur, dass der sinn- und geistbegabte Organismus die verschiedenartigsten Eindrücke in die Sprache der Sinne übersetzen kann, auf die sie ausgeübt werden.

Nicht aber, dass der Inhalt jeder Sinnesempfindung auch nur im Innern des Organismus vorhanden ist. Bei einer Zerrung des Sehnervs entsteht eine unbestimmte, ganz allgemeine Erregung, die nichts enthält, was veranlasst, ihren Inhalt in den Raum hinaus zu versetzen. Eine Empfindung, die durch einen wirklichen Lichteindruck entsteht, ist inhaltlich unzertrennlich verbunden mit dem Räumlich-Zeitlichen, das ihr entspricht. Die Bewegung eines Körpers und seine Farbe sind auf ganz gleiche Weise Wahmehmungsinhalt. Wenn man die Bewegung für sich vorstellt, so abstrahiert man von dem, was man noch sonst an dem Körper wahrnimmt. Wie die Bewegung, so sind alle übrigen mechanischen und mathematischen Vorstellungen der Wahrnehmungswelt entnommen. Mathematik und Mechanik entstehen dadurch, dass von dem Inhalte der Wahrnehmungswelt ein Teil ausgesondert und für sich betrachtet wird. In der Wirklichkeit gibt es keine Gegenstände oder Vorgänge, deren Inhalt erschöpft ist, wenn man das an ihnen begriffen hat, was durch Mathematik und Mechanik auszudrücken ist. Alles Mathematische und Mechanische ist an Farbe, Wärme und andere Qualitäten gebunden. Wenn der Physik nötig ist, anzunehmen, dass der Wahrnehmung einer Farbe Schwingungen im Raume entsprechen, denen eine sehr kleine Ausdehnung und eine sehr große Geschwindigkeit eigen ist, so können diese Bewegungen nur analog den Bewegungen gedacht werden, die sichtbar im Raume vorgehen. Das heißt, wenn die Körperwelt bis in ihre kleinsten Elemente bewegt gedacht wird, so muss sie auch bis in ihre kleinsten Elemente hinein mit Farbe, Wärme und andern Eigenschaften ausgestattet vorgestellt werden. Wer Farben, Wärme, Töne usw. als Qualitäten auffasst, die als Wirkungen äußerer Vorgänge durch den vorstellenden Organismus nur im Innern desselben existieren, der muss auch alles Mathematische und Mechanische, das mit diesen Qualitäten zusammenhängt, in dieses Innere verlegen. Dann aber bleibt ihm für seine Außenwelt nichts mehr übrig. Das Rot, das ich sehe, und die Lichtschwingungen die der Physiker als diesem Rot entsprechend nachweist, sind in Wirklichkeit eine Einheit, die nur der abstrahierende Verstand voneinander trennen kann. Die Schwingungen im Raume, die der Qualität «Rot» entsprechen, würde ich als Bewegung sehen, wenn mein Auge dazu organisiert wäre. Aber ich würde verbunden mit der Bewegung den Eindruck der roten Farbe haben.

Die moderne Naturwissenschaft versetzt ein unwirkliches Abstraktum, ein aller Empfindungsqualitäten entkleidetes, schwingendes Substrat in den Raum und wundert sich, dass nicht begriffen werden kann, was den vorstellenden mit Nervenapparaten und Gehirn ausgestatteten Organismus veranlassen kann, diese gleichgültigen Bewegungsvorgänge in die bunte, von Wärmegraden und Tönen durchsetzte Sinnenwelt zu übersetzen. Du Bois-Reymond nimmt deshalb an, dass der Mensch wegen einer unüberschreitbaren Grenze seines Erkennens nie verstehen werde, wie die Tatsache: «ich schmecke Süßes, rieche Rosenduft, höre Orgelton, sehe Rot», zusammenhängt mit bestimmten Bewegungen kleinster Körperteile im Gehirn, welche Bewegungen wieder veranlasst werden durch die Schwingungen der geschmack-, geruch-, ton- und farbenlosen Elemente der äußeren Körperwelt. «Es ist eben durchaus und für immer unbegreiflich, dass es einer Anzahl von Kohlenstoff-, Wasserstoff-, Stickstoff-, Sauerstoff- usw. Atomen nicht sollte gleichgültig sein, wie sie liegen und sich bewegen, wie sie lagen und sich bewegten, wie sie liegen und sich bewegen werden.» («Grenzen des Naturerkennens», Leipzig 1882, S.33 f) Es liegt aber hier durchaus keine Erkenntnisgrenze vor. Wo im Raume eine Anzahl von Atomen in einer bestimmten Bewegung ist, da ist notwendig auch eine bestimmte Qualität (z.B. Rot) vorhanden. Und umgekehrt, wo Rot auftritt, da muss die Bewegung vorhanden sein. Nur das abstrahierende Denken kann das eine von dem andern trennen. Wer die Bewegung von dem übrigen Inhalte des Vorganges, zu dem die Bewegung gehört, in der Wirklichkeit abgetrennt denkt, der kann den Übergang von dem einen zu dem andern nicht wieder finden.

Nur was an einem Vorgang Bewegung ist, kann wieder von Bewegung abgeleitet werden; was dem Qualitativen der Farben- und Lichtwelt angehört, kann auch nur auf ein ebensolches Qualitatives innerhalb desselben Gebietes zurückgeführt werden. Die Mechanik führt zusammengesetzte Bewegungen auf einfache zurück, die unmittelbar begreiflich sind. Die Farbentheorie muss komplizierte Farbenerscheinungen auf einfache zurückführen, die in gleicher Weise durchschaut werden können. Ein einfacher Bewegungsvorgang ist ebenso ein Urphänomen, wie das Entstehen des Gelben aus dem Zusammenwirken von Hell und Dunkel. Goethe weiß, was die mechanischen Urphänomene für die Erklärung der unorganischen Natur leisten können. Was innerhalb der Körperwelt nicht mechanisch ist, das führt er auf Urphänomene zurück, die nicht mechanischer Art sind. Man hat Goethe den Vorwurf gemacht, er habe die mechanische Betrachtung der Natur verworfen und sich nur auf die Beobachtung und Aneinanderreihung des Sinnlich-Anschaulichen beschränkt. Vgl. z.B. Harnack in seinem Buche «Goethe in der Epoche seiner Vollendung», S. 12) Du Bois-Reymond findet («Goethe und kein Ende», Leipzig 1883, S.29): «Goethes Theoretisieren beschränkt sich darauf, aus einem Urphänomen, wie er es nennt, andere Phänomene hervorgehen zu lassen, etwa wie ein Nebelbild dem andern folgt, ohne einleuchtenden ursächlichen Zusammenhang. Der Begriff der mechanischen Kausalität war es, der Goethe gänzlich abging.» Was tut aber die Mechanik anderes, als verwickelte Vorgänge aus einfachen Urphänomenen hervorgehen lassen? Goethe hat auf dem Gebiete der Farbenwelt genau dasselbe gemacht, was der Mechaniker im Gebiete der Bewegungsvorgänge leistet. Weil Goethe nicht der Ansicht ist, alle Vorgänge in der unorganischen Natur seien rein mechanische, deshalb hat man ihm den Begriff der mechanischen Kausalität aberkannt. Wer das tut, der zeigt nur, dass er selbst im Irrtum darüber ist, was mechanische Kausalität innerhalb der Körperwelt bedeutet. Goethe bleibt innerhalb des Qualitativen der Licht- und Farbenwelt stehen; das Quantitative, Mechanische, das mathematisch auszudrücken ist, überlässt er andern. Er «hat die Farbenlehre durchaus von der Mathematik entfernt zu halten gesucht, ob sich gleich gewisse Punkte deutlich genug ergeben, wo die Beihilfe der Messkunst wünschenswert sein würde ... Aber so mag auch dieser Mangel zum Vorteil gereichen, indem es nunmehr des geistreichen Mathematikers Geschäft werden kann, selbst aufzusuchen, wo denn die Farbenlehre seiner Hilfe bedarf, und wie er zur Vollendung dieses Teils der Naturlehre das Seinige betragen kann.» (§ 727 des didaktischen Teiles der Farbenlehre.) Die qualitativen Elemente des Gesichtssinnes: Licht, Finsternis, Farben müssen erst aus ihren eigenen Zusammenhängen begriffen, auf Urphänomene zurückgeführt werden; dann kann auf einer höheren Stufe des Denkens untersucht werden, welcher Bezug besteht zwischen diesen Zusammenhängen und dem Quantitativen, dem Mechanisch-Mathematischen in der Licht- und Farbenwelt. Die Zusammenhänge innerhalb des Qualitativen der Farbenwelt will Goethe in ebenso strengem Sinne auf die einfachsten Elemente zurückführen, wie das der Mathematiker oder Mechaniker auf seinem Gebiete tut. Die «Bedächtlichkeit, nur das Nächste ans Nächste zu reihen, oder vielmehr das Nächste aus dem Nächsten zu folgern, haben wir von den Mathematikern zu lernen und selbst da, wo wir uns keiner Rechnung bedienen, müssen wir immer so zu Werke gehen, als wenn wir dem strengsten Geometer Rechenschaft zu geben schuldig wären. - Denn eigentlich ist es die mathematische Methode, welche wegen ihrer Bedächtlichkeit und Reinheit gleich jeden Sprung in der Assertion offenbart, und ihre Beweise sind eigentlich nur umständliche Ausführungen, dass dasjenige, was in Verbindung vorgebracht wird, schon in seinen einfachen Teilen und in seiner ganzen Folge da gewesen, in seinem ganzen Umfange übersehen und unter allen Bedingungen richtig und unumstößlich erfunden worden.» («Der Versuch als Vermittler von Subjekt und Objekt» Kürschner, Band 34).

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Goethe entnimmt die Erklärungsprinzipien für die Erscheinungen unmittelbar aus dem Bereich der Beobachtung. Er zeigt, wie innerhalb der erfahrbaren Welt die Erscheinungen zusammenhängen. Vorstellungen, welche über das Gebiet der Beobachtung hinausweisen, lehnt er für die Naturauffassung ab. Alle Erklärungsarten, die das Feld der Erfahrung dadurch überschreiten, dass sie für die Naturerklärung Faktoren herbeiziehen, die ihrer Wesenheit nach nicht beobachtbar sind, widersprechen der Goetheschen Weltanschauung. Eine solche Erklärungsart ist diejenige, welche das Wesen des Lichtes in einem Lichtstoff sucht, der als solcher nicht selbst wahrgenommen, sondern nur in seiner Wirkungsweise als Licht beobachtet werden kann. Auch gehört zu diesen Erklärungsarten die in der modernen Naturwissenschaft herrschende, nach welcher die Bewegungsvorgänge der Lichtwelt nicht von den wahrnehmbaren Qualitäten, die dem Gesichtssinn gegeben sind, sondern von den kleinsten Teilen des nicht wahrnehmbaren Stoffes ausgeführt werden. Es widerspricht der Goetheschen Weltanschauung nicht, sich vorzustellen, dass eine bestimmte Farbe mit einem bestimmten Bewegungsvorgang im Raume verknüpft sei. Aber es widerspricht ihr durchaus, wenn behauptet wird, dieser Bewegungsvorgang gehöre einem außerhalb der Erfahrung gelegenen Wirklichkeitsgebiete an, der Welt des Stoffes, die zwar in ihren Wirkungen, nicht aber ihrer eigenen Wesenheit nach beobachtet werden kann. Für einen Anhänger der Goetheschen Weltanschauung sind die Lichtschwingungen im Raume Vorgänge, denen keine andere Art von Wirklichkeit zukommt als dem übrigen Wahmehmungsinhalt. Sie entziehen sich der unmittelbaren Beobachtung nicht deshalb, weil sie jenseits des Gebietes der Erfahrung liegen, sondern weil die menschlichen Sinnesorgane nicht so fein organisiert sind, dass sie Bewegungen von solcher Kleinheit noch unmittelbar wahrnehmen. Wäre ein Auge so organisiert, dass es das Hin- und Herschwingen eines Dinges, das in einer Sekunde sich vierhundert billionenmal wiederholt, noch in allen Einzelheiten beobachten könnte, so würde sich ein solcher Vorgang genau so darstellen wie einer der grobsinnlichen Welt. Das heißt, das schwingende Ding würde dieselben Eigenschaften zeigen, wie andere Wahrnehmungsdinge.

Jede Erklärungsart, welche die Dinge und Vorgänge der Erfahrung aus anderen, nicht innerhalb des Erfahrungsfeldes gelegenen ableitet, kann zu inhaltvollen Vorstellungen von diesem jenseits der Beobachtung befindlichen Wirklichkeitsgebiete nur dadurch gelangen, dass sie gewisse Eigenschaften aus der Erfahrungswelt entlehnt und auf das Unerfahrbare überträgt. So überträgt der Physiker Härte, Undurchdringlichkeit auf die kleinsten Körperelemente, denen er außerdem noch die Fähigkeit zuschreibt, ihresgleichen anzuziehen und abzustoßen; dagegen erkennt er diesen Elementen Farbe, Wärme und andere Eigenschaften nicht zu. Er glaubt einen erfahrbaren Vorgang der Natur dadurch zu erklären, dass er ihn auf einen nicht erfahrbaren zurückführt. Nach Du Bois-Reymonds Ansicht ist Naturerkennen Zurückführen der Vorgänge in der Körperwelt auf Bewegungen von Atomen, die durch deren anziehende und abstoßende Kräfte bewirkt werden («Grenzen des Naturerkennens», Leipzig 1882, S. 10). Als das Bewegliche wird dabei die Materie, der den Raum erfüllende Stoff, angenommen. Dieser Stoff soll von Ewigkeit her dagewesen sein und wird in alle Ewigkeit hinein da sein. Dem Gebiete der Beobachtung soll aber die Materie nicht angehören, sondern jenseits desselben vorhanden sein. Du Bois-Reymond nimmt deshalb an, dass der Mensch unfähig sei, das Wesen der Materie selbst zu erkennen, dass er also die Vorgänge der Körperwelt auf etwas zurückführe, dessen Natur ihm immer unbekannt bleiben wird. «Nie werden wir besser als heute wissen, was hier im Raume, wo Materie ist, spukt.» («Grenzen des Naturerkennens», S.22.) Vor einer genauen Überlegung löst sich dieser Begriff der Materie in Nichts auf Der wirkliche Inhalt, den man diesem Begriffe gibt, ist aus der Erfahrungswelt entlehnt. Man nimmt Bewegungen innerhalb der Erfahrungswelt wahr. Man fühlt einen Zug, wenn man ein Gewicht in der Hand hält, und einen Druck, wenn man auf die horizontal hingehaltenene Handfläche ein Gewicht legt. Um diese Wahrnehmung zu erklären, bildet man den Begriff der Kraft. Man stellt sich vor, dass die Erde das Gewicht anzieht. Die Kraft selbst kann nicht wahrgenommen werden. Sie ist ideell. Sie gehört aber doch dem Beobachtungsgebiete an. Der Geist beobachtet sie, weil er die ideellen Bezüge der Wahrnehmungen untereinander anschaut. Zu dem Begriffe einer Abstoßungskraft wird man geführt, wenn man ein Stück Kautschuk zusammendrückt, und es sich dann selbst überlässt. Es stellt sich in seiner früheren Gestalt und Größe wieder her. Man stellt sich vor, die zusammengedrängten Teile des Kautschuks stoßen sich ab und nehmen den früheren Rauminhalt wieder ein. Solche aus der Beobachtung geschöpfte Vorstellungen überträgt die angedeutete Denkart auf das unerfahrbare Wirklichkeitsgebiet. Sie tut in Wirklichkeit also nichts, als ein Erfahrbares aus einem andern Erfahrbaren herleiten. Nur versetzt sie willkürlich das letztere in das Gebiet des Unerfahrbaren. Jeder Vorstellungsart, die innerhalb der Naturanschauung von einem Unerfahrbaren spricht, ist nachzuweisen, dass sie einige Lappen aus dem Gebiete der Erfahrung aufnimmt und in ein jenseits der Beobachtung gelegenes Wirklichkeitsgebiet verweist. Nimmt man die Erfahrungslappen aus der Vorstellung des Unerfahrbaren heraus, so bleibt ein inhaltloser Begriff, ein Unbegriff, zurück. Die Erklärung eines Erfahrbaren kann nur darin bestehen, dass man es auf ein anderes Erfahrbares zurückführt. Zuletzt gelangt man zu Elementen innerhalb der Erfahrung, die nicht mehr auf andere zurückgeführt werden können. Diese sind nicht weiter zu erklären, weil sie keiner Erklärung bedürftig sind. Sie enthalten ihre Erklärung in sich selbst. Ihr unmittelbares Wesen besteht in dem, was sie der Beobachtung darbieten. Ein solches Element ist für Goethe das Licht. Nach seiner Ansicht hat das Licht erkannt, wer es unbefangen in der Erscheinung wahrnimmt. Die Farben entstehen am Lichte und ihre Entstehung wird begriffen, wenn man zeigt, wie sie an demselben entstehen. Das Licht selbst ist in unmittelbarer Wahrnehmung gegeben. Was in ihm ideell veranlagt ist, erkennt man, wenn man beobachtet, welcher Zusammenhang zwischen ihm und den Farben ist. Nach dem Wesen des Lichtes zu fragen, nach einem Unerfahrbaren, das der Erscheinung «Licht» entspricht, ist vom Standpunkte der Goetheschen Weltanschauung aus unmöglich. «Denn eigentlich unternehmen wir umsonst, das Wesen eines Dinges auszudrücken. Wirkungen werden wir gewahr, und eine vollständige Geschichte dieser Wirkungen umfasste wohl allenfalls das Wesen jenes Dinges.» Das heißt eine vollständige Darstellung der Wirkungen eines Erfahrbaren umfasst alle Erscheinungen, die in ihm ideell veranlagt sind. «Vergebens bemühen wir uns, den Charakter eines Menschen zu schildern; man stelle dagegen seine Handlungen, seine Taten zusammen, und ein Bild des Charakters wird uns entgegentreten. - Die Farben sind Taten des Lichtes, Taten und Leiden. In diesem Sinne können wir von denselben Aufschlüsse über das Licht erwarten.» (Didaktischer Teil der Farbenlehre. Vorwort.)

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Das Licht stellt sich der Beobachtung dar als «das einfachste, unzerlegteste, homogenste Wesen, Jas wir kennen.» (Briefwechsel mit Jacobi, S. 167.) Ihm entgegengesetzt ist die Finsternis. Für Goethe ist die Finsternis nicht die vollkommen kraftlose Abwesenheit des Lichtes. Sie ist ein Wirksames. Sie stellt sich dem Licht entgegen und tritt mit ihm in Wechselwirkung. Die moderne Naturwissenschaft sieht die Finsternis an als ein vollkommenes Nichts. Das Licht, das in einen finstern Raum einströmt, hat, nach dieser Ansicht, keinen Widerstand der Finsternis zu überwinden. Goethe stellt sich vor, dass Licht und Finsternis sich zueinander. ähnlich verhalten wie der Nord- und Südpol eines Magneten Die Finsternis kann das Licht in seiner Wirkungskraft schwächen. Umgekehrt kann das Licht die Energie der Finsternis beschränken. In beiden Fällen entsteht die Farbe. Eine physikalische Anschauung, die sich die Finsternis als das vollkommen Unwirksame denkt, kann von einer solchen Wechselwirkung nicht sprechen. Sie muss daher die Farben allein aus dem Lichte herleiten. Die Finsternis tritt für die Beobachtung ebenso als Erscheinung auf wie das Licht. Das Dunkel ist in demselben Sinne Wahrnehmungsinhalt wie die Helle. Das eine ist nur der Gegensatz des andern. Das Auge, das in die Nacht hinausblickt, vermittelt die reale Wahrnehmung der Finsternis. Wäre die Finsternis das absolute Nichts, so entstände gar keine Wahrnehmung, wenn der Mensch in das Dunkel hinaussieht.

Das Gelb ist ein durch die Finsternis gedämpftes Licht; das Blau eine durch das Licht abgeschwächte Finsternis.

Das Auge ist dazu eingerichtet, dem vorstellenden Organismus die Erscheinungen der Licht- und Farbenwelt und die Bezüge dieser Erscheinungen zu vermitteln. Es verhält sich dabei nicht bloß aufnehmend, sondern tritt in lebendige Wechselwirkung mit den Erscheinungen. Goethe ist bestrebt, die Art dieser Wechselwirkung zu erkennen. Er betrachtet das Auge als ein durchaus Lebendiges und will seine Lebensäußerungen durchschauen. Wie verhält sich das Auge zu der einzelnen Erscheinung? Wie verhält es sich zu den Bezügen der Erscheinungen? Das sind Fragen, die er sich vorlegt. Licht und Finsternis, Gelb und Blau sind Gegensätze. Wie empfindet das Auge diese Gegensätze? Es muss in der Natur des Auges begründet sein, dass es die Wechselbeziehungen, die zwischen den einzelnen Wahrnehmungen bestehen, auch empfinde. Denn «das Auge hat sein Dasein dem Lichte zu danken. Aus gleichgültigen tierischen Hilfsorganen ruft sich das Licht ein Organ hervor, das seinesgleichen werde; und so bildet sich das Auge am Lichte fürs Licht, damit das innere Licht dem äußern entgegentrete.» (Didaktischer Teil der Farbenlehre. Einleitung.)

So wie Licht und Finsternis sich in der äußeren Natur gegensätzlich verhalten, so stehen die beiden Zustände einander entgegen, in die das Auge durch die beiden Erscheinungen versetzt wird. Wenn man das Auge innerhalb eines finstern Raumes offen hält, so wird ein gewisser Mangel empfindbar. Wird es dagegen einer stark beleuchteten weißen Fläche zugewendet, so wird es für eine gewisse Zeit unfähig, mäßig beleuchtete Gegenstände zu unterscheiden. Das Sehen ins Dunkle steigert die Empfänglichkeit; dasjenige in das Helle schwächt sie ab.

Jeder Eindruck aufs Auge bleibt eine Zeitlang in demselben. Wer ein schwarzes Fensterkreuz auf einem hellen Hintergrunde ansieht, wird, wenn er die Augen schließt, die Erscheinung noch eine Weile vor sich haben. Blickt man, während der Eindruck noch dauert, auf eine hellgraue Fläche, so erscheint das Kreuz hell, der Scheibenraum dagegen dunkel. Es findet eine Umkehrung der Erscheinung statt. Daraus folgt, dass das Auge durch den einen Eindruck disponiert wird, den entgegengesetzten aus sich selbst zu erzeugen. Wie in der Außenwelt Licht und Finsternis in Beziehung zu einander stehen, so auch die entsprechenden Zustände im Auge. Goethe stellt sich vor, dass der Ort im Auge, auf den das dunkle Kreuz fiel, ausgeruht und empfänglich für einen neuen Eindruck ist. Deshalb wirkt auf ihn die graue Fläche lebhafter als auf die übrigen Orte im Auge, die vorher das stärkere Licht von den Fensterscheiben empfangen haben. Hell erzeugt im Auge die Hinneigung zum Dunkel; Dunkel die zum Hellen. Wenn man ein dunkles Bild vor eine hellgraue Fläche hält und unverwandt, indem es vorgenommen wird, auf denselben Fleck sieht, so erscheint der Raum, den das dunkle Bild eingenommen hat, um vieles heller als die übrige Fläche. Ein graues Bild auf dunklem Grund erscheint heller als dasselbe Bild auf hellem. Das Auge wird durch den dunklen Grund disponiert, das Bild heller; durch den helleren dunkler zu sehen.

Goethe wird durch diese Erscheinungen auf die große Regsamkeit des Auges verwiesen «und den stillen Widerspruch, den jedes Lebendige zu äußern gedrungen ist, wenn ihm irgend ein bestimmter Zustand dargeboten wird. So setzt das Einatmen schon das Ausatmen voraus und umgekehrt... Es ist die ewige Formel des Lebens, die sich auch hier äußert. Wie dem Auge das Dunkle geboten wird, so fordert es das Helle; es fordert Dunkel, wenn man ihm Hell entgegenbringt und zeigt eben dadurch seine Lebendigkeit, sein Recht, das Objekt zu fassen, indem es etwas, das dem Objekt entgegengesetzt ist, aus sich selbst hervorbringt.» (§ 38 des didaktischen Teiles der Farbenlehre.)

In ähnlicher Weise wie Licht und Finsternis rufen auch Farbenwahmehmungen eine Gegenwirkung im Auge hervor. Man halte ein kleines Stück gelbgefärbten Papiers vor eine mäßig erleuchtete weiße Tafel, und schaue unverwandt auf die kleine gelbe Fläche. Nach einiger Zeit hebe man das Papier hinweg. Man wird die Stelle, die das Papier ausgefüllt hat, violett sehen. Das Auge wird durch den Eindruck des Gelb disponiert, das Violett aus sich selbst zu erzeugen. Ebenso wird das Blaue das Orange, das Rote das Grün als Gegenwirkung hervorbringen. Jede Farbenempfindung hat also im Auge einen lebendigen Bezug zu einer andern. Die Zustände, in die das Auge durch Wahrnehmungen versetzt wird, stehen in einem ähnlichen Zusammenhange wie die Inhalte dieser Wahrnehmungen in der Außenwelt.

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Wenn Licht und Finsternis, Hell und Dunkel aufs Auge wirken, so tritt ihnen dieses lebendige Organ mit seinen Forderungen entgegen; wirken sie auf die Dinge draußen im Raume, so treten diese mit ihnen in Wechselwirkung. Der leere Raum hat die Eigenschaft der Durchsichtigkeit. Er wirkt auf Licht und Finsternis gar nicht. Diese scheinen durch ihn in ihrer eigenen Lebhaftigkeit durch. Anders ist es, wenn der Raum mit Dingen gefüllt ist. Diese Füllung kann eine solche sein, dass das Auge sie nicht gewahr wird, weil Licht und Finsternis in ihrer ursprünglichen Gestalt durch sie hindurch scheinen. Dann spricht man von durchsichtigen Dingen. Scheinen Licht und Finsternis nicht ungeschwächt durch ein Ding hindurch, so wird es als trüb bezeichnet. Die trübe Raumausfüllung bietet die Möglichkeit, Licht und Finsternis, Hell und Dunkel in ihrem gegenseitigen Verhältnis zu beobachten. Ein Helles durch ein Trübes gesehen, erscheint gelb, ein Dunkles blau. Das Trübe ist ein Materielles, das vom Lichte durchhellt wird.

Gegenüber einem hinter ihm befindlichen helleren, lebhafteren Licht ist das Trübe dunkel; gegen eine durchscheinende Finsternis verhält es sich als Helles. Es wirken also, wenn ein Trübes sich dem Licht oder der Finsternis entgegenstellt, wirklich ein vorhandenes Helles und ein ebensolches Dunkles ineinander.

Nimmt die Trübe, durch welche das Licht scheint, allmählich zu, so geht das Gelb in Gelbrot und dann in Rubinrot über. Vermindert sich die Trübe, durch die das Dunkel dringt, so geht das Blau in Indigo und zuletzt in Violett über. Gelb und Blau sind Grundfarben. Sie entstehen durch Zusammenwirken des Hellen oder Dunklen mit der Trübe. Beide können einen rötlichen Ton annehmen, jenes durch Vermehrung, dieses durch Verminderung der Trübe. Das Rot ist somit keine Grundfarbe. Es erscheint als Farbenton an dem Gelben oder Blauen. Gelb mit seinen rötlichen Nuancen, die sich bis zum reinen Rot steigern, steht dem Lichte nahe, Blau mit seinen Abtönungen ist der Finsternis verwandt. Wenn sich Blau und Gelb vermischen entsteht Grün; mischt sich das bis zum Violetten gesteigerte Blau mit dem zum Roten verfinsterten Gelb, so entsteht die Purpurfarbe.

Diese Grunderscheinungen verfolgt Goethe innerhalb der Natur. Die helle Sonnenscheibe durch einen Flor von trüben Dünsten gesehen, erscheint gelb. Der dunkle Weltraum durch die vom Tageslicht erleuchteten Dünste der Atmosphäre angeschaut, stellt sich als das Blau des Himmels dar.

«Ebenso erscheinen uns auch die Berge blau: denn, indem wir sie in einer solchen Ferne erblicken, dass wir die Lokalfarben nicht mehr sehen, und kein Licht von ihrer Oberfläche mehr auf unser Auge wirkt, so gelten sie als ein reiner finsterer Gegenstand, der nun durch die dazwischen tretenden Dünste blau erscheint.» (§ 6 des didaktischen Teiles der Farbenlehre.)

Aus der Vertiefung in die Kunstwerke der Maler ist Goethe das Bedürfnis erwachsen, in die Gesetze einzudringen, denen die Erscheinungen des Gesichtssinnes unterworfen sind. Jedes Gemälde gab ihm Rätsel auf. Wie verhält sich das Hell-Dunkel zu den Farben? In welchen Beziehungen stehen die einzelnen Farben zueinander? Warum bewirkt Gelb eine heitere, Blau eine ernste Stimmung? Aus der Newtonschen Farbenlehre war kein Gesichtspunkt zu gewinnen, von dem aus diese Geheimnisse zu lüften gewesen wären. Sie leitet alle Farben aus dem Licht ab, stellt sie stufenweise nebeneinander und sagt nichts über ihre Beziehungen zum Dunkeln und auch nichts über ihre lebendigen Bezüge zueinander. Aus den auf eigenem Wege gewonnenen Einsichten konnte Goethe die Rätsel lösen, die ihm die Kunst aufgegeben hatte. Das Gelb muss eine heitere, muntere, sanft reizende Eigenschaft besitzen, denn es ist die nächste Farbe am Licht. Es entsteht durch die gelindeste Mäßigkeit desselben. Das Blau weist auf das Dunkle hin, das in ihm wirkt. Deshalb gibt es ein Gefühl von Kälte, so wie «es auch an Schatten erinnert».

Das rötliche Gelb entsteht durch Steigerung des Gelben nach der Seite des Dunkeln. Durch diese Steigerung wächst seine Energie. Das Heitere, Muntere geht in das Wonnige über. Sobald die Steigerung noch weitergeht, vom Rotgelben ins Gelbrote, verwandelt sich das heitere, wonnige Gefühl in den Eindruck des Gewaltsamen. Das Violett ist das zum Hellen strebende Blau. Die Ruhe und Kälte des Blauen wird dadurch zur Unruhe. Eine weitere Zunahme erfährt diese Unruhe im Blauroten. Das reine Rot steht in der Mitte zwischen Gelbrot und Blaurot. Das Stürmische des Gelben erscheint gemindert, die lässige Ruhe des Blauen belebt sich. Das Rote macht den Eindruck der idealen Befriedigung, der Ausgleichung der Gegensätze. Ein Gefühl der Befriedigung entsteht auch durch das Grün, das eine Mischung von Gelb und Blau ist. Weil aber hier das Heitere des Gelben nicht gesteigert, die Ruhe des Blauen nicht gestört durch den rötlichen Ton ist, so wird die Befriedigung eine reinere sein als die, welche das Rot hervorbringt.

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Das Auge fordert, wenn ihm eine Farbe entgegengebracht wird, sogleich eine andere. Erblickt es Gelb, so entsteht in ihm die Sehnsucht nach dem Violetten; nimmt es Blau wahr, so verlangt es Orange; sieht es Rot, so begehrt es Grün. Es ist begreiflich, dass das Gefühl der Befriedigung entsteht, wenn neben einer Farbe, die dem Auge dargeboten wird, eine andere gesetzt wird, die es seiner Natur nach erstrebt.

Aus dem Wesen des Auges ergibt sich das Gesetz der Farbenharmonie. Farben, die das Auge nebeneinander fordert, wirken harmonisch. Treten zwei Farben nebeneinander auf, von denen die eine nicht die andere fordert, so wird das Auge zur Gegenwirkung aufgeregt. Die Zusammenstellung von Gelb und Purpur hat etwas Einseitiges, aber Heiteres und Prächtiges. Das Auge will Violett neben Gelb, um sich naturgemäß ausleben zu können. Tritt Purpur an die Stelle des Violetten, so macht der Gegenstand seine Ansprüche gegenüber denen des Auges geltend. Er fügt sich den Forderungen des Organs nicht.

Zusammenstellungen dieser Art dienen dazu, auf das Bedeutende der Dinge hinzuweisen. Sie wollen nicht unbedingt befriedigen, sondern charakterisieren. Zu solchen charakteristischen Verbindungen eignen sich Farben, die nicht in vollem Gegensatz zueinander stehen, die aber doch auch nicht unmittelbar ineinander übergehen. Zusammenstellungen der letzteren Art geben den Dingen, an denen sie vorkommen, etwas Charakterloses.

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Das Werden und Wesen der Licht- und Farbenerscheinungen hat sich Goethe in der Natur offenbart. Er hat es auch wiedererkannt in den Schöpfungen der Maler, in denen es auf eine höhere Stufe gehoben, ins Geistige übersetzt ist. Einen tiefen Einblick in das Verhältnis von Natur und Kunst hat Goethe durch seine Beobachtungen der Gesichtswahrnehmungen gewonnen. Daran mag er wohl gedacht haben, als er nach Vollendung der «Farbenlehre» über diese Beobachtungen an Frau von Stein schrieb: «Es reut mich nicht, ihnen soviel Zeit aufgeopfert zu haben. Ich bin dadurch zu einer Kultur gelangt, die ich mir von einer andern Seite her schwerlich verschafft hätte.»

Die Goethesche Farbenlehre ist verschieden von derjenigen Newtons und derjenigen Physiker, die auf Newtons Vorstellungen ihre Anschauungen aufbauen, weil der erstere von einer andern Weltanschauung ausgeht als die letzteren. Wer nicht den hier dargestellten Zusammenhang zwischen Goethes allgemeinen Naturvorstellungen und seiner Farbenlehre ins Auge fasst, der wird nicht anders können, als glauben, Goethe sei zu seinen Farbenanschauungen gekommen, weil ihm der Sinn für die echten Beobachtungsmethoden des Physikers gemangelt habe. Wer diesen Zusammenhang durchschaut, der wird auch einsehen, dass innerhalb der Goetheschen Weltanschauung keine andere Farbenlehre möglich ist als die seinige. Er würde über das Wesen der Farbenerscheinungen nicht anders haben denken können, als er es tat, auch wenn alle seit seiner Zeit gemachten Entdeckungen auf diesem Gebiete vor ihm wären ausgebreitet gewesen, und wenn er die gegenwärtig so vervollkommneten Versuchsmethoden hätte selbst exakt handhaben können. Wenn er auch, nachdem er mit der Entdeckung der Frauenhoferschen Linien bekannt wird, diese auch im Sinne seiner Naturanschauung nicht völlig in diese einreihen kann, so sind doch weder sie noch sonst eine Entdeckung auf optischem Gebiete ein Einwand gegen seine Auffassung. Es handelt sich bei alledem nur darum, diese Goethesche Auffassung so auszubauen, dass diese Erscheinungen in ihrem Sinne in sie sich einfügen. Zuzugeben ist, dass wer auf dem Gesichtspunkte der Newtonschen Auffassung steht, sich bei Goethes Farbenansichten nichts vorstellen könne. Das rührt aber nicht davon her, weil ein solcher Physiker Erscheinungen kennt, die der Goetheschen Auffassung widersprechen, sondern weil er sich in eine Naturanschauung eingewöhnt hat, die ihn verhindert, zu erkennen, was die Goethesche Naturansicht eigentlich will.

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