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Vorwort zur ersten Auflage 1902

Das Vorwort ist nur in der ersten Auflage enthalten

Im Brüsseler Wiertz-Museum ist ein Bild. Die Dinge der Gegenwart vor den Menschen der Zukunft«. Der interessante Künstler (Antoine Wiertz, geb. 1806, gest. 1865) stellt einen Riesen dar, der in seiner Hand winzige Dinge hält und sie seiner Frau und seinem Kinde zeigt: unsere Kanonen, unsere Szepter, unsere Ehrenzeichen und Triumphbogen und die Fahnen unserer Parteien.

Winzig erscheinen diese »Errungenschaften unserer Kultur«, gesehen von dem Gesichtspunkte einer zukünftigen Gedankenwelt und einer Zivilisation, die der unsern gegenüber ein geistiger Riese ist.

Von der eigentlichen prophetischen Idee dieses Bildes sei hier abgesehen: dem Beobachter des geistigen Fortschrittes kann aber, wenn er vor dem Bilde steht, eine andere Idee aufsteigen. Könnten nicht etwa auch unsere Gegenwarts-Vorstellungen über Welt und Leben ähnlich winzig vor der Gedankenwelt der Zukunft erscheinen? Und welche welthistorische Sühne würde sich dann vollziehen für den Hochmut, mit dem mancher unserer Zeitgenossen auf die »kindlichen« Vorstellungen blickt, die sich unsere Vorfahren über das Wesen der Welt und des Menschen gemacht haben, und die wir doch durch unsere auf die »gewaltigen Fortschritte der Naturerkenntnis« gestützten »neuen Glaubensartikel« so sehr »überflügelt haben«.

Man kann wohl zu diesem Gedanken kommen, auch wenn man nicht in einer der herrschenden Kirchenlehren befangen ist, sondern in jeder Beziehung auf dem Boden der gegenwärtigen Naturerkenntnis steht. Oder vielleicht gerade dann, wenn man solchen Standort einnimmt.

Mit tiefer Befriedigung erfüllt es sicherlich, die Reihe der Lebewesen vom kleinsten bis herauf zum Menschen zu verfolgen und die Verwandtschaft alles Lebens von dem Gesichtspunkte fortschreitender Entwickelung zu betrachten. Viele von uns mögen mit Recht um keinen Preis Haeckels »Natürliche Schöpfungsgeschichte« mit irgend einer »übernatürlichen« vertauschen.

Und dennoch fühlen tiefer angelegte Naturen eine schmerzliche Unbefriedigung, wenn sie auf den Gegensatz blicken, der »zwischen dem natürlichen Leben nach darwinistischer Interpretation und den Anforderungen einer höheren Menschlichkeit« besteht. (Man sehe diese Unbefriedigung in einer glänzenden Darstellung durch Rosa Mayreder in einem Aufsatze »Neue Religion«. Ernst Haeckel und die Welträtsel, Nr. 45 von 1901 der »Wiener Klinischen Rundschau«.)

Wer einen Blick unter die Oberfläche der neuzeitlichen Gedankenentwickelung zu werfen vermag, dem gähnt eine tiefe Kluft entgegen zwischen zwei Faktoren im Leben unserer Kulturmenschheit. Der Verstand dieser Kulturmenschheit fühlt sich nur befriedigt durch die naturgemäße Welterklärung, und das Herz hängt an den Empfindungen, die eine tausendjährige religiöse Erziehung und lebendige Überlieferung in es gelegt hat. Es besteht kein Einklang zwischen Verstand und Gemüt. »Die Wissenschaft appelliert stets an die vernünftige Einsicht, die Religion fordert das gläubige Hinnehmen des Unbegreiflichen« (Rosa Mayreder im oben genannten Aufsatz). 

Man muß sich fragen: ist ein solcher Gegensatz notwendig, oder ist er vielleicht darin begründet, daß die Kulturmenschheit der Gegenwart noch nicht dazu gelangt ist, mit ihrem Herzen wirklich als erhebend und auch beglückend zu empfinden, was ihre Vernunft als wahr anzuerkennen genötigt ist? Die Antwort auf diese Frage scheint nur die zu sein: Wir verstehen die Naturerkenntnisse, aber wir wissen noch nicht mit ihnen zu leben.

Nein, wir leben nicht mit unseren Naturerkenntnissen. Wie viele sind doch froh, wenn ihnen jemand wie Harnack in seinem »Wesen des Christentums« (S. 12) sagt: »Wie verzweifelt stünde es um die Menschheit, wenn der höhere Friede, nach dem sie verlangt, und die Klarheit, Sicherheit und Kraft, um die sie ringt, abhängig wären von dem Maße des Wissens und der Erkenntnis.« Solche bekennen sich dann zu der »Wissenschaft« mit ihrem Verstande; denn sie dürfen ja die Sehnsucht ihres Herzens aus anderen Quellen befriedigen.

Wer nur zu sehen vermag, für den wird die Tatsache überall sichtbar, daß auch diejenigen, die fest auf dem Boden der Naturerkenntnis stehen, nicht mit dieser zu leben wissen. Ja nicht einmal die Meister dieser Naturerkenntnis wissen es. Es möge bei einem so begeisterten Verehrer Ernst Haeckels, wie es der Schreiber dieses Buches ist, nicht mißverstanden werden, wenn er sagt: er hört aus den Kampfesworten, die Haeckel dem Christentum entgegenschleudert (vgl. die »Welträtsel«), oft die Empfindungen sprechen, die christliche Mißverständnisse in das Herz gelegt haben. Denn dürfte sonst der Verteidiger der naturgemäßen Entwickelung das Christentum anders, denn als eine Schöpfung naturgesetzlicher Entwickelung begreifen? Müßte er nicht wissen, daß wir mit einer Wahrheit leben, die zu vorhergehenden Gedankenwelten sich verhält, wie auf der Stufe natürlicher Entwickelung der Mensch zu seinen tierischen »Vorfahren«. Der »Christ« mag glauben, die einzige, alleinige Wahrheit zu besitzen; dem »naturgemäß« Denkenden steht es schlecht, steht es zu »christlich« zu Gesichte, wenn er die »Vorfahren« seiner »Wahrheiten« nicht in ihrer berechtigten Entwickelung verfolgt, sondern sie nur als abgetane kindliche Glaubensartikel bekämpft.

Wer die »Wahrheit« nicht nur versteht, sondern in ihr, mit ihr lebt: der sieht sie in immerwährendem Flusse, in fortschreitender, naturgesetzlicher Entwickelung wie alle Dinge der Natur. -

Man lerne die Wahrheit, zu der sich unser Verstand bekennt, in ihrer naturgemäßen Entwickelung von ihren Vorfahren, von ihren Vor-Wahrheiten kennen, und man wird mit dem Herzen dem Verstande folgen können. Der Mensch aber, der mit seinem Verstande an der Naturerkenntnis und mit seinem Herzen - ohne daß er ahnt, wie stark - an den kirchlichen Überlieferungen hängt, gleicht einem Lebewesen, das über die Stufe des Fisches in seinem Körperbau längst hinaus ist und das doch noch im Wasser schwimmen möchte.

Das ist die Gesinnung, mit der in diesem Buche eine Seite in der Entwickelung des Christentums verfolgt ist. Keine Zeile möchte ich geschrieben haben, die ich nicht vor einer wirklich sich selbst verstehenden Naturerkenntnis rechtfertigen könnte, aber auch keine, die mit der grob-materialistischen Auffassung vieler naturwissenschaftlich Denkender unserer Tage zusammenfällt.

Im »Vorworte« darf der Verfasser wohl auch noch einige persönliche Bemerkungen sich erlauben, die für die Leser zunächst nichts mit seiner Gedankenwelt zu tun haben - für ihn vielleicht aber in einem ganz besonderen Sinne. Vorerst sei mein herzlichster Dank dem Grafen und der Gräfin Brockdorff gesagt, auf deren Aufforderung hin ich die Ideen dieses Buches im verflossenen Winter gleich denen meiner vorherigen Schrift »Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens« als Vorträge in der Berliner theosophischen Bibliothek entwickeln durfte. Ihnen, sowie - einem tiefen Freundschaftsbedürfnis entsprechend - meinen lieben Wiener Freunden, Rosa Mayreder und Moritz Zitter, sei diese Schrift zugeeignet. Den letzteren, die meinem Erkenntnisstreben viele Jahre lang so nahe stehen, möchte ich gerade beim Abschlusse dieses Buches einen herzlichen Gruß senden.

Rudolf Steiner

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